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Waffenstillstand
ОглавлениеJeder spricht von Frieden und Waffenstillstand. Alle warten.
[…] Gibt es keinen Frieden, dann gibt es eine Revolution.
Erich Maria Remarque1
Im Westen nichts Neues. Am 28. September 1918 vermeldet der tägliche Rapport aus dem Großen Hauptquartier des Deutschen Kaiserreichs im belgischen Kurort Spa kaum anderes als in den Tagen und Wochen zuvor – nämlich »fortgesetzte schwere Angriffe« der gegnerischen Truppen auf die eigenen Stellungen in Belgien und im Nordosten Frankreichs. Allerdings haben sie offiziell, abgesehen von Hunderten toten und Tausenden verwundeten Soldaten, keine nennenswerten Auswirkungen: »Nach Abschluss der Kämpfe war der Feind überall in seine Ausgangsstellungen zurückgeworfen.«2 So jedenfalls steht es im Telegramm, das die Nachrichtenagentur Wolffs Bureau an diesem Samstag wie seit viereinhalb Jahren jeden Nachmittag verbreitet, damit Deutschlands Zeitungen den amtlichen Heeresbericht in ihre Morgenausgaben aufnehmen können. Tatsächlich verstärken viele Blätter in der Heimat damit die Ansicht, dass sich die Lage gegenüber den vorangegangenen Monaten kaum verändert habe: Man könne weiter auf einen Sieg hoffen oder zumindest auf ehrenhafte Verhandlungen unter Gleichen, um den Krieg zu beenden.
In Wirklichkeit gibt es am frühen Abend des 28. September 1918 viel Neues – zumindest im Kurhotel Britannique in Spa, dem Sitz des Großen Hauptquartiers. Hier laufen die Meldungen von allen deutschen Einheiten zusammen. Das Bild, das sich daraus ergibt, ist eindeutig: Nach Wochen kleinerer Attacken und ständigen Drucks haben französische und amerikanische Streitkräfte am frühen Morgen des 26. September einen Großangriff begonnen. Nordwestlich von Verdun entlang der Maas werfen sie die deutschen Verteidiger trotz Gegenwehr binnen Stunden um Hunderte Meter zurück – weiter, als es in den Jahren zuvor auf diesem enorm hart umkämpften Schlachtfeld je in so kurzer Zeit gelungen ist. Am Freitag, dem 27. September, folgt eine Offensive britischer Tanks bei Cambrai, und am Samstagmorgen ein weiterer Großangriff, diesmal vor allem belgischer und französischer Truppen südlich der Stadt Ypern. Angesichts dieser Rückschläge an drei wichtigen Frontabschnitten und der Nachricht, dass sich mit Bulgarien der erste Verbündete des Kaiserreichs um einen Separatfrieden bemühe, sucht am Nachmittag General Erich Ludendorff mit düsterer Miene seinen Vorgesetzten auf, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Es ist ein schwerer Gang für den Ersten Generalquartiermeister der Obersten Heeresleitung, formal den zweithöchsten Soldaten des deutschen Heeres. Ludendorff schlägt vor, in Verhandlungen um einen Waffenstillstand einzutreten. Zwar sei die Lage auf keinen Fall so, dass sie »eine Kapitulation vor unserem Volke und vor unseren Kindern« rechtfertige; auf jeden Fall aber müsse, wenn es irgend möglich sei, »der Weg zum Frieden beschritten werden«, notiert der 53-Jährige später.3 Hindenburg sieht das ganz ähnlich; jedenfalls behauptet er in seinen Memoiren: »Mit dem gereiften Entschluss trifft mich mein Erster Generalquartiermeister am späten Nachmittag des 28. September. Ich sehe ihm an, was ihn zu mir führt. Wie so oft […] finden sich unsere Gedanken auch heute, bevor sie zu Worten geworden sind. Unser schwerster Entschluss wird auf gleicher Grundlage gefasst.«4
So offen haben der Feldmarschall und sein wichtigster General wohl noch nie gesprochen. Dabei wissen beide, dass die Situation der deutschen Truppen in Belgien und Nordostfrankreich dramatisch schlecht ist. Viele Kompanien verfügen schon seit Monaten nur noch über ein Viertel ihrer nominellen Stärke, doch Hindenburg und Ludendorff haben angeordnet, die »Feldstärke« der deutschen Truppen zu melden statt die »Grabenstärke«; auch erschöpfte, kranke und leicht verletzte Soldaten in der Etappe werden also mitgezählt. Mit derlei Selbsttäuschung ist nun Schluss. Ludendorff, faktisch der eigentliche Machthaber in Deutschland, hat den tatkräftigsten Minister des Reiches nach Spa bestellt. Paul von Hintze, der 54-jährige Chef des Auswärtigen Amtes, gilt als intrigant, aber durchsetzungsstark – kein Vergleich zu Reichskanzler Georg von Hertling. Denn der Regierungschef ist mit seinen 75 Jahren ein Greis: Er schläft selbst während wichtiger Konferenzen häufig ein und braucht seiner schwachen Augen wegen für die Aktenarbeit oft einen Vorleser. Ludendorff setzt auf Hintze, doch der selbstbewusste Diplomat verfolgt eigene Pläne.
Kurz nach Ankunft seines Sonderzugs in Spa kommt es am Sonntag, dem 29. September 1918, morgens um zehn Uhr zur entscheidenden Besprechung. Der Außenminister skizziert drei Möglichkeiten für die weitere Entwicklung Deutschlands: eine Militärdiktatur, um die absehbaren inneren Unruhen bei einer Fortsetzung des Krieges zu unterdrücken; eine Revolution von unten, die jedoch die Hohenzollern-Dynastie wegfegen werde und das Reich »wehrlos dem Feinde« preisgebe – beides indiskutabel. Als dritten Weg beschreibt Hintze eine Revolution von oben, die den »unvermeidlich beim Übergang von Siegeszuversicht zur Niederlage eintretenden Schock von Reich, Monarchie, Dynastie« ablenke. Dazu sollen gemäßigte Sozialdemokraten und Liberale in die Regierung geholt werden. Erst dieses neue Kabinett könne mit Aussicht auf Erfolg Kontakt zu den Feindstaaten aufnehmen. Ludendorff willigt ein. Gemeinsam fährt man zur Residenz Wilhelms II. in Spa, einer herrschaftlichen Villa am Rande des Kurortes. Zunächst kann Hintze den Kaiser für seinen Vorschlag gewinnen. Doch als Reichskanzler Hertling eine Bedenkzeit von 14 Tagen vor der Kontaktaufnahme mit dem Feind vorschlägt, schwankt Wilhelm wieder. Schon will er die Audienz beenden, da tut Hintze Unerhörtes: Er insistiert, dass eine neue Regierung das Gebot der Stunde sei und nicht hinausgeschoben werden dürfe.5 Daraufhin unterzeichnet der Kaiser tatsächlich die vorbereitete Weisung.
… im Westen nichts Neues: Waldstück in Frankreich nach Artilleriebeschuss 1918.
Hintze hat sie in gönnerhaftem Ton formuliert: »Ich will, dass in dieser Schicksalsstunde Deutschlands das deutsche Volk mehr als bisher an der Bestimmung der Geschicke des Vaterlandes mitwirkt. Es ist daher mein Wille, dass in weiterem Umfang die Männer, die vom Vertrauen des Volkes getragen sind, teilnehmen an den Pflichten und der Verantwortung der Regierung.«6 Kanzler Hertling ist damit gar nicht einverstanden. Dabei hat ihm sein Vize, Friedrich von Payer, geraten, sich nicht gegen die Parlamentarisierung zu stemmen. Payer weiß um die Stimmung in den Reichstagsfraktionen. Sein Parteifreund Conrad Haußmann hat ihm schon vor Wochen mitgeteilt, dass der Kanzler als unhaltbar gilt. Ein »fühlbarer demokratischer Rutsch« sei nötig.7 Payer hat versucht, Hertling zu überzeugen, dass die Regierung sich vielleicht auf die Mehrheitsparteien werde stützen müssen. Doch der Kanzler bleibt stur.
Um 19.25 Uhr geht dennoch der Erlass des Kaisers ans Auswärtige Amt ab, mit der Weisung, gleich am folgenden Tag veröffentlicht zu werden.8 Doch die Beamten finden die Order schlecht formuliert – zu düster und zu selbstgefällig. Sie streichen »in dieser Schicksalsstunde« und ersetzen »Verantwortung« durch »Rechte«. Außerdem fügen sie ein, der Kaiser habe Hertlings Rücktritt angenommen.9 Damit steht fest: Unter Beteiligung von Liberalen und Sozialdemokraten soll eine neue Regierung gebildet werden; die Aufgabe dieses parlamentarisch gestützten Kabinetts wird sein, den Gegner um Waffenstillstand zu bitten und Friedensverhandlungen zu beginnen. Die Vossische Zeitung titelt: »Der Kaiser für eine Volksregierung«, das Berliner Tageblatt verkündet zurückhaltender: »Der Kaiser für eine Beteiligung des Volkes an der Regierung.«10
Ludendorff sieht sofort die Gelegenheit, die Verantwortung für die katastrophale Lage abzuschieben. Noch bevor Hertlings Rücktritt und Wilhelms Aufforderung an die Opposition im Reichstag bekannt werden, eröffnet der Generalquartiermeister am Vormittag des 30. September den Vertretern der deutschen Fürsten im Großen Hauptquartier die neue Lage; Sachsens Verbindungsoffizier fällt die Ruhe Ludendorffs auf, er »war bestimmt und klar«.11 Doch offenbar hat der General die Wirkung unterschätzt, die diese Mitteilung macht; jedenfalls gibt er sich keine 24 Stunden später völlig anders, als er am Morgen des 1. Oktober 1918 die Mitarbeiter der Obersten Heeresleitung informiert. Sein Stabschef Albrecht von Thaer beschreibt Ludendorffs Gesicht als »von tiefstem Kummer erfüllt, bleich, aber mit hocherhobenem Haupt«. Thaer fühlt sich an die Sagenfigur Siegfried erinnert, doch heldenhaft ist es nicht, was sein direkter Vorgesetzter verkündet: »Ich habe Seine Majestät gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu verdanken haben, dass wir so weit gekommen sind. Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben.«12 Während der Generalquartiermeister spricht, hört Thaer leises Stöhnen und Schluchzen und sieht, dass erfahrenen Offizieren Tränen über die Wangen laufen.
