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3. Das, was übrigblieb – unverhofftes Wiedersehen

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Naturgemäß werden Katzen bei ihren Beutezügen und dem nachfolgenden Appetit anregenden Zerlegespiel nicht von einem Gewissen gehemmt. Auch die Graugetigerte hatte mit ihrem Opfer, einer – trotz aller Nachstellungen – ziemlich ansehnlichen Hausmaus, keinerlei Erbarmen. Sie ließ sich genüsslich mit ihrem bereits arg zugerichteten Opfer auf einem großen, flachen Stein vor der Eingangstüre zur Bäckerei nieder. Behutsam, so als solle der Ärmsten nur nicht vorzeitig das Schlimmste passieren, legte sie die Maus aus ihrem Maul zwischen die Pfoten und leckte sie dort zunächst einmal ab. Unvermittelt dann spießte sie das arme Wesen mit einer blitzschnellen Bewegung ihrer Krallenpfote auf, schlackerte es mit vor Verzückung schräg gelegtem Kopf einige Male rasch hin und her und warf es – sozusagen aus dem Pfotengelenk – in die Höhe. Spannungsgeladen wartete sie, bis sich die Maus in aufkeimender Hoffnung einige wackelige Mauseschritte in Richtung Misthaufen entfernt hatte, um dann den Fangvorgang wie auch das offenbar appetitanregende Spiel zu wiederholen.

Fasziniert sah Therese, neben dem Hauseingang auf einer Holzkiste sitzend, diesem Tun zu. Es beeindruckte sie, dass alle Katzen, egal wo sie diese im Reich beobachten konnte, immer das gleiche Fang – Fressritual vollzogen.

Jäh unterbrach die Katze ihr Spiel, spießte die Maus sachte auf ihre Daumenkralle und schaute konzentriert an Therese vorbei. Diese hatte ihr Umfeld vollkommen aus den Augen verloren und nahm erst jetzt den Jungen wahr, der in Höhe des Nachbarhauses direkt auf sie zuschlenderte.

Er mochte 16 Jahre alt sein. In den zu großen Schaftstiefeln, und der ausgeblichenen roten Uniformjacke, wirkte er ärmlich – typischer Bauernjunge: schlaksig, zäh, wettergebräunt. Jedenfalls sah sich die Katze veranlasst, vorsorglich mit ihrer Beute im Hauseingang zu verschwinden.

Therese richtete sich auf, lehnte sich zurück an die Hauswand und musterte den Näherkommenden.

Einen guten Katzensprung von ihr entfernt blieb er stehen, streckte die geöffnete Hand aus und fragt mit der noch unjustierten Stimme des Halbwüchsigen, ob das ihr gehöre. Ein rascher Blick genügte „Pater Gregor?“ Sie blickte zu ihm auf, fragend, gespannt.

Der Junge löste sich etwas „Er wartet auf euch.“

„Wo?“ Therese erhob sich und streckte die Hand nach dem Kruzifix aus.

„Außerhalb der Stadt. Es ist nicht weit, ich fahre euch hin!“ Therese sah an dem Jungen vorbei, sah einige Schritte entfernt den einfachen Karren warten. Sie hatte ihn nicht kommen hören.

Der Junge lenkte den Wagen zügig durch die überfüllte Stadt, deren Straßen innerhalb weniger Tagen wieder so trocken geworden waren, dass sich hinter dem Wagen kleine Staubwölkchen bildeten.

Sie verließen die Stadt durch das obere Tor. Fuhren vorbei am Hause Jacob Loderers, der, wie besprochen, in den vergangenen Tagen sowohl den Handel mit Eichstätt abgeschlossen hatte als auch ein Treffen mit Ferdinand Spenner, dem strengen Augsburger, vereinbaren konnte. Therese fühlte sich leicht, unbeschwert, am Ziel all dessen, was sie sich seit Jahren immer wieder vorgestellt und gewünscht hatte.

