Читать книгу Ruck Zuck - Lara Stern - Страница 6

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»Traut ihr euch?«

»Ja!«

Die beiden küßten sich stürmisch.

Blitzlichtgewitter. Weiße Kutsche mit Vierergespann.

Sektkorken flogen. Niedliche Blumenmädchen griffen ins Volle.

Alle klatschten und strahlten, nur eine machte ein finsteres Gesicht.

Die Anwältin Dr. Sina V. Teufel haßte Hochzeiten wie die Pest. In ihrer Negativhitliste rangierten sie an zweiter Stelle, ganz knapp nur nach Scheidungen, die sie noch um einiges grauenhafter fand. Nicht, daß sie Heiratswilligen für den ehelichen Bund nicht das Beste wünschen wollte – sie war nicht in der Lage dazu.

Bräutliche Requisiten wie handgeschriebene Menükarten, Geschenkkataloge und krampfhaft launige Tischreden bewirkten, daß Sina Teufel auf der Stelle von Depressionen übermannt wurde. Ihr fiel wieder ihr eigenes, lang zurückliegendes Fiasko mit Exgatte Harry ein, der sich auf Dauer gegen sie und für seine Whiskyflaschen entschieden hatte. Komischerweise geriet sie gerade bei solchen Anlässen noch immer unter Druck, ihr Singledasein vor sich selbst überzeugend zu legitimieren.

War es Neid, der sie quälte? Der Wunsch, auch noch einmal Braut zu sein?

Eher die Gewißheit, daß Schaden unweigerlich drohte.

Ihrer heimlichen Statistik nach rutschten selbst vielversprechende Verbindungen in Schräglage, wenn Schleier und Trauringe am Horizont auftauchten. Sich mittels bürgerlicher Versatzstücke ein dauerhaftglückliches Leben zu zweit einzurichten, funktionierte nur in den seltensten Fällen.

Mögliche Variationen: Entweder flogen über kurz oder lang die Fetzen, und man trug eine Menge Geld zum Scheidungsanwalt, oder das Paar blieb aus sogenannten Vernunftgründen auf verkniffen-gleichgültige Weise zusammen.

Erstaunlicherweise gab es trotzdem Menschen, die unverdrossen zum Standesamt strebten. Diesmal war Dr. Wolinski den Weg gegangen, zum zweiten Mal, freiwillig und allem Anschein nach voller Begeisterung. Sein schmales Gesicht glühte von innen, selbst der graumelierte Bürstenschnitt schien fröhlich zu wippen. Anstelle seiner aschfarbenen Notarskluft trug er Nachtblau, kombiniert mit einem zitronengelben Binder, auf dem sich blaue Flügelwesen tummelten.

Es war nicht zu übersehen, daß ein frischer Wind sein Leben durchlüftete. Die Frau an seiner Seite war nicht nur fünfzehn Jahre jünger, sondern ein Powerweib mit aufregenden Rubensrundungen, die scharlachroter Pannesamt ungeniert hervorhob. Gute Beine, ein sanft wogender Busen, den sogar der Standesbeamte während seiner Ansprache nicht aus den Augen ließ.

Dr. Wolinski war selig. Augenscheinlich konnte er es kaum erwarten, sich mit ihr gemeinschaftlich ins Radleroutfit zu werfen und die Hochzeitsreise anzutreten. Dies im wahrsten Sinn. Vor ihnen lag die Eroberung Korsikas per Mountainbike – von anderen denkbaren Lustbarkeiten ganz zu schweigen.

Zuvor aber mußten noch die Feierlichkeiten durchgestanden werden. Sina Teufel und Hanne Bromberger kooperierten seit Jahren mit Wolinskis Notariat; deshalb hatte sie seine Einladung nicht überrascht. Reizenderweise war die ganze Kanzlei von ihm zur Feier gebeten worden, inklusive Sekretariat. Entzückt hatte das Damentrio zugesagt; den beiden Anwältinnen war nichts anderes übriggeblieben, als diesen Extraurlaubstag zu spendieren.

