Читать книгу Ein Sattel zuviel - Larry Lash - Страница 6

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„Wo hast du ihn her, Sam?“

Der Mann, der diese Frage stellte, bekam wachsame Augen. Er wischte sich mit einer schnellen Handbewegung über sein graues, strähniges Haar und kam rasch näher. Er war über siebzig Jahre alt, und das Leben hatte viele Linien in sein verwittertes Gesicht gegraben. Dennoch wirkte Dan Perry nicht alt. Ruhe und innere Zufriedenheit strömten von ihm aus, und sein Körper war elastisch geblieben.

Dan Perry schaute auf den Sattel, den sein Sohn vom Einspänner hob und auf den Corralzaun hängte. Er betrachtete den Sattel, der von einer Art war, wie er in dieser Gegend nicht hergestellt wurde.

„Also, wo hast du ihn her?“, fragte er nochmals, als er keine Antwort bekam. „So einen Sattel sieht man hier nicht.“

„Dad, du wirst es nicht glauben, aber diesen Sattel habe ich gefunden“, erwiderte Sam Perry, der seinem Vater sehr ähnelte. „Ich brauchte ihn nur aufzuheben und mitzunehmen. Es ist ein prächtiger Sattel. Ich konnte ihn nicht übersehen. Er lag zehn Meilen von hier entfernt an der alten Poststraße. Ich habe mich gründlich umgesehen, denn zu einem Sattel gehören ein Pferd und ein Reiter. Ich konnte jedoch nichts entdecken. Das Gelände dort ist sehr steinig. Ich habe mich vergeblich bemüht, Licht in die Sache zu bringen. Es gab keinen Anhaltspunkt. Den Sattel habe ich dann einfach mitgenommen, Dad.“

„Ein Sattel zu viel“, murmelte Dan Perry. „Man sagt, dass das ein böses Vorzeichen ist, mein Junge.“

„Vielleicht sucht bald jemand nach seinem Sattel, und in diesem Fall soll er ihn zurückbekommen. Wir bewahren ihn für den Eigentümer auf. Der Himmel mag wissen, warum er abgeworfen und liegengelassen wurde. Hier ist ein friedliches Land. Seit vielen Jahren gab es hier keinen Raubüberfall mehr. Wir leben in Ruhe, Dad, und ich glaube nicht, dass sich das noch einmal ändern wird.“

Sam Perry lächelte. Er teilte nicht die Sorgen seines Vaters. Für ihn gab es keine bösen Vorzeichen. Er war jung und im besten Alter, ein Mann, der ausdauernd, stark und elastisch war. Schon seit ein paar Jahren führte er die Doppelring-Ranch. Seine Frau hatte ihm einen Jungen geboren. Alle waren auf den Kleinen sehr stolz. Er war der Sonnenschein der Ranch und jetzt gerade ein Jahr alt. Zur Ranch gehörten außer der Familie Perry fünf Cowboys. Alle verwöhnten den kleinen Jim, am meisten aber Dan Perry.

„Das gefällt mir ganz und gar nicht, Sam“, beharrte Dan Perry. „Vor allem stört es mich, dass dieser fremde Sattel auf unserer Weide lag. Gewiss, er ist prächtig, viel zu prächtig will mir scheinen. Die Silbereinlegearbeiten, die versilberten Steigbügel, wo findet man das schon?“ Er brach ab und untersuchte die Satteltaschen.

„Sie sind leer, Dad“, bemerkte Sam Perry. „Ich habe sie gleich durchsucht, aber nicht das Geringste in ihnen gefunden, weder Rauchwaren noch Verbandszeug noch Dinge, die ein Cowboy auf einem langen Trail braucht. Ich gebe zu, dass die Sache sonderbar ist, aber deswegen zerbreche ich mir nicht den Kopf. Liegenlassen konnte ich den Sattel nicht. Würdest du das getan haben?“

„Nein, Sam“, gab der Vater zu. „Dieser Fund muss aber dem Sheriff gemeldet werden. Das werde ich noch heute besorgen. Ich reite zur Stadt. Am besten wäre es, wenn ich den Sattel mitnehmen und im Office abliefern würde. Vielleicht weiß man in der Stadt mehr.“

„Das ist durchaus möglich, Dad. Reite nur und nimm den Sattel mit. – Hallo, Susan!“

Sam Perry wandte sich seiner Frau zu, die mit dem Jungen auf dem Arm auf die Veranda trat. Das helle Sonnenlicht fiel auf sie und ließ ihr kupferfarbenes Haar aufleuchten. Susan war groß und schlank. Schwarze Wimpern umrahmten ihre violetten Augen.

„Du bist schon zurück, Sam?“

Susans Stimme hatte einen vollen Klang. Diese Stimme passte zu ihrer anziehenden Erscheinung. In ihrem blauen Sommerkleid sah sie wie eine echte Rancherin aus. Niemand sah ihr an, dass sie aus einer großen Stadt kam, dass ihr Mann sie dort weggeholt und in ein ihr fremdes Leben eingeführt hatte. Überraschend schnell war sie mit dem neuen Leben zurechtgekommen.

Sam und Susan verstanden sich gut. Zu diesem Verständnis war es nicht nötig, dass sie Worte wechselten. Sie lebten in einem ruhigen, tiefen Glück, das durch keinen Schatten getrübt wurde.

Susan kam mit dem kleinen Jim auf dem Arm näher. Als ihr Blick auf den fremden Sattel fiel, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihre Rechte streckte sich aus und deutete auf den Sattel.

