Читать книгу Lied vom stillen Sommernachtstraum - Lars Osterland - Страница 3
1. Irun – Nantes
ОглавлениеDie Hospitalera hat eine Kanne Kaffee gekocht und den Frühstückstisch gedeckt. Mihaela spendiert den Käse, ein anderer Pilger den Saft, perfekt. Roland, Mihaela, die zwei Franzosen vom Vortag und ich sitzen gemeinsam am Tisch, die Stimmung ist gut. Draußen wolkenloser Himmel, die Aufbruchsstimmung ist greifbar, der erste Tag kann beginnen … ihr erster Tag auf dem Jakobsweg, mein erster Tag in Frankreich. Als alle anderen fertig gefrühstückt haben, leere ich die letzten Reste und Mihaela bietet an, mir für unterwegs von ihrem Toastbrot und Käse Sandwichs zuzubereiten. Nehme ich natürlich gern an, so dicke habe ich es ja nicht mehr. Mihaela würde sich freuen, wenn ich sie mal in ihrer Heimatstadt Bukarest besuchen käme – ja, Rumänien steht noch an! Wir beide sind die Letzten die aufbrechen … schon vor der Herberge trennen sich unsere Wege … Küsschen da, Küsschen dort, alles Gute!
Ich laufe zum einzigen sehenswerten Gebäude von Irun, die Kirche. Dahinter liegt der Bahnhof, Busse fahren nach Santiago … spart man mindestens 24 Tage und verliert doch viel mehr … Ich suche verzweifelt nach Fotomotiven, um die letzten drei Fotos auf meiner Speicherkarte zu knipsen, damit ich völlig aufgeräumt das Kapitel Frankreich beginnen kann, also auch mit einer neuen, noch leeren Speicherkarte … aber ich finde nichts. Ich versäume es auch, die letzten 3,76 Euro auszugeben … also nur fast pleite über die Grenze! Dürfte trotzdem eine Herausforderung werden … In der Bibliothek nutze ich noch einmal die Möglichkeit eines kostenlosen Internetzugangs, weil ich nicht weiß, ob auch Frankreich so kulant ist. Mit vier Tagen Verspätung lese ich die Geburtstagsgrüße an mich, viele sind es nicht, ganze sieben Menschen haben an mich gedacht – also beliebt bin ich anscheinend ja nicht, ich kanns verstehen … immerhin dachte sie daran; als kleine Aufmerksamkeit sehe ich das erste Bild von meiner Kleinen seit unserem letzten Treffen am 24. Januar diesen Jahres, also vor fast vier Monaten – lieb gemeint, nun weiß ich aber, wie sich ein Wespenstich mitten ins Herz anfühlen muss … ihre Haare sind länger, die Backen schmaler, die Stirn höher, sie lacht … sie ist wunderschön … ihre Mama bittet mich, dass ich endlich mit uns abschließe, damit wir nach meiner Rückkehr gemeinsam für unsere Tochter da sein können, vielleicht sogar ein freundliches Verhältnis miteinander aufbauen, zum Wohle der Kleinen … Wir beide seien zu sehr Melancholiker, um uns gegenseitig glücklich machen zu können … Vermutlich hat sie mal wieder Recht, nur leider bin ich in Sachen Verarbeitung auf den ersten 3.600 Kilometern meiner Reise keinen Millimeter vorangekommen. Ich hatte geglaubt, es ginge schneller, dass die Zeit etwas zackiger unterwegs ist, um die Wunden zu heilen … aber in Wahrheit ist sie ein ziemlich träger Lahmarsch. Ich kann mir an ihr kein Beispiel nehmen, muss weiter, zum Grenzfluss Bidasoa … und im nächsten Moment habe ich Spanien verlassen, befinde mich aber weiterhin im Baskenland, in der Mitte der Brücke beginnt der französische Ort Hendaye. Im Oktober 1940 trafen sich hier Franco und Hitler … der Diktator konnte aber den General nicht davon überzeugen, in den Krieg einzutreten, um gemeinsame Sache zu machen. Auch ich bleibe blass in dieser Kleinstadt, knüpfe keine Kontakte und bin deprimiert, dass ich keine Jakobsmuscheln mehr sehe. Außerdem habe ich kein Geld um mir etwas leisten zu können. Schon nach wenigen Stunden fehlt sie mir, die Aussicht, irgendwann mal wieder auf einen anderen Pilger zu treffen. Wochen des Schweigens drohen … gilt jedoch nicht für den Magen, der wird lauter denn je krakeelen. Aber noch nicht heute, dank der Sandwiches von Mihaela.
Das Begrüßungsgeschenk von Frankreich sind zwei makellose Marlboros auf dem Bürgersteig … eingesteckt und weiter in einen kleinen Park … von einer Bank aus Blick auf viele vor Anker liegende Jachten auf dem Bidasoa … präge mir die Sachen ein, die der Franzose für mich ins Französische übersetzt hat und schreibe meinen ersten Tagebucheintrag in Frankreich … ich will kein Risiko eingehen, denn wenn ich jetzt tot umfallen würde, könnte niemand mehr behaupten, dass ich nicht in Frankreich war! Ha, ein weiteres Häkchen hinter einem Land, das ich besucht habe! Ich bin nach außen hin gar kein so großer Angeber, aber vor mir selbst – und das Tagebuch ist ein Spiegel deines Selbst – mime ich gern den Prahlhans. Ich knipse die Speicherkarte voll, krame eine andere heraus … ironischerweise – nach der Email – sind auf dieser noch die Bilder unserer gemeinsamen Reise durch acht mitteleuropäische Länder drauf, vergessen vor Reiseantritt zu formatieren. Oder war es beabsichtigt? Ich weiß es nicht mehr. Ich lass die Bilder in einer Dia durchlaufen … psychologisch möglicherweise der falsche Weg um mit etwas abzuschließen … die Sehnsucht nach ihr ist manchmal unerträglich groß … da ist sie, mit meinem Pulli am Tschirmer See in der Hohen Tatra … und nochmal da, wie sie Fotos von der Soča in Slowenien knipst … und auch hier, im Badeanzug an der Adria, kurz bevor es weiter nach Venedig geht … zugegeben, beim Betrachten ihrer Kurven ist auch manchmal die Sehnsucht nach ihrem Körper unerträglich groß; Frauen mögen das nicht verstehen, Männer schon … ich befreie mich aus meinem Delirium und formatiere die Speicherkarte, es ist vorbei, du hast ja Recht … Schaust du dir denn nie Fotos aus unserer gemeinsamen Zeit an??? Rhetorische Fragen sind zum Kotzen! Frag nicht, mach weiter, lauf, lauf weiter, immer weiter, bis es nicht mehr weiter geht …
Jetzt nicht mehr auf Jakobsmuscheln oder gelbe Pfeile achten zu müssen, hat auch positive Seiten, eine davon ist, dass ich mich freier fühle … ich suche mir wieder allein meinen Weg, bin flexibler, es wird – wie am Anfang meiner Reise – Steine und Bäume geben, die ganz überrascht sein werden, wenn da jemand an ihnen vorbeiläuft. Die Steine und Bäume auf dem Jakobsweg konnte man da nicht mehr überraschen, die waren das gewohnt. Vorerst geht es am Strand weiter, ich sehe eine Frau, die ein Buch liest … eigentlich nicht weiter erwähnenswert, aber mir kommt dabei in den Sinn, dass ich in der ganzen Zeit in Spanien und Portugal keinen einzigen Menschen ein Buch lesen gesehen habe. Ohne voreilig Schlüsse ziehen zu wollen, aber vielleicht ist es ja so, dass die Franzosen wie die Deutschen sehr gern lesen und deshalb auch viele lesenswerte Autoren in die Welt gesetzt haben. Bei den Spaniern oder Portugiesen fällt mir kein einziger Autor ein, von dem ich schon mehr als ein Buch gelesen habe. Es gibt sicherlich ganz nette spanische und portugiesische Bücher, aber die wurden alle in Übersee geschrieben, in Brasilien, Kolumbien oder Chile. Nein, die Spanier haben ihren Don Quijote und das scheint ihnen auch zu reichen. Zum Glück haben wir nicht nur unseren Faust. Am Ortsausgang steht auch bereits das erste Schloss, auf einer grünen Anhöhe, mit Sicht aufs einige hundert Meter entfernte Meer. Ich bin weit und breit der einzige Mensch, ich nutze die Ruhe für meine Mittagspause. Nach den beiden Sandwiches geht es weiter, ein Auto kommt mir entgegen, eine junge Frau lässt die Scheibe runter … fragt mich, ob ich denn nicht wüsste, dass das hier Privatgelände ist … ich soll umkehren … ich entschuldige mich mit einem Lächeln … In 102 Tagen auf der Iberischen Halbinsel wurde ich kein einziges Mal verjagt, in Frankreich schon nach wenigen Kilometern das erste Mal, na das kann ja was werden! Es geht auf einem schmalen Weg neben der vollen Küstenstraße weiter … Privatgelände und Urlaubsdomizile versperren in der Regel den Blick aufs Meer, daran muss ich mich erst gewöhnen … ein markierter Wanderweg am Rand der Steilküste bringt etwas Ruhe und eine schöne Aussicht aufs Meer, ich bin jedoch nicht der einzige Spaziergänger. Ich erreiche die Kleinstadt Ciboure, mein zweiter Ort in Frankreich … Geburtsort des berühmten Komponisten Maurice Ravel … der Ort liegt in einer Bucht, gegenüber der etwas größeren Kleinstadt Saint-Jean-de-Luz, wo am langen Sandstrand viele Badegäste unterwegs sind … Da ich keine Ahnung von der Topographie Frankreichs habe, nehme ich jede Infotafel am Wegesrand mit, versuche meiner allgemeinen Unwissenheit etwas Abhilfe zu schaffen … dabei finde ich heraus, dass mein erstes Département in Frankreich Pyrénées-Atlantiques heißt und dies zu der Region Aquitanien gehört. In Ciboure gibt es einen kleinen Hafen, der von einer Festung und einem Leuchtturm überragt wird. Die Café-Besuche werden mir fehlen (in Frankreich auch deutlich teurer), meine Motivation ist etwas im Keller. Ich mach mich auf einer Bank lang, um mal an nichts zu denken, mich etwas zu entspannen.
Lang halte ich das Faulenzen jedoch nicht aus, ich laufe auf dem Wanderweg weiter nach Saint-Jean-de-Luz. Es sind so viele Leute unterwegs, dass ich mich richtig unwohl fühle, auch weil ich viele Blicke auf mich ziehe, dank meiner verstaubten Wanderstiefel, meines großen Rucksacks und – nicht zu vergessen – meines überaus hübschen Gesichts. Ich flüchte im Eiltempo aus diesem Ort, in dessen Kirche der Sonnenkönig im Jahr 1660 seine Maria Theresia (die von Spanien) heiratete. Am Ende der Strandpromenade geht es einen kleinen Berg hinauf, erst hier oben habe ich nicht mehr das Gefühl, auf der Flucht zu sein … ich blicke über die Bucht, sehe den Jaizkibel in Spanien … irgendwie kann ich mich für die ersten Orte in Frankreich noch nicht so recht begeistern, liegt auch daran, dass mir viel zu viele Touristen unterwegs sind, einschließlich mir. Ein Gefühl des Sattseins macht sich breit … das bekomme ich immer dann, wenn ich nichts mehr zum Naschen habe … aber als Medizin gegen allgemeine Lustlosigkeit habe ich ja Musik dabei … im ersten Lied trällert der Sänger I'm broken by you … Ist das so? Wenn es mir nicht gut geht, vermisse ich die Beiden … wenn ich sie mal vermissen würde, wenn es mir gut geht, dann, erst dann würde ich sie wirklich vermissen … alles andere ist nur erbärmliches Selbstmitleid … Am Strand sind die ersten Bunker zu sehen, möchte demnächst mal in einem übernachten … Here I am. Here I am, waiting to hold you singt eine Frau … meine Augen werden feucht … was habe ich mir nur für Musik mitgenommen? Da kann man ja gar nicht anders, als an die Beiden zu denken. Der Wanderweg entlang der Küste ist dann zu Ende. Wenig später gehe ich von einem Parkplatz aus runter zum Meer, laufe einige hundert Meter am mehrere Kilometer langen Strand, um ein paar wenige Spaziergänger hinter mir zu lassen. An einer ruhigen Stelle, zwischen zwei Orten, beschließe ich gegen 19 Uhr mein Nachtquartier aufzuschlagen, auch weil ich keine Muße habe, um mir in der nahen Stadt Biarritz in der Dunkelheit einen Schlafplatz zu suchen … 19 Uhr fühlt sich jedoch so zeitig an, ist es aber im Vergleich zu meinen Ankunftszeiten in den Pilgerherbergen gar nicht … es ist nur ungewohnt, nach der Zielankunft weiterhin draußen zu sein … Ich muss jetzt wieder darauf achten, mir rechtzeitig einen ruhigen Schlafplatz zu suchen, einfach bis in die Abenddämmerung hineinlaufen, um dann in einer Herberge einzuchecken, ist nicht mehr … Psychologisch ist das jetzt wieder eine deutlich schwierigere Herausforderung, jeden Tag stellt sich die Frage, wann mach ich Schluss, wann lohnt es sich noch weiterzulaufen … ich darf nur nicht träge werden, ich darf auch nicht jedes Risiko scheuen, dann würde ich zu viel Zeit einbüßen und die Tage und Kilometer würden am Ende in Norwegen fehlen. Für meine erste Nacht in Frankreich ist aber ein Schlafplatz unterhalb der Steilklippe, direkt am Atlantik und ohne jede Gefahr, nachts Besuch zu bekommen, genau die richtige Wahl. Zu hören ist nur das Meer, der Wind und die Steine, die von der Klippe nach unten bröckeln. Ich freue mich auf viele Sonnenuntergänge über dem Meer, jetzt wo es endlich nach Norden und nicht länger nach Osten geht. An diesem 14. Mai geht sie Punkt 21.21 Uhr am Horizont unter. Ich werde ihr jetzt wieder mehr Aufmerksamkeit schenken. Es folgen Abendröte und Dunkelheit. Ich bin etwas deprimiert, außer Wasser und Zigaretten habe ich meinem Gaumen nichts anzubieten. Ich muss auch erst wieder lernen, mit soviel Freizeit – ohne Gesellschaft, ohne Barhocker, ohne Licht um noch im Tagebuch zu schreiben – zurechtzukommen … zumindest an dieser ersten Schlafstätte in Frankreich kann ich nichts mit mir anfangen, ich bin zu unruhig, um einfach nur in meinem Schlafsack zu liegen, in den Himmel oder aufs Meer zu starren und zu genießen. Auch von Dankbarkeit – wie in den ersten Wochen – keine Spur! Oh, ich habe mich auf dem Jakobsweg so richtig verhätschelt … es beweist nur mal wieder, dass zu viel Luxus dich von deiner inneren Zufriedenheit nur entfernt. Vor Regen hätte ich hier weit und breit keinen Schutz, aber der Himmel ist klar, ich bleibe – was das betrifft – unbesorgt. Hinter mir kommen immer wieder Steine und kleine Felsbrocken nach unten, durch einen kleinen Vorsprung über mir bin ich wenigstens etwas geschützt, ganz geheuer ist mir das nicht, zumal ich mich an meine Begegnung mit Antonio in Coimbra erinnere, der bei einer Übernachtung unterhalb einer Klippe zwei Schneidezähne verloren hat, weil ein Stein auf sein Gesicht fiel. Auch von hier sehe ich noch den Jaizkibel, nostalgisch schaue ich zurück auf dieses abgeschlossene Kapitel meiner Reise, meines Lebens. Im gegenwärtigen Kapitel bin ich noch nicht so recht angekommen, aber es ist ja auch erst das Ende des ersten Tages ...
Am Meer träumt man oft merkwürdige Dinge … ich bin mit John Fante und Charles Bukowski am Strand … während Fante seinen Riesenlümmel schwenkt und eine Riesenfontäne ins Meer pisst, steht Bukowski lustlos und verkatert daneben und ist Herr von über ein Dutzend Angeln, die jeweils ein paar Meter auseinander im Sand stecken, ohne dass sich nur irgendeine Schnur rührt … ich werde aufgeweckt, weil ein großer Stein direkt neben meinem Kopf aufschlägt … schlafe wieder ein … Fante pisst noch immer (ich bekomme Minderwertigkeitsgefühle wegen seinem Mordsteil), Bukowski steht genauso gelangweilt da wie vorher, einen Fisch hat er noch immer nicht gefangen … ein zweiter großer Stein schlägt neben mir auf, ich werde allmählich wütend, weil ich nicht oft die Chance habe, mit Fante und Bukowski Zeit zu verbringen … ich schlafe wieder ein … Fante ist fort, auch Bukowski ist weg, bloß die scheiß Angeln stehen noch da … nun ja, wahrscheinlich konnten beide mich nicht ausstehen und haben sich verpisst (vor allem Fante) … ich wache auf, der Morgen dämmert bereits, und ich denke mir, dass Bukowski wahrscheinlich niemals in seinem Leben geangelt hat.
Ich laufe nach Biarritz. Vom See- und Heilbad bekomme ich nichts weiter mit, irgendwie ist mir nicht nach einer Stadtbesichtigung zumute. Dabei ließ sich sogar Sisi hier kurieren, wobei sich Biarritz darauf nichts einzubilden braucht, da es sicherlich kein See- und Heilbad zur damaligen Zeit gab, was vor ihr sicher war. Mein Höhepunkt in Biarritz ist ein Thoreau-Zitat an der Tür eines Buchgeschäfts. Im Supermarkt gebe ich mein letztes Geld aus, für kalorienreiche Sachen, vor allem Kekse. Ich rechne im Kopf mit. Ganze vier Cent bleiben mir, aber für heute und morgen bin ich erst einmal eingedeckt. Außerdem bin ich erleichtert, dass anscheinend die großen Supermarktketten viele der überteuerten Markenprodukte auch als No-Name-Produkte anbieten, für Preise, die fast durchweg günstiger als in Spanien sind, was mich überrascht. Zum Frühstück gibt es vor dem großen Supermarktgebäude eine Packung Chips, 1.100 Kalorien, mal ein etwas anderes Frühstück. Von einer Siedlung geht es übergangslos in eine andere, bis nach Bayonne – mit knapp 50.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt dieses Départements. Die Stadt liegt ein paar Kilometer im Landesinneren, wo die Nive in den Adour mündet. Von Weitem wird man bereits auf die große, schmucke Kathedrale Notre-Dame aufmerksam, ich laufe hin, gehe hinein, setze mich in eine der vorderen Reihen, schreibe Tagebuch, während leise Kirchenmusik aus Lautsprechern zu hören ist. Ein paar Leute sind da, ich schaue auf meine Sobrados … sie sind ein Glücksfall, fast eintausend Kilometer mit ihnen gelaufen und sie befinden sich noch immer in einem guten Zustand. Draußen nehme ich mir dann doch mal Zeit für eine Stadtbesichtigung. Und das lohnt sich, denn Bayonne ist der erste Ort in Frankreich, dem ich etwas abgewinnen kann. Vor allem die vielen kleinen, schmalen Häuser, entlang der Straße am Fluss Nive, in allen möglichen Farben, gefallen mir. Zur Mittagszeit sind viele junge Menschen unterwegs, sitzen im Park oder am Ufer, lesen oder unterhalten sich, essen Pizza oder Döner (gab es für mich in diesem Jahr noch gar nicht!) … in ihrer Nähe fühle ich mich wohl, ich sehe das Universitätsgebäude, das erklärt den jungen Altersdurchschnitt – einer Stadt ohne Uni droht Arthritis! Auch eine alte Festungsanlage gibt es in Bayonne. Die Mündung der Nive in den Adour mitten im Stadtzentrum verleiht der Stadt zusätzlich Charme. Ich verbringe einige Stunden in Bayonne, auch weil ich meine Möglichkeiten überprüfen möchte. Im Fremdenbüro frage ich nach karitativen Einrichtungen, womit die Frau nicht viel anfangen kann – wenn es so etwas in Frankreich gibt, dann nur in den Großstädten. Eine kleine Ernüchterung, aber nützt ja nichts. Dafür bekomme ich eine Karte vom Département Landes, welches auf der anderen Uferseite des Adours beginnt … kann ich gut gebrauchen, da ich noch keine Ahnung habe, wie ich weiterlaufen soll. Auch die Frau kann mir nichts empfehlen, ihr kommt es etwas seltsam vor, dass ich meine Beine gebrauchen möchte um voranzukommen. In der Bibliothek darf ich 45 Minuten kostenfrei das Internet nutzen, eine gute Möglichkeit, um mir Informationen zum Weg einzuholen.
