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Lots Vermächtnis

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Veras Praxis lag am Rande der Stadt inmitten einer modernen Waldsiedlung, nahe dem Oste-Hamme-Kanal, der hier noch nicht einer Kloake glich wie weiter westlich bei Bremen, jenseits der weiten Moorlandschaft, die der Gegend und ihren Bewohnern ihr Gepräge gab. DR. MED. VERA CERETIY - PRAXIS FÜR ALLGEMEINMEDIZIN stand in großen Messingbuchstaben, die weder zu Veras Charakter noch zur Fassade passten, neben dem Eingang zu ihrer Praxis. Karin Brandt, Veras Sprechstundenhilfe, öffnete ihm. - Oh, guten Abend, Herr Pastor! Karins Überraschung war nicht gespielt. - Frau Dr. Ceretiy wollte gerade gehen. Wir hatten noch einige Karteien durchzusehen. - Karin? - Veras Stimme klang durch die halb geöffnete Tür ins Foyer. - Pastor Bodensieck, Frau Doktor. Er... Karin machte Bodensieck Platz, als er sich an ihr vorbei in die Praxis schob. - Danke, Karin, murmelte Bodensieck. Auch sie war einst eine seiner Zöglinge gewesen. Er hatte ihr die Stelle bei Vera besorgt. Manus manum lavat. - Oh, Peter! Vera fuhr sich nervös übers Haar und ordnete den Kragen ihres Kittels. Bodensieck trat lächelnd auf sie zu und legte die Finger seiner rechten Hand zärtlich an ihre Kehle, dort, wo ihre Fingerspitzen sich kraftlos um die letzten widerspenstigen Knöpfe ihres weißen Arztkittels mühten. Vera wandte sich ab. - Nicht, Peter, bitte, flüsterte sie. Bodensieck hatte die Tür zum Empfangszimmer mit dem Ellenbogen zugedrückt, doch Vera war unruhig und offenbar wenig zu Intimitäten geneigt. - Mustafa war gerade hier, sagte sie mit spröder Stimme. Bodensieck zog seine Hand zurück. - So? Hat er dir wieder Tips gegeben, wie man in Istanbul Blinddärme entfernt? - Peter, bitte... Vera hatte sich hinter ihren Schreibtisch gesetzt, ihr Kopf sank kraftlos auf ihre verschränkte Armbeuge. Bodensieck trat hinter sie und begann behutsam ihren Nacken, die Oberarme und ihre Schultern zu massieren. Seine Hände glitten sanft über ihre weiche Haut. - Mustafa war aufgebracht und machte mir wieder Vorwürfe wegen der Bürgschaft, sagte sie mit leiser Stimme. - Er ist der festen Überzeugung, daß ich nicht hätte nachgeben sollen. Er hätte die Bank auch so herumgekriegt, wollte den vollen Kredit ohne Bürgschaft und meint nun, ich stecke mit der Bank unter einer Decke, weil ich ihrem Drängen nachgab und für Hunderttausend bürge. Bodensieck ließ sich in einen Sessel neben der Eingangstür fallen. Er seufzte und schüttelte den Kopf. - Mustafa ist verrückt! - Ich weiß, entgegnete sie zögernd. - Aber er ist immerhin noch mein Mann. - Noch? Seine Frage war nicht nur rhetorisch gemeint. - Naja... Vera fischte eine Beruhigungstablette aus der oberen Schublade ihres penibel aufgeräumten Schreibtisches und schluckte sie, indem sie ihren Kopf ruckartig zurückneigte und mit schmerzhafter Miene die Augen schloss. - Entschuldige, murmelte Bodensieck. - Hab´s nicht so gemeint. - Mustafa ist verrückt und stolz. Das ist sein Problem oder vielmehr eines von seinen Problemen. Wenn du wüsstest, was er sonst noch alles hervorkramte, als er hier war. - Wo steckt er jetzt? - fragte Bodensieck und sah sich zur Eingangstür um, hinter der Karin eben laut hörbar an der Lüftung hantierte und das Fenster schloss. - Was weiß ich. Wahrscheinlich in seiner Spelunke und schenkt irgendwelchen Landsleuten seinen fürchterlichen türkischen Espresso ein. Bodensieck erinnerte sich an Céline Tillich. Sie war vor einigen Tagen mit Mustafa über Ankara zurück nach H. gekommen. Mustafas Bistro am Bahnhof war für die jüngeren Leute neuerdings ein begehrterer Treffpunkt als die Jugendabende bei ihm, Bodensieck, mittwochs