„Wo hast du ihn her, Sam?“, kam es fast tonlos über ihre Lippen.

Vater und Sohn sahen sich eigenartig berührt an. Ihnen waren das Erschrecken und die Abwehr Susans nicht entgangen. Sie fühlten, dass sie jetzt eine unangenehme Überraschung erleben würden. Kein Wunder, dass Sam Susans Frage nicht beantwortete, sondern seinerseits fragte: „Kennst du diesen Sattel, Susan?“

„Nur, wenn unter der Bauchgurtschnalle die Buchstaben L und N eingebrannt sind. – Schau nach, Sam!“

Susans Augen hatten sich verdunkelt. Das war nur der Fall, wenn sie sehr erregt war. Sam kannte dieses Zeichen nur zu gut an ihr. Die Erregung, die seine Frau befallen hatte, ging nun auch auf ihn über. Sein Herz schlug heftig. Er wechselte einen schnellen Blick mit seinem Vater, der ihm zunickte.

Sam Perry prüfte den Sattel sorgfältig und zuckte zusammen, als er die eingebrannten Buchstaben L und N unter der Bauchgurtschnalle entdeckte.

Susan hatte ihren Mann beobachtet. Als Sam jetzt den Blick zu ihr wandte, erkannte er deutlich ihre Angst.

„Du wirst mir alles sagen müssen, wirklich alles“, redete Sam sanft auf seine Frau ein. „Ich bin dein Mann und will dich beschützen. Wem gehört der Sattel?“

„Lester Novelle!“ Sie nannte den Namen, ohne zu zögern.

„Du kennst den Mann?“

„Ja, Sam, ich kenne ihn. Ich kannte ihn schon, bevor du in mein Leben kamst und mich hierher brachtest. Lester Novelle ist kein guter Mensch, Sam.“ Ihre Stimme drohte vor Erregung zu ersticken. „Er ist schlimmer als der Teufel selbst.“

Sam Perry nahm Susan sanft in die Arme. Er drückte sie an sich und fühlte ihr Beben.

„Novelle hat viele Menschen in die Hölle getrieben, Sam“, murmelte sie leise. „Ich konnte ihm entkommen, als du mich mitnahmst. – Jetzt ist er hier!“

Sie brach ab, dann fuhr sie mit erregter Stimme fort.

„Du musst ihn finden und davonjagen, Sam! Nur dann gibt es wieder Ruhe und Frieden.“

„So fürchtest du dich vor ihm, Susan?“

„Ja, Sam.“

„Wer weiß, was geschehen ist, Darling. Ich fand nur den Sattel, sonst nichts.“

„Vielleicht lag das in seiner Absicht, und er hat dich beobachtet, Sam. Es ist seine Art, so zu handeln. Er wird nicht allein sein, er hat immer ein Rudel hartgesottener Kerle um sich. – Dad“, wandte sie sich an ihren Schwiegervater, „sag dem Sheriff, wem der Sattel gehört, dass er nach diesem Mann forschen soll. Sag ihm, dass mit Lester Novelle ein Mann ins Land kam, dem nichts heilig ist.“

„Susan, was will er von dir?“, fragte Sam seine Frau.

„Das, was ich ihm nicht gab, Sam. Er will mich. Er ist verrückt nach mir und in seiner Leidenschaftlichkeit ohne Maß.“

„Er weiß doch, dass du mit mir verheiratet bist? Sicherlich weiß er das.“

„Für ihn ist das kein Grund, aufzugeben und sich damit abzufinden. Täusche dich nicht in diesem Menschen, Sam, er kennt keine Skrupel. Er erkennt keine Bindungen an. Er ist triebhaft, und das wird um so schlimmer mit ihm, je mehr Widerstand er spürt. Ich habe Angst, Sam, sehr große Angst. Ich weiß, wie sich die Menschen vor ihm ducken, wie sehr sie ihn fürchten.“

Sam sah auf seinen kleinen Sohn und blickte dann in die Augen seiner Frau.

„Du brauchst keine Angst zu haben, Darling“, sagte er mit fester Stimme. „Die dunklen Schatten der Vergangenheit kommen nicht an dich heran. Du wirst bald einsehen, wie unbegründet deine Furcht ist. Es wäre gut, wenn du mir Lester Novelle beschreiben könntest. Ich will wissen, wie der Mann aussieht, der es wagt, unseren Frieden zu stören.“

„Sam hat recht, Susan“, mischte sich jetzt Dan Perry ein. „Beschreib den Kerl, der glaubt, dass

er hier wie in einer Großstadt wirken kann. Auf dem Land kennt einer den anderen, nichts bleibt verborgen. Hier nimmt der Wind die Botschaften auf und trägt sie weiter, so dass jeder sie hören kann. Wer immer dieser Novelle auch ist, selbst wenn er der Teufel selbst sein sollte, hier kann er seine Praktiken aus der Großstadt nicht anwenden.“

„Dad, Lester Novelle kennt auch das Land“, sagte Susan leise. „Er ist weit herumgekommen. Man sagt, dass er alle Länder von Alaska bis zum Feuerland kennt, dass er ein Langreiter und Revolvermann ist, dass er auf den Goldfeldern war, verschiedene Banden gründete und den Tod vieler Menschen verschuldete. In den Großstädten tauchte er nur unter, um sich Aufgeboten zu entziehen. Man sagt, dass sein Steckbrief überall im Westen ausgehängt wurde. Weil das so ist, glaube ich nicht, dass die Personenbeschreibung, die ich von ihm geben kann, jetzt auf ihn zutrifft. Er kann sich so verwandeln, dass selbst seine Mutter ihn nicht erkennen würde.“