Die meisten Mitarbeiter der OHL, obwohl allesamt hoch qualifizierte Generalstäbler, haben verdrängt, was sie mit einem Blick auf die Lagekarte hätten erkennen müssen. Der Verbindungsoffizier zum Kaiser etwa hat noch am 27. September notiert, die Kämpfe nähmen einen durchaus befriedigenden Verlauf.13 Nur wenige Militärs sehen die katastrophale Lage so klar wie der Admiralstabsoffizier Ernst von Weizsäcker, der in seinem Tagebuch den 26. und 27. September 1918 die »schwärzesten Tage im Hauptquartier seit meiner Anwesenheit« nennt.14
Das Eingeständnis der Niederlage schreckt auch bislang kaisertreue Regierungsbeamte auf. Ludendorff habe »völlig die Nerven und die Größe« verloren, die »ein echter Feldherr und Mann im Unglück zeigen« müsse, notiert Oberstleutnant Ernst van den Bergh in sein Tagebuch. Der 45-jährige Abteilungsleiter im preußischen Kriegsministerium fährt fort, mit dem übereilten Waffenstillstandsangebot habe der Generalquartiermeister die weiße Fahne gezogen. Damit sei »Deutschland besiegt, obgleich es tatsächlich auch heute noch nicht materiell besiegt ist. Besiegt ist, wer sich besiegt fühlt!«15 Vizekanzler Payer fällt es ebenfalls schwer, die Nachricht zu verdauen. Weil er die Männer an der Spitze der OHL schätzt, glaubt er an einen »vorübergehenden Nervenkollaps«, was ihm angesichts der Belastungen Hindenburgs und Ludendorffs möglich scheint.16 Außerhalb seiner Vorstellungskraft liegt, dass Deutschland sich auf so demütigende Weise an die Sieger wenden soll.
An der Spitze des Reiches mag man sich nicht eingestehen, dass Deutschland militärisch am Ende ist – die meisten Untertanen sind da weiter. »Die Zeiten werden betrüblich interessant«, hat der Münchner Gymnasiallehrer Josef Hofmiller schon am 19. August 1918 in sein Tagebuch geschrieben. »Keiner glaubt mehr, dass wir den Krieg gewinnen. Alle wissen, dass wir ihn verloren haben, und doch rückt keiner mit der Sprache heraus. Wir sind gereizt, sogar, wenn der andere dieselbe Meinung äußert, die wir im Stillen selbst hegen; als wären wir abergläubisch, dass sie nicht ausgesprochen werden dürfe.«17 Auch den Behörden ist die angespannte Stimmung bekannt; die Berliner Polizei warnt beispielsweise, im Spätherbst und Winter 1918 müsse mit »Arbeitseinstellungen und Unruhen für einen Frieden um jeden Preis gerechnet« werden.18 Ähnlich ist die Gefühlslage vielerorts in Deutschland. In Weimar hört der Diplomat und Kulturbürger Harry Graf von Kessler deprimierende Einzelheiten: Seit einem Vierteljahr schon sei die Volksstimmung »unheimlich«, berichtet ihm ein Mitarbeiter. Die kleinen Leute seien ganz still, gedrückt, sprächen nur noch wenig. Sie verstünden nicht, warum noch Krieg sei: »Das Volk glaube, wir könnten jeden Tag Frieden haben, wenn die Regierung nur wolle.«19 In Baden sei die Stimmung der Bevölkerung »niedergeschlagen« und »oftmals stumpf bis zur Gleichgültigkeit«, berichtet das zuständige Generalkommando in Karlsruhe.20 Aus Nürnberg erfährt das bayerische Kabinett in München, dass die Gewerkschaften das Vertrauen der Arbeiterschaft verlören, wenn sie weiter zu einer Regierung hielten, die »ihre Versprechungen auf Besserung der Lage nicht einzulösen vermocht und stattdessen immer nur neue Opfer und Entbehrungen verlangt« habe.21
Doch noch fehlt ein Anstoß, um der Einsicht in die hoffnungslose Lage zum Durchbruch zu verhelfen. Alle seien »seelisch erschüttert«, befindet Josef Hofmiller Mitte September 1918 – die Soldaten, die Arbeiter, die Bauern, die Frauen, die Angestellten, die Beamten, sogar die Presse. Obwohl noch Krieg herrscht, habe die innere Demobilisierung bereits begonnen: »Das ist schlimm, sehr schlimm. Die Stimmung ist früher da als die Ereignisse. Keine Hemmungen, keine Dämme, die Stimmung im Land ist furchtbar.« Vertrauen in die Regierung und vor allem in die Oberste Heeresleitung gebe es nicht mehr: »Man hat damit Raubbau getrieben.« Niemand in Deutschland glaube noch an »einen guten Ausgang des Krieges«.22 Die Berliner Polizei warnt: »Bei der Unberechenbarkeit der Masse und dem leichten Umschlag ihrer Stimmungen muss deshalb nach wie vor mit der Möglichkeit von Unruhen gerechnet werden, insbesondere für den Fall, dass etwa die Wahlrechtsfrage oder eine weitere Verschärfung der Lebensmittelnöte oder endlich Kleider- und Kohlennot im Winter den Funken ins Pulverfass wirft.«23
Es dauert nicht bis zum Winter, denn Paul von Hintzes Plan für eine Revolution von oben erweist sich als der gefürchtete Zündfunke. Die Veröffentlichung der dem Kaiser aufgedrängten Order, eine parlamentarische Regierung zu bilden und Friedensverhandlungen aufzunehmen, entflammt die Lunte. Auf einmal tosen Gefühlsstürme durch Deutschland wie seit Ende Juli 1914 nicht mehr. Der erfahrene Diplomat Kurt Riezler verliert schlagartig die letzte Hoffnung; das Reich sei nun in einer Lage, dass es jedes »Diktat akzeptieren« müsse: »Ich stiere immerzu ins Dunkle. Dass man nicht heulen kann wie ein Schlosshund.«24 Der Schriftsteller Gerhart Hauptmann hält fest: »Welch Wendung! Vielleicht habe ich nur noch den Untergang meines Landes zu schreiben, vielleicht nur noch Trauergesänge anzustimmen.«25 Die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer staunt: »Man steht, wie wenn man mit hohlen Händen einen stürzenden Strom auffangen sollte.«26 Die Bildhauerin Käthe Kollwitz, eine erklärte Kriegsgegnerin, verzweifelt an der Lage: »Deutschland steht vor dem Ende. Widersprechendste Gefühle. Deutschland verliert den Krieg. Was kommt nun? Wird das patriotische Gefühl noch einmal so aufflammen, dass eine Verteidigung bis zum Letzten einsetzt?« Diese Aussicht macht ihr Angst: »Nicht einen Tag weiter Krieg, wenn man erkennt, dass er verloren ist. Freilich, bis sich das wirklich entschieden hat, Kampf. Damit, wenn möglich, ein erträglicher Friede zustande kommt.«27 In einem Lazarett in Duisburg wälzt der 20-jährige Erich Maria Remarque trübe Gedanken; in sein Tagebuch schreibt der Verwundete: »Es gibt jetzt Frieden! Eine große Freude herrscht darüber gerade nicht. Man hat sich wohl schon an den Krieg gewöhnt. Er war eine Todesursache wie alle anderen Krankheiten auch. Etwas schlimmer als Lungentuberkulose.« Freuen kann sich auch Remarque nicht – »warum, weiß ich nicht«. Er hat sich schon an den Gedanken gewöhnt, nach seiner Genesung zurück an die Front zu kommen. Nun notiert er: »Einsam und zerrissen. Alles grau und trübe.«28
Allgemein ist die Stimmung ähnlich. Auf einmal gibt es kaum ein anderes Gesprächsthema mehr als die Frage, ob das Reich sofort kapitulieren müsse oder doch die Chance auf einen ehrenvollen Waffenstillstand haben werde? Aus Karlsruhe berichtet das Generalkommando, »auch sonst ruhig denkende Elemente« hielten »militärisch alles für verloren«.29 Diese Einsicht dringt sogar bis ins tiefste Ostpreußen vor; die Haushaltshilfe Henriette Schneider aus Mrossen, 200 Kilometer südöstlich von Königsberg, hat schon Mitte September 1918 notiert: »Am politischen Horizont sieht es sehr trübe aus.« Bald darauf fügt sie hinzu: »Von der Front hört man: Das Heer ist demoralisiert, vier Kriegsjahre sind daran schuld.«30
Das ist ganz im Sinne des Bremer Linksradikalen Johann Knief und seiner Lebensgefährtin Lotte Kornfeld. Beide sitzen seit dem Frühjahr 1918 wegen illegaler Tätigkeit in Haft und tauschen sich in Briefen über Karl Marx, griechische Mythologie und Literatur aus. Vor allem aber träumen beide von einer Revolution nach russischem Vorbild. Am 30. September schildert Knief der Freundin seinen Tagesbeginn: »Wie seltsam rau ist es heute: So herbstlich; es fegt der Sturm die Felder rein. Alles Welke wird von ihm erfasst, unbarmherzig wirbelt es zur Erde, der Vernichtung entgegen. Es ist wundervoll, dies Schauspiel der Vernichtung, die den Keim zu neuem Leben legt.« Dann kommt er auf Ferdinand Lassalle zu sprechen. Knief kritisiert, dass dieser erste Vordenker der deutschen Sozialdemokratie nie an das Handeln an sich appelliere, sondern sich im Gegenteil dagegen verwahre. Die Erfindung der Dampfmaschine habe er für revolutionär gehalten, aber nicht die Bauernkriege: »Revolution ist ihm das Ergebnis objektiver Notwendigkeiten, nicht aber das Ergebnis gesellschaftlicher Gegensätze und Klassenkämpfe. Die Entwicklung ist ihm friedlich, nicht aber gewaltsam.« Knief denkt entschieden anders.31
