Читать книгу Werner Sombart - der rückwärtsgewandte Zukunftspessimist? - Lars Diedrich - Страница 6
ОглавлениеWerner Sombart, Versailles und das Deutsche Reich
Die Proklamation des Deutschen Reiches in Versailles 1871 erlebt Werner Sombart als Kind im Alter von acht Jahren. Sein Vater Anton Ludwig Sombart ist ein angesehener preußischer Politiker und erfolgreicher Unternehmer. Er gehört zu den 30 Abgeordneten, die der Proklamation des neuen Deutschen Reiches in Versailles persönlich beiwohnen und dem preußischen König die Kaiserkrone überreichen. Es ist diese Zeit der großen Umwälzungen, die den Weg des berühmten Sozialwissenschaftlers prägen wird. Die Industrialisierung beginnt sich in den deutschen Einzelstaaten voll zu entfalten. Dampfmaschinen verändern die Gesellschaft grundlegend. Sie revolutionieren das Verkehrswesen und ermöglichen die Massenproduktion industrieller Güter, indem sie Webstühle, Druckerpressen oder Dampfhämmer antreiben. Lokomotiven oder Stahlschiffe befördern Personen und Güter in noch nie dagewesener Geschwindigkeit. Die Entfernungen verlieren an Bedeutung. Strecken, die man vor ein paar Jahren noch mühsam in mehreren Wochen zu Fuß oder Pferd bereiste, können nun bequem in wenigen Tagen zurückgelegt werden.4
Die alten Gesellschaftsstrukturen werden aufgebrochen. Traditionsreiche Handwerke, wie z.B. das der Weber, werden aufgrund der neuen, gnadenlos effizienten Webstühle obsolet. Für andere Handwerke wiederum, schafft die Industrialisierung weitere Beschäftigungsmöglichkeiten. Die schnell wachsenden Städte und Industrien benötigen handwerkliches Know-how im Häuserbau oder in der Rohstoffverarbeitung.5
Auch große Teile des Adels sind mit der neuen Zeit überfordert. Die adeligen Familien denken oft nicht marktwirtschaftlich genug, sondern verlassen sich zu sehr auf ihren althergebrachten Stand und die damit verbunden gesellschaftlichen Privilegien. Nun tritt dem Adel jedoch ein selbstbewusstes, wirtschaftlich erfolgreiches Bürgertum entgegen, das dieses Selbstverständnis in Frage stellt. Verarmte Adelsgüter werden oft von wohlhabenden Bürgern aufgekauft – nur ein Symptom von vielen, das die neuen Verhältnisse charakterisiert.
Auch politisch ist Deutschland in Bewegung. Seit dem leisen Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806, gibt es nur noch voneinander unabhängige deutsche Einzelstaaten. Das ehemalige Reich ist zu einem bunten Flickenteppich geworden: Neben dem mächtigen protestantisch-absolutistischen Preußen, gibt es liberale Stadtstaaten wie Hamburg und Bremen, die süddeutschen, katholisch geprägten Länder oder das Preußen militärisch lange Zeit ebenbürtige multikulturelle Österreich-Ungarn. Der Krieg gegen die napoleonische Besatzung bringt jedoch eine länderübergreifende patriotische Bewegung hervor, die einen demokratisch verfassten deutschen Staat mit einer zeitgemäßen Verfassung fordert. Artikuliert werden diese Ideen von dem aufstrebenden Bürgertum. Studenten, Akademiker, Beamte und Unternehmer wollen nicht länger nur die Zaungäste der Politik sein, sie wollen mitentscheiden und mitgestalten. Doch die traditionellen, adeligen Eliten halten dagegen. Sie sehen sich in ihrer Machtposition gefährdet, die sie als von Gott gegeben betrachten. 