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I

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Meine Schwester heiratete. Es war im Juni. Die Sonne schien an diesem Tag, aber als ich am Vormittag rausfuhr, wehte ein kalter Wind. Es war knapp eine Stunde zu fahren. Die Zehn-Uhr-Nachrichten hörte ich, als die Straße von der nach Norden führenden Strecke abzweigte und in einer Kurve zu einer Brücke mit einem Kraftwerk daneben führte, dort, wo die Landschaft erst ihre wirkliche Form annimmt, ihre eigentliche Form, und weiter ging es durch den kleinen Ort F. an die Seen, die einer nach dem anderen aufgereiht daliegen.

Srebrenica. Gorazde. Ich hatte eigentlich geplant, den Kofferraum mit Sachen vollzupacken, die in die Hütte sollten, bevor mein Urlaub in einer Woche anfing, obwohl ich nicht dorthin wollte; hatte gedacht, alles in die Stube zu stellen, aber schließlich waren es nur vier Bilder geworden. Die wollte ich aufhängen, und in verschwommenen Gedanken überlegte ich Kurve um Kurve, wo sie hängen sollten. Ich wollte nicht, daß sie im Haus in der Stadt bleiben würden. Mit dem letzten See erblickt man gleichzeitig auch die Kirche, in der die Trauung stattfinden sollte, um ein Uhr, mit Madeleine, meiner einzigen Schwester, die wie eine Galionsfigur gravitätisch voranschreiten würde, mit den Brautmädchen und -jungen an der Schleppenreling.

Stig stand in kurzer Hose, mit Sonnenbrille, draußen und strich die Spitzen des Lattenzauns, als ich neben dem Haus parkte. Der Zaun hat rote, spitze Latten, und die Enden der Spitzen sind weiß gestrichen. Schon lange war die Rede davon, diese Tatsache deutlicher hervorzuheben. Neben ihrem eigenen Auto standen drei weitere auf dem Platz. Frühgekommene, die, während der Tag noch jung war, Kaffee trinken oder helfen wollten, das Fest vorzubereiten. Stig hatte wie immer eine Gelegenheit gefunden, aus der Planung auszuscheren. Über die Hand, die den Farbeimer hielt, hatte er einen Arbeitshandschuh gezogen, aber nicht über die andere, die Pinselführung war eine heikle Sache.

»Du kommst ja auch schon so früh«, sagte er.

»Mich hat nichts aufgehalten«, antwortete ich.

»Und Dina kommt also nicht.«

»Sie muß da was fertigkriegen.«

»Ach so.« Er konnte sich schon vorstellen, was es damit auf sich hatte. Er nahm neue Farbe auf den Pinsel.

»Das wird wirklich gut«, sagte ich. »Jedenfalls nicht schlecht.«

Auf der Seite des Hauses, die zur Straße und Gartentür zeigt, gibt es einige richtige Hängebirken. Ein leiser Luftzug fuhr durch das Birkenlaub, ein tiefes Flüstern, das anscheinend überhaupt nicht aufhören will. Mindestens zwei Rasenmäher knatterten in den Nachbargärten. Es näherte sich ein Zitronenfalter, den Stig mit der Pinselhand von den Latten zu verscheuchen suchte. Stig fährt eine Planierraupe und noch andere Maschinen im Straßenbauamt. Er ist hier im Ort geboren und aufgewachsen, dabei ist es ja nicht einmal ein Ort, nur eine Anhäufung von Häusern um eine Straßenkreuzung, weshalb es einen Bauplan und kommunale Abwasserkanäle gab. Madeleine war schon damals mit ihm zusammen, als wir noch mit unseren Eltern die Sommer in der Hütte verbrachten. Er hat das Haus seiner Eltern übernommen. Dazu gehören auch einige Meter Wald. Eine Weile hat er Verschiedenes gelernt und ein Jahr in Göteborg gelebt, aber mehr war dann nicht daraus geworden. Die Kinder sind acht, fünf und knapp ein Jahr alt. Madeleine ist Lehrerin in der Oberstufe. Jetzt haben sie beschlossen zu heiraten.