Einen Tag später schreibt der Vorsitzende der USPD, Hugo Haase, seinem Sohn Ernst einen langen Brief an die Front: »Von der Stimmung hier im Lande kannst Du Dir schwer eine Vorstellung machen. Gestern hat das Zentrum bei der Regierung angefragt, wie groß die Entschädigung sei, die wir eventuell an Belgien zu zahlen hätten.« Nicht lange zuvor ist Haase noch als Landesverräter gescholten worden, als er von Deutschlands Pflicht zur Entschädigung Belgiens gesprochen hat. Nun registriert er überrascht: »In Zirkeln, die monarchisch bis auf die Knochen sind, wird offen davon gesprochen, dass die Hohenzollern weichen müssten, wenn anders der Frieden nicht zu erlangen sei. In den Eisenbahnwagen hört man öfters Äußerungen wie: Lassen wir doch die Franzosen Elsass-Lothringen nehmen, wenn wir nur den Frieden erhalten.« Wilhelms II. Einverständnis, ein quasi-parlamentarisches Kabinett zu bilden, zeige, dass die Angst auf allen Seiten groß sei: »Schwindet sie, so kommt wieder ein Rückfall in alte Zustände, wenn nicht das Volk inzwischen eine gründliche Systemänderung vollzogen hat.«32 Der Schriftsteller Gustav Landauer formuliert im Brief an die Frau eines Freundes: »Möge die Dornenkrone, die unser Reich sich nun verdient hat, uns und der Menschheit auch himmlische Blüten tragen!«33
Am gleichen Tag trifft Prinz Max von Baden in Berlin ein. Den Thronfolger des südwestdeutschen Großherzogtums haben die Nachrichten von der Obersten Heeresleitung ebenso überrascht wie alle anderen. Er hält das Eingeständnis militärischer Schwäche für verhängnisvoll. Am folgenden Morgen hat Vizekanzler Payer die wenig erfreuliche Aufgabe, die Vorsitzenden der Reichstagsfraktionen über die Lage zu unterrichten. Payer hat für einen Augenblick überlegt, kleinere Parteien wie die USPD auszuschließen, die von Hugo Haase vertreten wird, rückt davon aber wieder ab. Auch die Parlamentarier reagieren entsetzt – weniger über die Details als vielmehr über die ausweglose Gesamtlage, die mit all den früheren Berichten der OHL so gar nicht zusammenpasst. Payer kann ihre Gefühle verstehen: Es ist ihm zwei Tage zuvor ähnlich gegangen.
Am 3. Oktober 1918 ernennt Wilhelm II. Prinz Max zum neuen Reichskanzler. Er scheint der richtige Mann für Verhandlungen mit den USA zu sein, weil er sich 1917 öffentlich gegen den uneingeschränkten U-Boot-Krieg ausgesprochen hat, der schließlich zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten führt. Seit Monaten schon deutet der Thronfolger allen möglichen Bekannten und Freunden gegenüber an, die Leitung der Regierung übernehmen zu wollen. Allerdings kann man sich um den Posten des Reichskanzlers nicht bewerben; vielmehr muss die Initiative vom Kaiser kommen. Gemessen an seinem fürstlichen Stand ist Max von Baden erstaunlich liberal; der Prinz pflegt sogar Kontakte zur SPD und ihrem Vorsitzenden Friedrich Ebert. Gleichzeitig jedoch bleibt er ein Mann der Monarchie, der die »Mobherrschaft der westlichen Demokratien« ablehnt.34
Umgehend fordert der neue Kanzler die stärkste Partei des Reichstages auf, zwei Vertreter in sein Kabinett zu entsenden. Doch die von der SPD geforderte formale Abhängigkeit der Regierung von der Zustimmung des Parlaments lehnt der Prinz ab. Selbstverständlich beruhe seine Amtsführung auf dem Vertrauen der Mehrheit der Abgeordneten, sagt er; verfassungsrechtlich fixieren will er das allerdings nicht. Die Sozialdemokraten machen sich die Entscheidung nicht leicht, trotz dieser Absage in das Kabinett einzutreten. Fraktionschef Philipp Scheidemann spricht sich vehement dagegen aus, weil er es für »unangebracht« hält, »im Augenblick der schlimmsten Zuspitzung unserer Verhältnisse eine Verantwortung zu übernehmen, die zu tragen wir kaum in der Lage« seien.35 Auch Friedrich Stampfer, der Chefredakteur der Parteizeitung Vorwärts, und Otto Braun lehnen in der Fraktionssitzung eine Regierungsbeteiligung ab, während SPD-Pragmatiker wie Eduard David, Gustav Noske und Hermann Müller dafür eintreten.
Als entscheidend erweist sich das Votum des Parteivorsitzenden Friedrich Ebert. Zunächst schüttelt den 47-Jährigen vor den Augen seiner Genossen ein Weinkrampf, weil ihm ein Abgesandter des Großen Hauptquartiers die Lage an der Front überaus eindringlich dargelegt hat. Dann aber hält der Vorsitzende eine »glänzende Schlussrede«.36 Zwar glaubt auch Ebert nicht, dass die SPD eine faktische Kapitulation des Reiches noch vermeiden könne. Trotzdem sieht er seine Partei in der Verantwortung: »Falls nun alles zusammenbricht, außen und innen, wird man uns dann später nicht den Vorwurf machen, dass wir in einem Augenblick unsere Mitwirkung versagt hätten, in dem man uns dringend von allen Seiten darum gebeten hätte?«37 Die Fraktion entscheidet bei nur sieben Gegenstimmen, den neuen Reichskanzler zu stützen und auf weitere Reformen in Richtung auf eine Demokratisierung zu dringen – mit Hintzes Revolution von oben will man sich nicht zufriedengeben. Die SPD-Fraktion entsendet zwei prominente Abgeordnete in die Regierung, die damit die ersten sozialdemokratischen Minister überhaupt werden. Der erfahrene Haushaltspolitiker Gustav Bauer übernimmt das Ressort Arbeit. Überraschend ist hingegen die zweite Ernennung: Ausgerechnet der unwillige Scheidemann tritt dem Kabinett bei, allerdings ohne für einen Geschäftsbereich zuständig zu sein.
Reibungslos verläuft die Zusammenarbeit zwischen altem Regierungsapparat und den neuen Kräften anfangs nicht. Vizekanzler Payer betrachtet die SPD-Vertreter leicht abschätzig. Es sei überflüssig zu fragen, warum man nicht mehr für den Frieden getan habe, wo die Wahlrechtsreform bleibe und weshalb die Reichsregierung keine stärkere Stellung gegenüber der OHL habe. Die Sozialdemokraten würden sich schon noch daran gewöhnen, sich »der Regierung und anderen Parteien gegenüber zu disziplinieren«, notiert Payer.38 Ihrem Wunsch nach regelmäßigen Kabinettssitzungen kommt er nach.
Auch der Ministerialbeamte van den Bergh wird nur schwer mit den neuen Mitstreitern warm. Zwar empfindet er Scheidemann und Ebert als »vornehm und vaterlandsliebend«, schreibt aber auch, sie seien wenig engherzige »Gegner«. Distanz ist unverkennbar. Aber die Neuen wüssten, »dass die Massen und damit die Zukunft hinter ihnen« stünden. Der Oberstleutnant beschließt, das Beste aus der Lage zu machen, »in die sie der übertriebene Allmachts- und Unfehlbarkeitswahn, der übertriebene Kleinmut und Zusammenbruch Ludendorffs gebracht« habe.39 Zwischen dem Vizekanzler und dem Oberstleutnant kommt es zu einer Auseinandersetzung, in der van den Bergh, wie Payer trocken notiert, »die in solchen Verhältnissen erforderliche Selbstbeherrschung wirklich vermissen« lässt.40 Ernst van den Bergh will seine Kenntnisse und seine Kraft einsetzen, um zu einer Stabilisierung der Lage beizutragen. Die alte Führung hat in seinen Augen versagt: »Die wertvollste Munition verschossen und nie Volltreffer, immer nur Blindgänger! Kümmerlich!« Ebenso eindeutig ist sein Urteil über die Konservativen: »Hängen und Würgen!«41
Zunächst geht es darum, so schnell wie möglich einen akzeptablen Waffenstillstand zu erreichen. Als erste Amtshandlung hat sich Prinz Max am Abend des 3. Oktober 1918 vom Kaiser eine Botschaft an US-Präsident Woodrow Wilson genehmigen lassen, in der die neue Reichsregierung bittet, »den sofortigen Abschluss eines Waffenstillstandes zu Lande, zu Wasser und in der Luft herbeizuführen«, um »weiteres Blutvergießen zu vermeiden«.42 Veröffentlicht wird die Note freilich erst 36 Stunden später, als ihr Eingang im Weißen Haus bestätigt ist. Max von Baden gibt am 5. Oktober eine Regierungserklärung im Reichstag ab: »Was ich will, ist ein ehrlicher, dauernder Friede für die ganze Menschheit, und ich glaube daran, dass ein solcher Friede zugleich auch der festeste Schutzwall für die künftige Wohlfahrt unseres eigenen Vaterlandes wäre.«43 Zugleich appelliert der Reichskanzler an die Bevölkerung, seine Regierung zu unterstützen. Im Kabinett seien »Vertrauensmänner der Arbeiterschaft zu den höchsten Ämtern im Reiche gelangt«. Das sei »die sicherste Bürgschaft«, dass das Volk Vertrauen fassen könne.44 Inspiriert hat die Rede Conrad Haußmann, dessen Credo lautet: Die Volksvertreter sollten »entscheidenden Anteil an der Leitung ihres Geschicks« erhalten, auch wenn das Neue in »organischer Fortentwicklung mit dem Bestehenden gestaltet werden« müsse.45 Verschiedene Zeitungen loben am nächsten Tag, dass der neue Kanzler in Zivil aufgetreten ist. Ursprünglich hat er, wie gewohnt, seine Uniform tragen wollen, doch das haben ihm seine Berater gerade noch ausgeredet.