Und da saß es jetzt, ihr »Chaos-Team«, mit dem Sina sich Tag für Tag im Kanzleialltag herumschlagen mußte: Bürovorsteherin und Dramakönigin Tilly Malorny im Seidendirndl, die ohne die Begleitung ihres wettsüchtigen Ehemanns wie eine Barockfürstin aufblühte. Ihr gegenüber Marina König. Heute fehlte in ihrem Gesicht der gehetzte Ausdruck der alleinerziehenden Mutter, der ihre hübschen Züge sonst scharf machte. Sie flirtete mit ihren Tischherren, lachte viel und sah endlich mal wieder so jung aus, wie sie eigentlich war. Währenddessen versuchte die Dritte im Bunde, Azubine Anke Frey, mittels gezielten Einsatzes von Leder-hotpants, schaurig-grünem Lidschatten und frecher Lippe den männlichen Teil der Hochzeitsgesellschaft aufzumischen.

Man feierte ausgiebig. Silber blinkte vornehm, vorgewärmte Teller samt ansehnlichem Inhalt wurden in Windeseile aufgetragen.

Es mundete allgemein. »Das Seehaus«, im Herzen des Englischen Gartens gelegen, fuhr bei mutig überteuerten Preisen auf, was Küche und Keller zu bieten hatten: Kartoffelcarpaccio mit weißen Trüffeln, Marseiller Fischsuppe, Champagner-Safran-Sorbet, Lammbraten, Butterbohnen. Jeder zweite begann bereits verstohlen am Hosenbund zu nesteln.

Als die frischgebackenen Wolinskis die schneeweiße Torte anschnitten, begann Hanne vor Rührung ins Taschentuch zu schluchzen.

Sina warf ihr einen besorgten Blick zu. Und einen strengen in Richtung Bill Bergis, der am Nebentisch lümmelte und hemmungslos Wodka soff.

Seitdem der dubiose Exillette zum Fixpunkt in Hannes Leben avanciert war, schien alles auf merkwürdige Weise verrutscht zu sein. Nicht genug mit endlosen Zerwürfnissen und noch endloseren Versöhnungen, tränenreich zelebriert.

Jetzt wohnten sie auch zusammen!!!

Bergis hatte sich, ohne lange zu fackeln, vor ein paar Wochen mit all seinen Kisten und Koffern bei Hanne einquartiert. Sina fürchtete nicht nur um den angestammten Pflegeplatz für Kater Taifun. Vor allem sorgte sie sich um das Seelenheil der Sozia und Freundin. »Nur vorübergehend«, hatte Hanne gemurmelt, als Sina sie dezent auf den offensichtlichen Schwachsinn dieser Entscheidung hingewiesen hatte.

»Der läßt dir doch nicht einmal die Luft zum Atmen!«

»Nur bis er wieder flüssig ist. Du weißt doch, sein neues Projekt!«

Das freilich ließ Dauerzustand befürchten.

Bill Bergis war nach eigenen Aussagen ständig am Auftun neuer Projekte, von denen die meisten allerdings ebenso schnell wieder ins Dunkel des Vergessens rutschten. In der Zwischenzeit übte er sich in Geduld oder widmete sich der Pflege seiner Genialität. Sehr anstrengend für alle, die in seinen Dunstkreis kamen.

Sina fand ihn unerträglich.

»Ich weiß genau, was du jetzt sagen willst«, flüsterte Hanne trotzig, die ihre Blicke sehr wohl bemerkt hatte. Sie trug kaum Make-up und sah trotz ihres modisch tannengrünen Hosenanzugs blaß und mitgenommen aus. »Aber es ist mein Leben, und ich war lang genug allein!« Ihre Unterlippe begann gefährlich zu zittern. »Schon gut«, murmelte Sina versöhnlich und zwang sich, an die eigenen Beziehungsmacken zu denken. Nichts war bei Licht betrachtet so, wie es eigentlich sein sollte. Zweisamkeit klappte nicht, aber Alleinsein konnte ebenfalls ganz schön an die Nieren gehen. Wie kam sie dazu, anderen vorschreiben zu wollen, wie sie leben sollten?

»Tränen?« trällerte eine muntere Stimme. »Aber Hanne! Daran ist nur diese blödsinnige Hochzeit schuld! Was macht sie aus uns? Alt fühlt man sich, zu dick und depressiv! Ab einem gewissen Alter sollte man lieber zu Beerdigungen gehen – ist bei weitem vergnüglicher, meine Lieben!«

Anwaltsfreund Louis Levin war gemächlich zu ihnen herübergeschlendert. Wie immer mit einem Glas Rotwein in der Hand.