„Trotzdem, Susan, trotz aller Maskierung bleibt genug, um einen Mann zu erkennen, wenn man eine Beschreibung von ihm hat.“

„Sei da nicht so sicher, Dad“, erwiderte Susan. „Ich bin es jedenfalls nicht. Ihr könnt euch beide nicht vorstellen, wie groß seine Verwandlungskünste sind!“ Susans Augen flammten, rote Flecken brannten auf ihren Wangen. „Reite in die Stadt, Dad, erkundige dich nach Leuten, die dort fremd sind und erst in den letzten Tagen ankamen. Vielleicht hilft das. Schau dir die Leute genau an, die neu in der Stadt sind. – Nimm die ganze Mannschaft mit!“

Dan Perry schüttelte den Kopf.

„Das wäre grundverkehrt, Susan“, erwiderte er. Er hob den Sattel vom Corralzaun und legte ihn auf den Einspänner zurück. Dann machte er sich daran, zwei Pferde einzufangen.

„Man darf Lester Novelle keine Möglichkeit geben, sich zu entfalten, Sam“, wandte sich Susan an ihren Mann.

„Das habe ich auch nicht vor“, erwiderte der lächelnd und zeigte damit, wie fest er auf sich selbst baute. „Ich bin bei dir, niemand kann dir etwas Böses antun. Die Schatten der Vergangenheit werden dich nicht erreichen, dafür werde ich sorgen. – Komm mit Jim ins Haus.“

Susan folgte Sam in die große Wohnhalle. Dort setzte sie Jim auf den mit dicken Fellen bedeckten Boden. Erstaunt sah sie ihrem Mann zu, der aus einer Truhe zwei 45er Colts herausholte und die Waffen sorgfältig prüfte.

„Zwei 45er, Sam?“, fragte sie erstaunt. „Sie gehören dir?“

Sam nickte.

„Und du hast mir immer erzählt, dass dein Vater sie trug, als er noch jung war.“

„Ich wollte dich nicht beunruhigen, Darling. Keine Frau ist erfreut, wenn sie erfährt, dass ihr Mann ein Beidhandschütze ist. Ich war nie stolz darauf und wollte es für immer vergessen.“

„Großer Gott, Sam!“

„Jetzt weißt du es, Susan“, sagte Sam mit rauer Stimme. „Ohne diesen Zwischenfall würdest du es nie erfahren haben. Ja, ich war lange unterwegs. Mit vierzehn Jahren bin ich von zu Hause ausgerissen. Vater und Mutter haben sich jahrelang vergebens bemüht, mich wieder zurückzubekommen. Als ich mich nach Jahren dazu entschloss, hatte ich eine traurige Berühmtheit erlangt. Ich brauchte Monate, um meine Spuren zu verwischen und hierherzukommen. Als ich hier eintraf, war es zu spät, mich bei meiner Mutter zu entschuldigen. Sie war tot, und ich konnte nur noch ihr Grab besuchen. Ich fing ein neues, bürgerliches Leben an. Ich war entschlossen, nur noch der Arbeit zu leben und jedem Kampf aus dem Weg zu gehen. Aber es soll nun wohl nicht so sein, Darling.“

„Sam, das alles habe ich nicht gewusst.“

„Und wenn, hätte es an deiner Liebe zu mir etwas geändert?“

„Nein, bestimmt nicht, Sam“, kam es spontan über ihre Lippen. Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch Dan Perry betrat die Halle.

„Die Pferde stehen bereit, ich reite jetzt. Vorher möchte ich eine Beschreibung von Lester Novelle von dir hören, Susan.“

Dan Perry blickte auf seinen Sohn, und seine Augen verdunkelten sich.

„Es geht wohl nicht anders, Sam?“

„Nein, Dad.“

„Wir wollen hoffen, dass alles nur ein böser Traum ist, Sam, dass unsere Sorgen wie Seifenblasen zerplatzen.“ Er machte eine Pause und sah seine Schwiegertochter fest an. „Nun, Susan?“

„Lester Novelle ist blond, grauäugig und von großer Statur. Sein Gesicht ist schwer zu beschreiben, weil es ein Durchschnittsgesicht ist. Und seine Haarfarbe kann er ändern.“

„Richtig. Und jetzt sag uns die volle Wahrheit“, sagte Dan Perry sanft. „Ein Mann kann nicht so leidenschaftlich sein. Allein deinetwegen ist er doch nicht hier?“

Susan zögerte. Sie schluckte, und ihr Blick ging zwischen ihrem Mann und ihrem Schwiegervater hin und her. Man sah ihr deutlich an, wie schwer es ihr fiel zu sprechen.

„Also gut“, sagte sie, „ich will alles erzählen. Es ist wohl besser so. Ich möchte keine Geheimnisse vor euch beiden haben.“

„Geheimnisse, Susan?“, fragte Sam aufhorchend. Seine Augen weiteten sich, er schüttelte ungläubig den Kopf. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Frau Geheimnisse vor ihm hatte. Das war für ihn genauso verwirrend wie für sie, dass er ein Revolvermann war.