Vor dem Wagen tauchten Zelte auf, zuerst nur vereinzelt direkt am Fluss, große, eindrucksvolle mit Wimpeln geschmückte Zelte. Auf den Wiesenflächen zwischen den Zelten grasten Pferde, gehalten von kurzen Stricken, die an einem der Vorderläufe befestigt waren.

Bald aber änderte sich das Bild, schlängelte sich der schmale Fahrweg zwischen dicht stehenden, grauen Zelten hindurch. Die Sicht war eingeengt, es roch nach Feuer, nach Rauch. Und überall wieselten Kinder herum, kamen kreischend herbeigerannt, kaum dass der langsam fahrenden Wagen in ihre Nähe kam.

Der Junge zügelte das Pferd, worauf sie augenblicklich von einer lachenden und kreischenden Kinderschar eingeholt und umringt wurden. Vor dem Wagen überquerte ein Soldat trunkentaumelig den Weg, strebte einer Gruppe von Soldaten zu, die vor einem Zelt auf Kisten saßen und Karten spielten. Nur kurz und ohne erkennbares Interesse zuckten deren Blicke herüber zum Wagen, Spiel und Fahrt konnten weitergehen. Wie Hühner stoben die Kinder vor dem Wagen auseinander, der wieder etwas zügiger fahren konnte und bald darauf das letzte Zelt passierte.

Sie tauchten in die Kühle des Waldes ein. Rauch hing zwischen den Bäumen, verlor sich jedoch, je weiter sie sich vom Lager entfernten und in den Wald hineinfuhren. Therese schaute auf den Rücken des vor ihr stehenden Jungen, der, in jeder Hand einen Zügel, aufgerichtet und mit fliegenden Haaren sein Pferd in die Spur zwang. Schon bald nahm der Junge das Tempo zurück und folgte einem schmalen, zwischen Farnen und kleinen Sträuchern kaum erkennbaren Weg entlang einer großen Wiese.

Ihnen fast gegenüber stand die Nachmittagssonne und Therese musste die Hand über die Augen legen, um über die Wiese hinwegsehen zu können. An ihrem oberen Ende, erkannte sie ein recht großes Haus. Zumindest war es das einmal, das Dach und mehr als ein Drittel des Hauses waren einem Brand zum Opfer gefallen. Die nicht verbrannten Holzbohlen standen angekohlt und leicht schräg in Rückenlage im Gelände.

Der Einspänner bog jetzt unvermittelt ab auf eine kleine Lichtung, die wie eine Bucht von der großen Wiese abzweigte. Rundum von hohen Bäumen umgeben stand mitten auf dieser Lichtung ein Haus, ein Bollwerk aus dicken Baumstämmen. Links neben dem Haus stapelten sich in einer langen, hinter dem Haus verschwindenden Reihe frisch gespaltene Holzscheite. Auf der anderen Seite des Hauses: Ein längerer Holzschuppen, aus dessen geöffneter Mitteltür das schweifschlagende Hinterteil eines Pferdes herausragte. Der Junge drehte sich zu ihr herum, lachte sie mit blitzenden, braunen Augen an und deutete mit dem Kopf auf das Haus, „Wir sind da!“ Ohne den Blick vom Haus abzuwenden und auch in der Erwartung, dass jeden Augenblick jemand am Haus erscheinen müsse, stieg Therese vom Wagen herunter. Der Junge wartete bis sie neben ihm stand, und fuhr dann auf den Schuppen an der Hausseite zu.

Abwartend, ein wenig verloren stand sie allein vor dem Haus. Ebenerdig gebaut ruhten die Balken in der Mitte und an allen vier Ecken auf dicken Steinen, wodurch das Haus, vom Boden abgehoben, etwas höher stand. Wie ein schützender Helm ragte das Dach mit seinen grün und braun bemoosten Schindeln an den Seiten gehörig über die Seitenwände hinaus. Sie machte langsam ein paar Schritte auf das Haus zu, die Eingangstür, rechts von der Haushälfte über einer dicken, abgeflachten Steinplatte, blieb geschlossen, ebenso die Fenster. Bis auf die Fliegen, die sie in zunehmender Anzahl hartnäckig umschwirrten, schien sie niemand zu erwarten.