»Ganz schwache Veranstaltung hier«, lamentierte er halblaut. »Nervtötend! Nicht ein einziger vielversprechender Mann weit und breit! Könnt ihr mir verraten, weshalb ich extra meinen Kaschmiranzug in die Reinigung gebracht habe?« Er grinste und sah sich neugierig um. »Wo steckt denn mein alter Freund van Rees? Habt ihr den zu Hause abgestellt?«

»Carlo ist wieder mal auf Diät«, sagte Sina leicht anzüglich. »Seit vorgestern. Sozusagen der endgültige Versuch – zum 104ten Mal.«

»Mein Gott, wie gut ich den Mann verstehe!« L. L. klopfte auf seine beachtliche Leibeswölbung. »Es ist eine Ungerechtigkeit, daß ihr Weiber trotz vorgerückten Alters noch immer so mager seid!«

»Reife, nicht Alter«, korrigierte Hanne.

»Schlank, nicht mager«, fiel Sina ein. »Das macht der tägliche Wahnsinn. Da bleibt nichts hängen!«

»Trifft bei mir leider nicht zu«, erwiderte er bekümmert. »Wahnsinn hab’ ich zur Genüge, aber leider nur dann keinen Appetit, wenn ich frisch verliebt bin. Und das ist erschreckend lang her! Wie soll man es als Schwuler von Format, bitteschön, anstellen, in diesen schwierigen Zeiten, wo alle nur noch auf Nummer Sicher …«

»Wer ist eigentlich der Superblonde an deinem Tisch?« unterbrach Hanne unbarmherzig seinen melancholischen Exkurs.

»Der Windhund?«

»Genau der.«

»Kollege Graf Stock, gleicher Flur, übernächstes Zimmer. Unheilbar deutsch. Kennst du den nicht?«

»Nie gesehen.«

»Kein Wunder«, sagte L. L. »Der mischt sich nur ungern unters gemeine Volk. Zu Höherem geboren.«

»Und was macht er dann hier, unter den ganzen Plebejern?« wollte Sina wissen.

»Kollegiale Kontaktpflege, was sonst? Siehst du nicht die anderen Anwaltsnasen ringsum? Ziemlich alles da, was Rang und Namen hat! Und so ein Graf hat schließlich schon seit Generationen in den Genen, wo die Sahne am dicksten ist. Schrecklicher Unsympath, unter uns gesagt. In der Kanzlei beschränke ich meinen Kontakt mit ihm auf das Notwendigste. Aber laßt uns lieber von angenehmeren Dingen reden!«

Er machte eine genießerische Schnute. »Darf ich die ranken Damen vielleicht zu einem Marc de Champagne verführen? Damit das schwere Zeugs ein bißchen rutscht? Wir müssen uns ranhalten, meine Lieben! Anschließend droht uns noch ein kleiner Spaziergang zum Festival. ›Rechtsanwälte gegen rechts‹, sozusagen. Bin jetzt schon gespannt, wer von den Herrschaften sich rechtzeitig abseilt!«

Hanne nickte. »Marc klingt gut.«

Sina schüttelte den Kopf.

»Daraus wird leider nichts«, sagte sie. »Ich muß gleich in die Kanzlei.«

»Arbeiten?« fragte L. L. vorwurfsvoll. »An einem Jubeltag wie diesem? Dann versuch mal lieber gleich, ein Taxi zu kriegen! Der Typ dort drüben telefoniert sich schon die Finger danach wund!«

»Selbst ist die Frau«, sagte Sina. »Natürlich bin ich mit dem eigenen Wagen da. Ich muß wenigstens mal nachsehen, ob unsere neue Aushilfe zumindest die Telefonate richtig aufgeschrieben hat.« Sie zog die Brauen hoch. »Ein junger Mann! Du weißt, da muß frau doppelt vorsichtig sein.«

L. L. sah sie scharf an.

»Du bist wirklich nicht mehr zu retten, Sina«, sagte er spöttisch. »Als Frau, meine ich. Wenngleich ich zugeben muß, daß optisch in der Tat wenig zu beanstanden ist.«