Susan setzte sich in einen Sessel und schloss die Augen. Die beiden Männer ließen keinen Blick von ihr, doch keiner drängte sie zu sprechen. Beide warteten, bis sie von sich aus reden würde.

„Ich habe euch meinen Bruder verschwiegen“, begann sie. „Er war nur zwei Jahre älter als ich. Ohne ihn wäre es mir nach dem tragischen Tod meiner Eltern wohl schlecht gegangen. Meine Eltern kamen bei einem Eisenbahnunglück ums Lehen. Mein Bruder sorgte für mich. Er war es, der das elterliche Geschäft verkaufte und versuchte, in der Stadt ein neues Leben zu beginnen. Damals glaubte er, dass es genügte, jung und stark zu sein, wenn man das Glück zwingen wolle. Es kam alles anders, als Rod es sich erhofft hatte. Die große Stadt nahm uns nicht freundlich auf, aber was noch schlimmer war, niemand kümmerte sich um uns. Anfangs besaßen wir noch genügend Geld, um im Hotel wohnen zu können. Mein Bruder versuchte immer wieder, Arbeit zu bekommen. Doch immer wieder kam er von vergeblicher Arbeitssuche niedergeschlagen nach Hause. Wir mussten schließlich aus dem Hotel ausziehen, und es war schwer für uns, eine andere Unterkunft zu finden. Zu diesem Zeitpunkt versuchte ich, Arbeit zu bekommen, und das glückte mir auch. Meinem Bruder war das nicht recht, und so stritten wir uns oft aus nichtigen Anlässen. Immer wieder sagte ich Rod, dass es gleichgültig sei, wer von uns das Geld bringe, es sei für uns beide nur wichtig, zu leben und nicht unterzugehen. Bald würde es sicherlich besser werden. Anfangs hatte ich mit dem Zureden noch Erfolg, aber später wurde er mutloser und immer schweigsamer. Eines Tages kam er abends nicht wie gewohnt zurück, sondern erschien erst gegen Morgen. Meine Angst, dass ihm etwas zugestoßen sei, war unbegründet. Ich weiß noch, wie ich mich bemühte, ihm keine Vorhaltungen zu machen. Als ich aber sah, dass er betrunken war, konnte ich mich nicht beherrschen. Er unterbrach meinen Redeschwall nicht, sah mich nur spöttisch an und setzte sich auf einen Stuhl. Dann kramte er in seiner Westentasche, zog einen Packen Dollarnoten hervor und warf ihn auf den Tisch. Dabei sagte er, dass mir das wohl den Mund stopfen würde, und dass er jetzt am Zuge sei. Mir verschlug es die Sprache. Entsetzt betrachtete ich die Dollarscheine. Ihm schien es höllischen Spaß zu machen, mich so verblüfft und erschrocken zu sehen. Ich fragte ihn, woher er das Geld habe. Schließlich bequemte er sich zu sagen, dass er weder jemand umgebracht noch einen Raubüberfall ausgeführt habe. Er hätte einen Job bekommen, und das Geld sei die Anzahlung. Umsonst bemühte ich mich, mehr von ihm zu erfahren. Er rückte nicht mit der Sprache heraus und ließ mich schließlich allein, um seinen Rausch auszuschlafen.

Ich brauche euch sicherlich nicht zu sagen, dass für mich eine Welt einstürzte. Meine Angst um Rod war riesengroß geworden. Ich ging wie gewohnt meiner Arbeit nach. Mein Bruder schlief tagsüber, und sobald es dunkel wurde, machte er sich auf, um seiner Arbeit nachzugehen, wie er sagte. Ich versuchte, ihm zu folgen, doch immer wieder verstand er es, mich abzuhängen. Ich wagte es auch nicht, mich allzu weit von unserer Wohnung zu entfernen. In den großen Städten ist es bei Anbruch der Dunkelheit für eine Frau gefährlich. Ich ahnte es damals nur, aber ehrbare Bürger und angesehene Politiker können gleichzeitig Angehörige von Banden sein. Das sollte ich alles noch erfahren.

Einer der hochangesehenen Bürger der Stadt war Jack Topper. Er war Bankier und Friedensrichter, ein Mann, der das Auftreten eines Gentleman hatte. Wer ihn sah, musste ihn für die Anständigkeit in Person halten.

Mit der Zeit bekam ich heraus, dass mein Bruder bei diesem Mister Topper angestellt war. Das beruhigte mich etwas und gab mir das Gefühl, dass mein Bruder einer ehrlichen Arbeit nachging. Der Zufall aber wollte es, dass ich eines anderen belehrt werden sollte. Damals glaubte ich, dass es ein Zufall gewesen sei, heute glaube ich nicht mehr daran. Das Schicksal spielt uns die harten Tatsachen auf den Tisch, und wir haben mit ihnen fertig zu werden.

Rod arbeitete in Wirklichkeit nicht für Jack Topper, sondern für Lester Novelle. Er gehörte zu den Leuten, die unorganisierte Geschäftsleute mürbe machten und sie dazu brachten, an Novelles Bande Tribute zu zahlen. Das ist ein übles und raues Geschäft. In schändlicher Art wurden die Leute zusammengeschlagen, die sich der Bande zu widersetzen versuchten. Es kam immer wieder zu harten Auseinandersetzungen. Nicht nur mit den Geschäftsleuten, sondern auch mit Banden, die sich gegenseitig Konkurrenz machten.