in der Pfarrei. Ein atmosphärisches Knistern unterbrach seine Gedanken. - Frau Dr. Ceretiy, kann ich jetzt gehen? Karin sprach durch die Gegensprechanlage im Empfangszimmer. Vera drückte die Taste auf ihrem Schreibpult. - Ja, gut, Karin, mach´s gut, bis morgen. Karins Stimme erschien Bodensieck reifer als noch vor ein paar Jahren, als sie in der ersten Reihe seiner Konfirmandenklasse saß und meist mit besonderem Eifer seinen exegetischen Bemühungen folgte. - Auf Wiedersehen, Herr Pastor! klang es aus dem Lautsprecher. Bodensieck blickte verstört auf. Vera drückte rasch für ihn die Taste, doch beide sahen sich nur in plötzlicher Verlegenheit an. -Karin! rief Vera ins Mikrofon. Statt einer Antwort hörten sie kurz darauf die Haustür zuschlagen. Vera erhob sich und blieb einen Augenblick unschlüssig hinter ihrem Schreibtisch stehen. Bodensieck hatte sich in seinem Sessel aufgerichtet. - Was wollte Mustafa eigentlich in Istanbul? Und wie lange war er diesmal dort? - Zwei Wochen. Er wollte sehen, ob ihm seine ehemalige Hausbank in der Türkei das Geld zu günstigeren Konditionen geben würde. Warum fragst du? - Ach, nichts, erwiderte er nicht ohne Hast. - Ich hatte nur ein Gespräch mit einem Mädchen heute früh, das mit ihm aus Istanbul zurückgefahren ist. - So? Vera sah ihn ein wenig überrascht an. - Ein Traugespräch. Das Mädchen möchte in vier Wochen heiraten, eine Jugendliebe. War übrigens auch mit ihr in Indien. Sie müssen Mustafas Adresse in der Türkei gehabt oder ihn zufällig dort getroffen haben. - Weißt du, Peter, ich mache mir Sorgen um Mustafa und die Leute, mit denen er sich seit einiger Zeit herumtreibt. Das sind lauter zwielichtige Gestalten, Leute, die mal hier, mal dort sind, häufig wochenlang von der Bildfläche verschwinden und dann wieder bei allen möglichen Leuten Tag und Nacht ein und aus gehen. - Ich hoffe, du schließt nicht auch meine ehemaligen Konfirmanden in deine Vorwürfe mit ein. Das sind heute lauter ehrbare, staatsbejahende Christen und Steuerzahler.

Vera war nicht in der Laune, um auf Bodensiecks ironischen Einfall einzugehen. - Weißt du etwa, was aus deinen Schäflein einmal wird? - Nein. Natürlich nicht. - Na, also... Vera war zum Medizinschrank gegangen, dem sie eine Flasche Rotwein entnahm, dazu zwei Gläser, die sie vollschenkte und zu Bodensieck trug. Still tranken sie ihren Wein und lauschten dem bleiernen Ticken der Wanduhr neben dem verhangenen Fenster. - Sag mir, Peter... Vera hatte sich ein wenig aufgerichtet und schaute starr auf einen Punkt in der Mitte des mit Teppichen und Läufern ausgelegten Parkettbodens. - Warum musste Lots Weib zu Salz erstarren? Ich meine, es gab doch dafür keinen Grund nach allem, was wir wissen oder uns vorstellen können. Ihr einziges Verbrechen war die Mißachtung eines sonderbaren göttlichen Verbots, nämlich, sich umzusehen, zurück auf das, was sie in ihrer sündhaften Stadt zurückgelassen hatte. Die wilden Nächte, vielleicht, das Vergnügen, die Unordnung, das grenzenlose Chaos. Dann das Verbot, sich umzusehen. Dabei muß sie die Geräusche, das Inferno der Zerstörung hinter sich vernommen haben, eine kleine menschliche Schwäche, psychologisch einem jeden verständlich, sie dreht sich um, und schon ist´s geschehen. Bodensieck schwieg. - Zunächst einmal, hörte er sich sagen, etwas umständlich und nach längerem Räuspern, zunächst einmal müßtest du von deinem rationalen Podest herabsteigen und dich auf den Boden der reinen Empfindung... Vera unterbrach ihn: - Schon gut, lassen wir das. Es gibt sicherlich eine ganze Vielzahl vorgestanzter Exegesen, die alle fein säuberlich nach theologischen Lehrmeinungen geordnet in den Schubfächern eurer amtskirchlichen Selbstgenügsamkeit lagern. Lassen