»Da spricht der wahre Fachmann weise Worte«, schnappte sie zurück. Nur einer durfte es wagen, in ihrem Privatissimum herumzustochern. Und selbst Seelenfreund Carlo van Rees konnte schnell etwas auf die Finger kriegen, wenn er zu weit ging oder einen ungünstigen Zeitpunkt für seine Analysen erwischte. Ihr Blick wurde giftig. »Jetzt weißt du auch, warum die meisten Männer so schnell bei mir die Flinte ins Korn werfen.«

Was gar nicht zutraf. Auf der Fahrt in die Kanzlei versuchte sich Sina Teufel in kritischer Selbstanalyse. In der Regel war sie es höchstpersönlich, die gleich am Beginn einer Beziehung dafür sorgte, daß ein Zuviel an Nähe und Vertrautheit erst gar nicht aufkam. Gelang einem Unerschrockenen dennoch der Satz über den bewehrten Burggraben, ging das Turnier erst richtig los. Wenig genügte bereits, damit sie sich bevormundet fühlte und glaubte, ihr Revier verteidigen zu müssen.

Gebranntes Kind, so nannte man das wohl.

Auch ihr Wiener Geliebter Hubsi hatte vor kurzem diese Erfahrung machen müssen.

Dabei hatte alles gar nicht schlecht angefangen. Kennengelernt hatten sie sich auf Bali, wo sie mit seiner Hilfe einen Mordfall aufgeklärt hatte. Anschließend ein paar gemeinsame Wochenenden, mal in Wien, mal in München. Hubsi war im Bett ein Zauberer, vielleicht der einfallsreichste Liebhaber, den sie bislang gehabt hatte. Und ein ansehnlicher noch dazu. Beim Gedanken an seinen Geruch und die zarte Haut überfiel sie unvermittelt Sehnsucht.

»Idiot«, sagte sie halblaut und versuchte, sich wieder auf den Verkehr zu konzentrieren. »Schwachkopf, ausgemachter, warum bist du nur so vernagelt!«

Ein paar Monate lang war alles in verheißungsvoller Schwebe geblieben. Sie hatte sogar schon begonnen, sich mit seiner Existenz in ihrem Leben anzufreunden. Bis er schließlich mit der verflixten Idee herausgerückt war, seine Software-Firma nach München zu transferieren.

Plötzlich war der Ofen aus gewesen.

Sina drückte auf die Hupe. Umsonst. Sie steckte bereite im dicksten Stau. Verdrossen schaute sie auf die Uhr. Vier Uhr! Gute Güte, fing der Stoßverkehr in München jetzt schon mitten am Nachmittag an?

Ergeben griff sie zur Zigarette und stellte das Radio an. Schreckliches Gedudel erklang, »Bayernpop«, wie diese musikalischen Niederungen offiziell genannt wurden. Dann meldete sich eine weibliche Stimme mit rollendem »R« zu Wort.

»… muß im gesamten Bereich der Innenstadt mit erheblichen Verkehrsstauungen gerechnet werden …«

Ein wüstes Hupkonzert übertönte den Rest. Sina entschied sich dafür, die Autofahrer vor und hinter sich für unbeherrschte Volltrottel zu halten.

Sie stieg aus, um die Lage zu sondieren.

Autos, Stoßstange an Stoßstange, die ganze Leopoldstraße hinunter. Bunte Blechlawine bis zum Siegestor.

»Wat soll dat denn sein?« Der Dialekt verriet den Rheinländer, noch bevor Sina das Nummernschild lesen konnte. Fatzke mit Gelfrisur. Natürlich Porschefahrer. »Ist dat vielleischt immer so bei eusch Bayern?«

»Nicht immer«, sagte Sina knapp und stieg wieder ein.

»Aber leider immer öfter. Kein Wunder, bei diesem ungebrochenen nordischen Zuzug.«

Zögerlich ging es vorwärts. Bis zur nächsten Ampel.

Dann standen sie wieder.

Als Sina die Kanzlei aufschloß, wollte die männliche Aushilfe gerade in ihre Lederjacke schlüpfen und sich aus dem Staub machen.

»Hatten wir nicht ausdrücklich vereinbart, daß Sie bis mindestens achtzehn Uhr für den Telefondienst zur Verfügung stehen?«

Der junge Mann starrte ertappt auf seine Fußspitzen. Sogar sein blonder Pferdeschwanz sank auf Halbmast.