Ich merkte erst, was mein Bruder tat, als zwei Männer Rod schwerverletzt in unsere Wohnung brachten und mir befahlen, dafür zu sorgen, dass mein Bruder am Morgen wieder auf den Beinen sei.

Ich erwiderte ihnen, dass Rod vor allen Dingen einen Doc brauche und dass ich mich aufmachen würde, einen zu holen. Einer der Kerle zog daraufhin einen Revolver, richtete die Waffenmündung auf mich und sagte grinsend: Das werden Sie sein lassen! Wir haben einen neuen Polizeipräsidenten. Solange der nicht marschiert, können wir uns nicht erlauben, dass Sie einen Doc holen. Leider ist der alte Doc vor drei Tagen erschossen worden. Ihr Bruder hat also doppeltes Pech. Er muss morgen früh wieder fit sein und seine Arbeit bei Topper antreten. Nur das wird ihn noch retten können.

Ich nickte, obwohl ich nichts von allem verstand. Man riet mir, Rod selbst zusammenzuflicken, da wir beide in Gefahr seien. Außerdem sollte ich nicht versuchen, mit meinem Bruder die Stadt zu verlassen. Wir würden beide nicht weit kommen.

Ich fragte nicht weiter, denn ich begriff, mit welchen Menschen ich es zu tun hatte. Als die beiden gingen, verriegelte ich die Tür hinter ihnen. Ich musste mich setzen, meine Beine wollten mich kaum noch tragen. Lange Zeit regte ich mich nicht, doch als Rod aufstöhnte und nach Wasser verlangte, wurde ich lebendig. Ich weiß selbst nicht, woher ich den Mut nahm, ihm die Kugel aus dem Oberschenkel zu schneiden und ihn zu verbinden. Ich band meinem Bruder den Mund zu, damit die Leute im Hause nicht durch sein Schreien aufmerksam wurden. Es war schrecklich, aber ich schaffte es schließlich. Rod war während der ganzen Zeit bei Bewusstsein. Als ich fertig war, nahm ich ihm den Knebel aus dem Mund.

Jetzt weiß ich, was ich für eine Dummheit gemacht habe, Schwester, murmelte Rod mit zuckenden Lippen. Diese Kerle erschießen die eigenen Leute, wenn sie ihnen gefährlich werden.

Zum ersten Mal sprach er von seiner Arbeit, zum ersten Mal hörte ich Novelles Namen. Grauen erfasste mich. Ich hörte Rod zu, ohne ihn zu unterbrechen. Mein Bruder sagte, dass alles noch gut werden könne, dass er die Arbeit aufgeben würde.

Ich sagte ihm, dass man mir erklärt habe, er müsse morgen früh bei Topper sein. Rod zuckte zusammen und blickte ängstlich zur Tür.

Ich kann nicht mehr, sagte er. Ich habe mir zu viel zugemutet. Dieses Leben kann ich nicht weiterführen. Sie wissen es und haben mich auf die Abschussliste gesetzt.

Er berichtete, wie seine Arbeit aussah. Er konnte die Wahrheit nicht länger verschweigen. Ich sagte ihm, dass sie uns beide töten würden, wenn er nicht bei Topper sein würde.

Das haben sie dir also angedroht? Es sieht diesen Schuften ähnlich, erwiderte er. Der neue Polizeipräsident hat einige Beamte entlassen, ein frischer Wind weht durch diese Stadt. Novelle musste einige Niederlagen einstecken. Er weiß, dass man alle Hebel in Bewegung setzt, um die

Bande auffliegen zu lassen. Der Raub der Ölpapiere hat die ganze Stadt in Aufruhr versetzt. Ich war an diesem Raub beteiligt, Schwester. Ich konnte mich nicht widersetzen. Novelle wollte die Pläne haben, auf denen die Gebiete verzeichnet sind, auf denen man Ölvorkommen erschließen will. Er weiß, dass die Originalpapiere nicht vervielfältigt worden sind, dass derjenige, der sie in Besitz hat, ein Riesenvermögen machen kann. Der Polizeipräsident will sich jetzt die Sporen verdienen, indem er die gestohlenen Papiere wieder auftreibt. Aus diesem Grunde kann Novelle keine Rücksicht auf mich nehmen. Ich vermute, dass alle Ärzte in der Stadt Anweisung erhalten haben, auf einen Mann zu achten, der einen Oberschenkelschuss hat. Was hätte es nur gegeben, wenn du mir die Kugel nicht herausgeholt hättest.

Wie soll es jetzt weitergehen, Rod?, fragte ich ihn.

Er sah mich mit fieberglänzenden Augen an.

Nur ich weiß, wo die Papiere sind, gab er zur Antwort. Darum soll ich auch morgen wieder da sein. Wir haben uns auf der Flucht trennen müssen, und ich habe die für Novelle so wichtigen Papiere versteckt.

Rod brach ab und stöhnte leise. Er verlangte nach Wasser, und ich gab ihm zu trinken. Sein Zustand verschlimmerte sich von diesem Zeitpunkt an immer mehr. Er sprach im Fieber, aber seine Sätze waren zusammenhanglos und nicht zu verstehen. Ich konnte mir kein Bild von dem machen, was er sagte. Aber vier Stunden später war er plötzlich hellwach.

Du musst fliehen!, sagte er erregt zu mir.

Ich erwiderte, dass ich das nicht ohne ihn tun würde.