wir das. Sie zwängte sich aus dem Sessel und begab sich zögernd in die Mitte des Zimmers, mit dem Rücken zu Bodensieck. Verlegen nippte sie an ihrem Weinglas. Bodensieck stellte sein Glas beiseite und trat mit versteinertem Gesichtsausdruck hinter sie. - Du bist nicht fair, Vera, sagte er. Vera wandte sich um und sah ihn traurig lächelnd an. - Verzeih mir, Peter. Ich wollte dich nicht kränken. Ich kann mich nur nicht nach allem, was war und ist und sein wird auf den Standpunkt stellen, Gott wird es schon richten, und für alles gibt es eine einleuchtende, nach kanonischen Maßstäben einwandfreie Begründung. Das ist doch nicht wahr. - Sicher ist es nicht wahr, Bodensieck zog sie an sich und suchte ihre Augen. - Es kommt nur darauf an, daß man weiß, wann es Zeit ist, das Alte und Sündhafte hinter sich zu lassen und etwas Neues anzufangen, so wie die jungen Leute, die... Es erschien ihm albern und heuchlerisch fortzufahren und die Erlebnisse der Céline T. in Beziehung zu setzen zur Legende von Lot und seinem Auszug aus Zoar. - Wusstest du, dass Mustafa mit Drogen handelt ? Veras Frage ließ Bodensieck auffahren. - Nein, natürlich nicht... Woher sollte ich? Vera hatte sich ein neues Glas Rotwein eingeschenkt und wandte Bodensieck erneut ihren Rücken zu. - Um Himmels, nein, Vera! entfuhr es ihm. - Ich fand Kokain in seinem Bistro, als er fort war in Istanbul. Die Bank hatte mich gebeten, Angaben über Mustafas Familie in der Türkei zu machen, Eltern, Geschwister, deren Alter, Beruf, Grundbesitz und so weiter. Ich wußte, daß Mustafa solche Dinge in seinem Safe aufbewahrte. Also ging ich hin und fand die kleinen Beutel mit dem Kokain. Er wusste nicht, dass ich einen Zweitschlüssel zu dem Tresor habe. Ich hatte mir einen anfertigen lassen, als er mir das erste Mal seine Pistole zeigte, die er fortan im Geldschrank verwahren wollte, wohin niemand Zutritt hatte, auch ich nicht. Das war so eine Wahnsinnsidee von ihm. Er fühlte sich ständig bedroht: Graue Wölfe, PKK, türkischer Geheimdienst und was nicht sonst noch alles. Vera hatte sich auf die Schreibtischkante gesetzt und fuhr fort, ohne Bodensieck anzusehen. - Ich wollte verhindern, dass er wegen der Pistole Schwierigkeiten bekommt, deshalb habe ich mir den Zweitschlüssel anfertigen lassen. Ich hätte es besser nicht getan. Bodensieck stierte in die rundliche Tiefe seines Glases. Veras Worte umschwirrten ihn in wirrer Folge, gänzlich nutzlos und ohne Bedeutung. - Du sagst nichts, Veras Stimme klang wie von außerhalb der Atmosphäre. Bodensieck räusperte sich. - Vera, sagte er schließlich. Das ist eine ganz üble Geschichte. Aber wie soll man sich verhalten? Zur Polizei gehen? Mit Mustafa reden, ihn überzeugen, dass es das Beste wäre, wenn er sich der Polizei stellte, die Namen der ihm bekannten Dealer mitteilte? Bodensieck sah sie fast flehend an. - Ich weiß nicht, Vera, ich weiß wirklich nicht. Vera hielt ihren Kopf gesenkt und sah mit halb geschlossenen Lidern und mit verschränkten Armen auf den mausgrauen Teppich zu ihren Füßen. - Peter, seufzte sie. Was mache ich nur? - Wollte er das Geld vielleicht in Rauschgiftgeschäften investieren ? Vera zuckte mit den Achseln. - Ach, wer weiß? Wer weiß schon, ob er so etwas plante oder nicht; obwohl ich das an sich nicht glaube, denn er hätte die Verwendung des Kredits doch offenlegen müssen. Sie zögerte und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. - Ich weiß nicht, Peter. Das ist alles so bedrückend. Ich weiß nicht, was jetzt noch werden soll. - Er wollte doch ein Grundstück kaufen mit dem Geld, nicht wahr? Für einen Parkplatz? Vera unterbrach ihn: - Für einen Kundenparkplatz und den Abriss einer alten Scheune, die im Weg stand, und für eine