Unter dem Eindruck der Veränderungen befindet der liberale Historiker Friedrich Meinecke: »Uns wird gar nichts anderes übrigbleiben, als demokratisch zu werden, um das Reich und die nationale Einheit aufrecht zu erhalten. Und wenn es uns gelingt, ohne revolutionäre Erschütterungen, unter steter Erhaltung staatlicher Autorität, uns demokratisch umzubauen, so wollen wir zufrieden sein.« Seiner Frau schreibt er: »Aber wir müssen kolossal viel konservativen Gedankenballast über Bord jetzt werfen und den Mut haben, mit uns und unseren Fehlern streng ins Gericht zu gehen. Das konservative Preußen ist unwiederbringlich dahin! Und die Mehrheitssozialisten, die unter keinen Umständen den Bolschewismus bei uns aufkommen lassen wollen, müssen uns jetzt die Massen in Ordnung halten helfen.«46
Sogar Gustav Landauer kann der Entwicklung etwas abgewinnen. An eine befreundete Schauspielerin schreibt er: »Mit der Wendung in der Politik bin ich sehr zufrieden; aber es ist nur erst ein Anfang, auch nur ein Anfang zum Frieden. Die Leute, die aus der Verzweiflung zum Volksstaat als Mittel gegriffen haben, und die, die aus demselben Grunde mitmachen oder die Faust in der Tasche ballen – all das muss weg! Im Volk und in der gesamten Verwaltung muss erst nachwachsen, woraus diese Wandlung als Frucht hätte kommen müssen: Den Deutschen kommt alles von oben und wirkt darum von außen als Schein und List – was es zum Teil auch ist.«47
Um die USA für die Verhandlungen milde zu stimmen, bringt Max von Baden gleich mehrere Gesetzentwürfe auf den Weg, die Forderungen Wilsons aufgreifen und so Entgegenkommen signalisieren. Außerdem werden in den folgenden Wochen mehrere Dutzend politischer Gefangener entlassen. In München etwa kommt der USPD-Politiker Kurt Eisner frei, der seit Ende Januar in Untersuchungshaft gesessen hat. Der formale Grund ist, dass er für eine für Mitte November 1918 geplante Reichstagsnachwahl als Kandidat aufgestellt worden ist und daher Gelegenheit bekommen müsse, um Stimmen zu werben. Karl Liebknecht hingegen, der Kopf der radikalen Linken in Berlin und im Gegensatz zu Eisner bereits rechtskräftig verurteilt, profitiert erst Mitte Oktober von einer Amnestie.
Hindenburg und Ludendorff dringen weiter darauf, einen Waffenstillstand zu erreichen. Hindenburg selbst teilt der Regierung bei seinem Antrittsbesuch in Berlin am 7. Oktober 1918 mit: »Die Lage kann für uns nicht mehr besser werden, daher ist jede Verzögerung des Friedensschlusses militärisch gesprochen zu unserem Nachteil.« Das ist eine klare Empfehlung des obersten Soldaten an seine neuen, zivilen Vorgesetzten, die er zutiefst verachtet. Ganz offen schmäht der Generalfeldmarschall im Casino des Großen Hauptquartiers in Spa den Reichskanzler als »Bade-Maxe«, wie Korvettenkapitän Ernst von Weizsäcker mitbekommt.48 Die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Payer missfällt der Zeitdruck: Die Militärs sollen der Regierung nicht auch noch den Termin für das Waffenstillstandsangebot vorschreiben.
Prinz Max hat zwar erwartet, dass Wilsons Reaktion auf seine Note »weder in einer glatten Annahme noch in einer glatten Ablehnung bestehen« werde.49 Mit der Antwort, die dann am 8. Oktober 1918 tatsächlich kommt, rechnet er jedoch nicht. Denn der US-Präsident lässt seinen Außenminister zunächst nachfragen, was denn »der genaue Sinn der Note des Reichskanzlers« sei. Das überrascht, denn das Auswärtige Amt hat die Note unmissverständlich formuliert. Tatsächlich handelt es sich um ein rhetorisches Manöver Wilsons, um Druck aufzubauen, denn direkt folgt die erste harte Bedingung: Jedes Gespräch sei sinnlos, solange deutsche Truppen auf dem Boden der Verbündeten der USA stünden. Ferner verlangt Wilson zu wissen, »ob der Kanzler nur für diejenigen Gewalten des Reiches spricht, die den bisherigen Krieg geführt haben«. Die Antwort auf diese Frage sei »von jedem Standpunkt aus […] außerordentlich wichtig«. Darauf muss Prinz Max reagieren, und er tut es mit einer Note, die versichert: »Die jetzige deutsche Regierung, die die Verantwortung für den Friedensschritt trägt, ist gebildet durch Verhandlungen und in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit des Reichstages.« Der Kanzler spreche im Namen des deutschen Volkes.50
Schon dieser erste Notenwechsel zeigt: Sowohl Paul von Hintzes Plan einer Revolution von oben ist gescheitert als auch die modifizierte Variante, auf die Max von Baden hofft: Die USA zeigen keine Bereitschaft, einer von ihm geleiteten Regierung entgegenzukommen. Vielmehr stellen sie harte Forderungen, bevor überhaupt über einen Waffenstillstand gesprochen werden soll.
Die harsche Reaktion aus Washington lässt die Stimmung in Deutschland weiter sinken; der Umschwung ist nun unübersehbar. Am 15. Oktober 1918, als Namenstag von Bayerns Königin Maria Theresia ein Feiertag, ist die Lage in München zwar ruhig. Aber es ist nirgends geflaggt wie in früheren Jahren, nicht einmal an den Staatsgebäuden. »Ist das der Anfang vom Ende?«, fragt sich Josef Hofmiller. »Man kann hundertmal sagen, in dieser Zeit ist es nicht angebracht, an einen Fürstennamenstag zu erinnern – bedeutet es nicht dennoch ein feiges Sichselbstaufgeben?«51 Am selben Tag trifft Wilsons nächste Antwort in Berlin ein und wird sofort veröffentlicht. Der US-Präsident teilt mit, dass weder seine Regierung noch die Verbündeten einen Waffenstillstand erwägen könnten, solange deutsche Truppen auf dem Rückzug aus den besetzten Gebieten »mutwillige Zerstörungen« begehen und deutsche U-Boote weiterhin Passagierschiffe angreifen.52 Das ist faktisch die Aufforderung, einseitig die Kämpfe einzustellen: Deutschland soll bedingungslos kapitulieren. Der Chefredakteur des Berliner Tageblatts Theodor Wolff, der auf ein einvernehmliches Ende des Krieges gehofft hat, kommentiert entsetzt: »Durch die neue Note Wilsons hat sich der Friedensgedanke nach rückwärts bewegt.«53
Hindenburg und Ludendorff wollen nun nichts mehr von Waffenstillstand wissen und verlangen, »eine Propaganda für die letzte Verteidigung zu entfachen«.54 Oberstleutnant van den Bergh stößt die Selbstverständlichkeit auf, mit der Ludendorff und seine »unheilvollen« Ratgeber weiter Einfluss zu nehmen versuchen. »Er und sie hätten längst ersetzt werden müssen!«55
Das Militär ahnt, dass in der Heimat Gegenwehr bevorsteht: »Ohne starke Unruhen kommen wir nicht davon«, hält Weizsäcker die Stimmung im Großen Hauptquartier fest. »Viel erörtert wird die Frage, ob wir eine Revolution zu erwarten haben.«56 Innenpolitisch stützen vor allem die kaisertreue evangelische Kirche und die Gegner der Parlamentsmehrheit die Forderung der Heeresleitung. Der Reichsvorstand der Deutschkonservativen Partei etwa verkündet: »Noch aber ist es nicht an der Zeit, einen Frieden ohne Widerstand anzunehmen.« Stattdessen müsse der Konflikt ausgefochten werden: »Jeder kampffähige Mann an die Front!«57 Käthe Kollwitz notiert über Wilsons Antwort und deren Folgen in ihr Tagebuch: »Böse Enttäuschung. Die Stimmung für Verteidigungskrieg bis zum Ende wächst.«58
Von einem »dunklen Tag« spricht der Industrielle und Feingeist Walther Rathenau. In einem Aufruf in der Vossischen Zeitung nennt der 51-jährige Aufsichtsratschef der AEG die Note an Wilson übereilt. Man habe sich hinreißen lassen, »im unreifen Augenblick, im unreifen Entschluss«. Vor Verhandlungen müsse man zuerst die Fronten befestigen. Frieden ja, »doch nicht den Frieden der Unterwerfung«.59 Doch sein Aufruf zündet nicht mehr, sondern löst offenen Widerspruch aus, was Rathenau überrascht. Er schreibt dem liberalen Politiker Willy Hellpach nach Heidelberg: »Der deutsche Geist ist derart dialektisiert und gleichzeitig atomarisiert, dass nicht zwei Menschen sich verstehen können. Jeder hört nur sich selbst und hat die stärksten Argumente, um alles andere zu widerlegen. Das ist einer der tiefsten Gründe unseres Niedergangs. Ich sehe die Menschen nicht, die man zusammenbringen könnte. Wahrscheinlich bedarf es gerade deshalb der schwersten Prüfungen, damit eine Einheitlichkeit des Denkens wenigstens in gewissem Umfange wieder möglich wird.«60