Der Junge hatte das Pferd ausgeschirrt und brachte es in den Schuppen, aus dem nun zwei Pferdehintern herausschauten und schweifschlagend die Fliegen abwehrten.

Therese beschloss, nicht länger auf der Wiese zu warten. Sie sah sich um und steuerte dann kurzentschlossen auf eine dicke, mächtige Baumscheibe zu, die, von der Sonne beschienen, an der Hauswand auf drei Steinen ruhte.

„Er kommt!“ Der Junge schaute grinsend hinter dem zweiten Pferd hervor und wies mit ausgestrecktem Arm nach hinten. Am Waldrand hinter dem Haus zwischen dicht stehenden Holunder- und Haselnusssträuchern tauchte Pater Gregor auf. Einen Moment blieb er stehen, blickte zum Haus herüber und hatte sie dann erkannt. Er winkte ihr mit der linken zu und drückte gleichzeitig mit der rechten Hand ein Gefäß gegen seinen Bauch, lachte über das ganze Gesicht.

Am Schuppen begegnete er dem Jungen, der mit einer Axt auf der Schulter hinter den Pferden zum Vorschein kam, klopfte ihm auf die Schulter und sagte etwas zu ihm, was jedoch nicht bis zu Therese drang.

„Da seid ihr ja endlich. Gott sei Dank!“ Außer Atem machte er die letzten Schritte. „Zum Glück hat Stefan euch gleich gefunden. Ich hatte schon Sorge, wir würden euch nicht mehr rechtzeitig aus der Stadt bekommen.“

Sie legte die Stirn übertrieben in Falten „War ich denn in so großer Gefahr, Pater?“

„Ah – nehmt das nicht zu leicht! Viel hat nicht gefehlt, dann ständet ihr jetzt nicht hier auf dieser Wiese, sondern läget vielleicht auf einer ziemlich harten Streckbank.“ Dann zog die Sonne über sein Gesicht, seine oft so ernsten grau-blauen Augen blitzten vor Freude „Ich freue mich sehr, euch nach so langer Zeit gesund und wohlbehalten wiederzusehen. Ihr seht, wenn ich das als Pater so sagen darf, wunderbar aus! Kommt! Setzen wir uns da rüber!“ Seine Linke zeigte etwas umständlich vor der Brust her auf die Baumscheibe vor dem Haus. Tatsächlich war es seine rechte Hand, die ihre Aufmerksamkeit erregte: Merkwürdig verkrampft presste diese das Gefäß mit wilden Erdbeeren eher gegen den Bauch als es festzuhalten. Er stellte das Gefäß etwas umständlich auf den Tisch und setzte sich dann auf die Bank. Die rechte Hand ruhte wie eine fast geschlossene Kralle auf seinem Oberschenkel.

Therese lehnte sich gegen die Wand, genoss deren Wärme, die sich sogleich ihrem Körper mitteilte, „Ja, es geht mir gut und ich bin froh, dass ich euch gefunden habe!“

Er nickte verstehend „Die Art und Weise, wie ihr die Verbindung hergestellt habt, war sehr originell. Woher wusstet ihr, dass ich jeden Morgen dort am Marienaltar bin?“

„Meister Vogel, der Bäcker, hat es mir gesagt.“

Er legte die Stirn leicht in Falten, „Ihr wohnt bei ihm?“

„Da hatte ich noch Glück, alle Quartiere in der Stadt sind belegt.“

Er nickte bedächtig, „Seit Wochen schon! Aber es hat nicht viel gefehlt, dann wäre es mit eurem Glück vorbei gewesen. Um ein Haar wäre euch diese Kammer zum Verhängnis geworden. Wisst ihr das?“