neue Inneneinrichtung. Sollte alles in allem etwa hundertachtzigtausend Mark kosten. Von Kokain war nicht die Rede. Aber, wer weiß, wie er sich das vorgestellt hatte. Bodensieck vergrub sein Gesicht in beide Hände. - Mustafa ist ein elender Lump, Vera, wie konntest du das damals nur nicht sehen? - Ach, Peter! Veras Entrüstung war kaum hörbar. - Wir hatten doch vereinbart, nicht mehr darüber zu reden. - Entschuldige, murmelte Bodensieck. Er füllte sich ein neues Glas Wein ein und betrachtete sie schweigend. Vera war kreidebleich, ihr Mund schien ausgedörrt, Reste von Lippenstift klebten rissig an den schmalen Rändern ihrer Lippen. - Du solltest dich etwas schonen, Vera, sagte Bodensieck. - Gehen wir noch irgendwo hin? Vera richtete sich auf und sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. - Nein, Peter. Heute nicht. Ich... ich bin müde und abgespannt. Verzeih mir bitte, vielleicht... Das Telefon schrillte. Vera warf Bodensieck einen beschwörenden Blick zu und nahm in plötzlicher Eile den Hörer ab. Es war Mustafa. Bodensieck lehnte sich im Sessel zurück und betrachtete Vera, die in hastigen Worten mit Mustafa am anderen Ende der Leitung sprach, dann den Hörer auflegte. - Er möchte, dass ich zu ihm komme. Er sagt, er habe etwas mit mir zu besprechen, zu Hause. Ich soll gleich kommen. Sie stand auf und wandte sich zum Kleiderschrank in der Ecke hinter dem Schreibtisch. Bodensieck räumte die Gläser vom Tisch. - Lass nur, sagte Vera. Karin wird das schon machen morgen früh. Sie trat noch einmal auf ihn zu und küsste ihn. - Lass mich bitte jetzt nicht allein, Peter. Bodensieck zog sie an sich. Sie standen eine Weile wortlos, eng aneinander gelehnt, bis Vera sich als erste löste, ihre Handtasche ergriff und das Licht löschte. - Vielleicht ist es besser, wenn wir nicht zusammen hinausgehen. Du weißt schon, die Nachbarn. - Schon gut, murmelte Bodensieck, küsste sie ein letztes Mal auf die Wange und trat hinaus in die noch laue Luft des Spätsommerabends.

Im Westen färbte eine prächtig untergehende Sonne den Himmel tiefrot und violett. Über dem Teufelsmoor sah er Irrlichter tanzen aus fernen Behausungen. Phantastische Gedanken erfüllten ihn. Allzu fern erschien ihm in solchen Augenblicken sein Gott, sein strafender Gott, den er seit seiner Kindheit in sich wähnte, allgegenwärtig, allwissend. Sein Gott der Taten, Gott der Ordnung, des straffen Blickes aus eisigen Augen, Gott der Entsagung. Doch wie sprach der weise Samkara? Wissen ist Licht, Handeln ist Finsternis; Handeln entfällt für den, der reines Wissen erlangt; handle nur, um den Geist zu läutern, den unreinen, unvollkommenen Geist: Aber für den Menschen, der sich allein am Selbst erfreut, am Selbst genug hat, im Selbst Befriedigung findet, gibt es kein Werk mehr, das er tun müsste. Magische Worte, die Bodensieck erfüllten, seit er Vera wieder begegnet war vor Jahren. Eine noch längere Zeit lag zwischen jenem Treffen und ihrem vorherigen Leben in T., als Vera Medizin studierte und kaum mehr als Kameradschaft sie verband. Sie waren getrennte Wege gegangen, doch dann trafen sie sich wieder, Vera in zweiter Ehe mit Mustafa, den sie am Wegesrand aufgelesen und nach Bodensiecks festen Überzeugung in einem Anfall von existentiellem Trotz geheiratet hatte - und er selbst, Bodensieck, nach gescheiterter Ehe und gescheitertem Neuanfang und nach gerade beendetem Aufenthalt in einem Sanatorium für psychische Erschöpfungszustände. Dann ein neuer Versuch im Norden, nah dem Teufelsmoor bei Bremen, nach dem Verlust einer Pfarrei im Süden, nach Kränkung und Spott und der zäh errungenen Gewissheit, nur noch durch einen dünnen Faden von Vernunft und Willenskraft mit dem Diesseitigen verbunden zu sein.