»Ich muß eben noch duschen«, sagte er. »Geh schon rein und trink eine Tasse Kaffee.«

Drinnen begrüßte ich die anderen. Madeleine war mit der Kleidung des ältesten Mädchens beschäftigt, Maja, die Fünfjährige. Ich kannte alle bis auf die Pfarrerin. Sie war eine frühere Freundin von Madeleine, noch aus dem Jahr in Göteborg, und arbeitete jetzt in Varberg. Stig und Madeleine wollten sich gern von ihr trauen lassen und hatten den Termin so gelegt, daß der hiesige Gemeindepfarrer Urlaub hatte, damit es kein böses Blut gab. Die Pfarrerin war rotblond, ziemlich groß und ziemlich hübsch, sie trug ihr Haar offen. Die Pfarrkleidung schien viel zu eng für sie zu sein. Ich erinnere mich an ihren Handschlag, ihren langen, sommersprossigen Handrücken. Sie hieß Elisabet, das wußte ich schon vorher, und Hallby, das hatte ich vergessen oder nie gehört.

Stigs Mutter und seine ältere Schwester mit Familie waren da. Das war das andere Auto. Die Mutter wohnte in einer betreuten Wohnung in der Stadt. Das dritte Auto gehörte Eino. Er ist schon seit langer Zeit ein Freund und wohnt in Växjö. Er war bereits am Abend zuvor gekommen und hatte hier übernachtet, genau wie die Pfarrerin. So wird sie ja wohl genannt.

Und dann kamen die übrigen Gäste, einer nach dem anderen. Einige fuhren natürlich auch direkt auf den Parkplatz vor der Kirche. Ich begrüßte sicher so um die zwanzig Personen. Lehrerkollegen. Jagdfreunde. Eltern von Kindern der Fußballmannschaft, die Stig trainierte. Und wie sonst die Verbindungen beschrieben werden können. Ich habe nie versucht, sie mir der Reihe nach vorzustellen. Sonnengebräunt, durchlüftet, Leute in leichten Sonntagskleidern, Kombiwagen, Kühler an Kühler. Die Kirchenwand blitzte weiß. Alle kannten mich mehr oder weniger. Wir füllten die vordere Hälfte der Kirche. Die Pfarrerin trat nun in einer viel zu großen Robe an den Altar und wartete auf das Glockenläuten. Dann kam der Kinderchor und stellte sich auf.

Es heißt, daß renovierte schwedische Kirchenräume aussehen wie Ausstellungshallen für Kunstgewerbe. Das stimmt. Auch an diesem Tag gab es Birkenlaub, Blumen und Tageslicht, das durch die hohen, blaugetönten Fenster hereinschien. Jetzt kamen sie mittelschiffs nach vorn. Madeleine, sich ganz des Ernstes dieser Stunde bewußt und gleichzeitig mit einem Auge auf das Einjährige, das Stigs Schwester trug. Ich erhob mich wie alle anderen und sah sie an. Sie hatte einen Gesichtsausdruck, der mir noch ganz vertraut war. So hatte sie schon in unserer Kindheit in bestimmten Situationen geguckt. Der Kantor, der auch aus der Gegend stammt und zumindest während der Pfingstferien, als Madeleine in die achte oder neunte Klasse ging, auf ihrer Hitliste einen der vordersten Plätze eingenommen hatte, gab dem Kinderchor das Zeichen zum Einsatz. Er fiel mit der sich vorne befindenden und ziemlich schwächlichen kleinen Orgel ein, nicht mit der großen auf der Empore, die nur bei besonderen Anlässen, Kirchenkonzerten, Weihnachtsmessen oder ähnlichem benutzt wird. (Ich bekam einmal den Schlüssel und spielte eine ganze Nacht, eine Frühlingsnacht, auf ihr: A Whiter Shade of Pale und, wie hieß es noch, Eleanor Rigby? Vanilla Fudge’s Version. The Sky Cried. Oh, no, must be the Season of the Witch ... That’s What Makes a Man ...)