Vom Stadtzentrum aus laufe ich auf Fußwegen nach Norden, komme dabei durch Industriegebiet, das sich vor allem an der Norduferseite des Adours konzentriert. Obwohl ich in der Nähe des Flusses bleibe, diesen sozusagen zur Mündung in den Atlantik begleite, bekomme ich vom Adour nichts weiter zu sehen, da Kräne, Container, Mauern oder Gebäude im Weg stehen. Das einzig Gute für einen Wanderer in einem Industriegebiet ist, dass er versucht keine Zeit zu vertrödeln, um zügig voran- und aus dem ganzen Lärm wieder herauszukommen. Kurz bevor ich zurück am Atlantik bin, kommt mir ein älterer Pilger entgegen, hochdekoriert, zumindest hat er massig Anstecknadeln an seiner Kleidung. Wir kommen ins Gespräch, ich kann dabei etwas mein Französisch üben. Er kommt aus Straßburg, ist seit Paris zu Fuß unterwegs, 880 Kilometer in 36 Tagen, wie er mir stolz berichtet. Er lief dabei auch ein Teilstück an der Loire, von Orléans nach Tours, ehe er auf einem eher unbekannten Jakobsweg hier runter lief. Da ich noch länger an der Küste bleiben möchte, dürften es für mich zweihundert zusätzliche Kilometer Wegestrecke werden. Meine Entscheidung scheint zu stehen, zumal der Mann mir verrät, dass der Jakobsweg von / nach Paris nicht wirklich markiert ist. Und günstige Herbergen gibt es in Frankreich schon gar nicht. Immerhin kann er mich trösten, dass es nun in den nächsten Tagen auf Radwegen entlang der Dünen gut vorangeht.
In der Tat, hundert Meter weiter beginnt dieser Radweg, durch einen Naturpark, neben der Düne, ein Waldgürtel rechts von mir, keine Straßen mehr, einige wenige Radfahrer sind unterwegs. Erstmals in Frankreich tauchen sogar Jakobsmuscheln auf, das tut irgendwie gut, man fühlt sich weniger alleingelassen. Die Küste ist von nun an durchweg flach, ein Problem dabei wird sein, immer einen gegen Regen geschützten Schlafplatz zu finden, denn es gibt keine Klippen mehr, die mir als Unterschlupf dienen könnten. Passend zu meiner Befürchtung fallen ein paar Tropfen, jedoch ohne dass es stark zu regnen anfängt. Am Strand ist es nicht einfach zu laufen, man versinkt allzu oft, wie es an Dünenstränden üblich ist. Neue Zuversicht bringen mir die vielen Bunker, die hier aller paar hundert Meter oder Kilometer am Strand stehen und irgendwie von der Zeit vergessen wurden. Der erste Bunker, an dem ich vorbeilaufe, ist noch klein und unüberdacht. Der Zweite dagegen scheint mir der perfekte Schlafplatz zu sein. Bei meiner Ankunft viertel sieben sind noch zwei Männer mit ihren Hunden hier, wenig später bin ich allein und niemand kommt mehr vorbei. Der Bunker kann von zwei Seiten betreten werden, Türen gibt es nicht, im Inneren viel Platz, auch nach oben hin, und ein weicher, trockener Sandboden macht das Ganze sogar recht komfortabel. Das Meer kommt nah an den Bunker heran, aber nicht hinein. Durch die zwei Eingänge ist es drinnen hell, Platzangst oder Angst, dass man von draußen nichts mitbekommt, hat man hier nicht. Durch den Durchzug ist auch die Luft rein, der Bunker frei von Müll. Ich freue mich so einen praktischen Schlafplatz gefunden zu haben, der mir eine sorglose Nacht verspricht. Ich lege meine Matte in eine Ecke, um vom durchziehenden Wind einigermaßen verschont zu bleiben. Der nächstgelegene Ort ist Ondres, hinter der Düne führt laut Karte nur eine Straße in das Dorf, das vier Kilometer im Landesinneren liegt. Häuser sind keine zu sehen. Ein schöner einsamer Schlafplatz, so wie ich es mag. Ich setze mich raus, blicke aufs Meer, die Sonne versucht gegen die Wolken anzukommen, ein schönes Bild. Das Abendessen ist bescheiden, aber ausreichend: Toastbrot mit Margarine, dazu Kekse und auch das vorerst letzte Bier lass ich mir noch mal so richtig schmecken. Nach der Mahlzeit geht es ins warme Stübchen, im Schlafsack nasche ich noch Schokolade, rauche und denke etwas nach. Mir kommt dabei in den Sinn, dass ich bisher keinen einzigen deutschen Campingwagen in Frankreich gesehen habe, in Spanien waren es noch so viele. So wird es schwer um Hilfe zu bitten, noch schwerer welche auch zu bekommen … um Kontakt zu Franzosen zu suchen, fehlt mir momentan noch der Mut, ich brauche endlich ein positives Erlebnis, endlich eine freudige Begegnung mit den Menschen hier. Aber heute war schon einmal ein guter Tag: die erste schöne Stadt und der erste schöne Schlafplatz in Frankreich, beides wird sicherlich unvergessen bleiben.
Die Sonne geht über der Düne auf, sie scheint und strahlt durch den Bunkereingang direkt zu mir in die Ecke, wo ich noch im Schlafsack liege. So wird man gern geweckt, ein entspannter Morgen nach einer ruhigen und warmen Nacht … nur das Meer und ich, ach wie ich das liebe! Direkt am Meer geht es auf Sand weiter und ich stelle dabei zufrieden fest, dass ich den besten Bunker weit und breit erwischt habe, denn die anderen sind entweder nicht zugänglich oder nicht überdacht, oder zu nah am Wasser oder am nächsten Ort gelegen. Dieser nächste Ort ist Capbreton, acht anstrengende Wanderkilometer von meinem Schlafplatz entfernt. Die Kleinstadt ist ein Surferparadies; viele junge Kerle sind bereits am frühen Morgen unterwegs, oberflächlich betrachtet wirkt der eine oberflächlicher als der andere … jedenfalls passe ich mit meinen verstaubten Wanderstiefeln und verdreckten Klamotten so gar nicht hier rein … unter Surfern fühle ich mich unwohl … vielleicht wird dieses Unwohlsein durch Minderwertigkeitsgefühle ausgelöst, weil sie alle so schöne, braungebrannte und muskulöse Körper haben, weil die Mädchen auf sie stehen, weil eine Aura der Unbesiegbarkeit von ihnen ausgeht, weil sie keine Sorgen zu haben scheinen … Ich komme nicht in Schwung, obwohl ich wieder festen Boden unter den Füßen habe und doppelt soviel Kilometer die Stunde abspulen könnte, als auf Sand. Ich sitze auf einer Bank an einem Fluss, beobachte ein Entenpärchen, Gesellschaft täte gut. Ich habe Brand, eine kalte Cola wäre jetzt riesig. Ansonsten habe ich auf nichts Appetit, mir ist übel und trotz Sonne fröstelt es mich immer wieder. Ich mag nichts essen, nicht rauchen … anscheinend bin ich krank … Ich habe keine Lust weiterzulaufen, aber was bleibt mir anderes übrig? Ich quäle mich von Bank zu Bank, am Jachthafen vorbei zum Place des Basques, von dem aus viele junge Menschen zum langen Sandstrand stolzieren, die meisten mit einem Surfbrett unterm Arm. Auch fröhlich wirkende Familien sind unterwegs. Es tut mir leid, dass ich meinen kleinen Engel im Stich gelassen habe. Mit einer großen Portion Reue geht es auf der Strandpromenade raus aus Capbreton. Beim Laufen und an Pausenplätzen fallen mir immer wieder die Augen zu, vielleicht fehlt mir auch einfach nur Koffein. Mit Keksen versuche ich gegen die völlige Kraftlosigkeit anzukämpfen, dabei weiß ich, dass das Problem nicht im Magen, sondern im Kopf liegt. Immerhin gibt es eine Premiere, ich sehe zum ersten Mal einen Fisch an einer Angelschnur zappeln, bei einer Frau, offenkundig Laie, denn ein Mann kommt und hilft ihr beim Herausfischen. Ein Fahrradweg führt neben der Düne lang, keine Sicht aufs Meer, öde. Mir gelingt es nicht, mal eine Stunde am Stück zu laufen. Anders als auf dem Jakobsweg gibt es zurzeit keine Tagesziele, was die Beine lähmt. Stattdessen spüre ich auf einmal das Verlangen irgendwo allein zu sein, einen einsamen, ruhigen, vom Wetter geschützten Schlafplatz zu finden. Ich steige auf die Düne, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen, finde dabei nichts was als überdachter Schlafplatz dienen könnte. Meer, Düne und Wald, sonst nichts, außer vereinzelt Menschen am breiten Sandstrand. Barfuß geht es am Ufer weiter, ehe ich nach wenigen Kilometern erneut auf die Düne steige und in einer kleinen Senke meinen Schlafplatz finde, nach nur 23 Kilometern an diesem Tag. Irgendwer hat hier ein paar Äste auf 30 Zentimeter Höhe aufeinandergestapelt, was im Liegen einen ganz guten Windschutz bietet. Etwas Gras und kleine Sträucher um mich herum sorgen für etwas Intimität; wenn ich liege, bin ich vom Strand aus nur schwer zu sehen. Das scheint mir doch der beste Lagerplatz weit und breit zu sein, zumal der nächste Ort ein paar Kilometer entfernt ist und Spaziergänger am späten Abend oder in der Nacht nicht zu erwarten sind. Zu erwarten ist auch kein Regen, wenn doch hätte ich ein Problem, denn ich habe keine Ahnung, wo ich als nächstes Schutz finden würde. Trübselig sitze ich auf der Düne, blicke zum Meer raus. Klar, es könnte schlechter laufen; das Wetter ist gut, die Knie halten einigermaßen und noch ist auch der Magen nicht leer … und dennoch frage ich mich: Wozu das Ganze noch? Bin müde, satt, ausgelaugt … zurück nach Deutschland möchte ich nicht, weil ich null Perspektive habe; zumal gescheitert zurückkommen, es gäbe nichts Schlimmeres, die in einhundert Tagen mühsam aufgebaute Selbstachtung wäre mit einem Schlag dahin … und überhaupt, unabhängig wann ich zurückkehre, wo sollte ich hin? Sie wohnt dann wahrscheinlich schon mit ihrem neuen Kerl zusammen, in Leipzig habe ich eine enttäuschte Familie zurückgelassen, Freunde habe ich keine … tolle Aussichten … ich kann ja gar nicht zurück … und hier? Morgen ist Christi Himmelfahrt, für mich wohl eher Lars Atlantikfahrt … eine Wasserbahnfahrt ans Ende des Diesseits? Aber ich kann mir ja nicht einmal Alkohol leisten, um mich besoffen in den Atlantik zu stürzen … erstmals ist da wieder diese Sehnsucht nach dem Tod, nach der ewigen Ruhe … zu ziellos, zu schwach bin ich zurzeit … Ich ningle mir selbst die Ohren voll, wenn schon kein anderer zuhört … vor allem in meinem Tagebuch: Komme ich noch mal zurück? Bist du noch bei mir? Irgendein schlauer Geist wird sicherlich mal behauptet haben, dass nur die Schwachen Hilfe von oben erhoffen … das kann schon sein, aber immerhin gewährt es etwas Aufschub … man kann noch hoffen, man hat noch nicht aufgegeben, man ist noch nicht am Arsch …
Ich erreiche immer zeitiger meinen Schlafplatz und breche jeden Morgen etwas später auf – das sagt wohl bereits alles aus … ich täte sie so gern in meine Arme nehmen und nie wieder loslassen … ich muss kein Buch schreiben, ich muss mir selbst nichts beweisen, ich muss für meine Kleine da sein, das ist alles … doch nun, nun werde ich tatsächlich hier draufgehen, weil sich einfach keine Türen mehr für mich öffnen wollen … der morgige Tag dürfte alles entscheiden. Auch am nächsten Schlafplatz ist die Stimmung tief im Keller, eine Mischung aus Verzweiflung und Resignation. Wenn sich wirklich keine Tür mehr öffnen sollte, wenn mir niemand mehr hilft und ich nichts mehr zu essen habe, dann möchte ich mir einen ruhigen, überdachten Platz am Meer suchen, wahrscheinlich einen Bunker, um dort solang zu verweilen, bis alles vorbei ist … interessant wäre es ja, immerhin würde ich dann die tiefsten Abgründe meiner Psyche kennenlernen. Kann ein Mensch wirklich untätig herumliegen und darauf warten, dass er stirbt? Oder würde man irgendwann einen Punkt erreichen, wo man einen letzten Versuch unternimmt, um zu leben?
Mit Beginn der Morgendämmerung lag ich die meiste Zeit wach in meinem Schlafsack, versuchte wieder einzuschlafen, konnte mich einfach nicht zum Aufstehen überwinden. Die Nacht war warm, dank des Holzes und der Senke verschonte mich der starke Wind. Jedes Mal wenn ich wach wurde, blinzelte ich zum Himmel, suchte einen Stern, den gefunden ich beruhigt weiterschlafen konnte. Erst kurz nach acht erhob ich mich, um zusammenzupacken und aufzubrechen. Hinter dem Dünengürtel liegt ein Waldgebiet, das sich bis hinauf an die Gironde erstreckt, es soll der größte zusammenhängende Wald in Westeuropa sein. Da ich mich nicht verlaufen wollte, entschied ich mich am Ufer zu bleiben. Nach zwei Stunden kam ich im kleinen Ort Vieux-Boucau-les-Bains an, von da an versuchte ich es auf Asphalt, um etwas Strecke zu machen. Auf der einzigen Straße nach Norden, die D652, war es etwas heikel zu laufen. Die Straße war schmal, neben der Fahrbahn gab es kein bisschen Platz für Fahrradfahrer oder Spaziergänger. Also immer auf der weißen Linie von Ort zu Ort, ständig auf den Gegenverkehr achtend, eine stupide Wanderung, nicht mal das Meer war zu sehen. Kommt mir auf Straßen ein metallic-grüner Mondeo entgegen, blicke ich immer als erstes ganz unbewusst aufs Kennzeichen … ich erschrecke kurz, wenn es dann eines der hier häufig vorkommenden BZ-Kennzeichen ist … muss dann an unsere gemeinsamen Fahrten / Ausflüge denken, an all die Dinge, die ich nicht zu schätzen wusste. In Moliets-et-Maa füllte mir der Kellner in einem Restaurant meine Wasserflaschen auf, die vielen Mittagsgäste betrachteten mich skeptisch, wenn nicht gar angewidert. Ich konnte es verstehen, blickte sie kein bisschen anders an. Da ich genug von dieser Département-Straße hatte, bog ich in den Wald ab, auf Pisten quer durch, ohne irgendeine Ahnung gehabt zu haben, ob ich hier schlussendlich auch weiter nach Norden gelangen würde. Die Sonne schien da noch, was bei der Orientierung half. Wie am Tag davor fühlte ich mich wieder ziemlich kraftlos, zum ersten Mal sprang mir das Springseil in meinem Rucksack ins Bewusstsein, was an den vielen Bäumen gelegen haben muss. Wenn gar nichts mehr geht, sollte man doch wenigstens noch einen geeigneten, festen Ast finden. Nach nur 28 Kilometern an diesem Tag kam ich hier an, zurück am Meer, wieder auf der Düne, diesmal sogar mit einem Bunker.
Meine Hütte ist durch einen schmalen Eingang betretbar, im Inneren gibt es nur einen etwa zwölf Quadratmeter großen Raum, etwas Müll liegt auf dem sandigen Boden, ich räume mir eine Ecke frei. Es ist dunkel, aber immerhin gelangt etwas Licht durch eine kleine Spalte. Dieser Bunker hier ist eigentlich genau der Ort zum Verweilen, den ich mir gewünscht habe: geschützt gegen Regen und Wind, draußen eine tolle Aussicht aufs Meer, Ruhe, niemand würde mich hier oben auf der Düne beim Sterben stören, den Strand sehe ich nicht, also auch keine Menschen. Der nächste Ort ist weit genug entfernt, wie die meisten Orte hier etwa fünf Kilometer hinter der Küstenlinie, weil zwischen Düne und Ortschaft der Wald als Auffangbecken der Unmengen von Sand dient, die durch Wind kilometerweit ins Landesinnere transportiert werden. Ich setze mich neben den Bunker, um zu schreiben. Etwas Last kann ich dabei abwerfen. Ich denke den ganzen Tag schon an das Himmelfahrtsfest, das ich die letzten zehn Jahre immer mit meinen Jungs von den Paparazzis in Leipzig gefeiert habe, bei Achim im Garten, mit viel Bier, geselliges Zusammensein aller Fanclub-Mitglieder, zum Mittag leckere Wurst vom Fleischer, dazu Brötchen, am Nachmittag ein Kick auf der Parkwiese, mit Bierflasche in der Hand, danach Grillen … oh weh, ich wusste ja anscheinend gar nichts in meinem Leben zu schätzen. Nun bin ich allein, keine warme Mahlzeit, gerade noch fünf Kekse und drei Kippen im Rucksack, vier lächerliche Cent im Portemonnaie, am Ende. Die melancholische Musik hilft da auch nicht … wieder läuft Song to Siren … Here I am. Here I am … wie schon an der Sagrada Família … wie vor drei Jahren in Fredericia, auch damals mit Blick aufs Meer … nur da wartete noch eine Familie auf mich … Ich steigere mich immer mehr in meine Wehmut hinein, aber was solls, denn Reue ohne Weh wäre auch keine Reue.
Von wegen meine Ruhe. Ich penne bereits vor 20 Uhr ein, wenig später werde ich aufgeschreckt, weil jemand gegen meinen Schlafsack tritt. Ein älterer Mann schaut zu mir runter – dachte hier läge nur Müll, womit er auch nicht ganz im Unrecht lag – reicht mir die Hand, entschuldigt sich und verschwindet gleich wieder, „bonne nuit“. Der Rest der Nacht ist wirklich gut, ich kann jedenfalls nicht meckern und kann ausgeruht in den Tag der Entscheidung starten. Der Himmel ist grau, aber es bleibt weiterhin trocken in Frankreich. Auf der D652 geht es weiter nach Norden, von kurzen Pausen in den aller paar Kilometer kommenden Dörfern unterbrochen … mit der Motivation steht es heute gar nicht so schlecht, pro Pause gibt es einen Stimmungsaufheller, entweder eine Kippe oder einen Keks, immer im Wechsel. Erstaunlicherweise bin ich damit zufrieden, so verändern sich die Maßstäbe … vor zwei Wochen wäre ich noch ziemlich ernüchtert gewesen. Ich gerate endlich mal wieder richtig ins Rollen, in den letzten Tagen habe ich eindeutig zu wenig Strecke gemacht. Zwischen zwei Ortschaften komme ich an einem Restaurant vorbei, gehe spontan hinein, keine Gäste, frage die Kellnerin ob sie irgendwelche Essensreste in der Küche hätten. Sie scheint Mitleid mit mir zu haben und würde gern, muss aber erst ihren Chef fragen. Ein Mann im Che-Shirt kommt nach vorn und beantwortet meine Bitte mit einem einfachen „no!“ … okay, ich gehe trotzdem zufrieden heraus, denn ich habe es wenigstens versucht, was mir viel Überwindung abverlangte … außerdem werde ich in meiner Meinung bestätigt, dass nicht jeder, der Ches Konterfei herumträgt, auch wie Che denkt, nicht einmal ansatzweise, es ist und bleibt eine Modeerscheinung … für mich jedoch wird Che immer ein Vorbild sein. Auch im Guerillakrieg wurden die Rebellen nicht überall, wo sie vorbeikamen, unterstützt. Aber sie mussten es versuchen, immer wieder. Also starte ich im Dorf Lit-et-Mixe einen zweiten Versuch … diesmal eine Pizzeria (Restaurant Camping L'univers), erneut kaum Autos auf dem Parkplatz davor, was die Hemmschwelle geringer werden lässt … gleich vier Menschen hinter der Bartheke … eine ältere Frau, ein Mann im mittleren Alter, daneben wohl seine Frau und noch eine Jugendliche … also wahrscheinlich drei Generationen einer Familie. Ich frage erneut auf Französisch, um so etwas Bonuspunkte zu sammeln. Die Jugendliche hilft mir, spricht als einzige in der Familie Englisch und übersetzt für die anderen. Sie fangen an zu lachen, ich lache mit … die Chancen scheinen gut … ich soll auf dem Barhocker Platz nehmen und warten. Wenig später kommt die Frau der mittleren Generation zurück, reicht mir einen Teller mit einem halben Baguette, mit Schinken belegt … der Mann stellt mir ein Glas Wein neben den Teller. Ich bin glücklich und bedanke mich freudestrahlend vielmals. Ich bin weniger glücklich, etwas Ordentliches in den Bauch zu bekommen, als vielmehr, dass ich endlich nette Menschen in Frankreich getroffen habe, das bringt neue Zuversicht. Als ich fertig bin, bedanke ich mich noch mal bei allen; die ältere Frau meint, dass ich Gott danken soll … vermutlich hat sie Recht …
Die Département-Straße ist zum Glück recht leer, was die schmale Straße einigermaßen erträglich macht. Bei den Pausen bleibt es dabei, entweder Keks oder Kippe … auf dem Rathausplatz von Saint-Julien-en-Born ist es ein Keks … auf einer Grünfläche vor der Kirche von Bias eine Kippe … das letzte Stück auf der D652 nach Mimizan ist dann doch noch etwas stressig, deutlich mehr Autos, muss immer mal zur Seite springen, so dass ich erleichtert bin, endlich in der kleinen Stadt zu sein, durch der auch ein Jakobsweg führt. Vor einem großen Supermarkt sehe ich einen alten VW-Bus, intuitiv schaue ich nach dem Kennzeichen … oh, aus Deutschland … ich gehe hin, weil ich einen Mann neben dem Fahrzeug stehen sehe, eine Frau steigt aus … sie wollen gerade in den Supermarkt gehen, als ich sie anspreche, was ja so gar nicht meine Art ist … die Not ändert den Charakter eines Menschen … ich frage geradeaus, ob sie etwas Essbares für mich hätten … beide fühlen sich offensichtlich etwas von mir überrumpelt … wir unterhalten uns ein wenig, ich erwähne meine Probleme mit meiner Geldkarte und dass ich schon seit Spanien unterwegs bin … beide scheinen dann doch ein gutes Gefühl bei mir zu haben, öffnen noch einmal den Bus, um ein paar Lebensmittel für mich zusammenzusuchen … er gießt mir noch ein Glas Apfelsaft ein und reicht mir einen Fünf-Euro-Schein … wenn man nur noch vier Cent hat, fühlen sich fünf Euro wie der Jackpot im Lotto an … dementsprechend bedanke ich mich bei Karsten und Ilse aus Königsdorf (Bayern) und ziehe beglückt weiter, das bevorstehende Wochenende ist schon mal gesichert ... Weil ich gerade so einen Lauf habe, versuche ich es dann auch noch beim Bäcker, frage nach Backwaren nach, die sie morgen nicht mehr verkaufen können, aber die gute Frau holt mich zurück auf die Erde, sie hat nichts für mich. Man darf auch nicht zu gierig werden, wobei ich hier einfach nur mal sehen wollte, ob ich auch ohne Not zu leiden um Hilfe bitten kann. Auf dem Rathausplatz von Mimizan bin ich ganz allein, alles hat bereits geschlossen, es ist kurz vor sieben Uhr. Ich komme in den Genuss endlich mal wieder richtiges Schwarzbrot zu essen. In der öffentlichen Toilette kann ich auch endlich mal meine Füße waschen und die völlig durchlöcherten Socken entsorgen. Der Himmel hat sich den ganzen Tag über nicht aufgelockert, eine Regennacht droht.
