Читать книгу Der Kanujäger - Larry Lash - Страница 6
1.
ОглавлениеEs dunkelte bereits, als Tom Darnell sein Kanu mit kräftigen Paddelschlägen zum Ufer lenkte. Zwischen den hohen Schwarztannen hoben sich bereits die Dunstfelder steigender Nebel ab. In ihnen verwischte sich die im Hintergrund liegende schroffe Gebirgslandschaft. Die Schatten der Nacht breiteten sich bereits aus. Aus der Ferne der urigen, rauen Landschaft drang ein Elchschrei, dem Rabenkrächzen folgte. Außer dem Wasserrauschen am Bug des Kanus störte nichts weiter die feierliche Stille der Wildnis. Ein Biberkopf tauchte in Ufernähe aus dem Wasser, um aber gleich wieder zu verschwinden. Die Witterung des Menschen hatte den Breitschwanzbiber zur Flucht veranlasst. Der Biber würde in eine unter dem Wasserspiegel angelegte Burg schlüpfen und damit in Sicherheit sein.
Tom Darnell lächelte. Er betrachtete die Knüppelburg, die die Biber geschaffen hatten und auch die Dämme, die hier an der schmalsten Stelle des Sees von Ufer zu Ufer reichten. Der schmale Bach, der hinter dem Damm lag und in den See mündete, war dermaßen schilfbewachsen, dass nur der, der die Landschaft kannte, die Bachmündung erkennen konnte.
Darnell hielt jetzt unterhalb in Ufernähe auf die Bachmündung zu. Seine rauchgrauen Augen spähten unentwegt nach der Schilfgasse, die, wie er wusste, in jedem Frühjahr von seinen Geschwistern geschlagen werden musste, damit die Bachanwohner zum Fischen in den See hinausgelangen konnten. Der See mit seinem Fischreichtum trug entscheidend zur Ernährung der Darnell-Sippe bei.
So sehr Tom Darnell aber seine Augen anstrengte, er konnte keine Lücke im Schilfdickicht ausmachen. Die Schilfwand glich einer Mauer, die jedem Eindringling das Weiterfahren unmöglich zu machen schien. Tom schien es, als solle es ihm nicht vergönnt sein, nach zehnjähriger Abwesenheit zu den Seinen zu gelangen. Zehn Jahre sind eine lange Zeit in einem Menschenleben, doch hier schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Die Ufer, der See und die Bachmündung, alles war wie einst.
Tom versuchte mit dem Paddel eine Lücke in dem an dieser Stelle schwachen Biberdamm zu öffnen, um weiterfahren zu können. Er brauchte jedoch eine geraume Zeit, bis er diese Arbeit bewältigt hatte. Während dieser Minuten wurde es ständig dunkler. Das nahe gelegene Ufer verlor in den Schatten der Nacht immer mehr seine Umrisse. Der Wind rauschte stetig in der Schilfwand. Es schien, als wolle er den Heimkehrenden mit seinem monotonen Gesang begrüßen.
Tom Darnell, der jetzt heimkehrte, war als Jüngling fortgezogen. Er hatte den siebenjährigen Krieg um Amerika mitgemacht, sieben Jahre hatte er als Soldat gedient. Er hatte die Biwakfeuer am Houregan-See leuchten sehen und mit seinen französischen Kameraden Lieder am Lagerfeuer gesungen, wobei die schaurigen Totenhymnen der Indianer sich zu einem Lärm vereinten, dessen Widerhall vom Felsen zurückgeworfen wurde. Er war bei dem großen Marquis Montcalm, als dieser Fort William Henry angriff und es zu Fall brachte. In seinem ganzen Leben würde er den wilden Kampf im Morgengrauen jenes Spätsommertages, als das Fort von den mit dem Marquis verbündeten Indianerhorden eingenommen war, nicht vergessen können. Er gehörte zu jenen, die das französische Fort Quebec verteidigt hatten und mit den verbündeten Indianerstämmen zusammen die nach alter Art im Geviert angreifenden Soldatenkolonnen General Braddocks mit gut gezielten Schüssen aufgerieben hatten.