Sie schaute ihn ruhig an, neigte den Kopf leicht hin und her, zeigte dann auf seine rechte Hand. Die Handfläche nach oben glich sie einer im Krampf erstarrten Kralle. „Was ist mit eurer Hand geschehen?“ Er folgte ihrem Blick, hob die Hand etwas hoch und schaute sie, in dieser Haltung verharrend, mit einem leisen Lächeln an „Das war der Preis für ein wertvolles Menschenleben!“ Seine Linke wies entspannt auf sie, „Der Einsatz hat sich ganz offensichtlich gelohnt“

Augenblicklich schossen die Bilder an Thereses Augen vorbei. Das dunkle Verließ, der Gestank, die Angst, die Treppe, der Folterraum und übergroß: der Pocher! „Hat er euch meinetwegen gefoltert?“

„Er hat, der Pocher!“ Nachdenklich blickte er auf die immer noch angehobene Hand, „Der Kerl hat noch in der Nacht eurer Flucht versucht, etwas aus mir heraus zu pressen, hat mich geschlagen, gestochen und gequetscht, um mich wach zu kriegen. Es ist ihm gottlob nicht gelungen.“ Er nahm keine Erdbeeren mehr, lehnte sich zurück, den Kopf an die Wand, für einen Augenblick holte ihn die Erinnerung ein. „Dieser Pocher ist kein Mensch! Ihr solltet euch vor ihm in Acht nehmen! Es war unvorsichtig, ihn wieder auf die eigene Spur zu setzen!“

Von irgendwoher tönte verhalten das Krachen wuchtiger Axtschläge, ganz in ihrer Nähe gluckste und gluckerte ein Bach und die Fliegen hatten die Erdbeeren entdeckt. „Zwar lebt der Westerstetten nicht mehr, aber seine Narren lauern immer noch! Und jetzt wird sich der Kerl wieder in euch verbeißen!“

Sie beugte sich vor, schaute ihn fest an, „Pater! Der hat meine Spur nie verloren. Der Kerl war immer dicht hinter mir und hat mich durch das Reich gehetzt wie ein Wild. Ich habe nie verstanden, warum der mich so verbissen gejagt hat.“ Sie beugte sich vor, „Warum hasst der Kerl mich so? Ich habe alle Gründe der Welt, ihn zu hassen! Aber er mich?“

Mit leicht zusammengekniffenen Augen sah er sie einen kurzen Moment abwägend an. „Ihr wisst nicht, welches Unheil dem Pocher in der Nacht eurer Flucht zugestoßen ist?“

Therese legte den Kopf etwas schräg, „Was dem Pocher zugestoßen ist?“ Eine ganze Zeitlang schwebte die Frage ohne Anschluss zu finden im Raum. Axtschläge drängten sich in die Stille. Nachdenklich schaute Pater Gregor auf den Boden, wo sein rechter Fuß einen kleinen Erdhügel zusammenschob und dann wieder einebnete.

„Zu dem Zeitpunkt, als man euch in den Turm warf, war seine Frau im letzten Monat schwanger.“ Sein linker Zeigefinger legte sich bedeutungsvoll über die Lippen, berührte lose die Nasenspitze. „Ausgerechnet in der Nacht, als ihr fliehen konntet und der Pocher niedergeschlagen auf der Straße lag, ist in seinem Haus ein Brand ausgebrochen. In den wenigen Minuten, in denen er da lag, stand sein Haus lichterloh in Flammen. Ich habe es vom Turm aus noch gesehen, das ging rasend schnell. Nur seine Frau hat er da noch herausgeholt. Haus, Stall und Vieh, alles hat er verloren.“

Sie schüttelte den Kopf, verstand nicht „Einfach so? Ich meine, es hat einfach so angefangen zu brennen?“

Er zog die Mundwinkel nach unten, die Schultern ein wenig hoch,

„Es wird schon einen plausiblen Grund für den Brand geben, muss es ja. Nur, für den Pocher passte das alles zusammen, für den war das Hexenzauber. Alles Unglück, was ihm in der Nacht widerfahren ist, habt ihr ihm angezaubert, ihr und der Satan. Davon ist er bis heute fest überzeugt.“