So verfolgt er auch nicht die Absicht, durch Handlungen, die er vollbracht, und durch Handlungen, die er nicht vollbracht hat, irgendetwas in dieser Welt zu gewinnen.

Bodensieck beschloss noch ein wenig in der Stadt spazierenzugehen. In der Allee, die ins Moor führte, sah er Judas Ischariot stehen, an eine alte verkrüppelte Eiche gelehnt, sich geschickt eine gelbe Zigarette drehend, deren Falz er süffisant lächelnd beleckte. Einige Schritte weiter entdeckte er Moses, der mit vergoldeten Därmen ein junges Paar würgte, das sich abseits der Landstraße am düsteren Chausseegraben in wildem Liebesspiel vereint in einem Meer giftgrüner Brennesseln wälzte. Nebukadnezar sprühte derweil mit schwarzer Graffitti die neuesten Notierungen für Hasch und Heroin an frisch gestrichene Häuserfassaden. Bodensieck kicherte irre, als Lola Spinola, die alte Hure, ihn galant unterhakte und in ihren Salon de Massage führte. - Komm schon, Bodensieck, raunte Lola. - Hast noch gar nichts erlebt den ganzen Tag? Ich hätte da eine Idee. Bodensieck hörte gar nicht mehr auf zu kichern. - Lola, kicherte er. Hexenweib, alte Hure, hier ... nimm meine knorrigen protestantischen Gebeine und wickle sie dir um den Hals. Lola... Hab´ dich nicht so... Lola Spinola bleckte die Zähne und spie ihm ins Gesicht. - Pfui, schämen solltest du dich, Bodensieck. Mit so was treibt man keinen Spott! - Schon gut, Lola, schon gut, lallte Bodensieck. - Bist und bleibst ´ne alte Hure, die keinen Spaß versteht. Nimmst dein Gewerbe halt nur ´n bisschen zu ernst... nicht wahr... Lola... Lola schmollte und hätte ihn um ein Haar noch vor die Tür gesetzt. Am anderen Morgen kam die Polizei. Karoline führte sie in sein Arbeitszimmer, wo er mit schwerem Kopf saß und sich gerade anschickte, dem beginnenden Tag seine Reverenz zu erweisen. - Hauptkommissar Strehlow, stellte sich einer der beiden mit grauer Stimme vor. - Und das ist Kollege Bauer, ergänzte er und wies auf seinen Begleiter, kräftig gebaut, schweigsam, mit einem dürren Oberlippenbart, der jenem einen Hauch von zarter Intellektualität verlieh. - Kripo? erkundigte sich Bodensieck, bemüht, seine Verwirrung zu unterdrücken. Strehlow hielt ihm seine Dienstmarke vors Gesicht. - Sie kennen Mustafa Ceretiy? Bodensieck hatte es geahnt. Natürlich, Mustafa. Er wunderte sich nur, dass alles so schnell ging. Mustafa war ein Lump, ein krimineller. - Darf ich fragen, weshalb Sie diese Frage an mich richten? Bodensieck spürte, dass der Hauptkommissar längst seine schwankenden Gefühle registriert hatte. - Mustafa Ceretiy wurde letzte Nacht tot in seinem Bistro gefunden. - Tot? Bodensieck war hinter seinem Schreibtisch erstarrt. - Handelt es sich um ... Mord ... oder so was? Strehlow tauschte rasch einen Blick mit seinem Kollegen, der sich unauffällig im Zimmer umsah. - Vermutlich, ja. Strehlow ließ sich gegenüber Bodensieck auf einem Besucherstuhl nieder und betrachtete den Geistlichen mit der geübten Routine des Kriminalisten. Bodensieck ertappte sich dabei, dass er Strehlows eisigen Blicken auswich. - Wir gehen davon aus, sagte Strehlow, ohne Bodensieck aus den Augen zu lassen, dass Mustafa Ceretiy vergiftet wurde. Er hatte sich eine offenbar normale Dosis Heroin gespritzt, die jedoch mit Strychnin vermischt war. Und wer, außer einem Selbstmörder, spritzt sich solch ein Zeug schon freiwillig in die Venen? - Selbstmörder, Bodensieck hatte Mühe, dem Hauptkommissar zu folgen. - Wo ist Mustafa Ceretiys Frau... Vera... ich meine... Frau Dr. Ceretiy? - Zur Zeit auf dem Revier und beantwortet einem Kollegen Fragen. Bodensieck sah sein Gegenüber mißtrauisch an. Nur ein Beamter beschäftigte sich mit Vera, während gleich zwei zu ihm gekommen