Lediglich der Dichter Richard Dehmel springt Rathenau mit seinem Artikel »Einzige Rettung« bei, den die SPD-Zeitung Vorwärts am 22. Oktober veröffentlicht – halbherzig auf der vorletzten Seite.61 Dehmel, der lange der Sozialdemokratie nahegestanden hat und dessen Gedichte von Arbeitern gern gelesen werden, fordert ein Freiwilligenheer und den Verzicht der Offiziere auf ihre Vorrechte. Seinem Sohn schreibt der 54-Jährige: »Als ich die unverschämte amerikanische Antwort auf unsere zweite Note las, ballte sich mir unwillkürlich die Faust. Ich hoffe zwar immer noch, dass unsere Volksvertretung die arge Demütigung von der Hand weisen wird, und bin entschlossen, mich dann wieder an der Front zu melden; aber viel Vertrauen setze ich nicht in die Brüder.« Tatsächlich bittet er, obwohl kriegsbeschädigt, »meine Versetzung an die Front zu erwirken, für den Fall, dass die Verhandlungen zwischen unserer Regierung und der Entente nicht zum Waffenstillstand führen«. Es sei eine Frage des Ehrgefühls, unabhängig vom körperlichen Zustand, mit gutem Beispiel voranzugehen. Die Haltung seines Sohnes, der das Ende des Krieges herbeisehnt, entschuldigt Dehmel mit dessen Alter. Jünglinge seien immer bereit, »sich auf die Morgenröte einer neuen Zeit zu freuen«. Aber: »Mir scheint die rosige Menschheitszukunft, die Du aus unserem Kniefall vor Wilson erwartest, schauderhaft nebelgrau unverändert; man wird uns Deutsche jetzt ein Menschenalter lang als eine Nation von begossenen Pudeln behandeln.«62
Dehmels Reaktion ist typisch. Sein Glaube an die nationale Einheit und die Rechtmäßigkeit der Monarchie bröckelt. »Ich habe geglaubt, gegen den Krämergeist zu Felde zu ziehen – nun sehe ich, dass ich für die heimischen Krämer kämpfe«, notiert er. Ebenso typisch ist nach dem Schock der Drang weiterzukämpfen, für ein neues Nationalgefühl, »dann wird auch hinter der Front der Missmut verschwinden, der nur zu begründet ist«.63 Doch wie Rathenau bleibt Dehmel eine Einzelstimme. Beiden gibt Käthe Kollwitz eine treffende Antwort. »Es ist genug gestorben, keiner darf mehr fallen«, schreibt die Künstlerin am 28. Oktober 1918 im Vorwärts. »Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden.«64
In Kiel, dem wichtigsten Hafen der Kaiserlichen Flotte in der Ostsee, fordern Arbeiter ein sofortiges Ende des Krieges. Die örtliche Kommandantur informiert das Marineamt in Berlin: »Nach Mitteilung eines Vertrauensmannes wird im Betriebe der Germaniawerft von Mund zu Mund für einen Demonstrationsstreik zu Gunsten der Annahme der Wilson’schen Forderungen agitiert. Dieser Demonstrationsstreik sei die nächsten Tage zu erwarten.«65 Genau solche unkoordinierten Aktionen fürchtet die SPD-Führung. Schon der Ausstand der Munitionsarbeiter im Januar 1918 hat ihre Bemühungen um politischen Einfluss weit zurückgeworfen – Ähnliches soll sich nicht wiederholen.
Sozialdemokraten und Gewerkschafter versuchen, in Kiel wie überall im Reich, ihre Anhänger zu beruhigen. Auf keinen Fall dürfen größere Unruhen der neuen Regierung in den Rücken fallen, die ja tatsächlich von der Mehrheit der Parteien im Reichstag gestützt wird, neben der SPD auch vom katholischen Zentrum und den Liberalen. Das Kabinett um Prinz Max bietet ihrer Meinung nach die einzige Chance, gleichzeitig den Krieg zu beenden, politische Reformen durchzusetzen und die Ordnung im Inneren zu bewahren. Im Falle eines Kampfes bis zum Ende gegen den äußeren Feind jedoch werde es, so die Furcht vieler Sozialdemokraten, zum Bürgerkrieg der alten konservativen Eliten gegen die radikale Linke kommen. Verhältnisse wie in Russland nach der bolschewistischen Machtübernahme drohen. Die Angst vor dem Bolschewismus grassiert seit der Oktoberrevolution 1917 auch in Deutschland. Geheimrat Walter Simons, erst kurze Zeit Chef der Reichskanzlei, bittet Hugo Haase um ein Gespräch. Der USPD-Vorsitzende sagt zu, besteht aber auf einem Treffen auf neutralem Boden. Simons will erkunden, wie Haase über die Lage im Reich denkt. Der Parteichef wiederum gewinnt den Eindruck, dass die Regierung nicht allzu großes Vertrauen in ihre eigene Zukunft habe. Haase spürt, dass sie mit einem starken Linksruck rechnet und den Bolschewismus fürchtet.66
Tatsächlich bahnt sich etwas an: Am 12. und 13. Oktober 1918 treffen sich Vertreter der Spartakus-Gruppe aus dem gesamten Reichsgebiet heimlich mit anderen Linksradikalen in Berlin. Neben den Revolutionären Obleuten, die konspirativ in Betrieben wirken, sind die Spartakisten als linker Flügel der USPD jene Kraft der deutschen Arbeiterbewegung, die am entschiedensten auf einen Umsturz dringt. Die Einladung zu dem konspirativen Treffen bei der Rosta, der russischen Telegrafenagentur in der Friedrichstraße, ist als »Familienfest« getarnt. Unter den nicht einmal 30 Teilnehmern sind der linke Rechtsanwalt Paul Levi, ein früherer Redakteur der Schwäbischen Tagwacht, August Merges, Leiter der Spartakus-Gruppe in Braunschweig, weitere Vertreter der USPD und der Linksradikalen aus Hamburg, dem Ruhrgebiet und Württemberg sowie von der Spartakus-Führung Käthe Duncker und Ernst Meyer. Diskutiert werden die »revolutionäre Situation« und die Notwendigkeit, eine einheitliche Organisation zu gründen, also eine Kommunistische Partei. Das würde die Trennung der Spartakisten von der USPD voraussetzen, wozu die Spartakus-Führung aber noch nicht bereit ist.67 So wird erst einmal ein sehr langer und diffuser Aufruf beschlossen, der die Freilassung aller politischen Gefangenen fordert, die Sozialisierung von Banken und Schwerindustrie sowie die Verkürzung der Arbeitszeit, Mindestlöhne und die Enteignung landwirtschaftlicher Groß- und Mittelbetriebe. Sie sollen künftig durch Delegierte der Landarbeiter und Kleinbauern geleitet werden.
Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sitzen beide noch hinter Gittern und fehlen deshalb in der Runde in Berlin. Ebenso Johann Knief aus Bremen, der am Abend des Treffens an seine Lebensgefährtin Lotte schreibt: »Es ist, als ob alle meine Kräfte sich zu sammeln begännen. Oft ist mir, als müsste ich bersten. Ich kann dann kaum Atem schöpfen.« Er ist sich des kommenden Erfolges sicher: »Oh, ich weiß, dass wir noch so viel, so endlos viel werden schaffen können.« Geradezu erregt hält er fest: »Unsere Zeit kommt jetzt!«68
Das Treffen findet nicht ohne Grund in der russischen Nachrichtenagentur statt. Verfasst hat den Revolutionsaufruf der russische Botschafter Adolph Joffe. Es sei ihm nur mit Mühe gelungen, die Zustimmung zu der Proklamation zu erlangen, »die ich geschrieben hatte und anbei mitschicke«, teilt er in der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober Lenin mit.69 Auch der vorgesehene Bruch der Spartakus-Gruppe mit der USPD geht auf russische Initiative zurück. Seit dem Rücktritt von Kanzler Hertling rechnet die Führung der Bolschewiki mit gravierenden Veränderungen in Deutschland. Lenin glaubt, dass eine Revolution wie in Russland bevorstehe. Die deutsche Bourgeoisie könne sich weder durch eine Koalition mit der SPD noch durch eine Militärdiktatur retten. Bis die Macht in den Händen des deutschen Proletariats liege, werde Russland die Neutralität wahren. Sein Berater Karl Radek formuliert: »Wir schauen auf Deutschland wie auf eine Mutter, die eine Revolution gebiert, und sollten uns die Deutschen nicht dazu zwingen, werden wir nicht die Waffen gegen sie erheben, ehe das Kind geboren ist.« Von nun an »existiert der Bolschewismus in Deutschland«, schwärmt Radek. »Er ist eine Kraft, die ideenmäßig alles übersteigt, was die Feinde in den Händen haben.«70
Doch davon ist Deutschland weit entfernt. Dass es nicht zum revolutionären Umsturz komme, sei nicht ein Problem des Geldes, das er reichlich verteile, meldet Botschafter Joffe an Lenin, sondern der Einstellung in weiten Kreisen der Sozialdemokratie und der Linken. »Man kann gar nichts machen, wenn alle Deutschen so hoffnungslos sind: Zur illegalen Arbeit in unserem Sinne sind sie einfach nicht fähig, weil sie zum größten Teil politische Spießer sind, die sich hier eingerichtet haben, um nicht zur Armee eingezogen zu werden, und sich daran festkrallen. Aber Revolution machen sie nur mit ihren Reden am Biertisch.«71 Hinter dem harten Urteil steckt Unverständnis darüber, dass die deutsche Linke nicht über einen bewaffneten Aufstand nachdenke. Anscheinend reizt die Aussicht, einen Bürgerkrieg anzuzetteln, deutsche Arbeiter nicht.