Sie wurden nach einem Ritual getraut, das ich nicht kannte. Aber ich hatte schon lange nicht mehr geheiratet.

Alles wurde per Video gefilmt, von dem Mann von Stigs Schwester – was ist das? –, seinem Schwager. Ich habe mir den Film oft angesehen. Elisabet Hallby steht mit einem kleinen Blatt Papier in der Hand. Und sieht trotzdem majestätisch aus, wie eine Art Druidenpriesterin. Die Schatten sollten weich sein, erscheinen aber grell blau, fast lila. Wenn das Birkenlaub ins Bild kommt, scheint es zu brennen. Das Einjährige wehrt sich und will nach vorn. Ich, Erika Madeleine Gillberger. Ich, Stig Olof Torin. Schwenk über die Bankreihen. Da stehe auch ich. Die Blendenweite reicht von Weiß bis Dunkelgrau. Der Kinderchor, der Kantor. Die Gesichter der Kinder, der Brautkinder, eins nach dem anderen. Dann wieder Elisabet Hallby; wir bleiben eine Weile bei ihr, sie hebt das Kinn und schüttelt mit ruckartigen Bewegungen das Haar vom Kragen los, während wir Stig und Madeleine folgen, wie sie sich umdrehen und wieder hinuntergehen, jetzt jeder mit einem Kind auf dem Arm, Maja kommt hinterher und hält sich am Schleier fest.

Draußen stellten wir uns auf und warfen Reis, und auch das hat er gefilmt, sehr sorgfältig. Jetzt konnte er Regie führen, uns dirigieren, damit es ganz natürlich aussah. Es ist heller Sonnenschein. Zuletzt zieht er den Sucher und den Autofocus langsam auf den See, zoomt dorthin und verdunkelt, man hört ihn dreimal jemanden zum Schweigen mahnen, als es dunkel geworden ist. Das sind die einzigen Äußerungen, die er in diesem Drama von sich gegeben hat, die einzigen Worte von ihm, an die ich mich erinnern kann.

Ich bin vierzig Jahre alt und habe die acht letzten dieser Jahre im zivilen Katastrophenschutzamt gearbeitet. Meine Aufgaben sind immer mehr administrativer Art geworden. Früher bin ich viel herumgereist, auch im Ausland, in erster Linie zum Schutz von Chemikalientransporten. Ich kenne diese Leute, die zwischen echten und gedachten Katastrophen hin und her wandern. Mir gefielen sie, und die Schweden gehörten unter ihnen zu den besten. Unsere Art, eine Katastrophe einzukreisen, hatte oft etwas von einer Elchjagd an sich. Einer gut organisierten Elchjagd, Leute in der richtigen Bekleidung, die sich nicht aufregten, sondern kurz und knapp, aber zuverlässig ins Sprechfunkgerät sprachen. War Lärmen und Schreien angesagt, dann geschah das der Reihenfolge nach und meistens, um einander zu lokalisieren, damit alle wußten, daß jeder an seinem Platz war.

Wenn alles gutging, dann war die Sache klar, und die Katastrophen, die sich aus dem ganzen ergaben, wurden in angemessener Form von dem abkommandierten Schützen erledigt. War abzusehen, daß es schiefging, dann ähnelte die Stimmung einer Suche, nachdem jemand vorbeigeschossen hatte. Der beste Hund wurde geholt, und ein zuverlässiger Schütze machte sich an die Arbeit, die anderen saßen zusammen, während es dämmerte, sicher ein wenig durchnäßt, etwas müde, aber in solidarischer, guter Stimmung, traurig, aber zufrieden, bis man erfährt, ob die Maßnahmen gegen die Katastrophe so gut es ging ergriffen wurden oder ob die Katastrophe einfach ins Unbekannte verschwunden ist, in den an die Dunkelziffer angrenzenden, unerreichbaren Raum.