In den zehn Jahren war Tom ein Mann geworden. Viele Narben an seinem Körper gaben Kunde davon, dass auch er seine Lektionen bekommen hatte, dass ihm nicht nur das Glück geleuchtet hatte. Er hatte auch durch Höllen gehen müssen. Jetzt wollte er heim. Er war des Umherwanderns müde geworden. Wie kein anderer hatte er den amerikanischen Kontinent kennengelernt. Ungeheure Räume hatte er durchmessen und war in die sagenhaften Jagdgebiete der Sioux eingedrungen. Er kannte den Wabash so gut wie den Missouri, Cumberland so gut wie Kentucky. Er kannte viele Indianerstämme, von deren Vorhandensein die meisten Weißen im Osten Amerikas keine Ahnung hatten. Er war weit in den Norden vorgedrungen und bis zum Athabaska-See gelangt, dorthin, wo es keine Pferde gab, wo die Helfer des Menschen Hunde, Schlittengespanne und Kanus waren, wo das flammende Nordlicht die Nächte erhellte und der Odem Gottes besonders hart wehte.
Ja, Tom Darnell hatte in den vergangenen Jahren viel gesehen und viel erlebt. Der große Sieg der Engländer hatte ihn zuerst tief getroffen, doch langsam hatte er sich daran gewöhnt, dass nicht mehr seine Landsleute, die Franzosen, die Herren im Lande waren. Man konnte auch unter englischer Herrschaft leben, denn die große Wildnis nahm alle auf, die in ihr leben wollten. Jetzt wollte er sich nach der langen Wanderschaft ausruhen, es zog ihn zu den Seinen zurück. Er wollte sesshaft werden. Er nahm an, dass die Unruhe in ihm mit der Besitznahme eines Ackers verschwinden und ihn ruhiger machen würde. Er ahnte noch nicht, dass in ihm das Erbe seiner Vorfahren lebendig war, die von einer festen Heimstatt nichts wissen wollten und sich vom Wind immer weiter treiben ließen.
Das Blut der Nomaden war in ihm, obwohl er sich noch einbildete, dass er doch sesshaft werden könnte. Er wusste noch nicht, wie sehr er sich bereits von den sesshaften und bedächtigen Hinterwäldlern unterschied. Er ahnte nicht, dass er einer jener Pioniere war, deren Leben sich in keinen festen Grenzen abspielte. Noch glaubte er fest daran, dass er daheim bleiben würde. Ihm war es gleichgültig geworden, wer die neuen Herren im Lande waren. Wer sich nichts zuschulden kommen ließ, konnte mit jedem auskommen. Es war ihm gleichgültig, ob es nun die Engländer oder die Franzosen waren. Das Land büßte nichts von seiner Pracht ein. Der wahre Herr war noch immer die Wildnis. Eher noch konnte er die vielen Stämme im Inneren des Landes, die noch kaum von weißen Menschen gesichtet worden waren und ein stolzes, selbstbewusstes Eigenleben führen, als die wahren Herren des Landes betrachten.
Die sogenannten „Segnungen“ der Zivilisation hatten diese Stämme noch nicht erreicht. Sie waren noch nicht von Krankheiten der übelsten Art überschüttet worden, mit Seuchen und billigem Fusel, mit schlechten Feuerwaffen und Messern. In Tom Darnell war das Wissen um viele Dinge, die er schauen und erleben durfte, die sich in ihm eingeprägt hatten, die er bis zum letzten Atemzug in sich tragen würde. Längst schon hatte er herausgefunden, dass er kaum jemanden finden würde, dem er von dem Erlebten hätte Mitteilung machen können. Die Menschen würden ihn für einen Phantasten und Narren halten, wenn er ihnen von den weißen, brodelnden und schäumenden Wassern in Minnesota erzählen würde. Sie würden ihn für einen Lügner halten, wenn er ihnen von der Wucht erzählen würde, mit der das Wasser die Niagara-Fälle hinunterdonnerte. Was wussten die Menschen schon von den unheimlichen Geisterstädten der Indianer, in denen die Häuptlinge hoch zu Ross bestattet und in Felsenkammern eingemauert wurden?
