Читать книгу Wohin verschwand der Diktator - Lara Nisker - Страница 7

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Teil 2.

Szene 2. In der Taiga

(Anna, Eugen, Diktator)

Der Diktator läuft und läuft, es wechseln die Landschaften, es wechseln die Jahreszeiten. Das Aussehen der zufälligen Passanten ändert sich. Das Bild hält in der Taiga an. Es ist Sommer. Die Sonne neigt sich. Man hört das Gesumme von Ungeziefer.

Man sieht ein gemütliches Häuschen. Draußen steht ein Tisch. Die Frau (Anna) deckt ihn zum Abendessen. Ihr Mann (Eugen) erscheint.

Er schleppt den fast bewusstlosen Diktator mit, dessen Gesicht ganz mit Haaren bewachsen ist.

Anna: Eugen! Wen schleppst du da? Was ist mit dem Mann? Hast du ihn etwa verdroschen?

Eugen: Blödsinn, Anna. Ich weiß nicht, was dem Kerl zugestoßen ist. Ein komischer Kauz. Er lief den Weg entlang, dann sah er mich und rannte direkt ins Gebüsch. Als ich die die Stelle erreichte, um nach ihm zu sehen, saß er im Gebüsch und weinte. Ich hab ihn aus dem Busch herausgeholfen.

Anna: (mitleidig) Weinte … Wieso weinte er?

Eugen: Ich weiß es nicht. Ich schwöre dir, ich habe ihm nichts getan.

Anna: (zum Diktator) Hey Sie, guter Mann, wieso weinen Sie? Haben Sie sich verletzt, haben Sie sich in der Taiga verlaufen?

Eugen: Keine Angst, Mann, wir führen dich schon zu deinen … Wo rennst du eigentlich hin, Mann? Zu wem?

Diktator: Mmmmmmm. Abrasieren. Verstecken. Abrasieren.

Anna: Wieso spricht er so? Kann er nicht sprechen? Was ist mit ihm?

Eugen: Meistens muht er, er gibt nur „Mmm“ von sich. Ich glaube, er hat Maroschka gegessen.

Anna: Aha … Er will „Maroschka“ sagen. Deshalb „Mmm“. (zum Diktator:) Pfui, du Armer. Eugen, jemand hat ihn doch geschlagen. Aber nicht du, Eugen, oder?

Eugen: Ich schwöre dir!

Anna: Er weint.

Der Diktator versucht, etwas zu sagen, lallt nur und murmelt.

Eugen: Natürlich weint er. Ihm brennt der Mund. Deshalb weint er. Kein normaler Mensch isst Maroschka. Hey, du, Mann, wozu hast du Maroschka gegessen? Das essen nur Schweine.

Diktator: Mmmm …

Eugen: Ich glaube, er ist verrückt. Aus der geschlossenen Anstalt ausgebrochen.

Diktator: (hält zwei Finger an die Oberlippe) Psst! Verstecken.

Eugen: Klar. Er wurde geschlagen. Wer weiß, was sie dort heutzutage in den geschlossenen Anstalten alles tun.

Anna: Armer …

Eugen: Hey, Mann, keine Sorge, wir helfen dir. Meine Kusine arbeitet dort in der Irren­-anstalt. Sie ist dort Krankenschwester. Wir sagen ihr, man soll dich nicht mehr schlagen.

Anna: Wo wollen Sie denn hin, Sie armer Mann, was suchen Sie? Sie müssen uns das sagen. Wenn Sie Ihre Familie suchen wollen, können wir sie benachrichtigen.

Eugen: Suchst du deine Familie, Mann? Wo lebt denn deine Familie? Wir bringen dich hin.

Anna: Wen sollten wir benachrichtigen?

Diktator: Mmmmmmmm. Abrasieren.

Eugen: Fa-mi-li-e! Verstehst du? Wir wollen wissen, wo deine Familie ist. Also?

Diktator: Verstecken. Abrasieren. Verstecken. Abrasieren. Verstecken.

Anna: Na hör mal, hör mal nur zu. Ich glaube, er ist völlig verrückt. Wir müssen doch deine Kusine anrufen.