Mir gefiel diese Stimmung, auch wenn mir jegliche Form der Romantik in Zusammenhang mit Katastrophen fremd war. Uns, die wir nunmehr verstreut auf den Fluren des Katastrophenschutzamtes saßen und eher administrative Aufgaben hatten, fiel es schwerer, den Anblick der anderen zu ertragen. Die realen oder hypothetischen Situationen, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken sollten, schienen vom Anblick eines Computerbildschirms ersetzt worden zu sein. Wenn man ins Arbeitszimmer eines Kollegen schaute, sah man einen blau leuchtenden Schirm einer bestimmten Größe auf dem Tisch und einen Mann auf einem drehbaren Stuhl. Man konnte sehen, wie klein der Teil des Gesichtskreises und des Lebensfeldes eines Menschen eigentlich ist, der nach landläufiger Meinung von einem Schirm auf einem Tisch vor ihm aufgenommen wird. Ging man zurück in sein eigenes Zimmer, sah man dort dasselbe. Trotzdem gehe ich davon aus, daß das, womit ich arbeite, ehrenwert und von Bedeutung ist und getan werden muß.

Zwei meiner Kollegen, mit denen ich in der früheren Arbeitsgruppe im Amt am besten zusammengearbeitet hatte, befanden sich zu diesem Zeitpunkt, im Juni, in einem Lastwagenkonvoi mit Gütern nach Srebrenica. Das beeinflußte mich ziemlich stark in der Einschätzung meiner Arbeit.

Aber der Schatten fiel eben einfach nicht auf mich, auf meinen Tisch, nicht einmal auf mein Arbeitsgebiet.

Ich bin vierzig Jahre alt, mein ältestes Kind ist vierzehn, mein jüngstes zehn. Zwei Jungen. Der Zehnjährige war fünf, als ich mich von meiner Frau nach zehn, nein, nach neun Jahren Ehe scheiden ließ. Helena wohnt mit den beiden Jungen in der gleichen Stadt. Aber nicht in unserem alten Haus. Ich habe sie neu kennengelernt. Ich bin vielleicht auch aus ihrem alten Bild von mir herausgetreten, habe akzeptiert und selbst festgestellt, daß ich ein anderer bin, wenn ich an sie denke – dabei meine ich jetzt vor allem die Kinder –, als der, den ich mir sonst vorstelle, ein anderer, den man aber kennenlernen kann.

Der Charakter unserer Stadt läßt sich gut mit der Route des Flughafenbusses beschreiben. Der fährt vom Busterminal zunächst zum Bahnhof, dort steigen ab und zu welche ein. Danach fährt er in einigen eleganten Schleifen am Hotel der Stadt vorbei, hat dort jedoch selten Gelegenheit, anzuhalten, danach über eine Brücke über den Fluß und am Theater vorbei, und schließlich hält er vor dem großen Komplex »Der Musketier«. Hier steigen die Fahrgäste zu. Ich auch, wenn ich irgendwohin muß. Hier sind drei große staatliche Behörden untergebracht, alle mit Verbindung zur Landesverteidigung, außerdem ein Wehrbüro und der Militärstab. Wir warten dort zu mehreren, wenn der Bus um die Kurve biegt. Einige in Uniform, alle mit Aktentaschen. Wir kennen einander, und viele haben ihren festen Platz im Bus, der also bei der Ankunft größtenteils leer ist. Im letzten Jahr ist es jedoch dreimal vorgekommen, daß ich meine Exfrau weiter hinten im Bus entdeckt habe, zu ihr gegangen bin und mich zu ihr gesetzt habe, auf der anderen Seite des Mittelgangs. Sie war am Markt in der Nähe der Provinzversicherung zugestiegen, bei der sie arbeitet.