waren. Galt er als wichtiger Zeuge, als tatverdächtig gar? Bodensieck spürte, dass sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. - Wen verdächtigen Sie? fragte er Strehlow, der nachdenklich in einem Notizblock zu blättern begann. - Oh, ich weiß nicht, entgegnete der Beamte mit ruhiger Stimme. - Wir haben eine Reihe von Zeugen zu befragen und hoffen, dass auch Sie uns ein wenig weiterhelfen. Bodensieck zwängte sich aus seinem engen Schreibsessel und trat ans Fenster. Die Stimme des jungen Kommissars folgte ihm. - Wie lange waren Sie gestern abend mit Mustafa Ceretiys Frau zusammen? Bodensieck wandte sich zum Fragesteller um und betrachtete ihn knapp, ehe er antwortete: - Ungefähr eine halbe Stunde. Karin Brandt, Frau Dr. Ceretiys Sprechstundenhilfe, kann bezeugen, dass wir uns zusammen in der Praxis aufgehalten haben. - Könnte sie auch bezeugen, daß Sie sich nur eine halbe Stunde in ihrer Praxis aufgehalten haben? - Nein, sie ging etwa fünfzehn Minuten, nachdem ich kam. - Also, gut... Der Hauptkommissar trat auf Bodensieck zu, zündete sich eine Zigarette an und blies seinem Gegenüber mit nicht gerade rücksichtsvoller Nonchalance eine Rauchwolke ins Gesicht. Bodensieck hüstelte und wandte sich ab. - Also, wiederholte Strehlow, ohne sich zu entschuldigen. - Sie waren mit Frau Dr. Ceretiy, wie Sie sagen, ungefähr eine halbe Stunde allein in ihrer Praxis. Und Sie verließen die Praxis anschließend gemeinsam mit Frau Dr. Ceretiy, um ... - Nein, Bodensieck unterbrach ihn mit plötzlichem Nachdruck. - Wir gingen getrennt hinaus. Ich ging zuerst. Vera ... ich meine ... Frau Dr. Ceretiy folgte kurze Zeit später. - Wieviel später? schnappte der Kommissar. - Ich weiß nicht, gestand Bodensieck. Ich ging sogleich zum Parkplatz gegenüber der Raiffeisenbank, fuhr jedoch nicht fort, sondern entschloß mich, noch ein wenig ins Moor hinauszugehen. - Mitten in der Nacht? Strehlows Stimme klang misstrauisch. - Es war noch nicht allzu spät, entgegnete Bodensieck und wischte sich mit einem Taschentuch Schweißtropfen von der Stirn. - Wie spät genau? erkundigte sich Bauer. - Ich weiß nicht, murmelte Bodensieck. - Ich würde sagen, so gegen halb neun. - Und Sie sahen nicht, ob und wann Frau Dr. Ceretiy die Praxis verließ? - Nein, Bodensieck drehte sich abrupt zu den beiden Beamten um. - Mustafa Ceretiy rief bei ihr in der Praxis an, als ich dort war, und bat sie sofort zu ihm zu kommen. Ich vermute also, daß Frau Dr. Ceretiy nicht allzu lange nach meinem Weggehen ebenfalls die Praxis verlassen hat. Aber was soll das überhaupt bedeuten? Verdächtigen Sie Frau Dr. Ceretiy oder mich? - Sagen wir mal so, entgegnete Strehlow mit einem Anflug von hintergründigem Sarkasmus. - Sie sind beide wichtige Zeugen in dieser Angelegenheit. Bodensieck starrte schweigend auf einen fernen Punkt auf der Tapete zwischen Strehlow und seinem ehrgeizigen Kollegen. - Von wo aus rief Mustafa in der Praxis an? fragte Kommissar Bauer. Bodensieck betrachtete ihn mit leerem Blick. - Von zu Hause. - Was heißt das: Bistro oder der Privatbungalow der Ceretiys in der Zevener Straße? Bodensieck dachte nur eine knappe Sekunde nach. - Von ihrem Haus in der Zevener Straße. - Sind Sie sicher? fragte Strehlow. - Ja. - Absolut sicher? Bauer stellte sich nur einen kleinen Schritt vor Bodensieck auf. - Ich glaube schon, murmelte Bodensieck. - Das heißt, ergänzte er nach einer schnellen Pause. - Ich bin sicher, dass Vera mir sagte, er habe von zu Hause, das heißt, aus der Zevener Straße angerufen. - Beschwören könnten Sie das aber nicht? konterte Strehlow. - Wie meinen Sie das? erwiderte Bodensieck ärgerlich. - Ich habe absolutes Vertrauen in Veras Aufrichtigkeit, und warum sollte