Etwas außerhalb von Mimizan komme ich am See Étang d'Aureilhan vorbei, hier will ich mir einen Schlafplatz suchen. Nur noch wenige Leute sind am etwa zwei mal drei Kilometer großen, vom Wald umschlossenen See unterwegs. Ein Wanderweg führt um den See, dabei sieht man sogar hin und wieder eine Jakobsmuschel. Ein stoischer Dachs steht am Ufer, schaut mich an, schaut wieder zum See raus … erst als ich ganz nah komme, springt er ins Wasser und dreht ein paar Showrunden in Ufernähe, es scheint mir, als würde er mir sogar winken … Mücken scheint es zurzeit keine zu geben, zumindest werde ich verschont. Ich würde gern zum Feierabend hier am See eine rauchen, aber nichts mehr da. In einer ruhigen Ecke des Sees, abseits der Campingplätze, wo auch keine Autos lang können, beschließe ich unter einem großen Baum mein Nachtquartier aufzuschlagen, nur fünf Meter vom Ufer entfernt. Das Blätterdach des Baumes und der umliegenden Bäume imponiert nicht wirklich. Da es ein perfekter Tag war, hoffe ich, dass mein Glück anhält und es in der Nacht trocken bleibt. Eine Nacht an einem See ist ganz nach meinem Geschmack, denn ich mochte schon immer diese Idylle, die von einem See ausgeht, der mitten im Wald liegt. Vielleicht liegt es an irgendwelchen eingestaubten Kindheitserinnerungen, keine Ahnung, aber mir gefällts. Nachdem ich noch etwas gespeist habe, gehe ich auf dem Wanderweg am Ufer spazieren, nach nur 200 Metern sehe ich ein Zelt, direkt am Wasser aufgebaut. Ein junges Pärchen sitzt daneben, mit Bier, Zigaretten, Zelt, zwei Angelruten und Schlauchboot … ach ja … an einem romantischen Ort wie hier fehlt sie mir am meisten … noch einmal unschuldig jung sein, Zweisamkeit ausleben, sich oft und überall lieben, davor und danach ein Bier trinken … oder auch als Familie hier sein, zusammen sein, nur das zählt … ich spreche die Beiden an, bitte dabei um eine Zigarette … sie lächeln, der Kerl reicht mir eine Kippe … ich gehe wieder zurück zu meinem Nachtquartier, möchte sie in diesem schönen Moment ihres Lebens nicht stören. Aber auch mein Tag war schön, ein voller Erfolg. Fast 50 Kilometer gelaufen. Genug zu essen. Angenehme Begegnungen. Wieder ein paar Euro in der Tasche. Ein idyllischer Schlafplatz. Sogar eine Gute-Nacht-Kippe habe ich nun … morgen ist ein neuer Tag! Nun genieße ich den Augenblick, liege in meinem Schlafsack, blicke auf den Wasserspiegel, rauche, während sich das letzte Tageslicht in der Nacht verliert.
Ab zwei Uhr beginnt es zu nieseln, im Halbschlaf verkrümle ich mich noch tiefer in meinen Schlafsack, darauf hoffend, dass es gleich wieder aufhört. Die Strafe folgt wenige Minuten später, es gießt aus vollen Kübeln. Ich stehe auf, krame schnell meine Sachen zusammen, suche unter einem anderen Baum Schutz, was aber auch nichts bringt, weil es nun auch zu stürmen anfängt. Es ist stockduster, ich sehe fast gar nichts, habe schwer damit zu tun meine Sachen einzupacken, hier und da ein Blitz bringt etwas Licht. Ich brauche schnell einen Platz, wo ich geschützt bin. Es ist erst das zweite Mal, dass ich mein Nachtquartier wegen Regen verlassen muss. Vom Weg hierher weiß ich, dass vierhundert Meter zurück ein paar Baracken eines Wassersportvereins stehen. Also renne ich dorthin, habe Glück im Unglück, weil sich die Kajaks unter einer großen Zeltplane befinden. Dort muss ich als erstes aus meinen nassen Klamotten heraus, lege mich dann in meinen Schlafsack, der Gott sei Dank nur außen klitschnass ist. Das Schlafen fällt schwer, da es stundenlang schüttet, am schlimmsten ist der starke Wind, der mir die Regentropfen unter die Plane weht. Der Boden neben mir wird immer schlammiger, mitten drin mein Rucksack, immerhin hat die Plane keine Löcher und ist fest genug angebunden, um nicht fortzufliegen. Gegen acht Uhr höre ich die ersten Stimmen, junge Männer und ihr Coach. Dieser begrüßt mich mit einem „bonjour“, ich befürchte, nun auch noch mit meinen nassen Klamotten fortgejagt zu werden … aber kein Problem, der Mann ist nett, wir kommen ins Gespräch. Er ist begeistert, dass ich schon fast viertausend Kilometer in den Beinen habe. Der Trainer geht zu seinen Nachwuchssportlern, redet über mich, sagt soviel wie: schaut, was man alles mit Willensstärke erreichen kann. Ändert freilich nichts an der Tatsache, dass ich im Dreck liege, wie ein begossener Pudel. Der Trainer errät was ich brauche, bittet einen der Jugendlichen, mir die Kabine zu zeigen, wo ich mich duschen und meine Sachen reinigen kann. Ich bin dankbar, so durchnässt und schmutzig nicht aufbrechen zu müssen. Stattdessen breite ich meine nasse, schmutzige Ausrüstung in der ganzen Kabine aus, befreie alles nach und nach vom Schlamm und lass es noch etwas neben der Heizung trocknen. Auch die erste Dusche in Frankreich tut gut. Ich bin erstaunt, dass die jungen Kerle, die sich bereits umgezogen haben, ihre Sachen hier mit mir allein lassen, anscheinend nicht damit rechnen, dass ich etwas stehlen könnte. Das ehrt mich, weil ich rein äußerlich sicherlich einen Vorzeigelandstreicher abgebe. Zu weiteren Gesprächen kommt es jedoch nicht. Erst nach zwei Stunden bin ich soweit wieder gereinigt, vor allem mental, um aufbrechen zu können. Ich bin froh, dass es aufgehört hat zu regnen, zwischen den kleinen Ortschaften findet man so gut wie keinen Regenschutz. Ich bedanke mich beim Coach, der lächelt, wahrscheinlich wird er später seiner Frau von mir berichten. Netter Gedanke.
Auf Radweg geht es 15 Kilometer zum nächsten See Lac de Biscarrosse et de Parentis, recht groß, etwa 25 Kilometer Gesamtuferlänge, nur fünf Kilometer vom Atlantik entfernt. Im kleinen Ort Gastes setze ich mich auf eine Bank bei einem Spielplatz, direkt am See. Obwohl keine Sonne scheint, hänge ich meine nassen Klamotten auf den Ästen mehrerer Bäume auf, nebenbei schreibe ich in meinem Tagebuch. Nur kurz, denn ein 14jähriger Junge kommt von der Schaukel direkt zu mir und wir plaudern etwas auf Französisch. Es ist leicht zu merken, dass er schnell Gefallen an mir findet, in gewisser Weise zu mir aufschaut … sein zarter, verträumter, nachdenklicher Charakter gefällt mir, daraus sind oft die schönsten Menschen hervorgegangen. Obwohl wir nicht alles verstehen was der andere sagt, weiß er schnell wie er mir eine Freude bereiten kann. Er sagt zu mir, dass ich kurz warten soll, und verschwindet auf einem nahen Campingplatz. Nach fünf Minuten taucht er wieder auf, mit einem Beutel, wo sich ein Baguette, eine Konserve Wurst und eine Tüte Chips befinden. Ich bin erstaunt, habe ich ja um nichts gebeten, auch nicht erwähnt, dass ich nichts zu essen habe. Ich bin beeindruckt von soviel Feingefühl, als Jugendlicher hätte ich so etwas nie zustande gebracht … wahrscheinlich nicht mal jetzt, trotz aller Erfahrungen, die ich seitdem sammeln durfte. Eine Frau kommt zu uns an die Bank, fragt mich ob ich auf dem Weg nach Santiago bin. Sie verrät mir, dass ihr Mann und sie vor drei Jahren den Camino Francés gelaufen sind und dass sie sogar mal ehrenamtlich in der Pilgerherberge von Saint-Jean-Pied-de-Port ausgeholfen haben. Sie lädt mich auf eine Tasse Kaffee ein, im Wohnwagen nur ein paar Meter hinter meiner Bank. Ich nehme gern an, möchte aber noch ein paar Minuten mit Thomas, so heißt der Junge, verbringen. Es beginnt dann wieder zu regnen, gemeinsam sammeln wir meine Klamotten zusammen und finden anschließend unter dem Dach einer Spielanlage Schutz. Mit seinen Eltern macht er hier am See Campingurlaub. Es scheint Thomas hier zu gefallen, jedoch fehlt ihm irgendetwas … immer wieder bewundert er meinen Mut und wünscht sich auch eines Tages so mutig zu sein, um ein bisschen von dieser Welt zu entdecken. Wie alle jungen Menschen, die ein reines Herz haben, wird auch Thomas vor der Herausforderung stehen, sich gegen alle Schikanen des Lebens die Reinheit seines Herzens zu bewahren. Ich wünsche es ihm sehr. Denn die Welt braucht gute Menschen, jeden einzelnen, überall auf der Welt. Er sieht meine leeren Wasserflaschen und geht diese auf dem Campingplatz für mich auffüllen, bringt mir auch ein Messer mit, damit ich mir die Wurst aufs Baguette schmieren kann. Das mach ich auch gleich, Thomas selbst möchte nichts, es gab vorhin erst Mittag. Nach meiner Mittagsmahlzeit gehen wir zurück Richtung Bank, es nieselt noch etwas, als uns ein Mann entgegenkommt … er reicht mir die Hand, stellt sich als Joël vor … er ist der Mann von Josette, die vorhin bei uns an der Bank war … ich bin nun bereit für einen Kaffee im warmen und trockenen Wohnwagen, verabschiede mich herzlich von Thomas, der mir in seiner ganzen Zartheit eine gute Reise wünscht …
Bei Joël und Josette im als Wohnwagen ausgebauten Mercedes-Transporter begegne ich der Offenheit und Freundlichkeit, die ich mir schon seit Tagen in Frankreich gewünscht und erhofft habe. Wir unterhalten uns über das Pilgern, Joël spricht etwas Englisch, was ich gleich ausnutze, um mir das ein oder andere in Französisch übersetzen zu lassen. Der heiße Kaffee tut gut, dazu gibt es eine Rührkuchenspezialität aus der Region. Das ältere Pärchen entpuppt sich immer mehr zu einer glücklichen Begegnung für mich. Sie können mir nämlich wertvolle Tipps für das Pilgern in Frankreich geben. Zum Beispiel könnte ich morgen in Sanguinet (etwa 25 km entfernt) ins Rathaus gehen, um nachzufragen, ob noch ein Platz in der kostenlosen Pilgerherberge des Ortes frei ist. Hier in Frankreich soll das in den kleineren Orten oft möglich sein, einfach im Rathaus nachfragen. Ein guter Tipp. Das beweist, dass der Kontakt zu den Einheimischen einige Vorteile bringen kann, erst recht wenn man nichts mehr zu verlieren hat. Joël und Josette kommen aus Pau, vor drei Jahren liefen sie die achthundert Kilometer auf dem Jakobsweg, es war gleichzeitig der Abschluss ihres Berufslebens. Beide arbeiteten mit behinderten Kindern und finden es schön, dass ich auch in Zukunft mit Kindern arbeiten möchte. Immer wieder bieten sie mir etwas von dem leckeren Rührkuchen an, ich lange ordentlich zu … auch eine zweite Tasse Kaffee gibt es … sie wollen mir etwas Gutes tun und Josette ruft im nächsten Ort Parentis-en-Born im Rathaus an, ob es dort eine kostenfreie Schlafmöglichkeit gibt. Sie erfährt, dass wir zu einem Campingplatz fahren sollen und dort noch mal nachfragen müssten.
Das machen wir dann auch, nach wenigen Minuten erreichen wir Camping Municipal Le Pipiou, drei Kilometer außerhalb von Parentis-en-Born, nun an der Ostseite des gleichen Sees. Zum Wochenende ist die Rezeption unbesetzt, Josette ruft wieder an, wenig später kommt eine junge Frau. Übernachtung? Kein Problem. Es ist für Pilger kostenlos, die Gemeinde von Parentis macht dies möglich, denn hier läuft auch einer der französischen Jakobswege lang. Da morgen Sonntag ist, könnte ich auch bis Montag bleiben. Ich habe allen Grund begeistert zu sein, denn wieder mal bin ich überrascht, was einem Vagabunden so alles widerfahren kann. Man kommt in Situationen, mit denen man am Morgen nie und nimmer gerechnet, diese sich nicht einmal erträumt hätte. Joël und Josette freuen sich mit mir, er will mir einen Zehner geben, als Josette meint, dass es hier doch gar keinen Supermarkt gibt, und stattdessen mir einen Proviantbeutel zurechtmacht. Dank Kaffee, Äpfel, Joghurt und einem Päckchen Kartoffelsuppe, dazu die Sachen von Thomas, ist auch für die Abendverpflegung und das Frühstück am Morgen gesorgt … Schritt für Schritt geht es voran, die Hauptsache ist nur, dass ich immer weiterlaufe, nirgendwo festklebe. Nach einer herzlichen Verabschiedung brechen Joël und Josette auf, ich bin ihnen zutiefst dankbar. Nach der Horrornacht, die Sachen sind noch immer durchnässt, habe ich nun die Möglichkeit, wieder alles in Ordnung zu bringen … und auch mein Körper wird mir etwas Ruhe und Komfort danken. Die nette Frau an der Rezeption gibt mir noch eine Übersichtskarte vom Campingplatz, erklärt das Wichtigste und dann kann ich mit einem Schlüssel in der Hand über den großen Campingplatz stolzieren, auf der Suche nach Appartement 488. Der Platz ist gut gefüllt, auch deutsche Kennzeichen sind zu sehen. Erst als ich mit dem Schlüssel die Tür meines kleinen, schmucken Häuschens öffne und eintrete, fühle ich mich sicher; es ist kein Witz, ich darf wirklich bleiben und hier übernachten – es ist einer dieser wunderbaren Glücksmomente.
Ich schaue mich im Appartement um, alles da was man braucht, modern eingerichtet, zwei Schlafzimmer. Nur mit dem Gasherd habe ich meine Probleme, obwohl die Gasflasche offen ist, zündet nichts. Ich frage bei meinen französischen Nachbarn nach. Erst kommt ein Mann, dann ein anderer, aber sie haben auch keine Ahnung – weshalb ich mich nicht mehr ganz so dämlich fühle. Ein Campingplatzarbeiter tauscht die Gasflasche aus, aber auch nichts. Erst die Frau einer meiner Helfer weiß Rat, indem unter der Spüle ein Hahn aufgedreht werden muss – Frauen sind gar nicht immer so doof wie Mann denkt. Ich bedanke mich bei meinen Helfern, am liebsten hätte ich sie alle auf ein Bier eingeladen … das ist doch mal ein Tag! Nun auch in der Praxis die Erkenntnis: Franzosen können ja nett sein! Da ich viel Zeit habe, kümmere ich mich erst einmal eine Stunde um meine Kleidung. Draußen am Wäscheständer aufgehängt und als es wieder zu regnen beginnt, drehe ich alle Heizkörper auf, um die Klamotten bis morgen zu trocknen. Die letzte akkurate Wäsche gab es bei Joao Miguel in Lissabon, das ist nun doch schon einige Wochen her. Zum Abendessen gibt es einen ganzen Liter Kartoffelsuppe, wobei der größte Teil an Kartoffeln von den von Thomas spendierten Chips stammt, was dem Ganzen etwas Würze bringt. Als Dessert gibt es Joghurt und ohne Unterbrechung Kaffee oder Tee. Einen Fernseher gibt es nicht, dabei hätte ich große Lust auf das Champions League Finale zwischen Bayern und Chelsea. Halb neun breche ich zum Abendspaziergang auf, in der Hoffnung ein Restaurant zu finden, das Fußball überträgt. Das auf dem Campingplatz liegende Restaurant ist voll, aber Fußball läuft nicht. Weiter am See lang, die Sonne geht gerade darüber unter … nach ein paar hundert Metern eine Kneipe, meine letzte Chance … ich gehe hinein, keine Gäste, frage im besten Französisch, das mir möglich ist, ob sie hier das Spiel übertragen … gestehe aber auch gleichzeitig ein, dass ich blank bin und mir kein Getränk leisten kann. Der Wirt und sein Mitarbeiter lachen … geht in Ordnung, ich darf mich setzen, sie schalten um, das Spiel beginnt gerade … endlich mal wieder auf einem Barhocker, nebenbei schreibe ich im Tagebuch, zum vollkommenen Glück fehlt nur noch ein Bier … im nächsten Moment steht ein kaltes, gezapftes Pils vor meiner Nase … geht aufs Haus … es gibt tatsächlich Tage, da funktioniert alles … nicht so toll sind die Tage, wo es genau andersrum läuft. Zum Finale drücke ich mal ausnahmsweise den Bayern die Daumen … sie sind drückend überlegen, nur ein Tor will nicht fallen … schon nach der Hälfte der ersten Halbzeit führen sie nach Ecken gefühlte 30:0. Ich bin der einzige Gast, ironischerweise aber ohne einen Cent in der Tasche. Ab und an springen ein paar kleine Kinder und ein Mops in der kleinen Kneipe herum, gehören anscheinend zur Familie. Es gibt nur einen einzigen Tisch hier … dieser wird schließlich gedeckt, wo die Familie, einschließlich der Mutter, speist. Ich trinke genüsslich mein Bier, schaue das Spiel, schreibe, genieße den Moment der heute nicht enden wollenden Euphorie. Ich muss an das Endspiel von vor zwei Jahren denken, damals verlor Bayern gegen Inter Mailand, ich war in einem Pub in der Dresdner Altstadt, gegenüber der Frauenkirche, allein, mit Guinness und Live-Musik … das war toll, aber dieses Finale hier wird sich auch in mein Gedächtnis brennen … in der 83. Minute, kurz vor halb elf, erlöst Müller die Bayern, endlich das hochverdiente 1:0 … zum Glück keine Verlängerung, nicht dass der Wirt nur wegen mir noch nicht dicht gemacht hat … Gäste werden nun auch keine mehr kommen … erste Ecke für Chelsea und Tor, Drogba wars … manchmal ist Fußball echt ungerecht … Abpfiff, Verlängerung … ich frage nach, ob sie schließen wollen, nein ich kann zu Ende schauen … Le Lagon Bleu heißt die Bar hier, das Oberstock dient als Pension, ich sehe kurz eine Familie, die hier untergekommen ist … juhu, Elfmeter, nun aber! Robben und … verschossen … irgendwie mit Ansage, warum schießt auch nicht Schweinsteiger? … Bayern vergibt noch zwei weitere Großchancen … Elfmeterschießen … Olic gehalten, Schweini Innenpfosten, Drogba Tor … der Wirt und sein Kumpel trösten mich („im nächsten Jahr klappts!“) … ich bedanke mich für die Freundlichkeit, dass ich das Finale hier sehen konnte … ärgere mich, dass Bayern verloren hat; was wäre das erst geworden, wenn meine Bundesligalieblinge aus Dortmund das Finale verloren hätten, jedoch auch müßig darüber nachzudenken, weil der BVB wohl niemals mehr im Finale der Champions League stehen wird … am Nachthimmel zwei Sterne, trocken, es ist ruhig am See, angenehme Atmosphäre. Zurück im Appartement verbringe ich meine erste „zivilisierte“ Nacht in Frankreich. Sich am Abend glücklich und zufrieden hinlegen, welch eine Seltenheit, wenn man mitten im Alltag steckt. Aber ein Vagabund kennt keinen Alltag, man nimmt wie es kommt und es kommt oft besser, als man glaubt.