»Ich dachte, jetzt ruft eh keiner mehr an«, nuschelte er.

»Da irren Sie sich gewaltig! Das geht um diese Zeit erst richtig los«, sagte Sina. »Wenn die Menschen Feierabend haben, fällt ihnen bevorzugt ein, worum sie sich mit anderen streiten könnten. Schade, Herr Rebell, hätte was Festes für Sie hier werden können. Aber Verläßlichkeit ist Regel Nummer eins in unserem Beruf. Sonst können wir gleich zumachen.«

Sie ließ ihn einfach stehen und studierte die Telefonliste. Auf den ersten Blick konnte sie nichts Angebranntes entdecken. Die Architektinnen der Firma megaron, die sie seit ein paar Jahren zur beiderseitigen Zufriedenheit beriet, ein Baulöwe, der mit seinen Zahlungen ins Trudeln geraten, dank ihrem Verhandlungsgeschick gegenüber der Bank jedoch knapp dem Abgrund entgangen und jetzt auf Dauerversorgung eingeschworen war; Herr Krapp, ein neuer Klient, der seine Erstberatung wegen Erkrankung verlegen mußte; mehrere gegnerische Anwaltskollegen. Wahrscheinlich war in der nächsten Woche wieder einmal verschärftes Feilschen angesagt.

Plötzlich stutzte sie.

Herr Azir hatte dreimal angerufen und dringend um einen Termin gebeten.

»Zum Schluß hat er beinahe geweint«, sagte der junge Mann. »Es klang, als stecke er ernsthaft in Schwierigkeiten. Er wollte unbedingt noch heute kommen. Aber ich konnte ihm nur mitteilen, daß Sie nicht in der Kanzlei sind. Ich hoffe, es war richtig.«

»Sie sind ja immer noch da.«

»Ja, und ich wollte sagen, daß ich vorhin Mist gebaut habe. Tut mir leid!« stieß er hervor. »Es ist wirklich nicht meine Art rumzutricksen. Aber ich hab’ heute noch was ganz Dringendes zu erledigen, und da dachte ich, weil ohnehin nichts los war, ich könnte ein bißchen früher …«

»Lassen Sie nur«, sagte Sina. »Denken ist eben Glückssache. Gut möglich, daß wir uns wieder bei Ihnen melden.«

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und musterte den Aktenstapel. Dann studierte sie wieder die Telefonliste. Sie seufzte und entschloß sich, Azir sofort anzurufen.

Dezentes Räuspern an der Tür.

»Ist noch was?«

»Ginge es auch, daß ich mich wieder bei Ihnen melde?«

»Tun Sie das«, sagte Sina und mußte lächeln. Der Typ war wirklich nicht übel. »Am besten gleich montags.«

Sie blätterte im Rollodeck und wählte. Azir war sofort am Apparat.

»Teufel, guten Abend«, sagte sie. »Sie wollten mich unbedingt sprechen.«

»Dem Himmel sei Dank!« stöhnte er erleichtert. »Ich dachte schon, ich würde verrückt werden! Frau Dr. Teufel, ich muß Sie unbedingt sehen. Geht es noch heute? Am besten gleich?«

»Was ist passiert?« fragte Sina.

»Einer meiner Fahrer ist ermordet worden. Ein Senegalese. Im Englischen Garten beraubt und erschlagen. Aber das ist nicht alles …« Er brach ab. »Die Sache ist zu kompliziert, um sie am Telefon zu besprechen. Ich brauche Ihre Hilfe, unbedingt!«

Sina warf den Akten einen resignierten Blick zu. Spätestens jetzt wußte sie, womit sie ihr Wochenende verbringen würde. Zudem ließen Azirs Ankündigungen vermuten, daß Taifun auch heute abend noch eine ganze Weile auf ihr Heimkommen warten mußte. Wahrscheinlich würde er sich für diese Lieblosigkeit prompt mit Schnurrstreik revanchieren.

»Also gut! Wann können Sie hier sein?«

»In zwanzig Minuten. Ich fliege!«

Keine halbe Stunde später waren sie da, Awetis Azir und ein schlanker, sehr dunkelhäutiger Afrikaner.