Das letzte Mal hatte ich sie in diesem Sommer im April oder Mai gesehen. Sie trug einen grünen, capeähnlichen Mantel und hatte die Haare kürzer geschnitten, so daß ihre bernsteingelben Ohrringe, von denen ich glaubte, sie wiederzuerkennen, mit einer eigenartigen Deutlichkeit hervortraten, und sie lachte ihr übliches leises Lachen und erzählte mir, daß sie eine Karte für ein Stück gekauft hatte, das im Theater gespielt wurde, aber ich weiß um alles in der Welt nicht mehr, welches.

Wenn ich sie wiedersehe, überkommt mich jedesmal nach der Verwirrung des ersten Augenblicks Freude und gleichzeitig Trauer, daß wir jetzt nur noch so geringe Rollen im Leben des anderen spielen.

Mit Dina lebte ich in diesem Sommer seit gut zwei Jahren zusammen. Was soll ich über sie sagen? Sie hat grüne Augen. Sie hat kurzes, blondes, sehr lockiges Haar. Wir sind im gleichen Alter. Das einfachste, oder für mich am einfachsten zu Begreifende, was ich über sie sagen kann – ich stelle mir ihren Rücken vor. Er ist mir zugewandt. Die scharf hervortretenden Schulterblätter und die sommersprossige, nicht mehr ganz junge, aber warme und überraschend duftende Haut sowie die Nackengrube, das Haar. Dieser Augenblick, der sich so oft wiederholt hat: Ich drehe sie sanft auf die Seite, so daß ihr Rücken sich mir zuwendet. Die erste Erinnerung muß von einem der ersten Male sein, als wir miteinander schliefen. Ich drehte sie plötzlich, aber sanft auf die Seite, sie hob ihr Knie, und ich drang in sie ein und sah ihren Rücken und Nacken und spürte eine Einsamkeit und einen Frieden unermeßlichen Ausmaßes. Ich fühlte, daß ich sie mein ganzes Leben lang für diese Einsamkeit und diesen Frieden lieben konnte.

Das erscheint vielleicht sehr merkwürdig und könnte als kompromittierend angesehen werden. Ihre grünen Augen waren schuld, daß ich versucht hatte, sie zu erobern, und mich in sie verliebte. Diese grünen Augen, die funkelten, und all das Ruhige und Intelligente, das sie mit diesem grünen Funkeln sagte. Es gibt so einen grünen Edelstein, aber ich erinnere mich nicht mehr, wie er heißt. Ihre Familie mütterlicherseits stammt aus Karelien. Sie war kurz vor unserem Kennenlernen in diese Stadt gekommen und war an der Hochschule frischausgebildete Assistentin für Geschichte und Philosophiegeschichte. Ihre eigene Geschichte war lang und machte viel Eindruck auf mich. Diese grünen Augen. Aber das andere war stärker als das Verlieben. Angesichts ihres Rückens, der sich mir zuwandte: Einsamkeit, Stärke und Frieden. Als sähe man in ein langes, einsames Leben, mit tiefer Freude. Später, wie ich zugeben muß, immer häufiger nur Einsamkeit. Das einfachste, was ich über Dina sagen kann: Ich habe mich fast drei Jahre lang in ihrem Rücken gespiegelt.

Worin sie sich bei mir gespiegelt hat, das weiß ich nicht. Vielleicht in dieser Trägheit, einer abwartenden Begriffsstutzigkeit dem Dasein gegenüber, die, wie ich glaube, als Festigkeit und Entschlossenheit mißverstanden werden kann. Vielleicht auch in der überraschenden, fast geheimnisvollen Tatsache, daß ein ungefähr gleichaltriger, geschiedener Mann, der Bürokrat beim Staatlichen Katastrophenschutzamt der Stadt in dem Landesteil ist, in dem sie Hochschulassistentin werden soll, Gedanken einer gewissen Tiefe und Schärfe haben kann (einer freilich nur langsam hervortretenden Schärfe) und von einem ungeahnten Frieden, von einer Stärke übermannt wird, wenn er in sie eindringt. Das geschieht hinter ihrem Rücken, und während der Wollust ihrer Vereinigung betrachtet er stumm, was auch sie betrachtet, sozusagen aus der gleichen Perspektive (und sie mit ihren funkelnden grünen, aber möglicherweise geschlossenen Augen): etwas, das die Form eines gemeinsamen Lebens annimmt, allein, eine lange, friedliche Einsamkeit zu zweit.