„Das ist doch Unsinn! So was kann er nicht wirklich glauben.“

„Wartet: Der Brand war noch nicht alles.“ Er löste sich von der Wand und wandte sich ihr direkt zu, „Noch während des Brandes begannen bei der Frau die Wehen. Jetzt stellt euch das Durcheinander vor: Da brennt vor ihm das Haus und mit ihm alles, was er besitzt. Ihr ward zuvor entkommen und nun, mittendrin in allem Gehetze, beginnen bei seiner Frau die Geburtswehen.“

„Auf der Straße?“

„Genau dort! Etwa an der Ecke, wo er niedergeschlagen wurde.“

„Hat sich keine der Nachbarinnen erbarmt?“

„Nicht eine! Keine von ihnen wollten den Henker im Hause haben! So war das! – In seiner Not hat er sie dann in den Turm geschleppt, ja, und dort fand er uns, den Wachsoldaten und mich. Der muss durchgedreht sein, das Maß war einfach voll!“

„Was hat er gemacht?“

Mit großen Augen schaute sie ihn an, fast atemlos, den Mund leicht geöffnet. „Wie ein Wahnsinniger ist er über uns hergefallen, hat uns in seinen Keller geschleppt und dort eingespannt.“

„Und seine Frau? Die hatte doch Wehen?“

„Tja, das war für ihn in der Nacht nebensächlich, oder er hat das Problem nicht richtig erkannt. Jedenfalls hat er seine Frau oben sitzen lassen und hat uns dann nacheinander drangsaliert und geschunden. Er soll wie von Sinnen gepoltert und geschrien haben, um etwas aus der Wache und mir herauszupressen.“

„Und in diesem Durcheinander hat die arme Frau alleine ihr Kind geboren?“

„Kinder! Es waren Zwillinge! Zwillinge, und er hat´s zu spät gemerkt.

Therese beugte sich etwas vor, stützte sich dabei mit den Händen auf den Oberschenkeln ab, „Der Kerl hat seine Frau bei solch einer Geburt und in der Umgebung alleine gelassen?“

„Das hat er!<< Er nickte, ruhig und bedeutungsvoll, während sich Therese langsam aus ihrer Starre löste. „Die armen Kinder haben diese schrecklichen Ereignisse überlebt, seine Frau leider nicht. Sie ist noch in der Nacht gestorben.“

In ungestümer Wut krallten sich ihre Finger in Höhe ihrer Oberschenkel in den Stoff, „Ein Ungeheuer ist das! Und ihr hattet noch Mitleid mit ihm! Der gehört eher auf die Bank als jedes seiner Opfer. Man sollte ihm die Schrauben andrehen, bis ihm die Luft wegbleibt! – Wir werden sehen!“ Sie sah auf die Wiese hinaus, wütend, schweigend. Nach einer Weile: „Was ist aus den armen Kindern geworden?“

Er antwortete nicht sofort, zuckte dann mit den Schultern „Sie sind wenige Tage nach der Geburt gestorben.“

Therese verengte die Augen, nickte „Sicher, das war zu erwarten! Dieser Teufel! Dieses Scheusal!“ In ihrer Wut schlug sie auf die Tischplatte. „Ich soll ihm das alles angehext haben!“ Therese zeigte noch einmal mit einer knappen Bewegung auf seine Hand. „Und Ihr musstet dafür büßen!“

„Ja! So könnte man das sagen. Es war sein Instinkt, der ihm keine Ruhe ließ und der, wie wir beide wissen, ja auch Recht hatte. Er spürte einfach, dass ich etwas mit eurer Flucht zu tun haben musste.“ Sein Oberkörper und Kopf ruckten herum, „Tja, so war das! Diese Eigenmächtigkeit hat dem Pocher dann den Rest gegeben. Sie haben ihn aus dem Amt gejagt und er ist wohl 10 Jahre gar nicht hier am Ort gewesen.“

