Читать книгу Ein Quantum Himmel - Lars Quittkat - Страница 3

1962
Anfang April

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Ganz friedlich sah er aus, so als würde er schlafen. Das Mondlicht, das durch die schmutzigen Scheiben auf sein Gesicht fiel, machte seine Züge weich. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen entspannt. Behutsam nahm sie seine kleine Hand. Wie winzig die Finger waren!

Wie lange hielt sie ihn schon im Arm? Zwei Stunden, oder drei? Sie wusste es nicht. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Und Tränen hatte sie auch keine mehr.

Sie fing an zu summen und wiegte ihren Oberkörper vor und zurück, vor und zurück. Das beruhigte sie. Und ihn bestimmt auch, oder? Er war doch noch bei ihr, und sie bei ihm. Niemals wollte sie ihn wieder loslassen, niemals!

Gut, dass sie diese Scheune gefunden hatte. Niemand hatte sie bemerkt, als sie bei Einbruch der Dunkelheit mit letzter Kraft die Tür im großen Scheunentor öffnete, hineinschlüpfte und stöhnend im Heu niedersank. Sie war so weit gelaufen, vom Bahnhof hinaus aus der Stadt, über die Brücke und weiter durch die Felder. Dann waren die ersten Wehen über sie gekommen wie dunkle Wellen voller Schmerz. „Oh Gott, hilf mir!“, betete sie immer wieder. „Ich weiß, du bist zornig auf mich, aber bitte, hilf mir, oder wenigstens meinem Baby! Das hat doch noch keine Sünde begangen, das kann doch nicht auch von dir verworfen sein!“

Ihre Mutter war da anderer Meinung, das wusste sie. Bei jeder Gelegenheit hatte sie es verstanden, mit ihren Vorwürfen einen Berg an Schuldgefühlen anzuhäufen. „Wie kann ein Mädchen aus einem anständigen, frommen Elternhaus nur so tief sinken?“, hatte sie immer wieder gejammert. „Das hätte ich nie von dir gedacht! Du hast nicht nur uns enttäuscht, deine Eltern, sondern auch den Herrn Jesus! ‚Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen‘, wie Psalm 1 sagt. Aber du wolltest ja offenbar nicht auf den Herrn hören! Was haben wir für dich gebetet, was haben wir uns für dich aufgeopfert, und alles nur, damit du dich jetzt vom Heiland abwendest? Du wirst schon sehen, wo du landest, wenn du so weitermachst – in der ewigen Gottesferne, du und dein Balg!“ Und dann war meist eine nicht enden wollende Klage über die Schande gefolgt, die sie über die Familie gebracht hatte. Darüber, was die Leute von ihnen denken sollten und wie sie in ihrer Gemeinschaft jetzt dastanden. Ihr Vater hatte sie nicht beschimpft, aber umso härter bestraft. Als ihr Bauch unübersehbar war und ihr daraufhin im Büro gekündigt wurde, hatte er ihr verboten, das Haus zu verlassen. Von da an hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen. Sobald sie sich begegnet waren, hatte er sich abgewendet. Sein breiter Rücken war wie eine Mauer, die sie trennte, und die eisige Kälte, die von ihm ausgegangen war, hatte ihr langsam immer mehr das Herz abgeschnürt.

Die letzten Monate waren ein langer dunkler Tunnel voller Verzweiflung und Leere gewesen, bis sie vor zwei Tagen mit einer seltsamen inneren Klarheit aufgewacht war. Plötzlich hatte sie gewusst, was zu tun war. Sie hatte alles verloren: ihre Arbeit als Sekretärin, ihren Ruf und alle Beziehungen, von denen sie geglaubt hatte, dass sie ihr Leben lang tragen würden. Selbst Werner war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Sein Wehrdienst in der nahen Kaserne war gerade zu Ende, als er von ihrer Schwangerschaft erfuhr. „Ich melde mich“, hatte er gesagt. „Ich fahr nur kurz nach Hause und muss ein paar Dinge regeln. Dann hol ich dich natürlich ...“ Sie hatte es seiner Stimme angehört, dass sie ihn nie wiedersehen würde.

Mit gerade einmal zwanzig Jahren war sie allein, auf sich gestellt; das war ihr auf einmal klar. Hier hatte sie keine Zukunft mehr. Nicht im Dorf, nicht in der engen „Gemeinschaft“ und schon gar nicht in ihrer Familie. Und auch nicht bei Gott! Ihre Mutter hatte Recht – sie hatte Gott enttäuscht. Das hatte sicherlich auch der Prediger gesagt, als er neulich zu ihnen kam und die Eltern sprechen wollte. Mit ihr hatte er nicht gesprochen. Doch als er das Haus wieder verlassen hatte, war ein neuer Wasserfall von Vorwürfen, Schuldzuweisungen und Klagen auf sie niedergegangen. Die Worte, die in ihr nachklangen, waren immer die gleichen: Schande – Hure – Sünde ...