»Das ist mein Problem aus dem Senegal«, sagte Azir und deutete auf seinen Begleiter. »Offiziell ist er nämlich der Tote.«

»Aha«, sagte Sina, »verstehe. Wollen Sie mir die Leiche nicht erst einmal vorstellen?«

»Ich bin David Diop.« Seine Stimme war dunkel und voll. Er sprach beinahe ohne Akzent.

Sina bat sie zum Besprechungstisch.

»Kaffee?« fragte sie. »Wer ist nun tot?« begann sie, während die beiden sich bedienten. »Sie ja offensichtlich nicht. Es sei denn, es handelt sich um einen der raren Fälle von Auferstehung.«

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.« Azir warf ihr einen verzweifelten Blick zu. »Äußerst kompliziert und heikel! Wenn ich nur den geringsten Fehler mache, hat mich das Kreisverwaltungsreferat im Würgegriff. Ein staatenloser Kurde mit einem Haufen Probleme. So etwas bekommen bayerische Beamte nicht jeden Tag auf den Tisch.«

Aus dem mageren, nervösen Mann mit den ehrgeizigen Plänen, der damals bei der Referendarin Teufel Rat gesucht hatte, war im Lauf der Jahre ein gestandener Unternehmer geworden. Dezenter Bauchansatz, teure Kleidung und goldene Uhr am Handgelenk verrieten, daß die Geschäfte nicht schlecht gingen. Viele seiner Träume hatten sich erfüllt. Er war inzwischen Herr über knapp vierzig Taxen, die Tag und Nacht für ihn liefen. Ehefrau, zwei Kinder, Eigenheim.

Es war sogar genug Geld dagewesen, um vor einem Jahr den Partner auszubezahlen, der zurück in die Heimat wollte, um dort eine Transportfirma aufzumachen. Awetis Azir dachte nicht mehr an Fortgehen. Für ihn war München zur Heimat geworden.

»Am besten fangen Sie ganz von vorn an. Das Problem. Die Beteiligten. Dann suchen wir gemeinsam nach einer Lösung.«

»Also«, fing er umständlich an. »Wissen Sie, Frau Dr. Teufel, die Sache hat folgenden Haken …«

»Mein Bruder ist gestern getötet worden«, fiel der Afrikaner ein. »Von ein paar Verrückten zu Brei geschlagen. Er fuhr wie ich für Herrn Azir. Sein Name war David Diop.«

»Moment mal!« Sina zog die Stirn kraus. »So heißen doch Sie!«

»Da liegt ja das Problem«, hüstelte Azir verlegen. »Aber das ist noch nicht alles. Es gibt nämlich einen dritten Bruder.«

»Sagen Sie jetzt bloß nicht, der heißt auch David Diop und fährt Taxi in Ihrer Firma!«

Beide nickten.

»Lebt er?«

Wieder Nicken.

»Welcher ist dann tot?«

»Der mittlere Bruder. Ich bin der älteste. Eigentlich sollte ich selbst fahren. Aber nachdem ich das Taxi geholt hatte, bekam ich so schlimme Zahnschmerzen, daß ich sofort zum Arzt müßte.«

»Sonst säßen Sie jetzt nicht mehr hier«, sagte Sina.

»Nein, vermutlich nicht.« Seine Stimme klang beherrscht, aber seine Augen glänzten verdächtig. »Es müssen drei Männer gewesen sein. Er konnte noch die Zentrale benachrichtigen, aber als Kollegen ihn fanden, war er bereits bewußtlos. Er starb noch am Tatort.«

»Schrecklich!« sagte Sina leise. »Mal unterstellt, Sie und Ihre Brüder wären illegal in Deutschland«, fuhr sie nach einer ganzen Weile fort, »dann möchte ich gern wissen, wie Sie das mit dem Namen hinbekommen haben. Und mit den entsprechenden Papieren. Beides könnte wichtig sein.«

Azir wollte antworten, aber Sina unterbrach ihn.