Die Hinterwäldler kannten nur um Whisky bettelnde Indianer und wussten, dass diese Grenzindianer zu Hunderten in elender Verfassung in der Nähe der Weißen-Siedlungen wohnten und vollends verkamen. Was wussten sie schon von den indianischen Völkern, die tief im Lande in voller Freiheit nach ihren alten Gesetzen lebten, deren Stolz ungebrochen war. Sie hatten einen freiheitlichen Lebensstil, der jedem Weißen Bewunderung abverlangen musste. Diese roten Menschen kannten die Lüge nicht. Sie waren gastfreundlich, edel und gut, obwohl das Kriegsführen ihnen im Blute lag. Sie bekämpften sich hart untereinander, doch nahmen sie tapfere gefangene Gegner unbedenklich in den eigenen Stamm auf. Im Kampf schonten sie Greise, Kinder und
Frauen. Heldenmut und Tapferkeit wurden auch bei den Gegnern geachtet. Der Krieger, der in der Verteidigung tötete, wurde mehr geachtet als jener, der einem Gegner beim Angriff den Skalp nahm. Mochten sich zwei Stämme noch so feindlich gegenüberstehen, so hörte doch aller Kampf auf, wenn ein Unbewaffneter zu den Heiligen Steinbrüchen unterwegs war, um sich den roten Ton für sein Kalumet zu holen.
Tom Darnell hatte mit den roten Kriegern zusammen in einem Zelt gelebt. Er hatte mit den Angehörigen der verschiedensten Stämme gejagt und gelitten und an Kriegszügen teilgenommen und hatte schließlich so gedacht wie sie. Er hatte die Kost der Roten kennengelernt und die Leckerbissen, die fast bei jedem Stamm verschieden waren. Ein auf assiniboinisch zubereiteter Büffelhöcker hatte durch das Dämpfen und Einreiben mit besonderen Gewürzkräutern einen anderen Geschmack als ein Büffelhöcker, der von einer Sioux-Squaw über dem offenen Feuer gebraten worden war. Ein Wildputer, von den Irokesen zubereitet, unterschied sich im Geschmack kaum von dem Hundefleisch, das die Winnibogas äußerst delikat zubereiten konnten. Bärenschinken, Elchfleisch und Bärentatzen, die einige Tage in lehmigem Boden eingegraben wurden, waren nicht schlecht im Geschmack. All das hatte er gekostet und Geschmack daran gefunden.
Nach Jahren würde er bald wieder Maisbrot zu essen bekommen und dazu aus Ziegenmilch bereitete Butter und den Weißfisch, den sein Bruder aus dem See fischte. Auch das waren Leckerbissen, von denen er oft geträumt hatte, wenn sein Proviant zur Neige ging und das Hungergespenst sich zeigte.
Ja, oft genug hatte er hungern müssen. Sein hager geschnittenes, braungebranntes Gesicht verriet deutlich, dass er wie ein Indianer zu leben gewohnt war. Oft hatte es sehr viel zu essen gegeben und dann wieder so wenig, dass ein weißer Mann vor Entkräftung bald umgefallen wäre. Die Eigenart der Indianer, sehr viel zu essen und dann lange zu hungern, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. In den letzten Jahren war er abgehärtet, zäh und genügsam geworden. Unbewusst hatte er den Maßstab für die Zivilisationswerte verloren. Das machte ihm aber im Augenblick wenig Sorge. In wenigen Tagen, so hoffte er, würde er sich wieder an das Leben der Weißen
gewöhnt haben. Die ruhelose Zeit war dann ein für allemal vorbei. Nach Jahren würde er endlich wieder ein Dach über dem Kopf haben, nach Jahren wieder eine Schlafstatt unter sich spüren, auf der er sich bequem ausstrecken konnte. Er freute sich darauf, dass es bald so sein würde.