Am frühen Morgen sind die Sachen trocken. Dass ich noch immer kein Tier bin, merke ich daran, dass ich zum Frühstück Teller, Tasse und Besteck benutze. Endlich mal ein entspanntes Frühstück, wo mir nicht der futterneidische Wind den ein oder anderen Krümel raubt. Ich stöbere in meinem Kartenmaterial, auf der Suche nach der besten Route nach Bordeaux. Draußen sieht es grau und trostlos aus, immerhin keine Autogeräusche, dafür Vogelverkehr … ich überdenke noch einmal den ursprünglichen Plan, nach einer Nacht weiterzuziehen. Wenn es mir schon angeboten wird … Ich beschließe noch einen kleinen Spaziergang zu machen, zum See und mit der Hoffnung, noch in ein Gespräch verwickelt zu werden. Aber so früh am Morgen ist noch niemand der anderen Camper draußen unterwegs, die meisten Autos haben französischen Kennzeichen, und nach nur fünf Minuten (einmal zum See) beginnt es zu regnen, also wieder zurück und darin bestärkt, heute endlich mal wieder einen Ruhetag – erst der Dritte nach Lagoa Formosa und Lissabon – einzulegen. Ich setze mich an den Tisch, nutze die gebrauchten Teebeutel ein zweites Mal, um etwas Warmes in den Bauch zu bekommen. Mein einziges Problem ist, dass ich die Vorräte am Abend und am Morgen fast komplett aufgebraucht habe. Mir bleiben ein Apfel zum Mittag und eine kleine Packung Chips zum Abendessen. Punkt elf nehme ich einen zweiten Anlauf in Sachen Spaziergang, es hat aufgehört zu regnen. Neben einem Wohnwagen aus Deutschland steht ein Mann an seinem Fahrrad. Ich spreche ihn an, er will gerade zum Supermarkt nach Parentis (3,5 Kilometer) radeln. Das ist schon mal eine gute Nachricht, darum kehre ich um, schnappe mir meine fünf Euro und vier Cent und laufe in die kleine Stadt mit ihren 5.000 Einwohnern hinein. Nach dem Einkauf bleiben mir 12 Cent … also zum vierten Mal völlig pleite, aber für die nächsten drei Tage eingedeckt. In meinem Appartement bereite ich mir Makkaroni mit Tomatensauce zu.
Am frühen Nachmittag verfliegt auch das letzte schlechte Gewissen darüber, dass ich einen Tag „opfere“. Auch am dritten Ruhetag ist das Wetter bescheiden, hin und wieder regnet es … an einem sonnigen Tag würde ich mich schon ärgern, wenn ich faul herumläge. Wie hier im Bett, eine Tafel Schokolade neben mir, Vorhang zu, meine Lektüre verlorener Gedanken vor den Augen, wo ich auf die Gedanken stoße, die ich zu den letzten knapp einhundert Büchern, die ich vor meiner Reise gelesen habe, notiert habe. Es ist ein Zufall, dass das Büchlein mit einem Sartre beginnt und auch endet. Es ist auch ein Zufall, dass ich Kerouacs On the road am 2. Februar 2011 begonnen hatte, also exakt ein Jahr vor Beginn meiner Wanderung in Barcelona. Beim Lesen der Gedanken muss ich feststellen, dass sich in meinem Reisetagebuch weit weniger dieser Gedanken – die man fast schon philosophisch nennen könnte – finden lassen … also kaum einer dieser für sich alleinstehenden Gedanken, die hier und jetzt nur wie kleine, seltene Geister durch mein Tagebuch spuken. Ich bin unterwegs und null inspiriert? Das kann eigentlich nicht sein, was soll das dann mal für ein bescheuertes Buch werden? Bin ich abgestumpft? Werde ich etwa alt? Wo ist die kindlich, naiv fragende Jugend? Wo Feingefühl und Melancholie? Wo sind die aus meiner eigenen Feder entstandenen Gedanken, die auf mein eigenes Hirn großen Eindruck machen? Ist das der Preis einer gesteigerten Philanthropie? Muss ich wieder häufiger die Einsamkeit suchen? Wo ist die Natur? Habe mich zu ihr gesehnt und nun fliehe ich vor ihr, um Menschen kennenzulernen? Ist das Jahr 2012 doch das Ende? Mein Ende? Das Ende der Originalität? Mein Tagebuch ist ausschließlich ein Bericht, kann das mein Anspruch sein? Aber was ist, wenn ich es auch einfach nicht (mehr) draufhabe? Jetzt gerade in meinem Appartement mache ich mir doch auch Gedanken, sind sie etwa alle Produkte des Müßiggangs? Dann will ich wieder Müßiggänger sein! Zuhause habe ich mir Gedanken über die Welt gemacht, und jetzt wo ich in ihr unterwegs bin, kommen mir keine Gedanken? Warum muss es einem immer erst schlecht gehen, dass man die Feder zückt und die besten Sachen schreibt? Ich verliere hier meine einzige Fähigkeit, nämlich mit wenigen Worten viel zu sagen. Es ist weg, ich schreibe viel, ich schreibe nichts. Nein, ich will nicht erwachsen sein, weg mit der Sachlichkeit! Gib mir meine Träumereien zurück, meine Melancholie, meine Depressionen, meine Einsamkeit! Wo ist das Rehlein in mir? Und überhaupt kann etwas mit mir nicht stimmen, wenn ich mich überhaupt nicht mehr in die Arme einer schönen Frau sehne … Eigentlich wollte ich den Ruhetag nutzen, um endlich den Hamsun zu beginnen, aber meine eigenen Sachen fetzen irgendwie auch.
Wieder pleite zu sein beunruhigt mich. Wenn ich aber zurückblicke, dann hatte ich am ersten Tag geglaubt, bereits aufgegeben zu haben. Nun bin ich in der 16. Wanderwoche, an Tag 109 … Anfang Februar musste ich mich noch viel mehr durchbeißen, vergiss das nicht … du wirst schon nicht verhungern. Apropos „verhungern“, da ich keine Zutat zu der anderen Hälfte des Kilogramms Nudeln habe, beschließe ich gegen 20 Uhr vor zu dem deutschen Campingwagen zu gehen. Ich klopfe an, frage das Pärchen nicht direkt nach Essen, sondern stattdessen ob sie eine Idee haben, wie ich zu Fuß am besten nach Bordeaux komme. Lothar holt einen Autoatlas heraus, was mir aber auch nicht weiterhilft. Seine Frau Pamela lächelt mich die ganze Zeit an, was Zuversicht bringt. Sie machen zwei Wochen Urlaub in Frankreich … morgen geht es auch für sie nach Bordeaux weiter, verlockend, ich überlege kurz ob ich sie frage, ob sie mich mitnehmen könnten. Aber nein, es wird auch so schon gehen. Wir plaudern übers Reisen, von meiner Tour … bis Pamela schließlich aufsteht, im Wohnbereich des Wagens verschwindet und kurze Zeit später mit 30 Euro auftaucht und diese mir in die Hand drückt. „Wenn jemand so etwas macht, müssen wir das unterstützen“, sagt Pamela. Lothar nickt zustimmend. Ich strahle mal wieder wie ein Kind und bin mal wieder schlagartig euphorisch. Ich erfahre, dass die Beiden aus Brühl bei Heidelberg kommen, wo sie mehr oder weniger auch Nachbarn der Familie Graf sind, wobei Steffi nur noch selten zu sehen sei. Ich erinnere mich an meinen eigentlichen Grund für die Ruhestörung, eine Zutat zu meinen Nudeln. Sie haben aber nichts Passendes da, dafür aber eine Konserve Linseneintopf. Ich danke den Beiden überschwänglich und wir wünschen einander eine gute Reise. Auf dem kurzen „Heimweg“ blicke ich ganz automatisch hoch zum Himmel … den ganzen Tag über war er griesgrämig und nun lächelt er mich an, nur mich. Danke. Mit 30 Euro in der Geldbörse kann sich ein Vagabund ein eigenes Königreich schaffen, und in diesem für einige Wochen lang den Thron in Anspruch nehmen, wenn er mit dem Reichshaushalt sparsam umzugehen lernt. Beglückt lege ich mich ins Bett, die Nachttischlampe an, noch ein Blick in die Lektüre verlorener Gedanken … eine (vorerst) letzte überraschende Entdeckung ist Santiago, der Protagonist aus Coelhos Alchimist, denn ich wusste ja gar nicht mehr, dass Santiago auch in Tarifa war, damals beim Lesen hatte ich mir nichts dabei gedacht, den Ort noch nie gehört und mir auch nie vorgenommen, dort mal einige Stunden zu verbringen. Santiago brach von Tarifa aus nach Ägypten auf … und fand sich selbst.
Montag, 7 Uhr, draußen stürmt und regnet es. Die Terrassentür bleibt zu, ich verkrümle mich wieder ins warme Bett. Schon die ganze Nacht über goss es aus allen Kübeln, was für eine gute Entscheidung hier den Ruhetag eingelegt zu haben! Und nun? Erst einmal kochen! Zum ersten Mal in meinem Leben gibt es Linsennudeleintopf, was für ein Festschmaus! Gestärkt bin ich schon mal, auch sonst voller Energie, der Ruhetag tat mal wieder gut. In Zeitlupe packe ich mein Zeug zusammen, wasch das Geschirr ab, räume auf … gegen zehn regnet es nicht mehr so stark, ich breche auf, verlasse das Appartement so wie ich es betreten habe, als wäre nie jemand hier gewesen. Lothar und Pamela sind bereits weg. Auf Straßen geht es nach Biscarrosse. Der Regen wird wieder stärker, ich bin schnell von oben bis unten durch, die Regensachen halten nichts mehr ab … so schnell fühlt man sich also wieder so, als hätte es nie einen Ruhetag gegeben. Es ist auch frisch, beim Tagebuchschreiben zittert meine Hand. Mit Tunnelblick geht es auf der Landstraße weiter, bis ich Sanguinet erreiche. Der kleine Ort mit seinen 3.000 Einwohnern liegt idyllisch am Ostufer des Étang de Cazaux et de Sanguinet. Damit ich mal ein halbes Stündchen Ruhe vor Wind und Regen habe, betrete ich die schlichte Kirche. An der Kanzel nimmt ein Mann Ausbesserungsarbeiten vor, ansonsten bin ich allein. Die Ruhe hilft, färbt sich auf mein Inneres ab. Ich gehe anschließend zum Rathaus, weil ich ja von Joël und Josette weiß, dass es hier möglicherweise eine kostenfreie Unterkunft für Pilger gibt. Dennoch bin ich ganz erstaunt, als die Frau hinter dem Schalter mir sagt, dass es klargeht, da die zwei Schlafplätze heute noch nicht belegt sind. Ich kann mir in der Touri-Info den Schlüssel abholen. Das wird gemacht und mit dem Schlüssel in der Tasche habe ich auch heute wieder allen Grund zufrieden und dankbar zu sein. Da es erst früher Nachmittag ist, mache ich noch einen Abstecher zum See, setze mich auf die nasse Bank (macht ja an meiner Kleidung keinen Unterschied mehr!) und genieße den Augenblick. Hätte ich für den kommenden Abend keine Bleibe, würde ich es jetzt nicht genießen können. Sicherheit ist eben doch nicht ganz wertlos. Am Ufer ist es gleich noch mal etwas stürmischer, der Regen peitscht mir ins Gesicht, aber ich halte die Stellung, heute kriegt mich nichts mehr dran! Ich gehe ein zweites Mal zur Kirche, richte so etwas wie einen Dank aus; vielleicht war es ja ganz gut vorher in der Kirche gewesen zu sein, ehe ich zum Rathaus lief. Na eins steht zumindest fest: geschadet haben wird es nicht. Eine Frau spricht mich in der Kirche an, fragt mich ob ich auf dem Jakobsweg unterwegs bin und ob ich heute hier übernachte … zweimal ja … sie lächelt … ich ebenso … und der da oben vielleicht auch. Ich steuere schließlich in die Richtung, wo sich die Pilgerherberge befinden soll. Bereits seit dem 11. Jahrhundert ziehen die Pilger durch diese kleine Gemeinde, auf ihrem Weg nach Santiago. Obwohl ich in die andere Richtung laufe, bin ich nun ein Teil dieser Tradition. Ich kann die Herberge nicht finden, laufe verschiedene Straßen lang, aber nichts zu sehen. Also frag ich nach, eine Einheimische weiß zumindest, wo in etwa die Herberge sein müsste, führt mich auf einen Hof mit mehreren freistehenden Häusern und Baracken, die alle der Gemeinde gehören, unter anderem die heute geschlossene Mediathek und eine Judo-Halle. Sie weiß nicht in welchem Haus sich die Herberge befindet, eine andere Frau sieht uns und fragt was wir denn suchen … Herberge? Das ist das einstöckige Gebäude, vor dem sie selbst soeben steht. Sie zeigt mir den Eingang, ich danke den beiden Frauen.
Ich blicke mich kurz im Inneren um, finde eine Dusche und sogar eine Küche … wie es schon in Spanien so oft der Fall war, diente auch dieses Gebäude früher mal als Schule … zumindest stehen im großen Raum noch immer die ganzen Tische und Stühle, auch eine Tafel hängt an der Wand. Zwei Klappbetten dienen als Betten für bedürftige Pilger. Alles provisorisch, alles gut, eine schöne Geste der Gemeinde. Ich bin zufrieden, muss aber erst mal zum Supermarkt, um mich mit Lebensmitteln einzudecken, schließlich muss ich jede Chance nutzen, wenn ich mir was Warmes zubereiten kann. Als ich zurück bin, atme ich erleichtert auf, denn irgendwie bin ich beruhigt, dass ich allein sein kann. Ich habe gerade einen großen Bedarf nach schweigender Stille. Im Gästebuch gab es bisher in diesem Jahr zwei Einträge, von mir folgt Nummer drei; es könnte mein letzter Eintrag werden, aber das kann es ja immer … Die Fensterläden sind verschlossen, deshalb dringt kein natürliches Licht in den Raum, aber wozu auch, es beginnt ja ohnehin gerade die Nacht. Ich bin einfach nur dankbar, gerade jetzt, wo es seit Tagen durchregnet, werde ich mit Unterkünften beschenkt. Beim Gang aufs Klo bekomme ich noch einen weiteren Grund um dankbar zu sein … dort steht ein altes Paar Turnschuhe, nach der Größe geschaut und die passt sogar aufs Drittel genau (45⅓), mit Verschleißerscheinungen, aber noch längst nicht am Limit, muss hier jemand zurückgelassen haben. Ich probiere sie an … bequem … wenn ich die mitnehmen würde, hätte ich endlich mal ein Paar Schuhe, wo ich mir nicht länger blöd vorkommen muss, wenn ich mich wie bisher mit meinen schweren, schmutzigen Wanderstiefeln und ohne Rucksack (Unterkunft) auf einen Stadtrundgang begebe, vielleicht sogar in Begleitung. Außerdem wären sie eine gute Notfallreserve, falls die Sobrados irgendwann ihren Dienst aufgeben, beziehungsweise kann ich auf Asphalt die Turnschuhe nutzen und die Sobrados etwas schonen. Ach da fällt mir ein, dass ich ja auch noch die Santiagos habe. Mit drei Paar Schuhen unterwegs sein? Na warum nicht, die „Neuen“, die Sanguinets, sind schön leicht und sehen zudem auch noch echt cool aus. Ich habe mir nun doch – trotz des schlechten Gewissens – meinen Zigarettenhaushalt wieder aufgefüllt, will aber sparsam sein; einfach in schönen, entspannten Momenten rauchen oder wenn ich nervlich am Ende bin. Jetzt gerade bin ich zufrieden hier zu sein, also gehe ich raus, stelle mich unter das schmale Vordach und rauche erstmals eine von den Che-Kippen, die ich als Zigarettenpackung noch nirgendwo zuvor gesehen habe. Nun kann mich also Ches Konterfei einige Tage lang begleiten, die beste Gesellschaft, die ich mir vorstellen kann. Noch immer regnet es stark, es will einfach nicht aufhören. Ich rauche, blicke zum Himmel, halte noch ein Glas Sekt in den Händen. Ja, Sekt! Eigentlich wollte ich mir einen billigen Wein-Fusel kaufen, aber da hatte ich mich wohl verlesen. Sekt passt ja irgendwie auch, ich bin noch am Leben, wenn das mal kein Grund zum Feiern ist. In der Bude schaue ich die vielen Broschüren mit Kartenmaterial durch, die in einem Körbchen aufbewahrt werden. Dazu nutze ich die vielen Tische, breite auf jeden Tisch eine Karte aus, an die zehn Stück und laufe von einer zur nächsten, vergleiche, schmiede Pläne … für einen Moment schlüpfe ich in die Rolle von Napoleon, der die nächste Schlacht plant und dabei – seiner Art entsprechend – versucht, den ein oder anderen Geniestreich einzubauen. Mir gelingt das nicht, ich komme zu keiner Lösung, ich will nach Bordeaux marschieren, aber bevor ich die Stadt belagern kann, muss ich rund 60 Kilometer auf schnurgeraden Fernverkehrsstraßen durchs flache Binnenland abspulen … und ich habe echt keine Lust mehr auf diese kilometerlangen Asphaltmärsche im Niemandsland, fern vom Meer, 20 oder 30 Kilometer geht es immer geradeaus, und nicht mal dabei träumen kann (darf!) man, weil man sonst auf der engen Straße totgefahren werden würde. Na ich werde mich spontan entscheiden. Lieber erst einmal kochen. Als Vorspeise soll es eine Kohlsuppe aus der Tüte geben … die schmeckt aber nach nichts, also kommt die Suppe mit in die Ravioli, die für sich allein auch nach nichts schmecken … zusammen ist es ganz lecker. Eins steht jedenfalls für mich fest, sollte ich eines Tages noch einmal als Backpacker unterwegs sein, werde ich nicht nochmal Gewürze vergessen! Als Nachspeise gibt es billigen Rührkuchen, dazu den Sekt. Ich bin von oben bis unten vollgefressen, so dass mir sogar übel wird und ich schon vor 22 Uhr völlig ruiniert in mein Klappbett falle … dabei kommt es zu einem Knall, zwei Latten sind raus ... repariert und der zweite Versuch sitzt dann auch.
Nachts werde ich immer mal wach, irgendwann sind keine Plätscher-Laute mehr zu hören, ich gewinne an Zuversicht und träume sogar schließlich davon, dass ich am Morgen die Baracke verlasse und die Sonne scheint. Ganz so ist es dann sieben Uhr leider nicht, der Himmel ist grau, jedoch regnet es nicht mehr. Ich mach mir erst einmal den Rest der Ravioli warm, auch der Rest vom Rührkuchen muss vernichtet werden, abgerundet vom letzten Schluck Sekt aus der Flasche, nur keine Eile. Halb neun breche ich dann aber doch auf, werfe den Schlüssel in den Briefkasten am Rathaus, wie abgemacht. Ich spule anschließend knapp 20 Kilometer auf der kurvenlosen und unbesiedelten Landstraße bis nach Mios runter, das ist echt nichts für schwache Nerven, schon gar nicht wenn ein LKW mir entgegenkommt. Da dabei Überfahren nicht ausgeschlossen ist, denke ich an meine Kleine, denn meine letzten Gedanken sollen an einen Engel gerichtet sein. Ich muss daran denken, wie sie mir immer „Kraftküsse“ gegeben hat, damit ich sie noch ein wenig weiter tragen konnte … so einen Kraftkuss könnte ich jetzt auch gut gebrauchen, oder einfach nur eine Umarmung von ihr. Für einen Moment überlege ich sogar, ob ich nicht doch erstmals den Daumen rausstrecke, schließlich hört auch auf dieser Straße die Asphaltierung mit der Fahrbahnmarkierung auf. Aber irgendwie kann ich mich nicht dazu durchringen, schon gar nicht dazu, mich irgendwo hinzustellen und darauf zu warten, dass mal einer anhält. Wer weiß wie lange ich da warten müsste, dann doch lieber marschieren und auf bessere Zeiten zulaufen. Hier in Frankreich würde es auch einem Vierer im Lotto gleichen, dass mal einer für dich anhält und fragt ob du mitkommen möchtest. Immerhin ist es trocken. Und ich bin im nächsten, dem dritten Département meiner Reise; Gironde ist zugleich das von seiner Fläche her größte Département Frankreichs, Französisch-Guyana in Übersee mal ausgeklammert.