„Sicher! Das war die Zeit, in der er mir auf den Fersen war! Klar!“

„Das ist gut möglich. Jedenfalls ist er seither ein gebrochener, verbitterter alter Mann. Aber er ist jetzt wieder Scharfrichter. Der Wolff, unser Schultheiß, hat ihn begnadigt.“ Er beugte sich ihr zu, eindringlich: „Seht euch also vor! Wenn der euch sogar quer durchs ganze Reich verfolgt und bis heute keine Ruhe gibt, seid ihr ganz sicher sein letztes und einziges Ziel!“

Fast ein wenig abrupt lehnte er sich zurück bis an die Wand, schaute sie nachdenklich an, legte eine bedeutungsvolle Kunstpause ein. „Das Kruzifix! Was ist aus Johannes geworden? Ihr müsst ihn tatsächlich getroffen haben!“

Gerade noch aufgebracht und im Zorn gespannt, sackten Ihre Schultern jetzt nach unten, ließen ihren Blick auf die raue Tischplatte fallen. Die Lippen zusammengepresst nickte sie langsam vor sich hin „Ja! Ich habe ihn getroffen. Bitte Pater, jetzt nicht! Darüber möchte ich jetzt nicht reden.“ Als sie ihn wieder ansah, wusste er: Er hatte die schmerzende Wunde ihres Lebens berührt. Unversehens wirkte sie müde. Sie erhob sich langsam, ging bedächtig um den Tisch herum, verschränkte die Arme und zog sich zusammen, als fröre es sie plötzlich. „Ich habe versucht, nach all diesem Wirrwarr mein Leben noch einmal neu zu ordnen. Es war vergebens! Was nutzt da aller Reichtum, wenn Krieg und Wahn uns Lebensinhalt und Lebensziel rauben und zerstören? Leben wird so sinnentleert, ist nur noch Überleben.“

„Das hört sich so an, als hättet ihr euch aufgegeben!“

„Das hatte ich mal, und wie! Aber das ist lange her!“ Ruhig drehte sie sich herum, wandte sich ihm zu, „Nein! Ich habe mich nicht aufgegeben! Es gibt für mich keinen Grund mehr, aufzugeben. Aber, mein lieber Pater, genau deshalb, weil es solche Gründe gab, die mich bis an den Abgrund getrieben haben, habe ich jetzt Gründe, hier zu sein! Die Zeit der Duldsamkeit ist zu Ende!“

Ruhig, fast leise als spräche er zu sich selbst, „Genau das habe ich befürchtet, und ihr habt es eben ja auch schon einmal bestätigt!“

„Was habt ihr befürchtet und was habe ich bestätigt?“

„Ihr seid also nur zurück gekommen, um euch für das, was euch angetan wurde zu rächen!“

So als habe er aus allem endlich die zutreffende Schlussfolgerung gezogen, hob sie nur bestätigend die Schultern.

„Und ihr seid euch absolut sicher,“ er drehte sich herum und stand ihr jetzt genau gegenüber, „dass sich eure Ziele nicht mehr ändern und euer Lebensweg doch noch eine andere Richtung einschlagen könnte als diese fürchterliche, endgültige, die ihr euch vorgenommen habt?“

„Ich habe es eben schon gesagt: Ich sehe dafür keinen Grund mehr!“

Mit lautem Splittern und Krachen und einem dumpfen Aufschlag ging irgendwo hinter ihr ein Baum zu Boden.

„Glaubt nicht, dass ich euch nicht verstehe.“ Er hatte seine nachdenkliche Haltung eingenommen, sah überlegend kurz an ihr vorbei in die Richtung, in der gerade der Baum gefällt wurde, „Nach allem, was euch widerfahren sein muss, kann ich eure Haltung gut verstehen. Aber ihr versteht mich nicht!“

Sie blickte an ihm vorbei, hinaus auf die Wiese. Gleichgültig, „Da gibt es nicht viel zu verstehen! Es sind immer die gleichen Sprüche, ich kann sie nicht mehr hören – auch nicht von euch!“