Andererseits ist den Bolschewiki klar, wie schwach die Linksradikalen sind. Das sei ein Unglück, bemerkt Joffe, der auf die Freilassung von Liebknecht und Luxemburg hofft. Die kommunistische Funktionärin Angelica Balabanova fragt die Spartakus-Führer, welchen Einfluss sie bei den Massen besäßen, und bekommt »keine konkrete Antwort«. Auch der Wirtschaftsexperte Vladimir Miljutin äußert skeptisch: »Sie haben noch keine einzige Demonstration durchgeführt und organisiert, von mehr gar nicht zu reden.« Vor allem wundert ihn, dass die Spartakisten offenbar wenig Kontakt zu Arbeitern haben, anders als die Revolutionären Obleute, die rund 400.000 Arbeiter in Betrieben mobilisieren können. Zwischen beiden Gruppen gebe es fast keine Verbindung.72 Zwar hat das führende Spartakus-Mitglied Wilhelm Pieck, der als Deserteur im März 1918 nach Holland geflüchtet ist, ein halbes Jahr später illegal Berlin besucht und sich dort mit Vertretern der Obleute getroffen. Diese haben jedoch danach den Kontakt abgebrochen, da die Spartakisten von der Politischen Polizei überwacht werden; außerdem verfolgen sie einen anderen politischen Ansatz. Jedoch sind sich beide Seiten einig, dass eine revolutionäre Erhebung frühestens Anfang 1919 zu erwarten sei.
So lange wollen die russischen Strippenzieher nicht warten. Joffe regt an, mit Straßendemonstrationen zu provozieren; er hofft, dass sich die deutsche Regierung zu Repressionen hinreißen lässt. Miljutin vertraut den Gesetzen der Physik: »Jede Aktion ruft eine Reaktion hervor. Daraus kann nichts als nur Gutes entstehen. Die Deutschen müssen ›aufgerüttelt‹ werden. Das ist die Hauptsache.«73 Der erste Versuch misslingt. Eine Spartakus-Demonstration am 16. Oktober vor dem Reichstagsgebäude und in der Innenstadt hinterlässt wegen der geringen Beteiligung einen kläglichen Eindruck. Zwar ziehen 600 bis 800 Arbeiter, zu zwei Dritteln Männer, grölend durch das Brandenburger Tor zur russischen Botschaft am Boulevard Unter den Linden, aus deren Fenstern rote Fahnen als Zeichen der Unterstützung geschwenkt werden. Als die erregten Demonstranten aber weiter Richtung Stadtschloss marschieren, halten Polizisten sie auf. Es kommt zu Handgemengen, schließlich greifen die Uniformierten zu ihren Waffen: »Die blanken Säbel dämpften sofort den Kundgebungstaumel der Rotte. Nach einiger Zeit fingen einzelne Genossen an, sich seitwärts zu drücken«, heißt es im Bericht des zuständigen Reviers an den Polizeipräsidenten. Einige Militärangehörige, die den Aufruhr zufällig miterleben, fühlen sich abgestoßen: »Die ganze Bande gehört in den Schützengraben!«74 Sie helfen den Polizisten, die Demonstranten zu zerstreuen. Die radikale Linke hat keineswegs die Unterstützung der einfachen Soldaten.
In einem weiteren Schreiben an Lenin vom 19. Oktober 1918 kann Joffe denn auch keine »Verbesserung der Revolutionsaussichten in Deutschland« erkennen. Während die deutsche Armee sich auflöse, stehe die revolutionäre Gärung im Proletariat still, »weil es keine Partei gibt, die die Massen ständig revolutionieren und alle Fehler der regierenden Parteien ausnutzen konnte. Es ist zweifellos so, dass die Scheidemann-Leute immer noch die große Popularität haben.«75 Etwas positiver stimmt den Botschafter die Willkommensdemonstration für Liebknecht am 23. Oktober. Auch Pieck ist wieder in Berlin und organisiert Flugblattaktionen. Zu einer spontanen revolutionären Erhebung kommt es jedoch noch immer nicht. Zu gering ist der Einfluss der Spartakus-Gruppe, auch nehmen die Differenzen mit den Revolutionären Obleuten um den Berliner Richard Müller zu. Ihm geht der Aktionismus der Spartakisten zu weit. Außerdem findet er, dass diese Gruppe zu wenig von der Denkweise der Arbeiter verstehe.76
Die Spannungen wachsen, als Liebknecht nach seiner Entlassung wieder mitmischt. Dank seiner Autorität kann er an Sitzungen der Obleute teilnehmen; mit deren Taktik ist Liebknecht aber unzufrieden. Sie haben bislang vermieden, sich öffentlich zu zeigen. Stattdessen agieren sie lieber im Verborgenen, knüpfen in Betrieben ihr Netz von Vertrauensleuten und orientieren sich an der Stimmung der Belegschaften. Demonstrationen und offensive Straßenpropaganda liegen ihnen nicht. Aktionen wie einen Generalstreik oder gar einen revolutionären, bewaffneten Umsturz wollen sie erst starten, wenn die Zeit dafür reif sei. Liebknecht hingegen ist Wahlkämpfe und öffentliche Auftritte gewohnt. Außerdem will er nach zwei Jahren Haft endlich handeln. Müller, der 1916 Großdemonstrationen gegen Liebknechts Verhaftung organisiert hat, trifft die Kritik. Er sieht seine Leute als entschlossene Revolutionäre, keineswegs aber als einen »Klub wild gewordener Spießbürger«.77
Die Radikalisierung der Linken durch Liebknechts Rückkehr bleibt der Regierung nicht verborgen. In einer Sitzung des Kabinetts am 2. November 1918 ist der Umgang mit dem Spartakus-Anführer ein zentrales Thema. Liebknecht hat auf mehreren Veranstaltungen verkündet, »jetzt sei der Augenblick gekommen, den entscheidenden Schlag zu tun«. Er hat zum Umsturz aufgerufen und das Ende der Hohenzollern-Dynastie gefordert. Kann man ihn dafür juristisch belangen? Soll man ihn noch einmal zum Militär einziehen? Oder seine Aktivitäten einfach ignorieren? Paul von Krause, der Staatssekretär im Reichsjustizamt, sieht den Tatbestand des Hoch- und Landesverrats erfüllt. Es müsse Haftantrag erlassen und Anklage erhoben werden. Der preußische Kriegsminister Heinrich Schëuch erklärt, Liebknecht sei wehrpflichtig; er habe daher angewiesen zu untersuchen, ob er verwendungsfähig sei. Man könne keine Ausnahme machen, nur »weil er Liebknecht heißt«. Er will aber mit der Einberufung warten: »Ich möchte nicht der Unmenschlichkeit bezichtigt werden.« Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann stützt von Krauses Standpunkt. Eine Einziehung hält er dagegen für keine gute Idee, denn die Verweigerung des Wehrdienstes gehöre zu Liebknechts Programm. Sollte man ihn einbestellen, schenke man ihm ein wirksames Agitationsmittel. Das müsse nicht sein, denn »Liebknecht macht gar keinen Eindruck bei seinen Reden. Er kann allerlei Unfug anrichten, aber nicht mehr«. Für Zurückhaltung plädieren auch Vizekanzler Payer und Staatssekretär Matthias Erzberger. Der Chef des Reichsschatzamtes Siegfried von Roedern ergänzt knapp: »Ruhig noch 14 Tage warten.« Genau das wird beschlossen. Lediglich Schëuch meldet Bedenken an: »Wenn wir warten, wird es noch schlimmer. Man kann ihn nicht ignorieren. Er sorgt selber dafür, dass er nicht ignoriert wird.«78 Die Runde ahnt nicht, dass Liebknecht am selben Tag mit Vertretern der Obleute in einer Kneipe in Berlin-Neukölln zusammenkommt, um über einen Aufstand zu diskutieren.79
Ebenso wenig wie die Liebknecht-Anhänger in Berlin setzt Kurt Eisner in München auf Mäßigung. Im Gegenteil attackiert er die bisher Herrschenden und die Sozialdemokraten; seine radikalen Reden verschaffen ihm eine wachsende Anhängerschaft. Bei einer Kundgebung am 23. Oktober 1918 greift Eisner einem Zeitungsbericht zufolge Max von Baden und die ihn stützende SPD direkt an. Eine Volksregierung mit einem zukünftigen Großherzog an der Spitze sei ihm keine Volksregierung. Auch die jetzige Reichsregierung habe noch keinen Beweis dafür erbracht, dass sie das Volk weniger anlüge, als ihre Vorgängerin es getan habe. Für Jubel bei seinen Zuhörern sorgt Eisners Forderung, Liebknecht zum Staatsoberhaupt des »neuen Deutschlands« zu ernennen.80
Derlei Aufstachelung führt direkt zu Konfrontationen im Alltag. In München erlebt Josef Hofmiller eine zunehmend aggressive Stimmung. Als er am vorletzten Oktoberwochenende 1918 in einem stadtnahen Wald spazieren geht, kommt ihm »eine wahre Prozession armer Weiber und junger Burschen« entgegen, auf dem Weg zurück in ihre einfachen Viertel. Sie haben Holzreste gesammelt, um im schon kühlen Herbst überhaupt etwas zum Heizen zu haben; offiziell nämlich sind Kohlen gerade vergriffen und nur noch auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen zu haben. Hofmiller versucht, mit den Leuten zu plaudern, wie es früher selbstverständlich gewesen wäre. Er bekommt aber äußerst bissige, bösartige Antworten. Dabei konnte man sich doch früher gerade mit den Vorstädtlern ausgezeichnet unterhalten, wundert sich der Gymnasiallehrer. Hofmiller erinnert sich an Gespräche mit einfachen Leuten im Hofbräuhaus vor dem Krieg: »Das war Demokratie!«81
Um überhaupt eine Chance zu bekommen, Deutschland einigermaßen erträglich aus dem Krieg zu führen, muss die neue Reichsregierung einen weiteren Schritt auf die USA zugehen. Doch das ist seit der Versenkung des britischen Dampfers RMS »Leinster« in der Irischen See durch ein deutsches U-Boot am 10. Oktober 1918 noch schwieriger geworden; 553 Menschen sind dabei gestorben, darunter ein Dutzend amerikanische Krankenschwestern. Die Anhänger eines harten Kurses in den Regierungen der Entente-Mächte fühlen sich durch den Angriff in ihrer Ansicht bestätigt, dass auch das Kabinett unter Max von Baden ein doppeltes Spiel treibe. Entsprechend verschärft sich der Ton im Notenwechsel zwischen Berlin und Washington. Die nächste Botschaft aus den USA, verschickt am 14. Oktober, zitiert ausdrücklich eine Wilson-Rede vom Sommer 1918. Der US-Präsident hat darin festgestellt, dass Frieden in Europa »ohne Vernichtung jeder willkürlichen Macht« oder zumindest »ihre Herabminderung bis zur tatsächlichen Ohnmacht« unmöglich sei.82 Der ungewöhnliche Begriff »willkürliche Macht« bezieht sich, das ist der deutschen Führung klar, auf das Herrschaftsverständnis von Wilhelm II., der sich stets als Monarch von Gottes Gnaden gesehen hat. Diesen Kaiser will der US-Präsident, Herrscher auf Zeit im Auftrag des Volkes, als Voraussetzung für Verhandlungen »vernichtet« sehen, also abgesetzt, oder wenigstens »herabgemindert«, also in politische Bedeutungslosigkeit abgedrängt.