sie mir in solch einer belanglosen Einzelheit vorsätzlich etwas Falsches erzählen? Kommissar Bauer musterte Bodensieck ohne sichtliche Sympathie. - Mustafa Ceretiy wurde im Bistro tot aufgefunden, muß sich dort aber nicht den tödlichen Schuß gesetzt haben, nach allem was wir bisher wissen. - Was sollte Vera damit zu tun haben? Bodensieck hätte etwas darum gegeben, zu erfahren, was die beiden von Mustafas Rauschgiftgeschäften wussten. - Hat Frau Dr. Ceretiy Ihnen gegenüber jemals Strychnin erwähnt? - Finden Sie die Frage nicht reichlich geschmacklos? entgegnete Bodensieck entrüstet. - Beantworten Sie sie bitte so präzise wie möglich. Strehlow sah ihn erwartungsvoll an. - Die Antwort lautet: nein. - Wissen Sie, ob Dr. Ceretiy in ihrer Praxis oder sonstwo Strychnin aufbewahrte? - Nein. - Wußte Frau Dr. Ceretiy etwas von den Rauschgiftgeschäften ihres Mannes? Bodensieck schloss die Augen, um sich besser zu konzentrieren. Er betastete seine Schläfen mit den Fingerspitzen. - Ja, sie erwähnte Kokainbeutel in meiner Gegenwart, die sie gefunden hatte, neulich, in Mustafas Bistro. - Wann erwähnte sie den Fund zum ersten Mal? - Gestern abend... in ihrer Praxis... - Sie könnten das vor Gericht beschwören? - Ja. Strehlow und Bauer tauschten schweigend Blicke aus. - Herr Bodensieck, Strehlows Stimme schien konzilianter als zuvor. - Wir haben es mit einem Netz kriminalistischer Möglichkeiten zu tun, in dem Rauschgift eine bedeutende, jedoch vermutlich nicht die wichtigste Rolle spielt und Frau Dr. Ceretiy zumindest seit gestern abend von nicht nur peripherer Bedeutung ist. - Aber was, um Himmels Willen, werfen Sie ihr vor? Dass sie Mustafa getötet hat? - Es gibt Dinge, die wir zur Zeit nicht ausschließen können. - Halten Sie sie in polizeilichem Gewahrsam? - Nein. - Das heißt, ich könnte jetzt zu ihr gehen und sie sprechen? - Zur Zeit dürfte sie sich gerade mit ihrem Anwalt unterhalten. Bodensieck ließ sich am Schreibtisch nieder und griff nach dem Telefonhörer, besann sich aber und blickte die Beamten mit fragend hochgezogenen Brauen an. - Haben Sie noch irgendwelche Fragen, meine Herren? Strehlow hatte sich eine neue Zigarette angezündet und suchte umständlich nach Worten. - Das Mädchen, mit dem Mustafa aus Istanbul zurückgekehrt ist, die Céline Tillich, kennen Sie die eigentlich näher? Bodensieck hatte die Frage erwartet; dennoch schreckte er auf, als Strehlows Worte, von einem mißtrauischen Blick auf den Geistlichen begleitet, an dessen Ohr drangen. - Sie wissen von dem Vorfall vor sechs Jahren? Bodensiecks Stimme schien merkwürdig belegt. Er wich den Blicken der Beamten aus, die ihrerseits bemüht wirkten, ihre von Amts wegen angezeigte Strenge in Einklang zu bringen mit den menschlichen Regungen von Mitgefühl und Verständnis, und schließlich war er ja freigesprochen worden damals, der Herr ´Promille-Pastor´, wie sie ihn tituliert hatten, die geifernden Gazetten aus nah und fern. - Nun, ja, Strehlow räusperte sich und blickte hilfesuchend zu seinem Mitarbeiter. - Es stand ja doch einiges in den Zeitungen seinerzeit, auch über Céline Tillich. Die war doch auch dabei, nicht wahr? - Ja, natürlich... natürlich war sie dabei, Bodensiecks Antwort kam hastig, kaum überlegt. - Sie war dabei. Warum sollte man das leugnen? Sie und der Pablo, den wir unlängst beerdigt haben. Die ganze Clique war dabei. Das waren meine Kinder. Bodensieck schien erregt, was die Beamten aufmerksam registrierten. Er wischte sich wieder und wieder Schweißperlen aus dem Gesicht, seine Pupillen ruhten starr auf einem hellen Fleck auf der Tapete, wo einmal seine Gitarre hing, die er bei den Treffen mit den Jugendlichen zu spielen pflegte. Die Wand wirkte kahl