Einen Moment schwiegen sie beide. Vorsichtig wagte er dann einen erneuten Versuch „Gut: Ihr habt so ziemlich alles verloren ...“

Ruckartig wandte sie sich ihm zu, den Zeigefinger drohend erhoben, „Richtig! Aber ich habe nichts, aber auch gar nichts verloren! Genommen haben sie es mir! Sie haben mir alles genommen, haben alles zerstört, einfach so! Und kein höheres Wesen hat ein Einsehen gehabt und sie oder mich vor diesem Schicksal bewahrt! – Versteht das endlich!“ Sehr eindringlich, etwas zu laut und mit energischer Gestik hatte sie ihm diese Sätze um die Ohren gehauen und sich danach sofort wieder der Wiese zugewandt.

Ganz langsam, so als habe er Sorge, ihren Ärger noch einmal zu entfachen, ging er um sie herum und stellte sich vor sie hin, sah ihr direkt in die immer noch glühenden Augen „Euren Sohn, den Franz, hat euch niemand genommen!“

Ihr Blick bekam etwas Lauerndes, „Sondern?“

Er änderte seine Haltung, ließ die Arme sinken und wies mit dem Kopf in Richtung Wiese „Kommt! Ich bring euch zu ihm!“

Mit einem Schlag erlosch das lodernde Feuer in ihren Augen. Ihr Kopf fuhr zurück, etwa so, als hätte sich die Halswirbelsäule jäh versteift und mit dem Gesichtsausdruck plötzlichen Misstrauens gegenüber dem eigenen Gehör fragte sie „Ihr bringt mich wohin?“

„Ich bringe euch zu Franz!“, dabei wies sein Kopf noch einmal zur Wiese.

Sie sah an ihm vorbei über die Wiese hinaus und dann wieder zurück, immer noch ungläubig. „Wo ist er?“

Er drehte sich nun ebenfalls vollständig zur Wiese herum, zeigte mit der Linken am Waldrand entlang „Er wird dort sein, wo er den Baum gefällt hat, ihr habt das ja sicher auch gehört. Gehen wir!“

Indem sie sich gleichzeitig in Bewegung setzten, suchten ihre Augen konzentriert den Waldrand ab, drückte ihr Gesicht Unsicherheit und Erregung aus. „Weiß er, dass ich hier bin?“

„Nein, das weiß er nicht! Stefan sollte schweigen.“ Sie folgten einem schmalen Fußweg genau an der Nahtstelle zwischen Wald und Wiese, dort wo das Gras schon trocken war, wo heruntergefallene trockene Äste zur Stolperfalle werden konnten.

Unvermittelt blieb sie stehen „Franz war gerade zwölf als ich ihn zurück lassen musste.“

„Ich weiß!“ Er stand direkt neben ihr, schaute über das ausgetrocknete Wurzelgeflecht einer umgestürzten Fichte hinaus auf die Wiese.

„Pater, wie ist er heute?“

Er lachte und ging weiter, „Franz? Ihr müsst nichts befürchten, Franz ist ein Prachtkerl! Ihr werdet sehen. Er sieht genauso aus wie Johannes, genauso groß, genauso kräftig und ist ebenso kaum zu erschüttern. Kommt, wir sind gleich da!“ Sein Kinn deutete die Richtung an.

„Pater!“ sie verlangsamte den Schritt, blieb etwas zurück, „Wie denkt er über mich? Versteht ihr? Ich muss das wissen, bevor wir uns gegenüber stehen!“

„Ach, macht euch doch keine Gedanken!“ Er war weitergegangen, reckte suchend den Hals, war nicht ganz bei der Sache, „Franz hat niemals an euch gezweifelt. Er hat eure Flucht als richtig akzeptiert. Aber,“ wartend, ihr zugewandt, „er hat in all den Jahren immer auf ein Lebenszeichen gewartet und da hat er in den letzten Jahren wohl resigniert.“

„Es war mir unmöglich ...“ Sie unterbrach, blickte ihn erwartungsvoll an. Vor ihnen waren Stimmen zu hören, eine tiefe Männerstimme und eine hohe Stimme, die sie sofort als die Stimme des Jungen erkannte, der sie mit dem Einspänner abgeholt hatte.