Ich habe dir nur Kummer bereitet, Schwester, sagte er zu mir und ergriff meine Rechte. Ich bin ein Versager. Ich habe mich in eine Sache eingelassen, die mehr als übel ist. Ich kann daraus nicht entkommen. Es ist wie ein Morast; je mehr man sich müht, desto tiefer zieht er einen hinab.

Ich sagte ihm, dass er so nicht sprechen solle. Er habe seinen Fehler erkannt, und nur das allein zähle. Mit einem traurigen Lächeln winkte er ab.

Es ist viel zu spät, Susan. Novelle wird hierherkommen, um nach mir zu sehen. Er darf dich nicht sehen, Schwester. Ich will nicht, dass er dich sieht.

Ich fragte meinen Bruder, warum er Novelle so sehr fürchte. Er gab zu, dass er Furcht vor ihm habe, beharrte aber darauf, ihn allein zu empfangen. Ich gab zu bedenken, dass die beiden Kerle, die Rod gebracht hatten, Novelle bestimmt von mir erzählt hätten.

Sie halten dich für meine Geliebte, erwiderte Rod scharf. Ich habe ihnen das erzählt, um dich zu schützen.

Ich bat Rod, mir das Versteck der Papiere zu verraten, aber er lehnte das ab. Es sei besser für mich, wenn ich nichts wüsste. Die Männer würden auch vor mir nicht haltmachen. Es sei besser für mich, sofort zu packen und zu verschwinden. Aber daran dachte ich nicht. Ich konnte Rod in dieser Lage nicht allein lassen.“

Susan schwieg und schaute ihren Mann und ihren Schwiegervater an.

„Das war recht von dir gehandelt“, sagte Sam. „Du konntest deinen Bruder nicht im Stich lassen. Erzähl weiter, rede dir alles vom Herzen, das wird dich erleichtern.“

„Ja, das tut es“, erwiderte Susan mit zuckenden Lippen.

Nach einer Weile fuhr sie fort: „Mein Bruder verfiel in einen Zustand, der sich schwer beschreiben lässt. Einige Male glaubte ich, er sei tot. Er schien es aufgegeben zu haben, mich weiter zur Flucht zu bewegen. Ich zweifelte schließlich daran, ob ich es nicht falsch gemacht hatte, indem ich ihm die Kugel aus dem Oberschenkel holte. Ich machte mir solche Vorwürfe, dass ich einem Zusammenbruch nahe war. Jedes noch so kleine Geräusch ließ mich zusammenfahren und steigerte meine Nervosität ins Unerträgliche. Ich versuchte, mich zu beruhigen, und trank einige Whiskys, was ich sonst nie tat. Ich hatte das Gefühl, dass sich mein Zustand besserte, und wusste nicht, dass der Alkohol eine gewisse Gleichgültigkeit in mir erzeugte. Als Rod wieder nach mir rief, drehte sich das Zimmer um mich, und ich fiel zu Boden. Als ich mich wieder erheben konnte, hörte ich ein dröhnendes Lachen, und jemand sagte mit dunkler Stimme: Freund, du solltest deinen Whisky besser einschließen. – Wer ist das Mädchen?

Ich erkannte Lester Novelle. Die Beschreibung, die mein Bruder von ihm gegeben hatte, traf auf ihn zu. Er hockte auf dem Bett meines Bruders und starrte ihn an wie eine Schlange, die ihr Opfer belauert.

Sie ist verlässlich, Boss, erwiderte Rod. Sie ist meine Schwester.

Es ist gut, dass du die Wahrheit sagst, erwiderte Novelle. Ich habe mir doch gleich gedacht, dass sie deine Schwester ist. Wenn sie es nicht wäre, müsste sie die lange Reise noch heute antreten. Ich dulde keine Mitwisser!

Sie weiß gar nichts, Boss.

Wirklich nicht?, höhnte Novelle. Ich halte nicht viel von der Mitarbeit von Frauen. Frauen sind dazu da, Männern angenehme Stunden zu schaffen und sich schön zu machen.

Ich schloss die Augen, als Lester Novelle mich scharf ansah.

Du hältst dich sehr gerade, hörte ich Novelle zu meinem Bruder sagen. Er machte sich an dem

Krankenlager zu schaffen. Hat sie die Kugel herausgeholt?

Ja, Boss, gab Rod zu.

Gute Arbeit! Ich kann das beurteilen. Ein Doc hätte es nicht besser machen können. Deine Schwester kann unserem Verein noch eine wertvolle Hilfe werden. Wenn es ihr Spaß macht, kann sie noch öfter einige Unzen Blei herausschneiden.

Mir wurde fast übel, als ich Novelle so sprechen hörte. Mir kam der Gedanke, mich schlafend und betrunken zu stellen.

Was ist mit meiner Schwester?, fragte Rod.

Sie ist betrunken wie ein Hafenarbeiter, erwiderte Novelle lachend. Sie hat wohl noch nie getrunken?

Sie wollte sich nach der Operation stärken, Boss.

Nun, das ist ihre Sache. Ich mag keine betrunkenen Frauen, sagte er abfällig, auch dann nicht, wenn sie so hübsch sind wie deine Schwester. By Gosh, bei ihr könnte ich fast eine Ausnahme machen.

In Novelles Stimme klang jetzt etwas mit, was mir Sorgen bereitete. Auch mein Bruder schien das herausgehört zu haben, denn er lenkte ab:

Du wolltest doch das Versteck wissen, Boss. Er beschrieb genau die Gasse und den Riss in der Wand, in den er die Papiere gesteckt hatte.