Max von Baden aber, verfassungsrechtlich ausschließlich vom Vertrauen seines Vetters Wilhelms II. abhängig, lehnt sowohl eine erzwungene Abdankung des Kaisers, gleichbedeutend mit der »Vernichtung der willkürlichen Macht«, als auch eine durchgreifende Parlamentarisierung ab, die »Herabminderung bis zur tatsächlichen Ohnmacht«. Vage erklärt er sich gegenüber Theodor Wolff lediglich zu einer Lösung bereit, in der er selbst nach einem freiwilligen Verzicht Wilhelms II. und des Kronprinzen als »Regent« den Thron für den erst zwölfjährigen ältesten Kaiserenkel Wilhelm Friedrich freihalten könnte.83 Die Regierung soll ein vom Parlament gestützter Kanzler übernehmen, zum Beispiel Friedrich Ebert. Doch dieses Gedankenspiel krankt gleich an mehreren Schwächen: Erstens hat Max nicht genug Willenskraft, es durchzusetzen; zweitens klammert sich Wilhelm II. an sein Amt; drittens verlangt die SPD Garantien, die der Reichskanzler ihr nicht geben will.
Bis in Regierungskreise hinein gibt es aber nirgends Zweifel, dass Wilhelms Rücktritt unvermeidlich ist. Man dürfe es nicht so weit kommen lassen, dass das Volk durch Streiks oder Unruhen die Abdankung zu erzwingen suche, meint etwa Vizekanzler Payer. Aber die Berater des Kaisers bestätigen Wilhelm II. in seiner sturen Weigerung. Dafür hat Payer kein Verständnis: Könne man wirklich noch glauben, nach einem vierjährigen Krieg mit enormen Opfern und nach einer katastrophalen Niederlage könne im Deutschen Reich der Kaiser weiterregieren, als habe sich nichts geändert? Würden tatsächlich Offiziere, Adel und Monarchisten ihr Leben einsetzen, um dem Kaiser seinen Thron zu erhalten? Könne irgendjemand ernsthaft wollen, dass deshalb eine Revolution ausbreche?84
Aber längst geht es nicht mehr nur um die Person des Kaisers selbst und seine Dynastie. Hugo Haase stellt am 23. Oktober im Reichstag fest, dass aus dem Habsburger-Reich nationale Republiken entstehen, und fragt: »Die Kronen rollen auf das Pflaster! […] Und da soll Deutschland allein, umgeben von Republiken, noch einen Kronenträger haben oder Träger vieler Kronen und Krönlein?«85 Mehrere sozialdemokratische Zeitungen fordern jetzt offen die Abdankung des Kaisers, was allgemein registriert wird – auch in Kiel, wie Weftingenieur Nikolaus Andersen in seinem Tagebuch vermerkt.86
Viele Adelshäuser haben erkannt, dass ihre Zeit zu Ende geht. In Hessen bittet Erbprinz Leopold zu Isenburg den SPD-Funktionär Hermann Neumann in seine Privatwohnung in Darmstadt zu einer Unterredung. Leopold erklärt dem verdutzten Besucher, dass er zwar kein Sozialdemokrat sei, aber durchaus demokratisch eingestellt; diese Gesinnung habe er schon immer gehabt. Den Schwenk nimmt Neumann dem Prinzen nicht ab. Daran ändert sich auch nichts, als Leopold einräumt, dass das von den Sozialdemokraten geforderte allgemeine, gleiche, freie und geheime Wahlrecht kommen werde. Der Prinz erklärt, dass er in Kontakt mit fast allen regierenden Häusern Deutschlands stehe. Er rechne »wie die anderen« mit dem Ende der Hohenzollern-Dynastie. Wie könne Deutschland dann aussehen? Leopold schlägt einen Staatenbund mit dem Reichstag an der Spitze vor und Frankfurt am Main als neue Hauptstadt. Die Leitung des Staatenbundes müsste dem Reichskanzler übertragen werden. Neumann macht den Prinzen darauf aufmerksam, dass damit die Macht der regierenden Häuser beseitigt werde; Leopold antwortet: »Ja, das wäre auch nicht schlimm.«87
Ganz so weit sind die Herrschenden in Baden noch nicht. Doch auch hier bringen sich die Sozialdemokraten in Stellung. Sie haben Mindestforderungen formuliert und sie den bürgerlichen Parteien zukommen lassen, um eine breitere Basis zu finden. Bevor die Fraktionschefs darüber beraten können, sickert das Vorgehen durch, worauf Staatsminister Heinrich von Bodman an den Vorsitzenden der badischen SPD schreibt. Anton Geiß antwortet, man werde der Regierung bald die gemeinsamen Vorschläge vorlegen. Der erste Schritt zur Demokratisierung der Regierung in Baden ist getan.88
Am 22. Oktober 1918 stellt Max von Baden im Reichstag zwar in einem Nebensatz fest, kein Kanzler könne im Amt bleiben, »wenn er das Vertrauen der Mehrheit des Hauses verloren« habe.89 Doch sein eigener Gesetzentwurf zur Änderung der Reichsverfassung sieht statt einer formellen Abhängigkeit des Regierungschefs vom Parlament lediglich die Gründung eines Staatsgerichtshofes vor, dem gegenüber der Kanzler verantwortlich sein solle. Der Reichskanzler ist zu zögerlich. Das merkt auch Johann Heinrich von Bernstorff, bis 1917 Botschafter in den USA. Er kennt die Amerikaner und natürlich auch Präsident Wilson persönlich; für die anstehenden Verhandlungen ist er also der ideale Mann. Doch Bernstorff kommt spät, er hat Wochen zuvor das Ansinnen abgelehnt, Chef des Auswärtigen Amtes zu werden, weil seiner Ansicht nach ernsthafte Verhandlungen ohne die Abdankung Wilhelms II. unmöglich sind. Durch die Entwicklung seither fühlt er sich bestätigt.90 Bei täglichen Spaziergängen mit dem Kanzler im Garten der Reichskanzlei sagt Bernstorff offen seine Meinung. Als Max von Baden wissen will, ob auch er die Noten von Wilson so verstehe, dass die Abdankung des Kaisers notwendig sei, bejaht der Diplomat. Es bleibe wohl keine andere Wahl. Als der Kanzler klagt, diese Mitteilung könne er seinem Vetter nicht überbringen, entgegnet Bernstorff: »Dann hätten Sie auch nicht Kanzler werden dürfen.«91 Dennoch ist er überzeugt, dass die Monarchie aus prinzipiellen Gründen gerettet werden müsse, um die Ordnung zu bewahren. Eine Revolution werde Deutschland in der Stunde der größten Gefahr lahmlegen.
Inzwischen haben die führenden Politiker der Reichstagsmehrheit erkannt, dass Wilson ihnen mit seinen Bedingungen ein Druckmittel in die Hand gegeben hat. Taktisch klug fordert Ebert in seiner Rede nichts, sondern stellt nur fest: »Niemand in der Welt braucht daran zu zweifeln, dass unser Volk das Recht der Selbstbestimmung sich nicht mehr entwinden lassen wird.« Und er interpretiert Max von Badens Erklärung wider besseres Wissen als offizielle Bestätigung einer angeblich bereits vollzogenen Parlamentarisierung. Das Kabinett habe seine Existenz von der Zustimmung des Reichstages abhängig gemacht – deshalb sei der Tag der Amtsübernahme durch Max von Baden »der Geburtstag der deutschen Demokratie«.92 Das stimmt faktisch nur zum Teil und formal gar nicht, denn immer noch gilt die Verfassung von 1871, der zufolge der Kanzler ausschließlich vom Vertrauen des Kaisers abhängt. Doch nun sitzt Prinz Max in einer Zwickmühle: Er kann nicht mehr hinter seine Aussage zurück, obwohl Ebert ihm eine seinen eigenen Intentionen entgegengesetzte Auslegung aufgedrängt hat.