Ich lebte also mehr als zwei Jahre mit ihr zusammen, zuerst in ihrer Wohnung, danach in einem Haus, einem Häuschen, muß ich wohl sagen. Das ging sehr gut. Wir mußten feststellen, daß andere Dinge nicht so gut gingen. Jetzt war es Juni. Sie war nicht mit zu Madeleines Hochzeit gekommen, sie hatte ein Sommerseminar vorzubereiten. Das Thema hätte mich interessieren können, war aber nie Gegenstand unserer Gespräche gewesen.

Wir gingen in einer langen Reihe mit dem Teller in der Hand und nahmen uns etwas. Das Brautpaar war das Risiko eingegangen und hatte draußen gedeckt. Wir saßen an einem Tisch, der aus vielen verschiedenen Gartentischen zusammengesetzt war, schlimmstenfalls hätte man sich auch drinnen arrangieren können. Ich habe nicht aus der Erinnerung nachgezählt, aber wir müssen an die fünfzig gewesen sein, alle Kinder eingerechnet. Hoher Himmel, Sonnenfunkeln in Biergläsern, Karaffen und Besteck, vielfarbige Soßen zum Lachs und zu den Salaten, es wurde keine Rede gehalten, statt dessen wurde in langgezogenen Dialogen gesprochen, genau plazierte lange Pässe und sicheres Zuspiel, zwischendurch ein schnellerer, überraschender Einwurf aus dem toten Winkel, wahrscheinlich würde niemand auf dem Tisch tanzen. Ich will nicht näher darauf eingehen. Einige waren einmal meine Freunde gewesen. Ein Mann saß da mit spärlichem Haar und breiten Händen, den ich immer noch sehe, wie er bleich im Gesicht wird, als sich die Puch Dakota seines Bruders aufbäumt, die er sich ohne dessen Erlaubnis ausgeliehen hatte, und wie der Kies am Fußweg bei der Kiesgrube ihm um die Ohren spritzt und er geradewegs auf dem Rücken wegrutscht, das Moped zwischen den Beinen. Und ich erinnere mich daran, wie er mich einmal im Winter anrief, bei mir zu Hause in der Stadt, in der ich damals wohnte, weil die Top Ten von der nächsten Stadt aus gesendet wurden, was ich schon wußte, und er, weil er in der Jury war, auf den Abstimmungsknopf drücken durfte! Er hatte für Lady Madonna an erster Stelle gestimmt. Es klang, als wolle er dafür eine deutliche Bestätigung haben. Ich sagte, ich hätte für Hole in My Shoe mit Traffic gestimmt, und er verstummte sofort, und später sagte er, es sei ein verdammtes Glück, daß er mich im Sommer nicht mehr sehen müßte. Und ich merkte, daß daraufhin nichts weiter zwischen uns aufzubauen war, deshalb sagte ich, daß ich eigentlich für eine ganz andere Platte gestimmt hätte, wie hieß sie noch, was war das noch für eine: »This is the captain of your ship, your mind speaking ...«