In Mios entscheide ich mich nach einem Besuch der Touri-Info spontan um, anstatt Bordeaux wähle ich nun doch den Weg zurück zur Küste, was mit einem 130 kilometerlangen Jakobsweg durch Gironde verbunden ist. Anstatt also tiefer ins Landesinnere vorzudringen, kann ich meiner ewigen Sehnsucht nach dem Meer mal wieder nicht widerstehen. Somit bleiben mir 50 weitere Kilometer auf der Landstraße erspart. Mit meiner Entscheidung pro Atlantik taucht beinah im selben Moment auch die Sonne wieder auf. Im vier Kilometer entfernten Biganos ist meine Neugierde dann doch zu groß, um am Bahnhof nicht wenigstens mal zu schauen, was der Zug nach Bordeaux kostet … für 7,70 Euro könnte ich mir die Stadt anschauen … und dann? Ich gehe in den Park, setze mich auf eine Bank, breite mein Kartenmaterial auf dem Tisch vor mir aus und überlege. Bordeaux wäre toll! Aber danach hunderte Kilometer auf Asphalt nach Paris? Und von Bordeaux zurück ans Meer kann ich mir weder zeitlich noch finanziell leisten. Nein, die Vorfreude auf den Atlantik ist ohnehin schon zu groß, außerdem brauch ich das Geld für Lebensmittel. Meine Entscheidung steht also endgültig. Vorerst geht es noch auf einer vielbefahrenen Straße weiter, ehe mich endlich ein Radweg rettet. Auf diesen werde ich nun die nächsten Tage verbringen.
Ich erreiche Lanton an der Bucht von Arcachon, die durch eine schmale Halbinsel fast komplett vom Atlantik abgetrennt ist … einen Blick aufs offene Meer bekommt man hier also nicht … aber Wasser und die typischen Gerüche des Meeres (vor allem in den Fischerdörfern!) sind schon mal da. In Lanton statte ich der abseitsgelegenen Kirche einen Besuch ab, ich empfinde das als sehr angenehm, also allein in einer Kirche zu sein, zum Abschluss eines mühsamen Tages … es beruhigt mich irgendwie, eine Erfahrung, die ich in meinem bisherigen Leben nicht kannte. In den Kirchen, die zurzeit fast alle tagsüber durchgängig offenstehen, könnte ich auch bei Bedarf meine Akkus aufladen, gut zu wissen. Und klar, mich reizt natürlich auch, mal eine Nacht in einer Kirche zu verbringen, denn das hatte ich noch nicht. Ich kann mich kaum motivieren, den ruhigen, „warmen“ und windgeschützten Platz wieder zu verlassen. Geht es so Menschen, die sich irgendwann einmal für ein Leben im Kloster entschieden haben? Aber ich kann auch nicht bleiben, aus Angst, abends verjagt zu werden. Die Ostseite der Bucht ist fast durchgängig besiedelt. Viel Wasser bekomme ich nicht zu sehen, es ist Ebbe. Zufälligerweise bin ich dann auf dem Jakobsweg, der direkt an der Bucht langführt. Der starke Wind bläst mir meinen Hut vom Schädel, echt unangenehm. Darum ist hier, von einem Pärchen und einem Jogger abgesehen, auch niemand zu sehen. Nach vierzig Kilometern erreiche ich halb neun den Hafen von Cassy, ein kleiner Fischerort, zwischen Lanton und Andernos-les-Bains gelegen. Mittlerweile hat sich der Himmel wieder verfinstert, noch bevor die Nacht beginnt. Es droht wieder zu regnen. Ich schaue mich im Hafen um, außer weniger Ausnahmen sind keine Menschen zu sehen. Ich entdecke einen alten Fischerschuppen, zum fünf Meter entfernten Wasser hin offen, ansonsten geschlossen und mit einem Dach, ein Fußweg führt hier nicht vorbei. Viel Werkzeug liegt rum: Bleche und Netze, an denen Seetang hängt und von denen ein starker Fischgeruch ausgeht. Es ist gar nicht so einfach, zwischen all dem Kram genug Platz für meine Matte zu finden, das Zeug ist alles so sehr nach oben gestapelt, dass es mühsam wäre, irgendetwas umzulagern … außerdem bin ich ein nichtzahlender Gast, also will ich auch keine Unordnung schaffen. Nah am Eingang quetsche ich mich durch das Gerümpel durch und finde eine Möglichkeit, meine Matte auf dem harten Steinboden fast komplett der Länge nach auszulegen. Durch die Sachen vor mir bin ich von draußen aus nicht gleich auf dem ersten Blick zu erkennen, aber wer außer vielleicht der Eigentümer kommt hier überhaupt mal vorbei? Ich geh noch mal raus, setze mich auf eine Bank, um noch mal zu überprüfen, ob irgendwelche Probleme vorhersehbar sind. Aber nichts, niemand ist zu sehen oder zu hören. Auch die Straße ist 300 Meter entfernt. Das einzige Geräusch, das man hier hört, ist ein Geräusch, dass ich schon mein Leben lang liebe, welches erzeugt wird, wenn sich die Jachten und Boote langsam mit dem Wasserpegel hoch und runter schaukeln. Schaukeln trifft es ganz gut, es klingt ähnlich wie bei einer quietschen Schaukel.
Die Nacht ist ruhig, es bleibt warm und niemand weckt mich auf. Die Knie mucken herum, weil sie die stundenlange, angewinkelte Liegeposition nicht vertragen. Der Regen bleibt aus. Halb sieben Aufbruch. Kurze Zeit später in Arès, Verschnaufpause in der Kirche, was vor allem dann verlockend ist, wenn es draußen grau und trist ausschaut. Ich komme in ein bewaldetes Naturreservat, ein angenehmer Wanderweg direkt neben dem Ufer, wo weder Autos noch Fahrräder fahren dürfen. Dahinter bin ich wieder am Atlantik, da der Fahrradweg auf der „falschen“ Seite der hohen Düne langläuft, sieht man das Meer beim Wandern nicht, außer man nimmt dafür ein mühsames Wandern direkt auf Sand in Kauf … macht aber auch nur die halbe Geschwindigkeit. Ich bin hier auf dem Jakobsweg mit dem Namen Voie de Soulac … dieser führt vom Ästuar der Gironde bis nach Irun … aber jedoch bei weitem nicht so gut markiert, wie die Wege in Spanien, sonst hätte ich ja die ganze Zeit auf diesem Jakobsweg laufen und mir somit einige Asphaltritte ersparen können. Neben Strand und Düne beginnt der riesige Pinienwald, der nirgendwo ein Ende zu haben scheint und irgendwie die einsamen Geister in mir heraufbeschwört. Straßen, die parallel zur Küste verlaufen, gibt es hier nicht. Der Himmel ist heute phänomenal, von ganz grau am Morgen bis zu einer weißen Dunstschicht am Nachmittag … und auf einmal, innerhalb von nur 60 Sekunden verzieht sich die Dunstschicht komplett und über mir zeigt sich erstmals seit Tagen ein klarer, blauer Himmel. Das ist für mich das Zeichen! Rauf auf die menschenleere Düne, dem Atlantik gewunken, Matte ausgerollt, Bier herausgeholt, Sachen ausgezogen und langgemacht. Endlich mal wieder richtig Sonne, das muss ich mit meinem ganzen Körper teilen! Für einen Moment zieh ich sogar meine Boxershorts aus, aber das ist mir dann doch zu viel des Guten, beziehungsweise Schlechten. Ich lege viel wert auf Ästhetik. Die Knie schmerzen nach der unbequemen Nacht. Ich mache mir ihretwegen mal wieder Sorgen. Außerdem bereitet es mir Sorgen, dass ich trotz des vielen Glücks in den letzten Tagen weit weniger zufrieden bin, als ich es in den ersten Wochen am Mittelmeer war. Woher kommt das? Schon genug gesehen? Satt? Abenteuer-Akku bereits wieder bei 100 Prozent? Mehr geht nicht? Das kann doch nicht sein! Wenn ich die täglichen Geschenke nicht mehr zu schätzen weiß, wozu werde ich dann überhaupt noch beschenkt? Also reiß dich zusammen! Genieß den Augenblick, sonst wirst du es irgendwann bereuen, wenn du es nicht getan hast.
Der lange Strand (100 Kilometer durchgehend!) ist von der Zivilisation so gut wie unberührt, die Unmengen an Sand würden wohl jeden Ort unter sich begraben. Mal ein Sanitärtrakt für Badegäste oder auch mal eine Imbissbude, mehr ist nicht. Vereinzelt tauchen Surfer auf, auch ein paar Leute, die sich sonnen oder am Strand spazieren. Ich suche einen Windschutz, aber kein Bunker in Sicht. Bei Le Porge-Océan, also der Strandabschnitt der zum Ort Le Porge (fast zehn Kilometer im Landesinneren) gehört, sehe ich am Strand ein skurriles „Bauwerk“ … drei Holzpaletten wurden so zusammengebaut, dass es einen winzigen Unterstand ergibt … das sieht so knuffig aus, dass ich beschließe dort zu übernachten. Regen scheint nicht zu drohen und etwas Windschutz bietet das 1x1 Meter „große“ Palettengerüst auch. Ich finde auf der Düne noch ein paar Bretter, mit denen ich das Dach abdichte. Falls es doch regnet, könnte ich mich wenigstens hinsetzen und würde nicht allzu nass werden … bei einem Sturm würde das natürlich anders aussehen. Aber die Sonne scheint, geht direkt vor mir über dem Atlantik unter. Ich krame mein Tagebuch raus: Jetzt mal gemütlich auf der Couch sitzen, einen Kaffee trinken, was Warmes zum Abendessen und mit ihr etwas in der Glotze schauen. Aber ich habe deswegen ja immer rumgejammert, wie mich das alles einschränkt, dass das ja gar nicht ich bin … das hier und jetzt, bin das etwa ich? Ich werde beim Schreiben unterbrochen, vier gutaussehende junge Kerle tauchen mit ihren Surfbrettern von hinter der Düne direkt neben mir auf. Sie beachten mich nicht, laufen in ihren schwarzen Surfanzügen direkt in die hohen Wellen hinein, pünktlich zu den letzten Minuten des Sonnenuntergangs, also das passt ja mal ins Klischee … aber ich kann sie verstehen, die rote Sonne und die folgende Abendröte, das macht schon Spaß. Denk ich mir zumindest, denn ich stand noch nie auf einem Surfbrett. Kurz vor der Dunkelheit kommen die Jungs raus und verschwinden wieder hinter der Düne, nun bin ich endlich allein und denke an die vielen schönen Momente dieser Reise. Der Sternenhimmel beruhigt und inspiriert. Die Konstruktion um mich herum hält dem Wind stand, eine gute Wahl. Die Nacht ist warm und trocken.
Die Morgendämmerung beginnt mittlerweile kurz nach fünf. Im Februar war das immer mein Startsignal, zurzeit kann ich mich nicht dazu motivieren, mit dem ersten Tageslicht auch aufzubrechen, dabei könnte ich so ordentlich Strecke machen. Die vier Surfer vom Abend tauchen sieben Uhr wieder auf, Zeit für mich zusammenzupacken und aufzubrechen. Auf die Düne rauf und wieder runter zum Fahrradweg, auf dem man nur äußerst selten eine Menschenseele antrifft. Der Lauf durch den Pinienwald ist eine Tortur … überall fiese Bremsen, die einem ständig beißen wollen. Andauernd schlage ich um mich, eine Pause ist nicht drin, nicht einmal für fünf Sekunden, weil sonst schlagartig ein Dutzend dieser Blutsauger auf dir hocken. Und verdammt, wenn sie einem wo auch immer beißen, ist das deutlich unangenehmer als bei Mücken. Und was mich so richtig nervt, diese Viecher kriegt man nur schwer totzuschlagen, oft muss man zwei- oder dreimal auf sich selbst einschlagen, um das Vieh auf der Haut zum Schweigen zu bringen. Manchmal schlägt man auch vorbei und trifft nur sich selbst. Hundert, zweihundert, vielleicht sogar dreihundert Schläge bekommt man hier pro Stunde ab, so muss sich das Leben eines Boxers anfühlen. Ich habe mir überlegt, ob ich trotz der Wärme beim Laufen lange Klamotten anziehe, aber ich habe ja gar keine Chance (Zeit!) mich umzuziehen. Wenn ich jedoch meinem Lebensmotto treu bleiben und hinter allem etwas Positives sehen möchte, gelingt das auch hier: Man läuft und läuft und läuft … so ist es nicht schwer, über vierzig Kilometer am Tag zu laufen. Das Gefühl auf der Flucht zu sein ist die beste Motivation, die man haben kann. In Lacanau-Océan treffe ich dann endlich mal auf ein paar Menschen; ein Urlauber aus Mönchengladbach füllt meine Wasserflaschen auf. Auch in diesem Ort sind wieder viele Surfer unterwegs, dieser Küstenstreifen muss ein richtiges Surferparadies sein. Dass hier guter Wind herrscht, kann man an den hohen Dünen erkennen. Vom kleinen Urlaubsort geht es wieder in den Pinienwald hinein und zurück zu meinen Freunden. Menschen sind keine zu sehen und die Kilometerangaben der Wegweiser auf dem Radweg sind schon sehr demotivierend … da sind es auf einmal 16 Kilometer bis zum nächsten kleinen Ort. Da Pausen nicht drin sind, laufe ich auch diese 16 Kilometer durch, denke an meine Kleine, muss dabei lächeln und bin dadurch abgelenkt. Das Meer ist nicht zu sehen, etwa fünfhundert bis tausend Meter entfernt. Autos sind hier weiterhin nicht zu hören, auch nicht aus weiter Ferne, welch eine Seltenheit! In dieser Stille laufe ich meinen viertausendsten Kilometer, nicht mal zum Jubiläum ist eine Pause drin. Da ich außer Laufen nichts weiter zu tun habe, entwickle ich nebenbei eine neue Mordtechnik: Ich schlag auf das Vieh, roll es anschließend zwischen Daumen und Zeigefinger wie einen Popel zusammen, schnipse die Kugel nach unten, trete drauf und schiebe Sand über das noch immer zuckende Etwas drüber. So sollte man mit allen Schmarotzern umgehen, mich eingeschlossen. Immerhin verlange ich meinem Körper heute einiges ab, denn ab Hourtin-Plage geht es barfuß auf Sand weiter, da der Radweg nun drei Kilometer von der Küste entfernt verläuft. Direkt am Strand sind nur vereinzelt Blutsauger unterwegs, den starken Wind vertragen sie anscheinend nicht, weshalb sie den Schutz des Waldes suchen. Zwanzig Kilometer auf Sand sind wie vierzig Kilometer auf Asphalt, bei einem vollkommen blauen Himmel lässt sich dabei die Einsamkeit aber leichter ertragen. Dafür fehlt der Schatten des Waldes, die pausenlose Sonne kostet zusätzliche Körner. Nach einigen Kilometern tauchen endlich wieder viele Bunker auf, die meisten davon stehen jedoch unter Wasser. Der Strand hier trägt den Namen Le Pin Sec. An einem Bunker, der trocken liegt, überdacht ist und einen schmalen offenen Eingang hat, lungern ein paar Jugendliche und sonnen sich. Ich setze mich etwas abseits von ihnen hin, rauche und verfolge wie die Sonne dem Horizont immer näherkommt – das Stück Sky and Sand von den Kalkbrenners passt ganz gut dazu, hat eine euphorisierende Wirkung auf mich. Die Jugendlichen verschwinden währenddessen, so kann ich unbemerkt den Bunker in Augenschein nehmen. Ich kann mich nicht dazu bringen, in den Bunker richtig hineinzukriechen, einschließlich mich hinter die halb geöffnete Stahltüre zu trauen, denn der modrige Geruch ist doch sehr unangenehm, außerdem ist es stockduster und man sieht wirklich rein gar nichts, da bringt auch mein Handy-Display als Taschenlampe nichts. Also bleibe ich im schmalen, überdachten Eingangsbereich an der frischen Luft, wie maßgeschneidert für meine Matte, jedoch leider mit Aussicht zur Düne und nicht zum Meer. Als perfekter Windschutz ist dieser Schlafplatz aber nicht zu unterschätzen. Außerdem kann ich beruhigt hier liegen und muss nicht – jedes Mal wenn ich aufwache – zum Himmel schauen, um nach Sternen zu suchen. Wer weiß wie viele Kilometer der nächste überdachte Schlafplatz entfernt wäre. Den Sonnenuntergang verbringe ich natürlich mit Blick aufs Meer, es ist mild, Musik läuft noch immer, eine weitere Zigarette, irgendwie schön, ich fühle mich gut. Wahrscheinlich kann ich den Moment auch mehr genießen, weil ich bereits für die Nacht meinen Schlafplatz, der mir eine trockene und warme Nacht verspricht, gefunden habe. Wenig später liege ich in meinem Schlafsack, blicke der Nacht ins Maul, während sie gerade die Düne verschluckt. Dass es hinter mir noch tiefer in den Bunker geht und ich keine Ahnung habe, was genau dort ist, bringt etwas Nervenkitzel – also genau für mich gemacht!
Am Morgen am Strand zu laufen bringt trotz aller Anstrengung Freude. Nur du und der Ozean, die Luft ist fantastisch, die Sonne scheint. Aller paar hundert Meter sind bis zu einhundert Zentimeter lange Fischkadaver zu begutachten, irgendwie spannend. Im kleinen Badeort Montalivet-les-Bains laufen mir nackte Menschen entgegen, FKK, ich grüße alle Leute mit einem lockeren „Bonjour“. Die Bunker hier werden immer mehr vom Atlantik verschluckt. Meine Ernährung an diesem Tag setzt sich nur aus Bonbons zusammen, weil mir die Preise in den kleinen Supermärkten zu teuer sind, genauer: dreimal so hoch wie üblich. Ein paar Läden öffnen für die Touristen, aus einem Laden ist eine Endlosschleife Somebody That I Used to Know zu hören, während ich gerade in meinem Tagebuch schreibe. Ich brauche Wasser und frage bei einem Kellner nach, der gerade Gäste im Freisitz bedient. Das kalte Wasser ist an diesem heißen Tag eine Wonne. Schließlich geht es auf Radwegen abseits des Meeres weiter; zwei holländische Radler halten neben mir an. Kurzer Plausch, die beiden umrunden einmal Frankreich … mir wird ein Stück Baguette spendiert, dass ich – als ich wieder allein bin – sofort beim Laufen verputze, ich habe Mordshunger. Im Wald und überhaupt bleibe ich der einzige Wanderer, klar, die Entfernungen zwischen den Orten sind auch gewaltig. Auch nach Soulac-sur-Mer sind es weitere 17 Kilometer.