So muss der Regierungschef einen Vorschlag der Mehrheitsparteien für die Verfassungsänderung akzeptieren, der sich vom ursprünglichen Entwurf durch den Einschub von gerade einmal zehn Wörtern unterscheidet: »Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstages.«93 Zwischen der zweiten und der dritten Lesung der vorgesehenen Verfassungsänderung wird diese Ergänzung in den Gesetzgebungsprozess eingebracht; am 26. Oktober 1918 schließlich verabschiedet der Reichstag den veränderten Entwurf mit »großer Mehrheit« und »lebhaftem Bravo bei den Mehrheitsparteien«.94 Als auch der Kaiser und der Bundesrat als Vertretung der Fürsten zustimmen, tritt die Änderung der Reichsverfassung zwei Tage später in Kraft: Fortan ist Deutschland nicht mehr eine konstitutionelle, sondern eine parlamentarische Monarchie.
Doch ausgerechnet diese Kompetenzerweiterung der Volksvertretung kommt streng genommen auf unzulässige Weise zustande. Denn die Ergänzung des ursprünglichen Regierungsvorschlags unmittelbar vor der entscheidenden Lesung geht zu weit, um als Änderungsantrag im Eiltempo durchs Parlament gebracht zu werden. Die konservative Opposition kritisiert die Hast: Eine so einschneidende Veränderung der Reichsverfassung hätte eines eigenen Gesetzgebungsverfahrens bedurft. Der Fraktionschef der Deutschkonservativen, Kuno Graf Westarp, benennt klar, was die Verfassungsänderung bedeutete: »Aus dem monarchisch-konstitutionellen Reich ist ein nach den Grundsätzen der westlichen Demokratien parlamentarisch regierter Staat geworden.«95 So deutlich hätte Friedrich Ebert das wohl nicht formuliert; doch inhaltlich liegt der Konservative richtig. Westarp erhebt vehement Einspruch gegen das Verfahren, doch er wird von der Reichstagsmehrheit niedergestimmt.
Erstaunt schreibt Betty Scholem, die politisch sensible Frau eines Berliner Druckereibesitzers, am 26. Oktober ihrem Sohn Gerhard: »Ja, was sagst Du, wie sich die Dinge geändert haben! Es ist eine wahre Wohltat, jetzt die freie Sprache der Zeitungen und des Reichstags zu vernehmen. Was sonst im Volke sickert, wirst Du ja auch wissen!« Sie fühlt sich fast überfordert: »Meine Nerven machen bald nicht mehr mit.« Zur gleichen Zeit erhält Gerhard Scholem einen Brief seines Bruders Werner aus dem Feld, der mit den Linksradikalen liebäugelt. Werner Scholem fürchtet noch immer einen nationalen Verteidigungskrieg, der die Kämpfe um Monate verlängern würde, und hofft auf eine Revolution. Er würde sich sogar von den Unabhängigen Sozialdemokraten trennen und einer neu gegründeten Partei anschließen, bekennt er, ungeachtet der Zensur – er meint eine kommunistische Partei. Allerdings müsse er sich etwas informieren, »und die ganze Sache muss auf den Frieden verschoben werden«.96
Derweil versucht Erich Ludendorff, genau diesen Frieden zu verhindern. Präsident Wilson hat in einer weiteren Note mitgeteilt, dass »mit den militärischen Beherrschern und monarchischen Autokraten Deutschlands« nicht verhandelt werde. Sollten sie im Amt bleiben, müsse das Reich »sich ergeben«.97 Als unmittelbare Reaktion darauf verbreitet die Oberste Heeresleitung am folgenden Abend ohne Abstimmung mit der Reichsregierung eine Botschaft an das Heer, die den ohnehin scharfen Inhalt der Note nochmals zugespitzt zusammenfasst und daraus folgert: »Die Antwort Wilsons erfordert die militärische Kapitulation. Sie ist deshalb für uns Soldaten unannehmbar. Sie ist der Beweis, dass der Vernichtungswille unserer Feinde, der schon 1914 den Krieg entfesselte, unvermindert fortbesteht.«98 Diese »haarsträubende« Botschaft, die dem Gegner natürlich rasch bekannt wird, beweist nach dem Eindruck Ernst von Weizsäckers, dass Wilson recht habe mit »seiner Nebenregierungsbehauptung, auch heute noch«.99
Am folgenden Tag fahren Hindenburg und Ludendorff gegen die ausdrückliche Weisung des Reichskanzlers von Spa nach Berlin. In einem teilweise heftig geführten Gespräch mit Vizekanzler Payer fordern sie, »die maßlosen Bedingungen Wilsons zurückzuweisen«. Nun behaupten Ludendorff und sein Vorgesetzter Hindenburg, die deutsche Front werde doch den »Winter über halten« – nachdem sie gerade einmal vier Wochen zuvor den Zusammenbruch der deutschen Truppen als so unmittelbar drohend beschrieben haben, dass die Regierung den Kriegsgegner USA sofort um Waffenstillstand bitten müsse.100 Payer lehnt das Ansinnen ab. Er ist sich sicher: Ein Heerführer und seine Umgebung könnten zwar die eigene Laufbahn mit einem Todesritt abschließen, aber »ein Volk von 70 Millionen kann die Entscheidung über Leben und Tod nicht nach dem Ehrbegriff eines einzelnen Standes treffen, es kann auch sein Schicksal nicht von Zukunftsmöglichkeiten abhängig machen, die nur auf Hoffnungen, nicht aber auf Tatsachen gestützt« seien.101
Wilhelm II. schimpft: »Es ist doch ein unmöglicher Zustand, dass solche Kundgebungen ohne mein und des Kanzlers Einverständnis hinausgehen.«102 Dem höchsten deutschen Admiral Reinhard Scheer sagt der Kaiser noch deutlicher: »Ungerufen kommen die beiden hierher, wie die Elefanten im Porzellanladen, und trampeln mir alles entzwei.«103 Prinz Max tut seinem Vetter den Gefallen und macht das »Verbleiben auf seinem Posten von der Entlassung des Generals abhängig«.104 Die Konsequenz kann nur der sofortige Abschied Ludendorffs sein. Hindenburgs gleichzeitigen Rücktritt lehnt Wilhelm allerdings ab. Obwohl die strittige Botschaft im Namen des 71-jährigen Feldmarschalls erschienen ist, wissen die Regierung und der Kaiser, dass der Text vom Generalquartiermeister stammt. Ludendorffs Nachfolger wird Generalleutnant Wilhelm Groener, ein Württemberger. Zu den Qualifikationen des Logistik-Experten gehört, dass er kein Preuße ist und als Süddeutscher »besser mit den Parlamentariern fertig« werde.105
Während die Machtverhältnisse beim Heer nun geklärt sind, achtet die politische Spitze nicht besonders auf die Marine. Dabei hat der Chef der Seekriegsleitung Scheer am Gespräch der Heeresleitung mit dem Vizekanzler teilgenommen und dabei »nachdrücklichst« die Position Ludendorffs vertreten: Ablehnung der US-Forderungen und stattdessen ein Aufruf zum Kampf bis zum Letzten.106 Schon seit Wochen plant der Admiralstab Vorstöße der Schlachtflotte in die Nordsee, deren Schiffe seit der Skagerrak-Schlacht 1916 auf Reede in Wilhelmshaven und Kiel vor sich hin rosten. Am 22. Oktober 1918 hat Scheer dem Flottenbefehlshaber Franz von Hipper mündlich mitteilen lassen: »Die Hochseeflotte erhält die Weisung, baldigst zum Angriff auf die englische Flotte vorzugehen. Dazu können alle verfügbaren Streitkräfte der Kaiserlichen Marine herangezogen werden.«107 Unmittelbar nach Ludendorffs Entlassung genehmigt Scheer den ausgearbeiteten Plan. Die gesamte Flotte soll bei Nacht Richtung holländischer Küste vorstoßen und den Schiffsverkehr in der Themsemündung sowie im Kanal attackieren. Scheer rechnet damit, dass daraufhin die Royal Navy aus ihren Stützpunkten in Schottland im Eiltempo nach Süden dampfen werde, um den deutschen Schiffen den Rückweg abzuschneiden. Ungefähr vor der westfriesischen Insel Terschelling werde es zur Entscheidungsschlacht kommen. Der Beginn der Operation ist für den 30. Oktober 1918 vorgesehen.
Was genau haben Scheer und Hipper vor? Mit einem Sieg über die zahlenmäßig deutlich überlegene Royal Navy können die beiden erfahrenen Admiräle nicht ernsthaft rechnen. Bei den Besatzungen der Schiffe herrscht schon seit Wochen die Sorge, die Hochseeflotte werde den Befehl zur Selbstopferung erhalten. Soll tatsächlich mit einer Fahrt in den sicheren Tod ein Zeichen gesetzt werden? Oder geht es den Admirälen darum, mit einer verwegenen Operation die bevorstehenden Verhandlungen über einen Waffenstillstand zu torpedieren? Wollen sie Ludendorffs bereits gescheiterten Plan eines letzten Aufbäumens trotz der klaren Absage der Politik auf eigene Faust umsetzen? Das wäre eine Art Staatsstreich gegen Kanzler Max von Baden.108 Verfolgen sie vielleicht das Ziel, den teuren Ausbau der deutschen Schlachtflotte vor der Geschichte zu rechtfertigen, durch einen heldenhaften letzten Vorstoß? Damit würde das Korps der Seeoffiziere seine Ehre verteidigen und eine nennenswerte Position im künftigen Deutschland beanspruchen können. Wahrscheinlich spielen alle diese Motive eine Rolle bei der Entscheidung, das bevorstehende Kriegsende hinauszuzögern. Doch einen Faktor haben die Admiräle eindeutig zu wenig bedacht: die Besatzungen ihrer Schiffe.