„Franz!“ Der Ruf des Pater verschwand ohne Hall zwischen den Bäumen. Keine Reaktion, nichts! Die Stimmen waren weiterhin zu hören, dazwischen rasche, kurz hackende Axtschläge.

Als wolle er die Spannung erhöhen, die Zeit des Wiedersehens hinauszögern, lief der Wald an dieser Stelle um gut zwanzig Schritte wie eine Zunge in die Wiese hinein. Die beiden Stimmen arbeiteten auf der anderen Seite der Zunge. Schweigend jetzt, den Schritt aber beschleunigt folgten sie dem Pfad um die Zunge herum, sahen endlich den gefällten Baum, eine riesige Fichte, die weit in die Wiese hinausgefallen war. Wie ein besiegtes Untier lag sie mit dem schlanken Haupt tief am Boden, während ihre Glieder sie zum Stammgrund hin um einige Fuß vom Boden abstützten und im Takt der Axtschläge leise erzitterten. Unwillkürlich ging sie etwas langsamer, suchte jede Handbreit des neu ins Blickfeld kommenden Stammes ab, während es in ihrer Brust tobte.

In all den Jahren war dies der Augenblick, der sie vorantrieb. Er war der Zielpunkt, auf den sich nach Magdeburg alles in ihrem Leben ausgerichtet hatte. Wenigsten ‚Er‘ musste ihr bleiben! Als sie dann von der Zerstörung Eichstätts erfuhr, hatte sich auch dieses letzte Lebensziel in Nichts aufgelöst. Es verlosch einfach vor ihr wie ein Feuer im Regen. Nur ein winziger Funken Hoffnung hielt sich auch weiterhin hartnäckig. Darüber hinaus aber beherrschte sie nur noch der Wille nach Rache. Er hatte sie hergeführt, hatte ihre Absichten bis vor wenigen Augenblicken noch bestimmt. Und jetzt?

Sie war aufgewühlt, suchte erwartungsvoll zwischen dem wippenden und zuckenden Astwerk. Hörte jetzt den Axtschlag dicht vor sich, ohne den Arbeitenden sehen zu können. Ungeduldig suchte sie im dichten Gesträuch nach einem Durchschlupf, mochte keinen Umweg mehr gehen. Musste sich noch einmal tief niederbeugen, unter Zweigen hindurch schlüpfen – und stand direkt hinter ihm. Vier oder fünf Schritte von ihr entfernt trieb er seine Axt kraftvoll ins Fleisch des Untiers, trennte ihm knirschend ein Glied ab und fuhr unvermittelt herum, die Axt abwehrbereit vor der bloßen Brust, das schweißnasse Gesicht gespannt in wütender Entschlossenheit. Einen Moment geschah gar nichts, standen sie sich reglos gegenüber. Sie, mit wie atemlos geöffnetem Mund und großen Augen, unsicher, aber auch erwartungsvoll. Er, schwer atmend, die Abwehrhaltung langsam lösend, verblüfft, verwirrt. Dann, so als wäre ihm die Luft knapp geworden, fiel jäh seine Kinnlade herunter. Ungläubiges Staunen entsperrte sein Gesicht, erreichte seine Augen, lies diese blauen Seen immer größer werden, bis sie endlich ihr Wasser nicht mehr halten konnten und überliefen; die Axt glitt neben ihm auf den Boden.

Vorsichtig, fast ein wenig schüchtern machte sie die letzten Schritte auf ihn zu. „Franz“

Sie sagte es nur halblaut, nur dieses eine Wort, welches über den Gehörgang in ihn eindrang und sich dann heiß und machtvoll in ihm ausbreitete. Es war die kurze Formel, die für einen Augenblick Vergangenheit zur Gegenwart werden ließ, die ihn drängte, seine verschwitzten Arme um sie zu legen.

Trissa, Hexe von Eichstätt

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