Ich kann jetzt niemanden hinschicken, um sie zu holen, sagte Novelle. Die ganze Gegend wimmelt von Polizei. Wir müssen bis zur nächsten Nacht warten, dann wirst du mich dorthin führen. Deine Schwester wird mit von der Partie sein. Ich glaube, sie wird das erste weibliche Mitglied unseres Vereins werden. Sie gefällt mir ausgezeichnet. Das habe ich noch von keiner Frau sagen können.

Ich hörte Schritte, Novelle ergriff mich und zerrte mich hoch.

Schau mich an!, forderte er mich auf. Ich blickte ihm ins Gesicht, das dicht vor mir war. Ja, du gefällst mir, sagte er und presste mich so eng an sich, dass sein heißer Atem mein Gesicht streifte. Wir werden uns prächtig verstehen. Der Alkohol hat dich zur toten Puppe gemacht, aber das wird sich ändern. In meinen Armen wirst du zum Leben erwachen, das Eis wird schmelzen. – Verdammt, reiß dich zusammen!

Ich tat es nicht, ich wehrte mich nicht. Ich stemmte mich nicht gegen ihn, und das schien ihn wütend zu machen. Er schlug zu, meine Wangen brannten. Ich hätte schreien und weglaufen sollen, doch ich war wie gelähmt, und das sicherlich zu meinem Glück. Er schüttelte mich noch einige Male, und ich murmelte Unverständliches. Wütend schleuderte er mich zu Boden.

Bleib liegen, Rod!, herrschte er meinen Bruder an. Es würde mir leid tun, wenn sie in diesem Zustand noch eine Kugel aus deinem Fleisch schneiden müsste.

Rod atmete schwer. Er hatte sich von seinem Lager erhoben und lehnte am Schrank. Seinen Revolver hatte er nicht erreichen können.

Versuch nicht, den Helden und Beschützer zu spielen, sagte Novelle verächtlich. Niemand hat mich bezwingen können, keiner aus meinen Reihen hat sich gegen mich zu erheben versucht. Du bist wohl lebensmüde?

Lass meine Schwester in Ruhe, Boss!

Ich kann deine dummen Gedanken lesen. Du möchtest mir an den Kragen, dabei kannst du dich nicht einmal auf den Beinen halten. Lass das sein, Freund, ich habe dich in der Hand. Ich brauche nicht einmal meine Leute gegen dich einzusetzen. Es genügt, wenn ich dem nächsten Polizeiposten deine Adresse gebe. Man wird dir die drei Toten ankreiden, die beim Überfall zurückblieben.

Ich habe niemanden getötet.

Ich weiß, aber was macht das schon? Man wird mir glauben.

Man weiß, wer du bist.

Nicht, wenn man etwas Maske macht, grinste Novelle. Ich kenne tausend Tricks, um mein Äußeres zu verwandeln. Es gibt genug Leute, die schwören werden, dass du die drei Männer getötet hast.

Du bist ein Teufel!

Bin ich das? Nun, mir macht es nichts aus, ich betrachte es als Kompliment. – Dir möchte ich raten, jeden Fluchtgedanken aufzugeben. Ich werde das Haus bewachen lassen, denn noch brauche ich dich. Du sollst dafür sorgen, dass ich bei deiner Schwester Susan gut ankomme. Dir werde ich es zu verdanken haben, wenn sie nett zu mir ist.

Novelle lachte nach diesen Worten teuflisch auf. Wenn ich auch etwas betrunken war, so wusste ich doch, dass ich einen Blick in die Hölle tat. Das ernüchterte mich so sehr, dass ich bei Novelles Fortgang wieder klar bei Sinnen war.

Mein Bruder Rod schleppte sich zu seinem Lager zurück. Als ich bei ihm war, sagte er:

Du hast deine Rolle ausgezeichnet gespielt, Susan. Das hat dich vor dem Schlimmsten bewahrt. Aber verlass dich drauf, Novelle kommt wieder.

Lass uns fliehen!, bat ich.

Rod nickte.

Ja, stimmte er zu. Ich werde die Zähne zusammenbeißen. Hol meinen Revolver und schau nach, ob noch genügend Munition im Schrank ist. Lösch das Licht und beobachte die Straße, ohne dass man dich von draußen sehen kann.

Wirst du durchhalten, Rod?

Mit deiner Hilfe sicher, erwiderte er.

Ich wusste, dass die Wunde Rod unsägliche Schmerzen bereiten musste. Sein Gesicht verriet es deutlich. Aber bleiben konnten wir nicht, dass stand fest. Wir mussten die Flucht wagen.

Durch die Türen kommen wir nicht ungesehen, erklärte Rod. Wir müssen durch den Keller. Ich habe ihn mir gut angesehen. Es gibt dort einen Gang, der zum Nachbarhaus führt. So könnte es uns gelingen, von hier fortzukommen. Geh jetzt vom Fenster weg und mach das Licht wieder an.

Ich hatte in der Toreinfahrt des gegenüberliegenden Hauses zwei Gestalten schwach erkennen können. Deutlich hatte ich das Aufglühen ihrer Zigaretten gesehen.

Ich kenne sie, erklärte Rod. Sie sind zu allem fähig. Ich begreife mich selbst nicht mehr, warum ich ihr Partner werden konnte. Aber das ist jetzt vorbei. – Ist die Luft auf dem Flur rein?

Ich konnte nichts Verdächtiges bemerken.

Dann komm, sagte mein Bruder. Das Licht lassen wir an.