Nur noch zwei Meilen Fahrt bachaufwärts durch die Schilfwand hindurch, dann würde er wieder daheim sein. Daheim … was war das für ein Zauberwort! Er sprach das Wort laut vor sich hin in die Nacht hinein.
Jetzt hatte er den Biberdamm hinter sich gelassen und glitt auf die Mündung des Baches zu. Vergeblich hatte er nach einem Schilfdurchbruch Ausschau gehalten. Unangenehm überrascht hielt er vor der Schilfwand an. Er fragte sich, warum sein Bruder in diesem Jahr keinen Einbruch in die Schilfwand gemacht haben mochte.
Nun, in zehn Jahren konnten sich die Angewohnheiten der Menschen ändern. Vielleicht hatte Ralph das Fischen völlig aufgegeben. Vielleicht hatte eine Fischseuche den Bestand im See so dezimiert, dass es sich nicht mehr lohnte, auf Fischfang zu gehen. Gegen diese Ansicht sprach aber die Tatsache, dass die Fischottern noch immer im See waren. Tom Darnell sah gerade zwei Fischotterköpfe auftauchen und dann schnell wieder verschwinden. Er überlegte weiter, dass sich vielleicht der Geschmack der Geschwister geändert haben mochte, und dass man es jetzt vorzog Wildbret zu essen. Es war noch kein Grund zur Sorge. Im Moment hieß es, sich einen Weg durch die Schilfwand zu bahnen. Das hielt zwar auf, war aber notwendig. Das Mündungsgebiet des Baches war so versumpft, dass ein Weitermarsch über Land bald im Sumpf geendet haben würde.
Mückenschwärme schienen jetzt die Ankunft des Mannes bemerkt zu haben und schwirrten heran. Die Insekten konnten einem Menschen schon schwer zu schaffen machen, und wenn man nicht aufpasste, war man hinterher so zerstochen, dass einen die nächsten Verwandten nicht erkannten.
Tom Darnell arbeitete mit der stoischen Ruhe der Indianer, ohne sich stören zu lassen. Langsam schob sich sein Kanu in die Schilfwand hinein, stetig kam er vorwärts. Die Schilfhalme ragten zu allen Seiten des Kanus in den Himmel hinein. Umschwärmt von Mücken arbeitete Tom sich vorwärts, so wie er es schon als Junge getan hatte, wenn eine Fahrrinne zum See geschaffen werden musste. Im Frühjahr war es jedoch bedeutend leichter gewesen, die trockene Schilfwand zu durchstoßen. Wenn man täglich zum Fischfang fuhr, war es auch nicht schwer gewesen, die Schilfwand offen zu halten. Jetzt allerdings war es sehr mühselig, zeitraubend und anstrengend. Oft blieb das Kanu stecken. Wenn Tom sich einige Minuten ausruhte, gluckerte das Wasser an der Bootswand. Der Wind trug Moorgeruch heran. Das Wasser war schwarz und unheimlich anzusehen.
Es dauerte nahezu zwei Stunden, bis der Schilfbewuchs lichter wurde und das Boot zügiger voran getrieben werden konnte. Das Ufer war jetzt mit seinen Weidenbeständen nahe herangerückt. Tom erkannte, dass er sich nicht in der Richtung geirrt hatte und den geraden Weg durch die Schilfwand eingeschlagen hatte. Von jetzt an kam er schneller vorwärts. Der Schilfbestand hörte auf, und das Moorufer ging in festen Uferboden über. Deutlich waren Tannenbestände zu erkennen, die ihre Spitzen gen Himmel reckten. Das Kanu glitt zügig durch das träge Wasser des Baches. Bald musste das Darnell‘sche Anwesen sichtbar werden.