In diesem kleinen Ort muss ich leider Abschied vom Jakobsweg nehmen, dieser Jakobsweg war wahrscheinlich mein Letzter. Ich gönne mir eine Tagebuchpause hinter der Wallfahrtskirche Notre-Dame-de-la-Fin-des-Terres (was für ein Name!). Es ist schon später Nachmittag und ich brauche nun doch wenigstens ein paar Kekse … ab in den Supermarkt, wo Lana del Rey zum ersten Mal seit Rota wieder Video Games „für mich“ singt. Draußen gibt ein Mann seinem Baby einen Schmatzer, mir kommen die Tränen. Von Soulac Richtung Norden ist der Radweg auch deutlich befahrener, es ist Freitagnachmittag, viele Familien sind unterwegs. Je weiter der Tag voranschreitet, desto ruhiger wird es wieder. Einer der letzten Radfahrer des Tages kommt mir entgegen, hält neben mir und fragt mich, ob ich einen guten Schlafplatz während der letzten Kilometer gesehen habe. Schwierig. Philipp (25) aus Erfurt campt eigentlich nicht wild, aber auch nicht auf Campingplätzen. Stattdessen sucht er sich meistens einheimische Familien, die ihm für eine Nacht Obdach gewähren, entweder im Haus oder in ihrem Garten, wo er sein Zelt aufbauen darf. Das klappe bisher in Frankreich prima, was mich sehr überrascht. Die Franzosen seien sehr gastfreundlich, berichtet Philipp, meist wird er sogar zu den Mahlzeiten eingeladen. In Frankreich ist es wichtig, dass man auf die Leute zugeht und es dabei immer in ihrer Sprache versucht. Offensichtlich hat Philipp vom Schulfranzösisch noch nicht soviel vergessen wie ich. Da ist er ganz klar im Vorteil, bisher kann ich jedoch auch nicht klagen, schließlich lebe ich noch. Philipp empfiehlt mir, es demnächst auch mal zu versuchen, nur Mut, man hat ja dabei nichts zu verlieren. Vor allem bei Bauern sind die Erfolgschancen groß. Von seiner Offenheit Menschen gegenüber kann ich noch viel lernen, nicht umsonst war er es, der neben mir stehen blieb und dadurch erst diese interessante Begegnung ermöglichte. Mitten auf dem Radweg plaudern wir über dies und das, erfahren dabei, dass der andere genauso am Tag zuvor die Viertausend-Kilometer-Marke geknackt hat, Philipp auf dem Rad, ich zu Fuß. Einhundert Kilometer am Tag radeln, dass ich nicht ohne, möglicherweise würde ich das nicht so gut meistern, wie vierzig Kilometer am Tag zu laufen. Seine Rundreise startete er in der thüringischen Heimat, fuhr weiter über Nordrhein-Westfalen nach Belgien, anschließend bis nach Brest (Bretagne) und immer in der Nähe zur Küste hier runter. In Bordeaux war er schon, ihm hat es dort sehr gefallen … schade drum. Als nächstes soll mit der Freundin, die bald zu ihm stößt, nach Spanien und Portugal geradelt werden. Gutes Stichwort, ich werde endlich mein Kartenmaterial los, jetzt habe ich ein reines Gewissen und ein Kilogramm weniger Gepäck. Selbst solch ein Fakt, dass das Gepäck nun dauerhaft etwas leichter ist, bringt neue Zuversicht. Es war verdammt schlau, die Reise mit 25 Kilogramm Gepäck zu beginnen, denn dadurch werde ich nicht vergessen, was ich imstande bin zu leisten, es gibt also keinen Grund, bei 20 Kilogramm zu jammern. Spontan hat Philipp die Idee, dass wir die kommende Nacht gemeinsam im Zelt verbringen könnten, er hat ein paar hundert Meter zuvor einen Picknickplatz gesehen, hinter dem man im Wald das Zelt aufbauen könnte. Wir laufen gemeinsam dorthin, setzen uns als erstes an einen Tisch, wo mich Philipp zum Abendessen einlädt, denn mein Proviant ist mal wieder aufgebraucht. Wir sind allein, von den unzähligen Mücken mal abgesehen. Wir vertilgen einen ganzen Laib Brot; Philipp schmiert sich Avocado auf die Brotscheiben, streut Salz drauf … ich probiere, interessanter Geschmack … Wir essen vegetarisch, zum Brot gibt es außerdem Banane, Gurke und Honig. Als Dessert gibt es ein Kuchengebäck, von dem wir auch kein Stück übriglassen. Was für eine Mahlzeit! Dazu die tolle Stimmung, das angenehme Gespräch. Philipp hat sein Lehramtsstudium weitestgehend hinter sich gebracht und ist nun zu dieser beeindruckenden Fahrradtour aufgebrochen. Er erzählt von einer Frau, die einen Fahrradschaden hatte, er ihr schließlich half und sie ihn unbedingt dafür bezahlen wollte. Er lehnte immer wieder ab, aber sie steckte das Geld ihm heimlich zu. Als er es bemerkte, wäre er ihr am liebsten hinterher gerast, um es ihr zurückzugeben. Widerwillig nahm er den Zehner mit und will nun das Geld so schnell wie möglich loswerden … und da hat er auch schon den Einfall, dass es ja eine gute Sache wäre, wenn er mich mit den zehn Euro sponsert. Im Gegensatz zu Philipp ist es mir nicht möglich, das Angebot abzulehnen … im Gegenteil, ich freue mich riesig über dieses Blutgeld … wieder etwas Aufschub. Jedoch stimme ich mit ihm überein, dass es irgendwie übel ist, in einer Gesellschaft zu leben, wo Dankbarkeit anscheinend ganz automatisch mit Geld ausgedrückt wird. Als gäbe es nichts anderes …
30 Meter in den Wald hinein finden wir einen recht ebenen Platz für das Zelt. Philipp baut das große Zelt in einer rekordverdächtigen Geschwindigkeit auf, meine Hilfe wird nicht benötigt. Philipp war clever, hat dieses 450 Euro teure Zelt auf einer vorherigen Reise gesponsert bekommen, musste dafür nur einen Testbericht schreiben. Warum komme ich nicht auf solche Ideen? Wahrscheinlich weil mich selbst diese kleine Verantwortung überfordern würde! Wir packen unsere Rucksäcke ins Zelt und laufen die 500 Meter zum langen Strand. Wir sind allein, schmeißen uns die Sachen vom Leib und gehen ins Wasser – also ich schleiche, Philipp stürmt hinein und wirft sich todesmutig in die erste größere Welle. So hart bin ich nicht, mir ist das Wasser eindeutig zu kalt, selbst die Fußknöchel schmerzen vor Kälte. Nur langsam laufe ich hinein, nicht mehr als eine Katzenwäsche, denn zu allem Überfluss habe ich auch noch vergessen, die Brille abzunehmen. Geschwommen und getaucht wird also nicht, aber immerhin war ich nun endlich seit meiner Gambia-Reise mal wieder im Atlantik. Dort war das Wasser aber auch viel wärmer, selbst im Januar. Danach hocke ich mich im Schneidersitz auf den Sand, schreibe im Tagebuch, während Philipp Fotos vom Sonnenuntergang über dem Meer knipst … es müssen über hundert Bilder sein, die er liegend und stehend zu einem einzigen Fotomotiv macht, auch von mir, wie ich schreibe und die Sonne gerade vor mir am Horizont untergeht. Draußen in der Gironde-Mündung kann man in einigen Kilometern Entfernung den 400 Jahre alten Leuchtturm von Cordouan sehen, der da ganz allein auf einer kleinen Insel steht … hat was. Die Spitze der Halbinsel Médoc, zwischen Atlantik und dem Mündungsarm der Gironde gelegen, ist nicht mehr fern. Dort (Pointe de Grave) wird mich die Fähre auf die andere Seite der Gironde übersetzen. Die Stimmung ist toll, Philipp setzt sich zu mir, wir genießen leise den Moment. Wenn man mit einem anderen Menschen einen Sonnenuntergang gemeinsam erlebt, nur diesen einen einzigen, so bleibt dieser Moment unvergesslich.
Mit Philipps Stirnlampe ist es mir im Zelt möglich, noch meinem Tagebuch von diesem Treffen zu berichten. Eine französische Familie rastet 40 Meter weiter, jedoch durch die Bäume kaum zu sehen, und die Erwachsenen fluchen lautstark über die ungeheuerlich vielen Mücken … was sind wir froh, hier drinnen geschützt zu sein. Und müssen etwas lachen, wie schrecklich laut die beiden schimpfen, das hat etwas von einem Comedy-Sketch. Schließlich geben sie es auf und fahren ab … nun haben wir unsere Ruhe, keine Autos zu hören, ich knipse das Licht aus. Philipp fragt mich, ob meine Reise religiöse Gründe hat. Für ihn ist der katholische Glauben ein Teil seiner Identität. Bei mir ist das anders, keine Religion, aber ohne „Glauben“ würde es nicht gehen. Ich berichte von meinen Beobachtungen, die ich an mir selber während dieser Reise bereits gemacht habe. Dass ich Trost darin finde, in Kirchen zu gehen, wo ich in meinem „normalen“ Leben nie etwas mit Kirchen anfangen konnte, allein der Drang in eine Kirche hineinzugehen ist völlig neu für mich. Philipp hört mir gespannt zu … es vergehen ein bis zwei Stunden, ehe die Vernunft siegt und wir beschließen, endlich unseren wichtigen Schlaf zu holen, schließlich steht ein weiterer anstrengender Tag bevor, für Philipp, für mich … das ist meine erste Zeltnacht auf dieser Reise. Und es wird mit Sicherheit auch die bisher heißeste Nacht werden! Also was die Temperaturen betrifft …
Halb sieben stehen wir auf. Die vielen Mücken nerven beim Zusammenpacken. Philipp gibt mir sein letztes Geld (30 Euro), er kann sich im Laufe des Tages an einem Bankautomaten Geld holen, sagt er. Ich notiere seine Kontodaten und versichere, dass Geld so schnell wie möglich zu überweisen. Philipp ist deswegen nicht nervös, zweifelt nicht an meiner Ehrlichkeit. Ich bin richtig erleichtert, für die nächsten Wochen bin ich also abgesichert, die Vorfreude auf die kommenden Etappen ist wieder deutlich gestiegen. Bevor wir in entgegengesetzte Richtungen aufbrechen, gönnen wir uns noch ein Frühstück unterhalb der Düne, wo sich die Mückenbiester nicht blicken lassen. Philipp schmeißt den Gaskocher an, ich spendiere das Wasser zum Kaffee, den wir gemeinsam aus seinem Pfadfinder-Becher trinken. Aus einer Schüssel löffeln wir warmen Haferbrei, den wir mit zwei Bananen und einem Apfel noch aufgepeppt haben. Eines dieser seltenen Frühstücke dieser Reise, das diesen Namen auch verdient hat. Philipp ist auf dem Land groß geworden, wurde katholisch erzogen, besaß nie einen TV, ist in keinen sozialen Netzwerken im Internet zu finden. Das ist weise. Er schreibt lieber Postkarten an die Familie und an Freunde. Eine tägliche SMS an die Freundin darf auch nicht fehlen, damit sie sich keine Sorgen macht. Gegen halb neun stehen wir schließlich an einer Pistengabelung, der Zeitpunkt des Abschieds ist gekommen. Ich werde melancholisch, gestehe Philipp, dass ich gern manchmal jemand hätte, der auf mich wartet oder der zusammen mit mir die Welt erobern möchte. Er hat da seine Freundin, ist vielleicht dadurch sogar motivierter als ich. Aber da ist nun mal nichts zu ändern: Ich habe niemand, niemand steht hinter mir, ich bin allein … es ist okay. Wir umarmen uns, wünschen dem anderen eine gute Reise und schon bin ich wieder allein unterwegs. So ist das Leben, Alleinsein gehört dazu.
Zum Fähranleger sind es noch zwei Kilometer. Eine lange Fahrzeugschlange hat sich gebildet. Ich habe es einfacher, laufe einfach durch, kaufe mir mein Ticket und springe an Bord. Suche mir einen Sitzplatz im Freien, es wird viel Deutsch gesprochen. Gutes Timing, die Fähre fährt wenig später ab. Es geht bei schlechter Sicht über den fünfzehn Kilometer breiten Mündungstrichter der Gironde ins vierte Département, Charente-Maritime, mit seiner Hauptstadt La Rochelle. Der erste Ort ist jedoch Royan (18.000 Einwohner), das 1945 bei britischen Luftangriffen zerstört und modern neu aufgebaut wurde. Keine schöne Stadt, viel Beton, selbst die große Kirche Notre-Dame wurde aus Beton gebaut. Ich laufe am großen Jachthafen vorbei und bin insgesamt knapp zwei Stunden in der Stadt unterwegs. Es ist Samstag, an den Marktbuden reihen sich die Menschen, mir etwas zu stressig. Bummeln kann ich nur außerhalb von Ortschaften. Auffallend ist aber, dass sehr viele Franzosen Beutel mit langen, unverpackten Baguettes durch die Gegend tragen … meist sind nur eins, zwei Baguettes im Beutel, nichts anderes. Es ist also ein absolut zutreffendes Klischee. Mir sind die Dinger aber zu teuer, ich muss mich von einer Packung Chips ernähren. Ich komme an einem Kiosk vorbei, erfahre dabei erst jetzt, nach knapp zwei Wochen in Frankreich, dass Sarkozy als Staatspräsident durch Hollande abgelöst wurde, das geschah in den Tagen, als ich vom spanischen ins französische Baskenland gelaufen bin. Unterwegs interessiert dich so etwas aber auch nicht, was spielt das schon für eine Rolle, wer französischer Präsident ist? Klar, ohne Sarkozy wird es nun noch etwas öder in der europäischen Politik. Das ist dann aber auch schon alles.
Zur Mittagszeit verlasse ich Royan, laufe dabei auf den Fußwegen entlang der flachen Felsenküste. Viele Strände hier, der starke Wind bläst mir meinen Hut vom Kopf. Die nächsten Orte reihen sich übergangslos aneinander. In Frankreich muss ich in der Regel Umwege in Kauf nehmen, wenn ich eine der großen Supermarktketten suche, um günstig einzukaufen … das geht in Frankreich nur bei Super U und Co. In Saint-Palais-sur-Mer habe ich Glück, ein Super U ist ausgeschildert, das ist meine erste günstige Einkaufsmöglichkeit seit Tagen. Problem in Frankreich: es gibt selten Entfernungsangaben, da kann der Supermarkt 500 Meter oder auch 5 Kilometer entfernt sein. So laufe ich also immer den Schildern nach, einmal links, dann wieder rechts, immer weiter, ich komme immer mehr aus dem Ort raus … „première à gauche“ steht schließlich geschrieben … okay, also die nächste Querstraße nach links, Sackgasse, nervig … irgendwann habe ich es dann doch geschafft, schnappe mir einen Korb (Anfängerfehler!) und zahle den in mir schlummernden Heißhunger Tribut. Der Korb ist voll, das mir übergebene „Blutgeld“ von Philipp ist schon wieder weg. Solche Heißhunger-Attacken sind jedoch auch entschuldbar, Philipp konnte meinen Hang zu Naschkram (vor allem in Form von Pausenbelohnungen) gut nachvollziehen. Auch er hat schon mal eine Packung mit acht Hörncheneis gekauft und alle hintereinander verdrückt. Dachte schon, dass außer mir sonst niemand auf so eine Idee kommt. Mit vier Kilogramm zusätzlichem Gewicht geht es weiter, da ich nicht alles im Rucksack verstaut bekomme, muss ich eine Plastiktüte mit diversen Keksverpackungen an den Rucksack hängen, das sieht vielleicht mal bescheuert aus! Ich muss mal wieder über mich selbst den Kopf schütteln. Ich lebe nach derselben Devise wie die meisten Menschen: „Was man hat, das hat man.“ Selbst ein Vagabund denkt in dieser Hinsicht nicht anders. Auf einem Picknickplatz lange ich kräftig zu: 500 Gramm Selleriesalat zum langen Baguette (in den großen Supermärkten finanzierbar), außerdem Wurst und Käse und 1,5 Liter billige Cola. Völlig vollgefressen schleiche ich weiter, immerhin ist das Wetter perfekt (Sonne-Wolken-Mix, 17 Grad Celsius). Man merkt jedoch sofort, ob man ein paar Kilo mehr im Rucksack hat. Nach zwei Kilometern zurück zum Meer brauche ich die nächste Pause. Ich studiere mein Kartenmaterial, damit in der Zwischenzeit mein Magen wieder mit sich und seinem schweren Leben klarkommt. Die große Übelkeit ist schließlich weg und ich kann auf einem küstennahen Radweg durch den Pinienwald in den Erholungsort La Palmyre laufen. Am Straßenrand liegt eine kleine Schlange, sie rührt sich nicht, aber es sind auch keine Verletzungen zu erkennen – irgendwie faszinierend, also Tiere aus nächster Nähe zu sehen, die man sonst praktisch nie zu Gesicht bekommt. Ich überlege kurz, ob ich sie noch etwas näher betrachten soll, finde aber nicht den Mut dazu … vor Schlangen habe ich Respekt, wie man so schön sagt, in Wahrheit habe ich natürlich einfach nur Schiss. Sie sind mir schlichtweg suspekt. Außerdem bilde ich mir ein, dass jede Schlange, der ich begegne, giftig ist. Wahrscheinlich würde ich auch eine Blindschleiche für eine giftige Schlange halten, dabei würde ich sogar gleich doppelt irren. Diese Schlange hier ist aber vielleicht wirklich giftig, denn nebenan befindet sich der Zoo, der angeblich meistbesuchte Zoo Frankreichs … La Palmyre schlägt Paris, das Leben bietet immer wieder große Überraschungen! Mich machen Zoos jedoch traurig. Genauso wie Hochzeitskolonnen.
So langsam aber sicher lassen die Sohlen meiner Sobrados nach. Ich mache mir Sorgen, obwohl noch zwei weitere Paar Schuhe an meinem Rucksack baumeln. Außerhalb der Ortschaften bleibt es ruhig, kein Straßenlärm, zum Samstag einige Leute auf ihren Fahrrädern unterwegs. Aus „bonjour“ wird nach einigen Stunden „bonsoir“ und schließlich stehe ich am großen, roten Leuchtturm Le Phare de la Coubre, etwas abseits des Fahrradweges. Ein paar wenige Familien sind noch auf der Düne oder am Strand unterwegs. Nur 25 Meter vom Leuchtturm entfernt steht ein zwei mal zwei Meter kleines Häuschen. Keine Fensterscheiben, keine Türen, aber intakte Wände und noch wichtiger: ein intaktes Dach. Es steht völlig verloren auf der Düne, niemand läuft in nächster Nähe daran vorbei. Ich kann gar nicht anders als hier zu bleiben, um die Nacht direkt neben dem Leuchtturm zu verbringen. Ich wollte zwar noch zehn Kilometer laufen, aber ich versuche nach wie vor die Geschenke des Weges anzunehmen und mich an ihnen zu orientieren. Ich ziehe also in das Häuschen ein, werfe den Müll nach draußen, streiche den trockenen Sandboden eben … ist noch nicht kuschelig und weich genug … ich schnappe mir ein in der Nähe liegendes Brett, schaufle noch einen Zentner Sand von draußen durchs Fenster hinein ins Innere. Wieder glattgestrichen, Matte so ausgerollt, dass ich im Liegen durch den schmalen Fensterspalt genau auf das Leuchtfeuer blicke. Perfekt. Auch die Tatsache, dass einmal mehr an einem Schlafplatz kein Zivilisationslärm zu hören ist. Man hört das 100 Meter entfernte Meer, die Vögel und den Wind. Ich bin dankbar für einen weiteren schönen Schlafplatz. Da die Sonne soeben am untergehen ist, verlasse ich meine Hütte für einen Moment und steige die Düne zum höchsten Punkt hinauf. Höre Musik, blicke zum Meer hinaus, die Sonne hinter einer dünnen Wolkenschicht am Horizont, esse zu Abend, trinke ein Bier, rauche eine Che, knipse Fotos, der 26. Mai findet einen triumphalen Ausklang.
Die Nacht ist fantastisch ruhig und angenehm warm. Immer wieder wache ich auf und sehe dabei das sich im Kreis drehende Leuchtfeuer – es ist einer meiner liebsten Schlafplätze. Halb sieben stehe ich auf, blauer Himmel; keine Menschen, keine Mücken … es gab da eine Zeit, da war für mich beides ein und dasselbe. Die ersten zwei Stunden geht es auf Radweg im Wald Forêt de la Coubre gut voran. Ich blicke rüber zur größten französischen Atlantikinsel Île d’Oléron. Ein Fuchs kreuzt meinen Weg. Die Stimmung ist gut. Erst im Badeort Ronce-les-Bains wird es wieder zivilisiert, mit entsprechenden negativen Begleiterscheinungen, allen voran Lärm. In der Mittagssonne und ohne den Schatten der Bäume ist es zu heiß, um stundenlang durchzulaufen. Eine Pause führt mich in die Touristen-Information, um mich nach dem Weg nach Rochefort und La Rochelle zu erkundigen. Ich erfahre, dass es vorerst nur auf Landstraßen weitergeht, die Stimmung bekommt einen Knacks. Hinter dem Ort nehme ich die einzige Brücke über den breiten Fluss Seudre und laufe auf der Straße zum Schloss Château de la Gataudière. Ich setze mich auf eine Mauer vor dem Eingang, esse Kekse, wobei ich viel mehr Bock auf ein kühles Bier hätte. Manchmal kommt ein PKW oder ein Wohnwagen vorbei, stoppt auf der Straße vor dem Eingang, Fenster wird heruntergelassen, ein Foto geknipst und die Fahrt fortgesetzt. Da ich mitten im Bild sitze und mir meine Kekse reinschlinge, steigt auch der ein oder andere aus, geht an mir vorbei, knipst ein Foto, steigt wieder ein und schon sind sie wieder weg. Es gilt keine Zeit zu verlieren, schon gar nicht im Urlaub. Nach einer Stunde geht es auch für mich weiter. Ich frage einen jungen Kerl, der gerade mit seinem Auto ins Schloss fahren will, ob ich auf dieser Straße richtig bin. Er hat keine Ahnung, ist noch nie die Straße in die Richtung gefahren, in die ich vorhabe zu laufen. Ich soll kurz warten, er geht zu einem Seiteneingang hinein, kommt nach etwa zehn Minuten wieder. Er hat gefragt und die da drinnen meinen, dass ich schon ganz richtig bin. Eine Einladung des Schlossherrn zu einem Festschmaus bekomme ich nicht. Solang ich meine Kekse habe, ist das auch nicht weiter tragisch, wenngleich ich gegen ein großes Stück Fleisch nichts einzuwenden hätte.