Ich raffte nur das Notwendigste zusammen, dann brachen wir auf. Rod legte den Arm um mich, um besser gehen zu können. Der Schweiß brach ihm aus. Die Schmerzen mussten ihm fürchterlich zusetzen. Dass er es dennoch wagte, wird mir immer rätselhaft bleiben. Jeder andere hätte es wohl gar nicht erst versucht und hätte die Dinge an sich herankommen lassen. Rods Gesicht war leichenblass, und nur seine Augen funkelten. Er versuchte sogar zu lächeln.

Ich selbst spürte kaum, dass sich Rod auf mich stützte. Mir gellte noch immer Novelles Lachen in den Ohren, und meine Wangen brannten von seinen niederträchtigen Schlägen. Auch ich wollte weg, fort von dem Ort der Demütigung und Erniedrigung. Ich wollte wieder frei sein, nicht mehr eingesponnen in das Netz von Gemeinheit und Verbrechen.

Wir schafften es, in den Keller zu kommen, ohne dass uns die übrigen Hausbewohner bemerkten. Dabei stand ich tausend Ängste und Qualen aus. Immer wieder erschreckten uns die Geräusche, die hinter den Türen zu hören waren. Ich wurde erst ruhiger, als wir im Keller angelangt waren und den Verbindungsgang zum anderen Haus erreichten. Rod musste sich erst ausruhen, ehe es weiterging. Wir konnten unbemerkt aus dem Nachbarhaus entkommen. Wir setzten unseren Weg durch Seitenstraßen fort. Rod stützte sich schwer auf mich. Er befand sich in einem Zustand, den ich als schlafwandlerisch bezeichnen möchte. Wenn ich ihn ansprach, bekam ich keine Antwort.

Im Morgengrauen versteckten wir uns in einem alten Weinkeller zwischen vermoderten Fässern. Wir glaubten uns bereits gerettet, und das stärkte unsere Widerstandskraft und hob unseren Mut. Die Stunden verstrichen. Gegen Mittag bat mich Rod, Ausschau zu halten. Sein Zustand hatte sich verschlechtert. Fieberschauer schüttelten seinen geschwächten Körper.

Ich hätte mich nie mit Novelle einlassen dürfen! Er haderte mit sich selbst. Susan, geh und sieh nach, ob man uns verfolgt.

Ich gab meinem Bruder zu verstehen, dass man uns bestimmt schon aufgespürt hätte, wenn man uns suchte. Mir war es klar, dass wir hier nicht lange bleiben konnten, höchstens ein oder zwei Tage. Ich wollte mich aufmachen, um etwas zu essen zu besorgen.

Es geht mir nicht gut, klagte Rod. Mein verletztes Bein ist wie ein Bleiklumpen. Es brennt

wie eine einzige Flamme, die meinen Körper durchrast. Es ist kaum auszuhalten. Ich werde wohl doch einen Doc brauchen, Susan.

Ich hole ihn.

Nein, es geht nicht, widersprach er.

Doch, ich werde es versuchen, Rod. Du musst am Leben bleiben. Was du auch immer getan hast, es ist nicht so wichtig.

Ich habe ausgespielt, Susan.

Rod winkte mir, mich zu entfernen. Seinen Blick werde ich nie vergessen. Es war ein eigentümlicher Blick. Alles in mir drängte danach, zu bleiben, mein Verstand jedoch sagte mir, dass wir zuerst etwas zu essen haben müssten, und das gab den Ausschlag.“

„Susan, du bist mitten in der Hölle gewesen“, sagte Sam Perry leise zu seiner Frau. „Was hast du nur durchmachen müssen! Wie ging es dann weiter?“

Susan strich sich das Haar aus der Stirn. Die beiden Männer sahen deutlich, wie erregt sie war. Die Vergangenheit war in ihr lebendig und bedrückte sie noch jetzt.

„Ich habe etwas zu essen besorgen können“, fuhr sie unvermittelt fort. „Aber als ich zu Rod zurückkam, war er tot. Ich weiß nicht, was dann geschah, doch als ich wieder zu mir kam, war ich in fremder Umgebung. Man hatte mich in ein Hospital gebracht. Ich wurde rasch wieder gesund und nahm nach meiner Entlassung eine andere Stellung an. Die alte wagte ich aus Angst vor Novelle nicht wieder anzutreten. Meinen Bruder hatte man beerdigt, nachdem man uns gefunden hatte. Vorsichtig erkundigte ich mich nach Novelle und erfuhr einiges über seine Lebensgewohnheiten. Ich hörte, dass er mich suchte. Einige Zeit später lernte ich dich kennen, Sam. Du brachtest mich aus der Stadt heraus. Ich habe bisher geglaubt, dass mit der weiten Entfernung von der Stadt auch die Schatten der Vergangenheit verschwinden würden, aber ich habe mich wohl geirrt.“ Susan verstummte und sagte dann leise: „Jetzt ist die Angst wieder da, Sam.“

„Du brauchst keine Angst mehr zu haben, Susan. Novelle kann uns nicht erschüttern. Wir, mein Vater und ich, werden dich schützen. – Reitest du jetzt los, Dad?“

„Ja, mein Junge“, nickte Dan Perry. „Susan, halte den Kopf hoch! Du bist nicht allein. Denk auch an deinen Jungen, er braucht dich.“

Dan Perry winkte aufmunternd und verließ die Wohnhalle.

Ein Sattel zuviel

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