Es lag vom See aus gerechnet hinter der dritten Bachkrümmung. Zehn Meilen bachaufwärts lag das kleine Dorf Mobile, das einst von französischen Waldläufern gegründet worden war. Sie hatten hier eine Handelsstation errichtet und waren von hier aus zum Fallenstellen aufgebrochen. Das war aber alles längst vorbei, und nur der Himmel mochte wissen, wie viele französische Familien noch im Dorf waren. Was mochte sich inzwischen alles am Otterbach geändert haben?
Etwas Neues kam auf Tom zu, er ahnte irgendeine Gefahr. Oft war er einsam und allein gewesen und hatte so etwas wie einen sechsten Sinn für Gefahren entwickelt.
Mit dem Handrücken wischte er sich über das Gesicht. Kräftiger betätigte er das Paddel, so dass das Boot jetzt schneller vorwärts schoss. Vorn am Bootsbug quirlte das Wasser auf, und hinter dem Boot bildeten sich lange Streifen, die sich zum Ufer hin ausweiteten. Die Bachkrümmung tauchte auf. Die Mückenschwärme blieben zurück, denn hier wehte ein frischer Wind. Wenig später bog das Boot in die Krümmung ein. Tom Darnells Augen wandten sich zur rechten Uferseite, wo sich eine Anhöhe zeigte. Sein Blick blieb auf dem alten Haus haften, das sich trutzig auf der Hügelkuppe erhob. Rötlich schimmerndes Licht drang aus den schmalen Fensterritzen. Die Fenster waren nach dem damaligen Brauch mit Fellen abgedichtet. Rauch stieg aus dem Kamin empor und wurde sogleich vom Wind hinweg gewirbelt. Dunkel lagen Schuppen und Stallungen da.
Was Tom Darnell in diesem Augenblick der Heimkehr zu seinem Elternhaus dachte und empfand, das wusste nur er selbst. Mit einigen Paddelschlägen trieb er zum Ufer zu der Stelle, an der aus Stämmen eine Art Landungssteg errichtet worden war. Kein Boot schaukelte wie einst am Landungssteg. Leer lag der Platz. Das Holz war so morsch, dass Tom sofort erkannte, dass es einige Jahre hindurch nicht ausgebessert worden war.
Der Heimkehrer machte sein Boot fest und kletterte vorsichtig heraus. Vom Steg aus warf er noch einen schnellen Blick auf das Boot, in dem sich unter Planen seine Ausrüstung befand. Er ließ sie vorerst zurück, bis er seine Geschwister begrüßt hatte. Er drängte ihn danach, zu seinen Angehörigen zu kommen. Es fiel ihm schwer, nach gewohnter Art, erst zu prüfen, ob das Seil, mit dem er das Boot festgemacht hatte, und der Holzpfahl, an dem er die Leine festgezurrt hatte, sicher genug waren. Als er alles geprüft und in Ordnung gefunden hatte, machte er sich auf den Weg.
Sonderbar, wie schwer die Füße jetzt waren, wo sie doch leicht und beschwingt hätten sein müssen. Es schien, als hätten sich Bleigewichte daran gehängt. Es kam hinzu, dass seine Kehle trocken war und er immerzu schlucken musste. Fast starr waren seine Augen auf das Haus gerichtet.
Warum schwieg er, warum rief er nicht die Namen seiner Angehörigen? Kamen ihm jetzt Bedenken, wurde er sich erst jetzt dessen bewusst, dass zehn Jahre eine lange Zeit in einem Menschenleben sind? In zehn Jahren konnte viel geschehen. Er überlegte sich, dass auch seine Geschwister um zehn Jahre älter geworden waren. In seiner Gedankenwelt hatte er sie sich immer vorgestellt, wie sie vor zehn Jahren gewesen waren. Jetzt, da seine Heimkehr Wirklichkeit geworden war, schreckte er unwillkürlich zurück.