Eino wollte noch nachts nach Växjö zurückfahren und trank nichts von dem, was mit der Zeit in kleinen Mengen auf den Tisch kam. Später am Abend saßen wir in einem der Zimmer im Obergeschoß, nachdem wir wegen der Mücken reingegangen waren, zusammen, er, ich und noch ein paar andere, am einfachsten bezeichnet als diejenigen Männer, die auf keine Kinder zu achten hatten, und ich erinnere mich, daß wir unter anderem über die Partei »Neue Demokratie« sprachen. Und einer, der da saß, sagte: »Rassisten können sie verflucht noch mal ja meinetwegen sein, aber zumindest sollen sie sich wie ordentliche Menschen benehmen.« Worauf wir zu etwas anderem übergingen. Aber es war der gleiche Mann, der später damit anfing, in allen Einzelheiten zu erzählen, wie das Geld in dem großen Wintersportprojekt zirkulierte, das vor ein paar Jahren mit Staatsbeteiligung und Bausparkassenkredit in Konkurs gegangen war – er war Bauarbeiter. Wie der kommunale Parlamentsrat mit Hubschraubern dorthin geflogen war, und wie die Scheinwerfer in den Sommernächten gestrahlt hätten.

Später folgten dann versöhnlichere und ruhigere Geschichten, da Menschen versöhnliche und ruhige Geschichten mögen, weniger ironisch, sondern eher versöhnlich aufgrund ihrer Ruhe. Ich erinnere mich, daß Eino, der sich ziemlich fremd gefühlt hatte, über einen Autohändler in der Stadt lachte – ich hatte schon früher davon gehört –, der, als er für acht Monate ins Gefängnis mußte, einen Zettel an die Scheibe klebte: »Bin gleich zurück.«

Und dann brach Eino auf, er verabschiedete sich, wir stellten fest, daß wir gar nicht miteinander geredet hatten, das sollte ein anderes Mal nachgeholt werden.

Ungefähr zu dem Zeitpunkt verabschiedete sich auch die Pfarrerin, Elisabet Hallby, in der Runde und brach auf.

Gleich danach ging ich in Begleitung von vier Männern zu meiner Hütte. Es waren Jan-Erik Krantz, der im Ort wohnt, ein Lehrer, Bertil Larsson, einer vom Bau, Espen Nilsson, und einer, der Sund heißt und in der Fischzucht arbeitet. Ich wollte gern dorthin und ihnen zeigen, wie es dort drinnen aussah. Ich hatte den letzten Sommer bis in den Herbst und Winter hinein dort viel getischlert, und da war etwas mit dem Fußboden, wozu ich mir einen sachkundigen Rat erhoffte. Als wir gingen, setzte die Dämmerung ein, der Weg liegt an einem Osthang. Ich wollte im Sommer nicht dort wohnen, wollte aber gern zeigen, wie es da aussah. Die Bilder nahmen wir auch mit. Ich ging hinein und sprach darüber, wo sie hängen sollten, und wir stellten sie hin und sprachen über dieses und jenes. Ich erzählte von der Archäologin, die die Hütte mieten wollte. Sie meinten, ich wäre zu billig. Sie lobten die Hütte. Sie meinten, ich solle lieber selbst darin wohnen. Ich würde das Doppelte bekommen, wenn ich sie über eine Vermittlung für einen Monat vermietete. Sie fragten, wonach man denn hier graben könnte, und ich erklärte, daß es um Fallgruben ginge, sie wollte vor allem die Landbesitzer befragen; Krantz und Espen Nilsson, die ein Teilstück besaßen, würden sicher Besuch bekommen. Aber sie wollte ein großes Gebiet bearbeiten, sagte ich.

Wir standen eine Weile auf der Verandatreppe und rauchten Zigarren, die der von der Fischzucht mitgenommen hatte.

Ein paarmal flogen Fledermäuse über den Dachgiebel. Irgendwo tief im Wald rief ein Reh. Unten auf der Straße glitt spärlich der Verkehr entlang, den man nicht mehr sehen konnte, wenn das Laub richtig ausgeschlagen war.