Eugen: Ich weiß nicht … Und wenn er nicht aus dem Irrenhaus, sondern aus dem Gefängnis ausgebrochen ist? Dort könnte er geschlagen worden sein. Die Gebäude liegen doch beide in dieser Richtung. Guck mal wie er aussieht.

Anna: Er ist hungrig. Unsere Fragen quälen ihn nur. (zum Diktator) Zuerst essen, ja? Kommen Sie, guter Mann, setzen Sie sich an den Tisch. (plötzlich panisch) Meine Koteletts! Ich habe meine Koteletts mit euch Männern vergessen! (verschwindet im Häuschen)

Eugen: Na komm, Mann, setz dich hin. Meine Frau ist eine gute Köchin. Sie hat sogar in unserer Kantine gearbeitet. Sie hat Recht: zuerst essen, dann Fragen stellen. Was bringt es schon, einen Hungrigen zu fragen …

Anna bringt die Pfanne, deckt den Tisch. Eugen läuft ins Häuschen, bringt eine Flasche Wodka mit. Schenkt den Wodka in drei Gläser.

Eugen: Na, du armer Mann, wer immer du bist, na sdorovje! Trink! Es wird dir gleich besser.

Diktator trinkt. Dann isst er mit großem Appetit.

Anna: (zu Eugen) Na siehst du? Er ist nicht verrückt, er war bloß hungrig.

Diktator: Sind Sie Juden?

Eugen: Oh, er spricht!

Diktator: Juden? Juden? Juden?

Eugen: Nein, wieso? Wieso denn Juden? Wir doch nicht. Suchst du Juden? Ach Mann, sie waren noch vor dem Krieg alle getötet. Liest du keine Zeitung?

Anna: Wir sind keine Juden, wir sind Wolgadeutsche. Die gesamte Siedlung hier.

Diktator: Nein! Nein! Verstecken!

Eugen: Ruhe, Mann. Wir tun dir nichts. (zu Anna) Siehst du? Er ist verrückt.

Anna: Eugen, ich glaube, wir müssen ihn lieber der Polizei übergeben. Wer weiß … Nach dem Essen, meine ich.

Eugen: Mal sehen.

Anna: Warte mal … Kann sein, dass er nach Juden sucht. Nach irgendwelchen, weil er selbst einer ist. Was, wenn seine ganze Familie im Krieg umgebracht wurde? Deshalb spricht er nicht. Er ist schwer traumatisiert. Er sucht nach jemandem seines Schlags, um irgendwelche weiteren Verwandten zu finden.

Eugen: Könnte sein. Könnte auch nicht sein.

Anna: Aber wo finden wir für ihn welche? Die Juden sind allesamt umgebracht.

Eugen: Ich kannte da jemanden. Jemanden, der ihm weiterhilft.

Anna: Weißt du was? Wir müssen dem Lehrer Bescheid sagen.

Eugen: Genau. Den meine ich ja. Der Lehrer wird es schon wissen.

Diktator: Abrasieren. Verstecken.

Eugen: Oh, das geht schon auf die Nerven.

Diktator: Verstecken! Verstecken!

Eugen: Ja ja … (lacht bitter) Versteck dich! Geh in die Taiga, steck dich in den Sumpf. Der Sumpf, der versteckt dich. Dort verschwindest du ganz. Für immer. Kein Hund findet dich dort.

Diktator: Ja! Ja! Verschwinden! Abrasieren! Verstecken! (plötzlich nüchtern) Wo ist der Sumpf?

Anna: Lass ihn in Ruhe, du machst ihm Angst. Siehst du das nicht? Der arme Mann ist ohnehin am Ende.

Eugen: Wo ist der Sumpf, fragst du? Der Sumpf ist hier überall. Er breitet sich immer weiter aus. Seine Bakterien haben schon den gesamten Waldboden zerfressen. Guck mal, hier! (steht auf und schaukelt den Fußboden mit den Füßen, der Boden bewegt sich. Siehst du? Es wackelt schon unter unserem Häuschen. Nach dem nächsten Winter, wenn der Frost nachgibt, geht auch dieses Grundstück abwärts, zusammen mit unserer ganzen Habe. Der Sumpf verschluckt alles. Das Vieh verschwindet, die Menschen verschwinden. Spurlos.