In Gedanken versunken war er jetzt so nahe an das Anwesen herangekommen, dass das Gekläff eines Hundes ihn aufschreckte.
„Nur ruhig!“, sagte er zu dem starken, wolfsähnlichen Tier, das an seiner Leine zerrte. „Nur
ruhig!“, wiederholte er jetzt, da er nur wenige Yards vor dem Tier haltmachte und zur Haustür spähte. „Wir beide werden uns bald besser kennenlernen, schwarzer Teufel!“
Der starke Fang des Hundes schnappte zu. Wildblitzende Augen und ein gesträubtes Fell verrieten nur zu deutlich, dass dieser Hund Fremde nicht mochte und nur die Leine ihn daran hinderte, es deutlicher unter Beweis zu stellen.
„In einer Stunde, schwarzer Teufel, wirst du mir das Futter aus der Hand nehmen und vor mir kuschen. Ich kenne das Geheimnis, wie man Burschen wie dich bändigt und gefügig macht.“ Ein leises Lachen kam über Tom Darnells Lippen. Er beachtete den Hund nicht weiter. Deutlich hatte er gehört, wie der Riegel der Haustür bewegt wurde. Im nächsten Augenblick wurde die massive Tür einen Spalt weit geöffnet. Der Lauf einer Flinte wurde sichtbar, und eine grell klingende Stimme wurde hörbar.
„Wer wagt es, in der Nacht zu stören?“
Das war ganz und gar gegen die Gastfreundlichkeit, die in diesem Lande üblich war. Das war ganz und gar nicht Darnell‘sche Art, das war auch keine Darnell‘sche Stimme. Es war eine fremde, von Misstrauen erfüllte Stimme, die diese Frage stellte.
In Toms Augen brannte es wie Feuer. Eine Welt brach in ihm zusammen.
„Ich bin Tom Darnell“, sagte er, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend. „Vielleicht sagt Ihnen der Name etwas?“
Es erfolgte keine Antwort. Dem hinter der Tür lauernden Mann schien es die Sprache verschlagen zu haben. Das Schweigen, das sich herabsenkte, wurde nur durch das rasende Hin- und Herlaufen des Hundes unterbrochen.
„Haben Sie mich nicht verstanden?“, fragte Tom, als er noch immer keine Antwort erhielt.
„Sehr gut habe ich Sie verstanden, Tom Darnell!“, wurde ihm mit heiserer und vor Erregung schwingender Stimme erwidert. „Sie haben zufällig den Namen eines Mannes, der schon längst tot ist. Tom Darnell ging vor zehn Jahren in die Fremde und ist schon seit acht Jahren tot. Wenn Sie jetzt noch den Mut haben, sich so zu nennen, dann müssen Sie entweder wirklich das Pech haben, so zu heißen oder sich einen Namen gewählt haben, der Ihnen nur Unglück bringt.“
„Hören Sie, Freund, ich bin wirklich Tom Darnell, und hier ist meine Heimat, hier bin ich zu Hause!“
Wieder senkte sich schwer und drückend das Schweigen nieder. Dann kam endlich die beißende Antwort: „Ich glaube nicht an Gespenster. Wenn Sie nicht schauen und kehrtmachen, schieße ich. Es wird sich dann zeigen, ob Sie aus Fleisch und Blut sind. Schließlich könnte jeder daherkommen und behaupten, Tom Darnell zu sein. Verschwinden Sie!“
„Bevor ich verschwinde, noch eine Frage: Wo ist meine Schwester Gerlinde und mein Bruder Ralph?“
„Sie sind hartnäckig“, erwiderte der unsichtbare Sprecher. „Glauben Sie, dass ich nun, da Sie den Namen der beiden haben laut werden lassen, annehme, dass Tom Darnell von den Toten auferstanden ist? Ich war ein Kind, als Tom Darnell in die Fremde ging. Ich würde ihn jederzeit wiedererkennen.“
„Wenn es so ist, dann versuchen Sie es!“ Wieder musste der andere lange überlegen, dann wurde die Tür weiter geöffnet. Der Hund wurde zurückgerufen, und der Unsichtbare sagte einiges, was Tom nicht verstehen konnte. Er konnte nur annehmen, dass es eine Anweisung war, die an die anderen Familienmitglieder gerichtet war. Dann folgte eine scharfe Aufforderung.