Nach einer weiteren Stunde auf der Landstraße im flachen, öden Binnenland mache ich auf einem Autorastplatz halt. Noch 20 Kilometer abseits der Küste bis nach Rochefort zu laufen ist ein frustrierender Gedanke. Ich setze mich an einen Tisch und picknicke. Außer mir ist noch ein älteres Pärchen aus den Niederlanden mit ihrem Wohnwagen da. Wir kommen ins Gespräch, übers Reisen kann man aber auch immer und überall reden. Die Beiden bieten mir an, mich bis nach Rochefort mitzunehmen. Ich nehme dankend an. Während der Fahrt stellt sich auch heraus, dass das eine gute Entscheidung war. Viel Verkehr auf wieder einmal engsten Straßen. Als wir an der Zitadelle von Brouage vorbeifahren, ärgere ich mich kurz nicht gelaufen zu sein. Hier hätte es vielleicht einen einzigartigen Schlafplatz gegeben. Andererseits ist die Vorfreude groß, mal wieder eine Nacht in einer Stadt zu verbringen. Neben der alten Schwebefähre geht es auf einem Viadukt über den Fluss Charente. Schon sind wir am Ortsrand von Rochefort. Meine niederländischen Chauffeure halten Ausschau nach einem Campingplatz, finden nichts und lassen mich schließlich bei einem Gewerbegebiet aussteigen. Ich danke und großmütig sage ich, dass man sich dann in einigen Wochen vielleicht in Alkmaar, ihrer Heimatstadt, wiedersieht. Sie lachen und düsen ab. Ich schnappe meinen Rucksack und muss mich erst einmal orientieren. Ich könnte auf der Straße weiter nach La Rochelle laufen, aber 40 Kilometer auf der einzigen und damit vielbefahrenen Straße sind wenig verlockend. Ich beschließe erst einmal ins Zentrum von Rochefort hineinzulaufen. Es ist windig und trotz der heißen Temperaturen fröstelt es mich. Ich fühle mich ziemlich schlapp. An einem Bahnhof ankommend, noch ehe ich wirklich das Stadtzentrum erreicht habe, schaue ich etwas mechanisch nach den Fahrpreisen für ein Ticket nach La Rochelle. Vier Euro empfinde ich als das Schnäppchen schlechthin. Ich erwache aus meiner Trägheit, habe mir sofort in den Kopf gesetzt, den anstrengenden Asphaltmarsch nach La Rochelle sausen zu lassen, um dafür schon heute Abend in La Rochelle zu sein. Vor einigen Jahren wäre ich dort schon mal fast gelandet, als ich mir einen Rundflug mit einer Billigflieger-Airline durch Europa zusammengebastelt hatte. Aber anstatt zwei Monate mehrere europäische Länder zu besuchen, fand ich alles Glück der Welt auf einer einzigen Insel: Irland. Dort hätte ich bleiben sollen. Warum ich damals geglaubt habe, dass ich unter dem Rock einer Frau noch mehr Glück finden könnte, erschließt sich mir heute nicht mehr. Ticket am Automaten gekauft, zehn Minuten später sitze ich auf meinem Platz, meine erste Zugfahrt in Frankreich.
Nach einer halben Stunde erreichen wir den Bahnhof von La Rochelle. Raus, ein Foto vom hübschen Bahnhofsgebäude gemacht, weiter Richtung Stadtzentrum marschiert. Der Alte Hafen (Vieux Port) und die umliegende Altstadt haben es mir angetan. Vor allem das Hafenportal mit dem Tour St.-Nicolas auf der einen und dem Tour de la Chaîne (Kettenturm) auf der anderen Seite. Die Hafeneinfahrt zwischen beiden Türmen ist keine 50 Meter breit. Auf keiner Postkarte von La Rochelle fehlt ein Bild dieses Hafenportals, dessen Anblick sich unwiderruflich ins Gedächtnis einbrennt. Nur selten gibt es Städte, die einem durchgängig positiv begegnen. La Rochelle und ich haben beide einen guten Tag erwischt. Ganz sicher hätte es auch ganz anders kommen können. Die Stadt ist voll, was mich heute aber nicht weiter stört. Auch die vielen Touriboote sind zum Sonntag gut gefüllt und pausenlos unterwegs. Marktstände sind aufgebaut, die Nachfrage scheint groß, auch die Café-Freisitze sind ausnahmslos gut gefüllt. Kinder fahren auf einem Karussell. Viele Kirchtürme sind zu sehen, die Läden in der Altstadt, mit den vielen Arkadengängen, haben geschlossen. Ich laufe durch den langgezogenen Parc Charruyer, der einen großen Teil der Altstadt umschließt und der Stadt zusätzlich Charme verleiht. Wenn man den Park von Nord nach Süd durchläuft, kommt man direkt zum kleinen Strand von La Rochelle. Es ist bereits halb acht, einige baden sogar, viele Familien und Jugendgruppen sitzen hier oder gehen spazieren. Ich setze mich auf eine Bank, rauche ein Che, überlege wo ich pennen könnte, meine Suche hat bisher nichts ergeben. Ich laufe am Tour de la Lanterne (Laternenturm) und der Wehrmauer vorbei zum nahegelegenen, bereits liebgewonnenen Hafenportal. Setze mich auf eine Bank bei einem Kriegerdenkmal und schreibe eine Postkarte an Stefanie, die erste in Frankreich. Mit Musik in den Ohren breche ich anschließend zum Abendspaziergang auf. Die Sonne geht über der Stadt unter, ich stehe so, dass ich das Hafenportal mit seinen Türmen und der dahinter untergehenden Sonne knipsen kann. Schöne Fotos. Ich bin berauscht, setze mich auf eine Bank, ziehe mir die Kapuze über den Schädel und genieße den Anblick der Abendröte. Es sind schöne, unvergessliche Stunden in La Rochelle. Auf der anderen Seite der schmalen Bucht laufe ich einen Spazierweg entlang, blicke immer wieder über das Wasser zur Altstadt mit seinen drei Türmen. Lichter gehen an, die Nacht ist da, auch das ist ein schöner Anblick.
Zurück am Vieux Port laufe ich an den Marktbuden vorbei, ohne irgendwo zu stoppen, weil ich kein Geld habe und noch wichtiger, weil mich die Leute erdrücken. Am letzten Verkaufsstand, in Richtung Hafenausfahrt, blickt der Verkäufer auf meinen Rucksack und spricht mich an. Er ist neugierig, wo meine Reise hingeht. Wir schwatzen kurz und dann zeigt er mir, was er und seine Frau verkaufen. Dabei handelt es sich um Schmuck (Halsketten, Armbänder), den vor allem sie herstellt. Sie haben sich für drei Tage den Stand gemietet, teuer, aber der Verkauf ist dank der vielen Touristen gut. Sie kommen aus den Pyrenäen. Sie spricht kein Englisch, ich versuche es auf Französisch und bin schon dankbar, wenn dabei überhaupt einmal etwas Verständliches aus meinem Mund kommt. Gegen Mitternacht werden die Zelte um die Verkaufsstände geschlossen, wenn ich möchte, kann ich die Nacht in ihrem Zelt verbringen. Sie räumen nachher alles zusammen und kommen am nächsten Morgen wieder. Ab und an kommt ein Sicherheitsmann vorbei, aber dieser könnte mich im Inneren des Zeltes nicht sehen. Falls er mich doch bemerkt, soll ich aber nicht sagen, dass die Beiden es mir erlaubt hätten, denn dann würden sie Ärger bekommen. Alles klar, ich danke.
Der Schlafplatz erweist sich als nicht die beste Wahl. Die Laternen bleiben die ganze Nacht über an, es ist recht hell und selbst drei Uhr ist noch Radau, vor allem Männer grölen auf dem schmalen Weg neben dem Zelt herum. Einer pisst gegen die Plane, der Gestank macht sich im ganzen Zelt breit, mir wird übel – die Nächte in der Zivilisation bringen auch den Gestank der Zivilisation mit sich. Ich sollte nicht mehr mitten in Städten pennen. Im ersten Tageslicht habe ich genug und ziehe weiter. Das ewig selbe Bild eines Stadtzentrums am frühen Morgen spielt sich vor meinen Augen ab, keine Touristen mehr, nur die Reinigungskräfte sind unterwegs, ansonsten Totenstille, wie angenehm. Der Gang raus aus La Rochelle ist wenig erfreulich, im Gegenteil, im Zickzack geht es durch Industriegebiet. Ich habe schon zehn Kilometer in den Beinen, als ich noch immer in La Rochelle bin und an der drei Kilometer langen Brücke zur Île de Ré stehe. Ein Ausflug auf die Insel bleibt aus, ich bin nicht gut drauf, will einfach nur vorankommen. Außerdem müsste ich den gleichen Weg wieder zurück, was ich ja beim Tode nicht ausstehen kann. Die Fähre zurück zum Festland – was eine schöne Abkürzung wäre – kann ich mir nicht leisten. Statt der Abkürzung muss ich um die Bucht l'Aguillon laufen, eine frustrierende Angelegenheit, denn die Bucht führt gerade kein Wasser, es ist warm und das Laufen auf dem Fahrradweg eine monotone Angelegenheit. Auch die Aussichtspunkte über das Naturreservat bringen keine Freude, lediglich kurze Verschnaufpausen. Ich schalte Musik ein, versuche mich abzulenken – wie so oft folgt einem glücklichen Tag ein Tag düsterer Melancholie. Ein paar Radler sind unterwegs, die meisten sind augenscheinlich Urlauber, so weiß wie sie sind. Um über den Fluss Sèvre Niortaise zu kommen, geht es einige Kilometer landeinwärts, der zweite Umweg heute. Nach der Mündung des Sèvre Niortaise macht das französische Festland einen großen Bogen zum Atlantik hin; woraus ein dritter Umweg resultiert, von zwei Tagesmärschen, im Vergleich zum direkten Weg nach Nantes. Aber weil ich am Meer bleiben möchte, nehme ich es in Kauf. In der Mitte der Brücke über den Sèvre Niortaise beginnt Département Nummer fünf meiner Frankreich-Wanderung: Vendée. Wie die anderen Départements zuvor noch nie gehört. In Vendée stehen 200 Kilometer Atlantikküste bevor, ansonsten scheint es hier nichts Besonderes zu geben, zumindest keine mir bekannten Städte. Ein Blick auf die Karte verrät auch nicht gerade viele Ortschaften in dieser Region. Einsame Tage stehen bevor, vorerst auch im Landesinneren, umgeben von Feldern und Kanälen, ohne Aussicht aufs Meer. Ich treffe auf ein älteres Pärchen, ausgerüstet mit Wanderstöcken, wir laufen ein paar Kilometer zusammen, sehr langsam. Sie verstehen kein Englisch, was die Unterhaltung recht lustig werden lässt, dank meines ungeheuren Talents, mich mit Mimik und Gestik zu verständigen. Bei einem Bauernhof verabschieden wir uns voneinander, sie geben mir noch Tipps zur Route und kehren um. Ich laufe gleich weiter. Der ohnehin schon frustrierende Tag bekommt seine Pointe, als ich feststellen darf, dass der Fahrradweg permanent im Zickzack verläuft, was locker das Doppelte an Strecke mit sich bringt und somit auch die Aussicht, am Abend zurück am Meer zu sein, aussichtslos werden lässt. An sich ist es gar nicht so übel zum Wandern, also die einsame Gegend, keine Straßen, der ausgeschilderte Radweg (gleichzeitig auch Fernwanderweg), Entfernungsangaben zum nächsten Ort, die vielen Vögel, aber irgendwie kann ich mich am ersten Tag noch nicht mit Vendée anfreunden. Ich werde nun einige Tage länger brauchen, um in Nantes die Loire zu erreichen. Hätte ich das Ziel nicht, spätestens bis Mitte November am Nordkap zu sein (sein zu müssen), wäre es nicht weiter beunruhigend, aber so … ich muss halt aufpassen, dass der Rückstand nie zu groß wird, ich darf nie in die Situation kommen, dass ich mein Ziel zu Fuß nicht mehr erreichen kann.
Nach 52 Kilometern an diesem Tag – und somit Einstellung der bisherigen Bestmarke – erfülle ich mir einen Wunsch, nämlich einmal mitten in einem Getreidefeld zu pennen. Das erweist sich schnell als Fehler, denn ich werde mitten in einer Mückenoase nächtigen. Aber der Erfahrung wegen! Die Sonne geht halb zehn hinter einem anderen Feld unter, weit und breit kein Haus zu sehen, Abendröte. Es wäre so schön romantisch, wenn nicht diese Biester wären, dieses pausenlose tzzzzzzzzzzzz macht mich ganz kirre, passt aber auch irgendwie zum ganzen Tag. Ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren, das hilft. Meinen Körper mumifiziere ich mit meinem Schlafsack, das hilft auch. Da ich aber nichts mehr höre, befürchte ich am Morgen von einem Trecker überrascht zu werden, spätestens dann, wenn er über mich rollt.
Ich schlafe jedoch gut, und mitten in der Nacht ist auch das tzzz verklungen, dafür schlägt nun die Nässe zu, ohne dass es regnet. Aber der Schlafsack hält und so war die Nacht doch viel besser, als zuerst befürchtet. Zum Sonnenaufgang packe ich meine Sachen, die Mücken schlafen noch, ein Trecker ist nicht zu sehen, und wenig später bin ich auch schon wieder auf dem Radweg unterwegs. Kurz darauf bin ich zurück am Meer, am Horizont macht sich die Île de Ré breit. In L'Aiguillon-sur-Mer habe ich Glück, finde einen Super U, wo ich meine leeren Nahrungsvorräte auffüllen kann. Nach dem Großeinkauf bleiben mir noch genau 18 Euro, davon kann man leben, zumindest in nächster Zeit. Im Zickzackkurs geht es weiter, Fahrradweg neben der Düne und im nächsten Moment wieder zwei Kilometer davon entfernt, bis ich genug davon habe und direkt am Ufer laufe, wo ich mich ohnehin am wohlsten fühle, trotz der zusätzlichen Anstrengung, die beim Laufen auf Sand vonnöten ist. Ich erreiche La Tranche-sur-Mer und ärgere mich, dass ich auch hier hätte einkaufen können, stattdessen so die letzten Kilometer mit unnötigem zusätzlichen Gewicht gelaufen bin, und dann noch bei dieser Hitze. Ich trinke fünf Liter an diesem Tag, der ereignisarm zu Ende geht. Drei Kilometer vor Saint-Vincent-sur-Jard lege ich mich am Waldrand hin, blicke aufs Meer und döse ein.
Immer weiter am Strand, stehe ich schließlich vor einer Sandwüste, durch die sich mäanderförmig ein Fluss schlängelt. Auf meiner Touristen-Karte ist davon nichts zu sehen, auch nicht zuvor auf den regionalen Karten am Wegesrand. Ich ziehe meine Schuhe aus, ziehe alles aus, bis auf die Boxershorts, laufe langsam, Fuß vor Fuß durch das Wasser, habe zwölf der siebzehn Meter geschafft und auf einmal fällt die Flussrinne ins Bodenlose. Wie zum blanken Hohn steht auf der anderen Uferseite ein Angler, stoisch, bemerkt mich vielleicht nicht einmal, reicht mir auch nicht die Leine, an der ich mich durch die Strömung ziehen könnte. Während ich so verloren im Wasser stehe, kommt auf einmal völlig überraschend ein Schauer runter … das muss ein Bild für die Götter sein: ein Bild eines Idioten, der durch den Fluss waten möchte, wo jeder andere sofort gesehen hätte, dass es ein unmögliches Unterfangen ist. Ich gehe zurück, genauso langsam wie zuvor, stehe wieder auf der Sandbank, der Regen hört schlagartig auf. Ich fühle mich veräppelt. Aber ans Aufgeben denke ich nicht. Laufe einige Meter flussaufwärts, suche eine andere Gelegenheit, versuche es ein zweites Mal und muss wieder kurz nach der Flussmitte mein Vorhaben abbrechen. Ich fühle mich schließlich dann doch beobachtet, zumal auf der anderen Uferseite eine Familie picknickt. Ich laufe auf Sand noch weiter am Flussufer lang und nach all den Biegungen weiß ich irgendwann gar nicht mehr wo ich bin. Die Sandbank findet ein Ende, ich laufe oberhalb des Flusses am Waldrand weiter, mitten durchs Gebüsch, aber es gibt einfach keinen Weg raus, eine Brücke ist kilometerweit nicht zu sehen, zu allem Überfluss spaltet sich der Fluss auch noch in zwei mäanderförmige Flüsse auf und schließlich versperrt mir ein Zaun den Weg, Privatgelände. Frustriert setze ich mich ans Flussufer, vertilge eine Packung Kekse, versuche mich durch Rauchen zu beruhigen und muss schließlich konsterniert einsehen, dass ich den Weg ganz genauso wieder zurückgehen muss, wie ich gekommen bin. Damit ich es mir nicht anders überlege, lässt der weitestgehend blaue Himmel noch einmal für einen kurzen Moment seine Schleusen öffnen … „ist ja gut“, schimpfe ich und begebe mich auf den Rückweg; bedeutet erst einmal fünf Kilometer zurück, um dann den regulären Weg durchs Landesinnere (fünfzehn Kilometer) zu laufen: Um also auf die andere Uferseite zu gelangen, stehen zwanzig Kilometer Wegstrecke an, wo mir hier gerade nur fünf bekloppte Meter fehlen, um den Fluss zu überqueren. Ich komme mir vor wie in der tiefsten Wildnis. Und genauso akzeptiere ich schließlich auch die Bestimmungen der Natur. Trotzdem bin ich froh, als ich zurück in der Zivilisation bin, genauer: im Ort Talmont-Saint-Hilaire. Eine reizende kleine Stadt, mit einer Burg und ansehnlichen Kirche. Ich frage mich, warum ich nicht gleich diesen Weg eingeschlagen habe. Ein Plakat erinnert mich daran, was ich in diesem Jahr nicht haben werde: die Spiele eines großen Fußballturniers (in dem Fall die EM) auf meiner Couch zu schauen, mit Bier, viel Bier, Chips, vielen Chips, und der Ruhe, die ein Mann beim Fußballschauen braucht. Nein, das wird es in diesem Jahr nicht geben. Für einen Moment bekomme ich Heimweh, denke mir schließlich aber, dass jeder Fußball schauen kann; durch Europa zu laufen gelingt nicht so vielen Leuten, und denen es gelingt, gelingt es nicht allzu oft.
In Bourgenay, mit Jachthafen, kann ich endlich wieder am Meer weiter, in zwei Kilometer Entfernung sehe ich den Fluss, der mir pro Meter vier Kilometer, pro Sekunde eine Stunde abgeknöpft hat. Sein Name: Le Payré. Verurteilt ihn! Diesen Schuft! Wütend wegen der verlorenen Zeit ziehe ich voll durch, neben dem Radweg verläuft nun eine Département-Straße. Nach zwei Stunden komme ich in Les Sables-d’Olonne an … im Vergleich zu den anderen Orten seit La Rochelle eine gefühlte Großstadt, eine Großstadt mit 14.000 Einwohnern. Auf einer Bank neben dem kilometerlangen Stadtstrand gönne ich mir endlich mal wieder ein Bierchen. Es gibt nichts Besseres nach einem anstrengenden Tag! Danach geht es zum Hafen (Sport und Industrie), was einige Zeit dauert, um diesen zu umlaufen. Die Abenddämmerung setzt ein und ich laufe und laufe, nehme mir keine Zeit für die Stadt, noch immer auf Schadensbegrenzung aus. Außerdem will ich außerhalb des Ortes übernachten, ja nicht wieder eine halbe Nacht lang den Geruch von Pisse inhalieren! 22 Uhr bin ich bereits am Ortsrand, die Laternen bringen genügend Licht, laufe weitere vier Kilometer zum Strand La Paracou … es tut gut, endlich mal wieder nach Anbruch der Nacht zu laufen. Ich bin voller Adrenalin, meine Beine sind in einer herausragenden Form. Die Belohnung ist eine neue Bestmarke (53 Kilometer) und ein toller Schlafplatz. Windgeschützt liege ich in einer Senke auf der Düne, umgeben von Gebüsch und mit Stroh unter der Matte. Perfekter Blick auf den Atlantik und sogar das Licht des Leuchtturms auf der 30 Kilometer entfernten Île d’Yeu ist zu sehen, dazu Halbmond und viele Sterne am Himmel. Sollte es doch regnen, könnte ich in den kleinen, offenen Sanitärtrakt nur zehn Meter hinter mir. Dank des Grünzeugs um mich herum kann man mich nicht einmal sehen, aber hier scheint jetzt sowieso niemand mehr vorbeizukommen. Ich habe mir mal die Mühe gemacht, meine Kalorienzunahme zu überprüfen … am Tagesende: 6.000 kcal. Da verwundert es nicht, dass mein Bauch einfach nicht flacher wird, im Gegenteil. Gut schlafen kann man aber auch mit einem runden Bäuchlein.