Anna: (zu Eugen) Weißt du was? Lass ihn sich erst in unserer Banja waschen. Du wolltest die Banja sowieso heizen. Nimm ihn mit. Er will sich rasieren. Lass ihn sich rasieren. Und morgen zeigen wir ihn dem Lehrer.

Eugen: Gut, machen wir.

Anna: Verrückt hin oder her – der Mann muss sich zuerst erholen, zu Kräften finden.

Eugen: (schaut den Diktator an, plötzlich) Oh … Warte mal … Oh mein Gott!

Anna: Was?!

Eugen: Er ist dem … O Mann! Er ist dem Diktator ähnlich!

Anna: Diktator? Rede keinen Unsinn. Der Diktator hat sich erschossen. Zuerst seine Geliebte, dann sich selbst. Das stand damals in der Zeitung.

Eugen: Ja. Seine Leiche wurde aber nicht gefunden.

Anna: Oh, lass das. Siehst du es nicht? Er ist ohnehin kaputt. Er zittert schon.

Eugen: Er redet die ganze Zeit vom Rasieren.

Anna: Na und …? Er sehnt sich nach Sauberkeit. Ein gut erzogener Mann.

Eugen: Du Dummerchen! Es geht nicht darum, dass er sich rasieren will. Es geht darum, was er abrasieren will!

Anna: (verwirrt) Oh …

Eugen: Na gut. Erst die Banja, dann lassen wir ihn sich gut ausschlafen. Und morgen, gleich nach dem Frühstück, übergeben wir ihn dem Lehrer.

Anna: Weißt du was? Und wenn du Recht hast? Und er doch kein Jude ist, sondern derjenige, der die Juden ermordet hat?

Eugen: Aha … Hast du diese Ähnlichkeit auch bemerkt?

Anna: Ich weiß nicht … So ein Gefühl.

Eugen: Lehrer, er …

Anna: Genau! Lehrer! Er weiß Bescheid.

Eugen: Ja, er soll über die Sache weiter entscheiden.

Anna: Oh, Eugen, wenn du Recht hast … (flüstert Eugen ins Ohr) Ich lasse ihn nicht bei uns im Hause schlafen.

Eugen: Ja. Gut. Er muss in der Banja schlafen.

Anna: Sperrst du ihn dort ein? Ja?

Eugen: Einverstanden. Sicher ist sicher.

Anna: Oh Schreck …

Eugen: Mach dir keine Sorgen. Morgen wissen wir mehr. (zum Diktator) Hey Mann, hast du dich satt gegessen? Komm! Wir waschen uns gründlich und rasieren uns die Fresse. Kommst du?

Eugen nimmt sich ein paar Stück gehacktes Holz mit und beide verschwinden in der Banja. Anna räumt den Tisch ab. Es ist Nacht. Der Mond zeigt sich am Himmel. Eugen kommt in Unterwäsche aus der Banja, hängt an die Tür ein großes Schloss und läuft ins Häuschen. Die Tür der Banja fängt an zu wackeln. Dann öffnet sich knirschend das Fenster. Der Diktator zeigt sich. Er trägt nur Unterwäsche. Sein Gesicht ist glattrasiert. Er klettert hinaus.

Diktator: (für sich, brüllt) Im Sumpf verstecken … Im Sumpf ist sicher. Kein Hund findet …

Diktator läuft weg. Die Geräusche von Nachtvögeln erschrecken ihn. Er gerät in den Sumpf, schreit: „Hilfe!“, „Helft mir!“ Der Sumpf saugt ihn ein. Man hört einen Hund heulen. Dann wird es still. Nach einer Weile sieht man eine menschliche Silhouette. Das ist Lehrer. Er springt in den Sumpf, es platscht. Das Geschrei von nächtlichen Vögeln vervollständigt das Bild.

Wohin verschwand der Diktator

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