»Das würde ich am liebsten von Herrn Diop selbst hören«, sagte sie. »Bitte.«

»Wir sind aus dem Senegal«, begann er. »Unser Land war jahrzehntelang französische Kolonie. Da machte man sich an offizieller Stelle keine große Mühe mit einheimischen Kindern. Viele Söhne? Immer der gleiche Allerweltsname, ganz einfach.«

»Aber wie hat das in Ihrer Familie funktioniert? Wie hat man Sie gerufen, wenn Sie alle gleich heißen?«

»Mit unseren richtigen Namen«, sagte er stolz. »Den afrikanischen. Jede Sippe hat bestimmte Namen, die sie an ihre Mitglieder verteilt. Jeder Name besitzt seine Bedeutung. So, wie es heißt, wird das Kind sich entwickeln. Das weiß jeder in meinem Land.«

»Und die Papiere?«

»Sie sind über Frankreich ein- und ausgereist«, schaltete Azir sich ein. »War kein Problem mit Deutschland. EG und so, Sie wissen schon.«

»Ein bißchen genauer hätte ich’s doch gern«, beharrte Sina.

Mittlerweile war es ganz dunkel geworden. Sie schaltete die Halogenanlage ein. Ihr Büro erstrahlte in warmem Licht. Klare Formen, luftige Materialien, unaufdringliche Farben. Sina Teufel besaß eine tiefe Abneigung gegen Pomp und Schnickschnack.

»Ich bin seit drei Jahren mit einer deutschen Frau verheiratet«, sagte David Diop. »Daher die Aufenthaltsgenehmigung. Meine Brüder kamen später nach. Und was die Papiere betrifft: Da gibt es einen Studentenausweis und einen Internationalen Führerschein. Beides in Frankreich ausgestellt. Auf David Diop.« Er machte eine kleine Pause. »Sowie eine Netzkarte der Münchner Verkehrsbetriebe.«

»Nicht mehr?« fragte Sina.

»Nein«, sagte er. »Mehr haben wir nicht.«

»Alles im rollierenden System verwendet? Und das hat tatsächlich die ganze Zeit geklappt?«

»Ja«, sagte er. »Obwohl meine Brüder nicht so gut Deutsch sprechen. Vielleicht auch, weil wir uns ziemlich ähnlich sehen. Zumindest für Weiße. Bis jetzt gab es keine Schwierigkeiten.« Sein dunkles Gesicht mit der breiten Sattelnase war undurchdringlich.

»Das hat sich ja gründlich geändert«, erwiderte Sina leicht sarkastisch. »Denn offiziell sind Sie nun tot.«

Er verstummte betroffen.

Sina stand auf, ging zum Schreibtisch und blieb am Fenster stehen. Unter ihr prunkte der Maximiliansplatz mit Dutzenden hell erleuchteter Schaufenster.

Auf den Straßen zogen noch immer glitzernde Autoschlangen vorbei. Freitag abend, Ausgehzeit. Die Stadt machte sich bereit, Scharen Amüsierwilliger in ihren diversen Etablissements zu verköstigen und zu unterhalten. Später, müde oder alkoholisiert, würden sie auf Taxen angewiesen sein. Eine Dienstleistung, die jeder ohne nachzudenken in Anspruch nahm.

Sie kam wieder zu den beiden Männern zurück. Azir zog hektisch an seiner fünften Zigarette und sah bleich und eingefallen aus; der Afrikaner wirkte ruhig, beinahe gelähmt.

»Herr Diop, ich möchte Sie bitten, kurz im Nebenraum zu warten. Ich muß ein paar Takte mit meinem Mandanten allein sprechen.«

Widerspruchslos stand er auf und ließ sich in Hannes Büro führen. Sie wies auf den Stapel Zeitschriften in der kleinen Ablage.

»Falls Sie etwas lesen wollen. Aber es wird nicht lange dauern.«

»Und Sie wußten natürlich davon«, wandte sich Sina Teufel an den Kurden und schloß die Tür hinter sich. »Ein Name, drei Fahrer, dreimal Gewinn. Nicht ganz unpraktisch für den Arbeitgeber.«

»Sie gehören zu meinen Besten«, erwiderte er kleinlaut. »Zuverlässig, freundlich und prima Umsätze. Keine von diesen Pennern oder Betrügern, die faulenzen oder heimlich auf eigene Rechnung fahren.«

»Als Anwältin kann ich zu den meisten Problemen, die Sie angesprochen haben, keine Stellung nehmen«, sagte Sina, ohne auf seine Antwort einzugehen. »Und erst recht keinen Rat erteilen, jedenfalls keinen, der Sie ganz konkret weiterbringen könnte. Aber ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, die ziemlich merkwürdig ist, wie solche Geschichten es nun mal oft sind.« Sie musterte ihn scharf. »Ich hoffe, Sie verstehen.«