Die Eltern, der Prediger, die Gemeinschaft, die Leute – alle hatten sie verworfen. Keine Zukunft. Aber – ihr Kind sollte leben! Ihr Kind sollte eine Zukunft haben!

An jenem Morgen hatte sie eine neue Kraft in sich gespürt und heimlich ihre Vorbereitungen getroffen. Der kleine Lederkoffer hatte genügt. Und die Schatzkiste musste mit, die große Blechkiste, die sie von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte. Längst waren keine Lebkuchen mehr darin, sondern alles, was ihr persönlich unendlich wichtig war: ihre Bibel, ihr Stickzeug, ihre wenigen Schmuckstücke und die Briefe von Werner. Sie passten so gerade in ein Einkaufsnetz, das eigentlich ihrer Mutter gehörte.

Das war alles, was sie an Gepäck mitnahm. Ihre Ersparnisse steckten in der Manteltasche. Ihr Mantel musste offen bleiben; er ließ sich über ihrem gewölbten Leib nicht mehr schließen. Zum Glück war es ein milder Tag, als sie behutsam die Haustür hinter sich schloss. Ihr Vater war schon früh zur Arbeit gegangen und ihre Mutter besuchte eine Nachbarin.

Es war nicht weit zum Bahnhof. Niemand hatte sie anscheinend auf dem Weg bemerkt, und doch hatte sie das Gefühl gehabt, als sähen ihr hinter jeder Gardine böse Blicke hinterher. Als der Zug sich endlich ruckelnd in Bewegung gesetzt hatte, war ihre Anspannung langsam gewichen.

Und jetzt war sie hier. Sie hatte es geschafft, sie hatte ihren Sohn bekommen! Jetzt war sie nicht mehr allein. Summend wiegte sie ihn hin und her, hin und her. Doch ihre Bewegungen wurden langsamer. Ein Gedanke drängte in ihrem Bewusstsein nach vorn – ein Gedanke, den sie in den letzten Stunden immer weggeschoben hatte. Jetzt konnte sie ihn nicht mehr verdrängen, jetzt war er da mit der dunklen Macht seines Schmerzes: Sie war doch allein.

Ihre Blicke tasteten das kleine Gesicht ab. Gab es nicht doch irgendein Lebenszeichen? Gleich nach der Geburt hatte sie die Nabelschnur so schnell von seinem Hals gewickelt, wie sie nur konnte. Und gebetet hatte sie, zum Herrn gefleht! Aber es war kein Schrei gekommen, kein Atemzug, keine Bewegung.

Den Jüngling zu Nain hatte Jesus damals wieder zum Leben erweckt; ihren Sohn nicht. Sie konnte sich denken, warum.

Tränen liefen ihre Wangen hinab und tropften auf die Wange ihres Babys – keine Reaktion.

Kaum hatte sie ihn geboren, musste sie ihn wieder loslassen. Der bittere Schmerz drohte sie zu überwältigen. Doch dann wurde er niedergerungen durch eine Kraft, die sie erst seit zwei Tagen in sich spürte: eine feste Entschlossenheit. Ihr Sohn sollte eine Zukunft haben, das hatte sie sich geschworen! Und wenn nicht in dieser Welt, dann in der nächsten! Mag sein, dass Gott sie strafen wollte – ihr Kind sollte es nicht treffen!

Bald würde es dämmern; sie musste handeln. Ihre Augen wanderten durch die Scheune. Das Mondlicht, das durch die Scheiben fiel, ließ sie vieles nur schemenhaft erkennen: das Stroh, die landwirtschaftlichen Geräte, den alten Trecker, die Werkzeuge in der Ecke ... auf einmal stutzte sie. Ihr Blick blieb an einem Spaten hängen. Konnte sie das schaffen, in ihrem Zustand? Reichte ihre Kraft dafür?

Wie eine innere Antwort spürte sie wieder diesen Willen in sich. Alle Zweifel, alle Erschöpfung und Schmerzen waren verschwunden. Was zählte, war nur noch dieses eine Ziel: eine Zukunft für ihren Sohn. Den Himmel!

Vorhin hatte sie einen Kirchturm in der Nähe gesehen. Wo eine Kirche war, war auch ein Friedhof. Langsam stand sie auf. Sie spürte ihren Körper nicht mehr, nur noch den kleinen Körper in ihren Armen. Entschlossen machte sie sich ans Werk.

Ein Quantum Himmel

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