Als wir zurückkamen, sahen wir, daß das Auto der Pfarrerin immer noch am Haus stand, was etwas bedeuten mußte. Also war sie immer noch da. Aber das war sie nicht. Madeleine und die anderen waren verwundert, sie waren nicht draußen gewesen, sie mußte spazierengegangen sein, oder ihr war irgend etwas eingefallen, was sie noch tun wollte, allein, bevor sie losfuhr. Es verging eine Stunde. Man versuchte sich daran zu erinnern, was Elisabet Hallby gesagt hatte, als sie ging. Niemand konnte sich an etwas anderes erinnern als daran, daß sie nach Hause wollte, sich ins Auto setzen und heimfahren, nach Varberg. Konnte sie sich mit Eino, der ja gleichzeitig aufgebrochen war, irgend etwas gemeinsam ausgedacht haben? Oder hatte er sich gar nicht auf den Weg gemacht, als sie hinausging? Wir, die noch übrig waren, blieben bei unseren Spekulationen, zwar zögerlich, aber immer wieder aufs neue, wer wen wann gesehen hatte. Wer Einos Auto hatte abfahren sehen oder gehört. Hatte nicht auch jemand gehört, daß Elisabet Hallbys Auto startete? War danach niemand draußen gewesen in der Zeit, bis wir fünf von der Hütte zurückgekommen waren?

Niemand außer uns fünfen und keiner von uns konnte sich daran erinnern, ob er Elisabet Hallbys Auto nun am Haus gesehen hatte oder nicht. Konnte sie etwas in der Kirche vergessen haben? Jemanden besucht haben? Wen hatte sie getroffen, der nicht auf dem Fest war? Den Kantor? Den Kirchendiener? Jemanden von denen, die gegangen waren, nachdem wir fünf zurück waren und bevor dieses Gespräch begann. Es verlief übrigens ruhig. Ein Mensch war vielleicht für einen Augenblick verschwunden. Das Auto war unverschlossen, und ihre Sachen lagen im Kofferraum. Schließlich klingelte doch noch das Telefon. Ein paar Kinder, die draußen gespielt hatten, glaubten gesehen zu haben, wie sie in Richtung Kirche über den Hof ging. Stig und ich machten uns getrennt auf die Suche. Wir riefen sofort Gredenfors von der Kirche an, der sich auch umschauen sollte. Ich blieb lange auf. Kurz nach halb vier rief Jan-Erik Krantz an. Er war noch einmal hinausgegangen und hatte Elisabet Hallby unten am See ermordet aufgefunden. Sie lag am Strand in der Nähe des Bootsanlegers, war in ein Netz eingewickelt und hatte am ganzen Körper Messerstiche.

Ich klopfte an Madeleines und Stigs Schlafzimmertür. Sie traten hinaus in das schwache Licht des nach Süden zeigenden Fensters oben in ihrem Treppenhaus, da blieben sie verwirrt stehen und versuchten, sich zu einigen, wer zum See hinunterlaufen und wer bei den Kindern bleiben sollte. Jan-Erik hatte den Notruf angerufen. Stig ging mit mir. Der Anblick war schlimmer, als ich gedacht hatte. Jan-Erik sprach leise, als wolle er vermeiden, daß ihn die Leute des Nachts hörten, daraufhin herkamen und nachschauten. Er hatte seine Jacke über sie gelegt und wollte sie nicht so recht hochnehmen. Ich tat es und sah, wie sie zusammengekauert und dazu noch eigenartig aufgeschlitzt mit grotesk aufgesperrtem Mund und dunklen Blutgerinnseln an Rumpf, Armen und Beinen dalag. Sie war wirklich in ein Netz eingewickelt, ein grobmaschiges Fischernetz aus Nylon. Ihre Kleidung war zerschnitten und zum großen Teil weggerissen, wobei derjenige, der das getan hatte, nicht in die Maschen des Netzes geschnitten hatte, nur wenige waren kaputt. In mir stieg die mich langsam würgende Vorstellung hoch, wie sie getreten und sich gewunden hatte, während das vor sich ging, und daß dabei die Schnittwunden entstanden, einige waren tief, aber es waren keine Todesstöße, sie war durch Erwürgen gestorben.

Artemis

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