„Kommen Sie, kommen Sie ganz langsam mit erhobenen Händen!“
Noch während diese Worte gesprochen wurden, wusste Tom Darnell, dass der Sprecher sich weiter in das Innere des Hauses zurückzog. Die Tür öffnete sich wie von selbst. Eine breite Lichtbahn erhellte jetzt die Nacht.
„Hier hat sich wirklich vieles geändert“, sagte Tom. Der andere blieb die Antwort nicht schuldig.
„Vielleicht können Sie das beurteilen, vielleicht auch nicht. Das werden wir erst wissen, wenn wir Ihnen unter die Hutkrempe schauen können. Die Zeiten haben sich geändert. Wenn Sie aber nicht Tom Darnell, sondern einer dieser verteufelten englischen Landvermessern sind, dann machen Sie lieber gleich Ihr Testament.“
Das also war es. Tom ging endlich ein Licht auf. Er hatte bereits davon gehört, dass nach der Besitzergreifung Englands den kleinen Leuten nichts erspart blieb, dass sie das Land, das sie sich erkämpft hatten, nach der Vermessung auch noch bezahlen sollten. Die Zivilisation rückte unaufhaltsam nach Westen vor. Die Pioniere, die den Indianern das Land entrissen und es gegen sie verteidigt hatten, konnten nicht begreifen, dass sie jetzt auch noch dafür bezahlen sollten.
England fragte wenig danach, wie die Hinterwäldler dachten, noch weniger fragten sie danach, dass die eigentlichen Herren des Landes die Indianer waren. Englands Beamte waren sehr hartnäckig. Sie trieben die Steuern ein, sobald das Land dicht genug besiedelt war. Das Mutterland England brauchte immerzu Geld, es war unersättlich.
Nun, Tom Darnell wusste darüber Bescheid. Dass er aber selbst zu spüren bekommen sollte, welchen Hass dieses Vorgehen der Engländer in der Bevölkerung erzeugen würde, hatte er nicht vermuten können. Ohne zu zögern ging er an dem Hund vorbei, trat ein und blieb neben der Tür stehen.
Wenn er bis jetzt noch gehofft hatte, dass er seinen Geschwistern begegnen würde, so sah er sich arg enttäuscht. Fremde sahen ihn an. Nicht einen von ihnen kannte er. Es hatte sich alles verändert. Von den Möbeln, die einst sein Vater geschreinert hatte, war nichts mehr vorhanden. Der alte Kamin war abgerissen und durch einen neuen ersetzt worden. Man hatte viele Balken ausgewechselt. Das neue Holz stach stark von dem alten verräucherten ab. Doch diese Dinge nahmen Toms geschulte Augen nur nebenbei wahr. Mehr interessierten ihn die Menschen im Raum. Sein Blick fiel auf eine hagere, leidend aussehende Frau, die ihn scharf betrachtete. Zwei Kinder – Jungen waren es – klammerten sich wie Schutz suchend an ihre Mutter. Sicherlich machte das von vielen Mückenstichen blutig gewordene Gesicht des Fremden keinen vertrauenerweckenden Eindruck auf sie. Das mochten aber nicht nur die Kinder empfinden, sondern gleichermaßen auch die Eltern.