Der Schlafplatz ist so bequem, dass ich erst halb acht aus den „Federn“ komme. Ich gehe aufs Klo und komme mir richtig vornehm vor, ich wasch mir sogar die Hände. Die 18. Wanderwoche kann beginnen, mit meiner bisherigen Laufleistung kann ich zufrieden sein. Ich hätte es selbst nicht für möglich gehalten, dass ich mal an 120 Tagen hintereinander im Schnitt 36 Kilometer laufen werde – was man nicht alles imstande ist zu leisten! Faszinierend. Es geht in den küstennahen Wald, der Radweg führt mitten durch, ehe ich zur Mittagszeit Bretignolles-sur-Mer erreiche, und nach einem kurzen Snack bin ich auch schon auf dem Weg nach Saint-Gilles-Croix-de-Vie. Die letzten Kilometer geht es dabei neben dem Fluss Jaunay entlang; dieser verläuft für fünf Kilometer parallel zur nahen Küstenlinie, bis er im Stadtzentrum in die Vie fließt, ehe das Wasser beider Flüsse wenig später den Atlantik erreicht. Das Stadtpanorama macht nicht zuletzt deswegen ordentlich etwas her. Für eine Stunde spaziere ich durch die Straßen, bin als Einziger in der Kirche Saint-Gilles, trage mich als „Lars Nimmersatt“ ins Gästebuch ein, ehe ich es mir auf dem Sockel des Leuchtturms bequem mache und ein wenig verschnaufe. Ich esse Kekse, obwohl ich keinen Hunger habe; ich tue es damit mir nicht langweilig wird. Das ist furchtbar – wann habe ich aufgehört mir selbst zu genügen? Reicht es nicht, an einem schönen Ort zu sein? Muss man denn immer etwas machen? Essen, trinken, rauchen … werde ich mir selbst gegenüber unausstehlich, wenn ich nichts davon bei mir habe? Ertrage ich mich selbst nicht? Von was versuche ich mich abzulenken? Wieso kann ich nicht mehr den Moment genießen? Nun, ich will nicht zu hart mit mir ins Gericht gehen, aber hin und wieder gibt es Auffälligkeiten, die ich an mir entdecke und die mir einfach nicht gefallen.
Auf Sand geht es weiter, bis ich die letzten Häuser passiert habe und nur zweihundert Meter weiter an einem Bunker Halt mache. Kein Eingang, dafür aber ein guter Windschutz. Eine noch frische Rose liegt auf dem Boden, ich hebe sie auf und stecke sie in den Sand neben meinem Nachtquartier und muss daran denken, dass ich ihr kein einziges Mal Blumen geschenkt habe. Eine Frau, die nie Blumen geschenkt bekommt, sucht sich irgendwann ihren Rosenkavalier. Ich habe Verständnis. Es ist meine letzte Nacht am Atlantik. Ich vermisse das Meer jetzt schon. Wahrscheinlich werde ich es mehr vermissen als sie, vielleicht ist ja das Meer die Liebe meines Lebens. Solang wie man sich nicht mitten drauf, sondern nur an ihrer Seite aufhält, kommt man gut mit ihr, der See, aus. Vielleicht hätte ich es in meinen vorangegangenen Beziehungen genauso halten sollen. Denn alles Aufsteigen läuft nicht ohne ein Bezwingenwollen ab. Das verbirgt immer seine Gefahren: auf dem Meer, bei Frauen, auf dem Weg zum Berggipfel. Mitunter kann es tödlich enden, zuerst muss dabei immer der Verstand dran glauben, nun ja … Ich mache es mir bequem, schau an der roten Rose vorbei zum Atlantik und versuche die vorerst letzte Nacht am Meer zu genießen, es sind auch die letzten Stunden im Mai. Ich schlafe schnell ein, verpasse den Sonnenuntergang, werde viertel elf noch einmal wach und blicke in ein weitgefächertes Abendrot.
In Saint-Jean-de-Monts laufe ich ein paar Kilometer auf der langen Strandpromenade, ehe es heißt: Abschied nehmen, Abschied vom Atlantik, von der Côte de Lumière, vom Meer. Dafür habe ich mir meine letzte Zigarette aufgehoben, die ich nun rauche und für ein paar Minuten innehalte, mit starrem Blick auf die schönste Farbillusion der Welt, das „Blau“ des Meeres. Die Augen bleiben trocken, so dass ich, ohne kurz abwarten zu müssen, ins Kongressgebäude auf der anderen Straßenseite gehen kann, hinein ins Fremdenbüro, wo mich gleich vier Frauen ungläubig anschauen, als ich sie nach einem Spazierweg nach Nantes frage. Sie sind mit meiner Frage überfordert, geben aber ihr Bestes, überlegen hin und her und finden doch keine Lösung. Es sei nicht ungefährlich, weil es nur eine Straße Richtung Osten, ins Landesinnere gibt, die dementsprechend auch befahren wird. Sie empfehlen mir den Bus, kostet 15 Euro. Ich muss lachen, bekomme noch eine Straßenkarte und bedanke mich. „Be care“, sagt die eine, die noch am ehesten Englisch spricht, mit einem besorgten, mütterlichen Blick (steht jeder Frau gut!). Ich versuche es mit meinem sanftesten Lächeln, versuche Eindruck zu schinden und verschwinde. Auf den nächsten Kilometern bilde ich mir ein, dass die vier Frauen über mich reden, mich ganz großartig finden, nun ja, nach einer Stunde hört es auf in meinem Kopf zu spuken. Stattdessen ärgere ich mich mal wieder über mich selbst, denn ich habe die Chance verpasst, nach zehn Tagen endlich mal wieder ein Bad zu nehmen. Ich Weichei bekam einfach kein Bein in das kalte Wasser des Atlantiks, von der einen Katzenwäsche gemeinsam mit Philipp mal abgesehen.
Am Anfang habe ich noch Glück, ein Teil des geplanten Fahrradweges nach Challans ist bereits gebaut, so bleiben mir die Autos vorerst noch erspart. Ich denke an nichts, bin frustriert über die 60 bis 70 Kilometer zwischen Meer und Nantes, 60 bis 70 Kilometer auf Asphalt, in einer flachen, wenig erbaulichen Umgebung. Kurz vor Challans endet der Radweg, ich umlaufe die Stadt auf einer zweispurigen Schnellstraße mitten durchs Gewerbegebiet, bei 29 Grad im Schatten, also 40 Grad auf Asphalt. Manchmal ist mir zum Heulen, weil ich hier so einen Stuss veranstalte, auf irgendwelchen Straßen die Zeit verrinnen lasse, anstatt, mit einer kalten Limo in der Hand (muss ja nicht immer Bier sein), Zeit mit meiner Kleinen zu verbringen. Sie hat ihren Alltag, jeden Tag, und ich laufe völlig desillusioniert, vorhin noch an vier Frauen denkend, auf französischen Landstraßen herum. Es ist armselig, ich versuche es zu ignorieren, aber das ist es. Egal wie meine Reise endet und selbst wenn mich danach die ganze Welt feiert …
Von der Schnellstraße geht es weiter auf einer einspurigen Landstraße, schmale Seitenstreifen sind auch hier nicht vorhanden. Den Ort La Garnache passiert und schließlich entscheide ich mich doch zum ersten Mal, gezielt auf eine Mitfahrgelegenheit aus zu sein. Ich nehme den Stadtplan von Saint-Gilles-Croix-de-Vie, Größe A3, die Rückseite ist weiß, und schreibe mit dicken Buchstaben ganz groß NANTES drauf, male darunter einen grinsenden Smiley und klebe es an meinen Schlafsack, der oben auf meinem Rucksack befestigt ist. Ich bin stolz auf meine Kreativität, wohlwissend, dass es nur eine Spielerei ist und sicherlich niemand auf der wenig befahrenen Straße anhalten wird. Ich laufe 200 Meter, das zweite Auto in meine Richtung hält an. Ich bin überrascht und grinsend gehe ich zur Fahrertür, wo mich ein junger Kerl mit einem Lächeln begrüßt. Er steigt aus, denn sein kleines Auto ist voller Holz, Bretter sowie Balken, was alles von hinten nach vorn gestapelt ist. Ich habe keine Ahnung, wie ich mit meinem Rucksack in das Auto passen soll, aber irgendwie bekommen wir es hin. Rucksack hinten rein, ich klemme mich auf den Beifahrersitz. Wie meistens vergesse ich mich vorzustellen. Wir reden auf Französisch, er meint, er kann mich bis zum nächsten Ort, ins Dorf Touvois, mitnehmen. Mir bleiben dadurch elf Kilometer Asphaltritt erspart. Die beste Nachricht ist aber, dass wir nun in ein anderes Département kommen, nach Loire-Atlantique, wo ich mit dem Bus für nur zwei Euro nach Nantes fahren kann, dem Département-Tarif sei Dank. Ich kann es gar nicht glauben, wenige Kilometer weiter südlich, in Challans, wären es noch zwölf Euro gewesen. Immer wieder frage ich ihn, ob er sich sicher ist. Ja, er ist selbst schon mit dem Bus nach Nantes gefahren. Er fährt mich direkt zur einzigen Haltestelle des Dorfes, steigt mit mir aus. Wir schauen auf den Plan, wo schon mal „Nantes“ als Endstelle zu finden ist. Ein Mann steht dort, die beiden unterhalten sich ... ja, es koste um die zwei Euro. Ich bin glücklich, dass mir so ein ganzer Tag Asphaltritt erspart bleibt, zumal meine Knie neue Probleme bereiten. Freudestrahlend danke ich meinem Chauffeur.
Als er weg ist, schaue ich noch mal auf den Plan, dreimal täglich fährt der Bus nach Nantes, alle drei innerhalb einer guten Stunde zwischen 6 und kurz nach 7 Uhr morgens. Also ja nicht verschlafen, denn morgen zum Samstag fahren die Busse, am Sonntag nicht. Damit steht fest, dass ich heute schon 18 Uhr „Feierabend“ machen kann. Bei einem kurzen Spaziergang durch das Dorf bemerke ich, dass bereits alles geschlossen hat, das „alles“ bezieht sich auf das Rathaus und die Kirche. Ansonsten gibt es hier nichts, keine Touristen-Information, keine Bibliothek, keinen Supermarkt. Dafür aber einen kleinen Park, mit einigen Tischen und Bänken. Ich setze mich, blicke auf einen Teich, das Königreich einer einzelnen weißen Gans. Schräg gegenüber steht die Kirche, deren Glocke abends Punkt sieben 210-mal schlägt, damit hat sie den ganzen Juni schon abgearbeitet. Ein ganz normales Dorf, hier gibt es nichts Besonderes und doch gefällt es mir. Alles liegt so nah zusammen, in fünf Minuten hat man das Dorf durchlaufen. Es ist ruhig, nur noch ein paar junge Menschen laufen herum, der Straßenlärm ist minimal, die Atmosphäre ist einfach hundertfach besser als in einer Stadt. Ich gönne mir Schoki-Kekse, um wieder die 5.000 Kalorien zu erreichen, kompensiere wo es nichts zu kompensieren gibt; schreibe Tagebuch, lass es mir gut gehen, auch wenn ich noch gern eine rauchen würde. Die Sonne verabschiedet sich langsam und ich mache es mir auf gemähter Wiese hinter einer Hecke bequem, so dass ich vom Weg aus nicht zu sehen bin. Keine Wolken am Himmel, für den Notfall hätte ich 50 Meter weiter eine leerstehende Garage. Da ich noch nicht so früh schlafen möchte, ist das der Moment, wo ich endlich den Hamsun beginne. Vier Monate mit mir herumgeschleppt und nun werfe ich erstmals einen Blick hinein. Bisher habe ich aber auch gut meine Tage gefüllt, so dass mir nie langweilig war. Ich beginne die Wanderer-Trilogie (in einem Band), inhaliere dabei jede Seite, lese langsam, um möglichst noch in Norwegen meine Freude daran zu haben. Das Lesen tut gut, ich habe es vermisst, wenn auch kaum bewusst. Der Mond hört mir beim Vorlesen zu und wird bezeugen können, dass Hamsun einer der fünf bis zehn größten Schriftsteller aller Zeiten ist. In seiner Geschichte zieht er sich, nach einem Boheme-Leben in europäischen Kaffeehäusern, als ein in die Jahre gekommener Mann aufs Land zurück, arbeitet mit einem Kameraden an diversen handwerklichen Dingen, wo sie „zurzeit“ einen Brunnen für ein Dorf an der norwegischen Küste graben. Beneidenswert wenn ein Mann Bauarbeiten verrichten kann, ohne es jahrelang gelernt zu haben; solche Männer sind immer wieder dazu da, mir das Spiegelbild des Taugenichtses vor Augen zu führen. Die Sterne zeigen sich, es wird zu dunkel zum Lesen, wie andere die Bibel vorm Schlafen auf den Nachttisch ablegen, lege ich den Hamsun an meine Seite und fühle mich für den Moment unbezwingbar.
Es kommt kein Bus – der 6.12 Uhr Bus nicht, der 6.47 wird auch nicht kommen und 7.17 genauso wenig. Frust. Aber ich hatte ja schon so ein krummes Gefühl. Die Tafel mit den Abfahrtzeiten kenne ich nun in- und auswendig. Immer wieder blicke ich darauf, erkenne jedoch nicht den Fehler … Eine Minute später ist der Bus da, ich bin erleichtert. Erleichtert auch, dass der Bus tatsächlich nur zwei Euro kostet, das Schnäppchen schlechthin, immerhin sind es 41 Kilometer bis nach Nantes. Die Vorfreude auf die namhafte Stadt an der Loire ist riesig.
Kurz nach 8 Uhr zum Samstagmorgen steige ich als Letzter im Herzen der Stadt (Coeur de Ville) aus. Um nicht gleich blind drauflos zu rennen, setze ich mich an eine Springbrunnenanlage in einem kleinen Park gegenüber dem Schloss von Nantes, das Château des ducs de Bretagne. Die Kathedrale lockt mich an, ich stehe auf, laufe am Schloss und seinem Burggraben vorbei, bis ich mitten vor der Hauptfassade des großen Kirchengebäudes stehe. Die Kathedrale Saint-Pierre beeindruckt mich; ich kenne keine schöneren Bauwerke als gotische Kathedralen, für mich sind sie die größten Meisterwerke der Architektur. Die Vorfreude auf Notre-Dame und Paris steigt von Tag zu Tag. So irreal es noch in Barcelona schien, nun fehlt nicht mehr viel – ich muss es schaffen, wenigstens bis nach Paris! Ich würde mich gern in einen Freisitz setzen, eine rauchen, am besten mit Blick auf die Kathedrale. Wehmütig denke ich an die Zeiten in Spanien zurück, vor allem an Sevilla. Ich laufe weiter durch das Stadtzentrum, finde auch Gefallen an den gotischen Kirchen Sainte-Croix und Saint-Nicolas, denen ich beide einen Besuch abstatte. Damit sollte mein Gebetshaushalt für die nächsten Wochen ausreichend aufgetankt sein. Von Kirchengebäuden versteht Nantes also schon mal etwas. Mit 300.000 Einwohnern ist Nantes die sechstgrößte Stadt Frankreichs. Vor zwei Jahren wurde ihr als eine der ersten Städte der Titel Umwelthauptstadt Europas verliehen. Das klingt auch nicht gerade unsympathisch. Nur das Meer ist etwas zu weit entfernt; die Loire-Mündung in den Atlantik liegt 55 Kilometer westlich. Ich finde die Mediathek, wo ich mich eine Stunde an den langsamen Rechner setze. Ich surfe gratis im Internet und so kann ich endlich Philipp die 30 Euro überweisen, mit im Verwendungszweck vermerkten Grüßen aus Nantes … eine Last weniger. In der Geburtsstadt von Jules Verne kann ich nirgendwo das Fremdenbüro finden, also gebe ich es schließlich auf und statte der Loire einen Besuch ab, esse an ihrem Ufer zu Mittag (Baguette und Salat), nachdem ich gerade einkaufen war. Es bleiben 5,64 Euro. Ich weiß, dass ich eigentlich noch sparsamer leben könnte, aber mit irgendwas muss ich mich ja motivieren, darum dürfen beim Einkauf Schokolade und Kekse nicht fehlen.
Die Loire sieht trübe aus, passt sich dem Himmel an; in einer Stadt verliert doch selbst der schönste Fluss seine ganze, bezaubernde Idylle. Ich bin mir sicher, dass ich von ihr in den nächsten Tagen noch ein anderes Bild zu Gesicht bekomme. In meiner Hose habe ich ein Loch im Schritt, so kommt etwas Luft an den landstreichenden Lümmel. Zumal meine Boxer drunter nur noch aus Loch zu bestehen scheint, immerhin ein unzerstörbares Material! Ich laufe über die Willy-Brandt-Brücke vom rechten Ufer der Loire rüber zur Insel Île de Nantes, gehe dort spazieren, was nichts Spektakuläres mit sich bringt. Ich habe keine Ahnung, ob mein Vorhaben, direkt an der Loire ins Landesinnere zu laufen, realisierbar ist. Ich will mich überraschen lassen und gehe über die Georges-Clemenceau-Brücke auf die linke Uferseite der Loire. Ob sich Clemenceau und Brandt als Staatsmänner verstanden hätten? Schwer zu sagen. Ich bin schon mal froh, dass hinter der Brücke ein Spazierweg am Loire-Ufer nach Osten führt, so kann ich recht einfach aus der Stadt hinauskommen. Ich laufe und laufe, bemerke dabei gar nicht, dass sich die Loire immer weiter von mir entfernt. Als ich schließlich durch einen Wald komme und am Ende des Waldes mitten auf eine zweispurige Schnellstraße stoße, von der Loire weit und breit nichts zu sehen, wird mir klar, dass ich mich verirrt habe. In dem Moment fängt es zu regnen an. Mit den Wanderungen an Flüssen will ich kein Glück haben, nach dem großen Missverständnis am Guadalquivir bin ich nun augenscheinlich blind in den Irrtum Loire gelaufen. Wie schnell die Stimmung beim Wandern doch kippen kann … Ich laufe die zwei Kilometer wieder zurück, bis ich in Saint-Sébastien-sur-Loire, einem Vorort von Nantes, an einer Infotafel mit Karte vorbeikomme, und die mir sagt, dass ich doch richtig war, ich also zurück zur Schnellstraße muss. Ich setze mich demotiviert in ein Bushaltestellenhäuschen, für den Moment unfähig weiterzulaufen. Es regnet, es ist verdammt schwül, ich brauche etwas zu rauchen, überlege kurz, ob ich mir sechs Cent erbettle, damit ich mir von meinem letzten Geld eine Schachtel Kippen (die Billigsten für 5,70 Euro) kaufen kann. Ich lass es dann aber sein, weil Essen wichtiger als Tabak ist, so spießig das auch klingt, aber anscheinend ist mir ein bisschen Restvernunft noch geblieben. Jedoch auch mit den paar Euro in der Tasche mache ich mir keine Illusion und gehe davon aus, dass ich nur noch ein paar Tage habe, es vielleicht noch bis Angers schaffen kann, ehe die Lichter ausgehen. Der Hamsun im Rucksack und das Springseil im obersten Fach bringen etwas Trost, trotzdem überlege ich die zehn Kilometer zurück ins Zentrum von Nantes zu laufen, da ich in diesem Moment unglaublich stark das Verlangen nach Gesellschaft verspüre. Ich möchte gerade nicht allein sein, möglichst viele junge Menschen in meiner Nähe wissen: In den vergangenen Tagen schlich ich langsam und unbemerkt immer weiter in ein Tief hinein, das nicht so recht ein Ende finden mag. Es ist mal wieder dieses Gefühl des Sattseins in mir. Letztendlich entscheide ich mich doch dafür, weiter nach Osten zu wandern, also zum dritten Mal dieselben zwei Kilometer zu laufen, es muss ja sein, ob heute oder morgen … und dann doch lieber heute, weil es mich wenigstens ein paar Kilometer näher an mein Ziel, wo auch immer das zurzeit sein mag, heranführt.
Der Regen lässt nach. Auf einer Asphaltpiste neben der Schnellstraße komme ich schließlich zurück ans Loire-Ufer … laufe zwei bis drei Stunden weitestgehend durch, immer am Ufer der Loire entlang, auf einem Schotterweg neben der Straße … lese einen aufgeweichten, jedoch noch verpackten Müsli-Riegel auf (zum Frühstück morgen) … habe kurz Wald zwischen mir und der Loire, wo zwanzig bis dreißig Hasen auf dem Weg vor mir herumspringen und mich beobachten … komme an einer kleinen Anlegestelle für Ruder- und Segelboote vorbei und schließlich zu einem Teich, der sich für einige hundert Meter parallel zur Loire, die ich bereits liebgewonnen habe, entlangzieht. Mitten am Ufer steht ein öffentlicher Pavillon, der perfekte Schlafplatz für mich, da ich schon die ganze Zeit ein Dach für die kommende Nacht gesucht habe. Ich blicke über den Teich, sehe einige kleine Inseln und kann die Loire in 300 Meter Entfernung eher erahnen als sehen. Dazwischen ist alles in grünen Farben; wohl anscheinend ein Naherholungsgebiet der Städter, die hier zersprengt an verschiedenen Stellen Tische, Bänke und Feuerstellen vorfinden. Einige Familien sind zum Samstagabend noch zu sehen, ich habe aber meine Ruhe, auch wenn die Uferstraße keine 100 Meter entfernt ist. Man nennt dieses Gebiet hier Espace des Rives de Loire. Ich bin zufrieden, nun doch noch einen versöhnlichen Abschluss des Tages zu verzeichnen, und meine Kameradin für die nächsten Tage, die Loire, in meiner Nähe zu wissen. Vögel zwitschern ein Abendlied, Grillen zirpen, von Mücken keine Spur, mir gefällt es hier. Vor zwei Stunden fühlte ich mich noch so richtig mies, und nun bin ich schon wieder beglückt und auf Wolke sieben, als wäre ich unfähig, überhaupt irgendwann einmal an mir und dieser Reise zu zweifeln. Die letzte Stunde im Tageslicht möchte ich in Gesellschaft verbringen, möchte ich mit jemand teilen, ich greife zum Hamsun ...