1848 kommt es zum Zusammenstoß der beiden Lager. In der preußischen Hauptstadt Berlin revoltiert die Bevölkerung gegen den König und es bricht ein blutiger Straßenkampf aus. Die Revolution entwickelt sich zum Flächenbrand und erfasst die anderen deutschen Staaten. Die adeligen Herrscher schaffen es noch, die revolutionäre Bewegung niederzuschlagen. Im liberalen Bürgertum ist die Enttäuschung groß. Es wird weitere 23 Jahre warten müssen, bis ein deutscher Staat entstehen wird. Das 1871 in Versailles proklamierte neue Deutsche Reich hat allerdings einen bitteren Beigeschmack, denn es wird nicht nach den Idealen des Bürgertums gestaltet. Die traditionellen Eliten verwirklichen ihre Vorstellungen von einem Staat, in dem der Kaiser die oberste staatliche Instanz ist und das Parlament nur eine untergeordnete Rolle einnimmt. Dennoch begeistert sich das Bürgertum für das geeinte Deutschland.6
Auch Werner Sombarts Vater Anton Ludwig ist unmittelbar an diesen Entwicklungen beteiligt. 1848 ist er 32 Jahre alt und Teil des politisch liberalen Bürgertums. Als die Revolution ausbricht, hängt er umgehend eine schwarz-rot-goldene Fahne aus seinem Fenster und hofft auf die Gründung eines deutschen Staates. Er arbeitet als Feldvermesser, kann aber seinen Beruf wegen eines Augenleidens nicht weiter ausüben. Stattdessen bewirbt er sich auf die Stelle des Bürgermeisteramtes in Ermsleben. Es ist die Zeit, in der der Zuckerrübenanbau in Europa beginnt, den teuer importierten Rohrzucker aus den Kolonien abzulösen. Werners Vater erkennt das Potential des Rübenzuckers und beschließt eine eigene Zuckerfabrik zu gründen. Die Fabrik floriert und Anton Ludwig wird ein erfolgreicher Geschäftsmann. Seinen Gewinn reinvestiert er in den Ankauf mehrerer Rittergüter von verarmten Adeligen und wird so zum erfolgreichen Agrarunternehmer und Agrarreformer. Aufgrund seines Ansehens und seiner gesellschaftlichen Stellung schafft er es als nationalliberales Mitglied in den preußischem Landtag gewählt zu werden.7
Er wird so Teil der preußischen bürgerlichen Elite, verkehrt in zahlreichen Vereinen und ist mit einflussreichen Persönlichen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft befreundet. So ist er z.B. neben den berühmten Nationalökonomen Gustav Schmoller und Adolph Wagner Mitglied des renommierten Vereins für Sozialpolitik, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die negativen sozialen Auswirkungen der liberalen Wirtschaftspolitik zu beheben. Bei der Proklamation des Reiches in Versailles speist er mit dem preußischen König und späteren deutschen Kaiser zu Abend und gehört zu einer Delegation von 30 Abgeordneten, die diesem die Kaiserkrone überreicht. Otto von Bismarck schlägt ihn für das Amt des Agrarministers vor, das Anton Ludwig Sombart aber aufgrund seines Augenleidens ablehnt.8
Die politischen Verpflichtungen des Vaters veranlassen die Familie Sombart, das Unternehmen zu verkaufen und nach Berlin zu ziehen, der neuen deutschen Hauptstadt.9
Anton Ludwig hat hohe Ansprüche an seinen Sohn und hofft, dass dieser an den renommierten Berliner Gymnasien die bestmögliche Schulausbildung erhält. Doch Werner ist nur ein mittelmäßiger Schüler. Er leidet unter den hohen Ansprüchen seines erfolgreichen und angesehenen Vaters und ist von Zweifeln geplagt, ob er es ihm jemals gleichtun kann. Werner ist wesentlich jünger als seine drei Geschwister, die das Haus nach und nach verlassen und lebt bald alleine bei seinen Eltern. Er schreibt damals an einen Freund, dass er sich einsam und von seinen Eltern nicht verstanden fühlt. Werner entfremdet sich immer mehr von seinem Vater. So oft es geht entflieht er der Enge des Elternhauses, trifft sich mit Gleichaltrigen oder zieht sich in sein Zimmer zum Lesen zurück. Er spielt Theater, schreibt Gedichte, diskutiert mit Freunden über Cicero und griechische Klassiker und ist ein großer Verehrer von Goethe und Schiller.10