»Bitte«, sagte er, »helfen Sie mir!«

»Ein afrikanischer Taxifahrer wird brutal getötet. Man findet Papiere bei ihm, die ihn als David Diop ausweisen. Es gibt nur einen Taxischein, wie ich mal annehme.«

Er nickte. »Ich glaube schon.«

»Erstaunlicherweise«, fuhr sie nachdenklich fort, »ist eben dieser Taxischein nebst Internationalem Führerschein dem wirklichen David Diop gestern in einer Kneipe gestohlen worden. Der Bestohlene ist durchaus lebendig und sollte, so die Geschichte, schnellstens zur Polizei gehen und den Diebstahl melden. Dem betreffenden Taxiunternehmer würde ich raten, möglichst wenig von der ganzen Sache zu wissen und noch weniger auszusagen, falls irgendwelche Behörden ihn befragen. Ich bin übrigens ganz sicher, daß sie ihn befragen werden. Vorausgesetzt natürlich, er hat mit seinem Einsatzleiter vorher ausführlich besprochen, was der aussagen wird.« Ihr Blick wurde noch eindringlicher. »Einem potentiellen dritten David Diop würde ich dringend raten, unverzüglich in die Heimat zu reisen und so schnell nicht wieder nach Deutschland zurückzukehren.«

»Und der Tote?«

»Was mit ihm geschieht, liegt in meiner Geschichte ganz bei den Beteiligten. Vielleicht weiß niemand hier, wer er ist. Das würde polizeiliche Anfragen im Senegal nötig machen; angesichts der Dauer solcher Erkundigungen allein im EG-Bereich kann man sich mühelos vorstellen, wie langwierig und umständlich das sein kann. Zumal es sich ja in unserer Geschichte um den Allerweltsnamen Diop handelt, wie wir gehört haben. Kommen wir nun zur deutschen Frau des Bestohlenen.«

»Er lebt nicht mehr mit ihr zusammen.«

»Das sollte der Held unserer Geschichte sofort ändern, wenn er, wie ich mal unterstelle, weiterhin in Deutschland bleiben will. Falls die Polizei die Ehefrau befragt …«

»Claudia Diop ist verreist und kommt erst am Mittwoch zurück.«

»… sollte sie aussagen, daß ihr Mann höchst lebendig ist und natürlich bei ihr wohnt. Vielleicht hat sie den Toten niemals zuvor gesehen, wer weiß?«

Sie schwiegen beide.

»Das alles kann eine Menge Ärger bedeuten, ja?« sagte er schließlich.

»Eine Menge«, bekräftigte Sina. »Ich kann nicht garantieren, daß meine Geschichte Ihnen aus der Patsche hilft, aber Herr Diop sollte sie unbedingt erfahren. Aus Ihrem Mund. Halten Sie mich auf dem laufenden, wie er sie aufnimmt.«

Sie stand auf und streckte sich. Leises Kopfweh begann hinter ihren Schläfen zu pochen. Sie wollte nach Hause.

»Und der Mord?« fragte er und erhob sich ebenfalls.

»Werden Sie mehr darüber erfahren?«

»In unserem Staat liegt das Monopol für Verbrechensaufklärung bei der Polizei«, sagte Sina. »Auch wenn es auf den ersten Blick nicht immer so aussieht. Außerdem sind Sie mein Mandant, nicht Herr Diop.«

»Ich fühle mich irgendwie mitschuldig«, erwiderte er leise. »Ich würde gern helfen. Ich weiß nur nicht, wie.«

Sina öffnete die Tür. David Diop ging unruhig auf dem Gang hin und her. Als er sie ansah, las sie Mißtrauen in seinen Augen.

»Tut mir leid«, sagte sie, »aber es ging nicht anders. Herr Azir wird Ihnen ausführlich berichten, worüber wir gesprochen haben. Vor allem ist es wichtig, die Nerven zu behalten und nichts Unüberlegtes zu tun. Das gilt für alle.«

Der Kurde nickte.

»Kommen Sie, David«, forderte er ihn auf. »Ich bringe Sie zur Polizeiwache.«

»Gute Idee«, sagte Sina und löschte hinter ihnen das Licht. »Genau das sollten Sie tun.«

Ruck Zuck

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