„Nehmen Sie die Hände herunter, Sie sind wirklich Tom Darnell“, sagte der hagere Mann, der immer noch die Flinte auf ihn gerichtet hielt. „Zehn Jahre sind zwar eine lange Zeit, doch habe ich Sie nicht vergessen. Wir Jungen schwärmten damals alle für Sie, Tom Darnell. Sie waren unser Held. – Es ist alles in Ordnung, Mary. Dieser Besucher ist tatsächlich Tom Darnell. Entschuldigen Sie die wenig freundliche Aufnahme. Zehn Jahre haben auch Sie sehr verändert, Tom. Ich weiß noch wie heute, wie Sie damals uns Jungen beibrachten, wie man Wurfschlingen macht und wilde Pferde einfängt, oder aber wie man sich mit einer Wolfsmaske vor dem Gesicht dem Leithengst zeigt, so dass das Tier auf einen zukommt und man ihn mit einem Schuss über den Widerrist betäuben kann. Das hat niemand Tom Darnell nachmachen können. – Sie sind es wirklich, ich erkenne es immer deutlicher. Noch heute spricht man davon, wie es Ihnen gelingen konnte, nach zwei Stunden den wildesten Gaul zahm zu kriegen. Willkommen daheim, Tom Darnell! Es ist schier unglaublich für uns, dass Sie noch am Leben sind, denn hier glaubt man Sie seit acht Jahren tot.“
„Ein Irrtum, weiter nichts.“
„Ein böser Irrtum, denn Ihre Geschwister haben es geglaubt.“
Der Mann hing seine Flinte an einem Wandhaken auf und bat Tom, Platz zu nehmen. Die Frau und die Kinder musterten ihn noch immer scheu. Es schienen Menschen zu sein, die nur sehr
wenig Kontakt zu anderen hatten, denen das Misstrauen im Blute lag.
Tom wirkte schwerfällig, als er auf der Bank neben dem Tisch. Platz nahm. Die Frau trat wortlos zum Herd und schürte das Feuer. Die beiden Kinder waren ihr gefolgt, ohne jedoch den Fremden aus den Augen zu lassen. Fremd und gespannt war für Tom die Atmosphäre. Er hatte nie so empfunden wie in diesen Augenblicken, als er geglaubt hatte, heimgekommen zu sein. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, in seinen Augen brannte es heiß. Er schluckte und schaute auf die Kienfackeln, die in schmiedeeisernen Haltern an den Wänden brannten. Irgendwie erinnerte ihn das Licht an das Nordland, wo er mit den Ottawas und Wyandotts bei Fackellicht mit Schlittengespannen über die Eisfläche des Iroquois Houregan-Sees gejagt war. Die Eisfläche hatte unter den Kufen geknirscht. Seltsam, dass sich jetzt bei der großen Enttäuschung, die er erlebte, sich allerlei Bilder seines vergangenen Wanderlebens vordrängten. Vor seinem geistigen Auge erschienen die gewaltigen Seen in den düsteren Wasserlanden. Er sah den gelben, trüben Schlammfluss, den man Missouri nannte, die eigenartig geformten Felszinnen der Gebirge, die an Gespensterburgen erinnerten, und über die Prärie dahinjagende Indianerhorden.
Auch jetzt raunte und rauschte es. Es war der Wind, der um das Haus strich. Er glaubte das Rauschen der Blätter der Sykomoren und Silberpappeln herauszuhören. War es nicht, als würden sich jeden Augenblick die Fellfenstervorhänge öffnen und gespenstische Wesen hereingleiten?
„Nur noch einen Augenblick Geduld, Tom Darnell, dann gibt es etwas zu essen. Man soll von Joe Hicks nicht sagen können, dass er die Gesetze der Gastfreundschaft missachtet. Ich war ein Narr, dass ich Sie für einen Landvermesser hielt. Verzeihen Sie, Tom Darnell. Nach dem Essen wollen wir uns über Ihre Familie unterhalten, nicht eher.“
„All right“, sagte Tom ruhig. Er war damit einverstanden. Ein Gast hatte die Anweisungen des Gastgebers zu achten. Hier war er nicht zu Hause, hier war er ein Fremder, nur ein Gast.