ohne seine Gitarre. - Hier hing meine Gitarre, meine Herren. Strehlows Lippen verengten sich nachdenklich. Er sah Bodensieck fragend an. - Hier... hier... Ich habe sie herabgenommen, weil mich ihr Anblick nach dem Vorfall im Moor, Sie wissen schon, die sogenannte ´Promille´-Affäre, wie es in den Zeitungen hieß, irritierte. Ich brauchte damals Ruhe, meine Herren. Ruhe, keine Musik, keine Drogen und keinen Alkohol, keine Lustbarkeiten, und auch keine Mordfälle in meiner Umgebung. Verstehen Sie, ich stecke da noch ganz tief drin. Das hat mir schwer zu schaffen gemacht damals. All das giftige Gezeter, der Schlamm, den sie nach mir geworfen haben, der Schaum vor ihren Mäulern. Ich war fertig damals, verstehen Sie das? Fertig, meine Herren... Strehlow drückte umständlich seine Zigarette aus. - Also, gut, sagte er. - Nehmen wir mal an, zwischen dem Vorfall von damals und dem Todesfall von letzter Nacht gäbe es keinen Zusammenhang. Wie erklären Sie es sich dann, daß Mustafa Ceretiy eine recht umfangreiche Dokumentation über den damaligen Fall zusammengetragen hat und diese säuberlich geordnet unter seinen Geschäftspapieren aufbewahrte? Bodensieck sah den Beamten entgeistert an. - Was hat er? Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. - Nun... Strehlow betrachtete nachdenklich seine Fingernägel. - Er könnte versucht haben, jemanden mit dem Material zu erpressen. Bodensieck wandte sich ab und starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. Seine Zähne mahlten unhörbar aufeinander. Die Wände seines Amtszimmers schienen wie mit riesigen Geisterohren übersät, die sein kurzes Atmen und die Frequenz seiner Herzschläge gnadenlos registrierten. Jeder Lügendetektor hätte ihn längst, zu Recht oder zu Unrecht, aller ihm vorgeworfenen Taten überführt. Er fühlte sich eingekreist. - Ich bin nie von Mustafa Ceretiy erpresst worden und halte Ihre Vermutungen für reichlich konstruiert! - Aber wer sagt denn, dass wir so etwas vermuten? Kommissar Bauers Stimme füllte den Raum wie das durchdringende Crescendo einer Bachpräludie. Bodensieck schluckte. - Aber immerhin hätte es sein können, daß Mustafa mit dem Gedanken spielte, sein Material eines Tages zu verwenden, nicht wahr? ergänzte Strehlow den kriminalistischen Einwurf seines Kollegen. Bodensieck zuckte nur hilflos mit den Achseln. - Wäre schon möglich, murmelte er. - Aber ich sage Ihnen, ich hatte erstens keine Ahnung von dieser ... Dokumentation... und zweitens bin ich nie erpresst worden. Er zögerte einen Moment und fügte dann etwas ungeschickt hinzu: - Weshalb denn auch? - Wegen Dr. Vera Ceretiy zum Beispiel. Strehlow schien nur darauf gewartet zu haben, diesen Satz unterzubringen. Seine Miene hellte sich triumphierend auf. Doch Bodensieck war offenbar auf Strehlows Argument vorbereitet. - Vera? Er sah Strehlow zum ersten Mal mit durchdringenden Augen an. - Vera hat für den Mann längst nicht mehr die Rolle gespielt, die eine Ehefrau im Leben ihres Mannes spielen sollte. - Wollen Sie das bitte erläutern? warf Strehlow ein, der sich auf der Schreibtischkante niederließ und Bodensieck interessiert musterte. - Mustafa hatte seine Frau längst abgeschrieben. Sie war sogar diejenige, die bis zuletzt an ihm hing und ihn davon abhalten wollte, die Scheidung einzureichen. Strehlow tauschte erneut einen schnellen Blick mit Bauer aus, ehe er Bodensieck unterbrach. - Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie sich gerade zu einem möglicherweise sehr wichtigen Zusammenhang äußern. Was uns dabei interessiert, ist die volle und ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit. Bodensieck fuhr fort, ohne auf Strehlows Ermahnung einzugehen. - Mustafa hat sie ausgenutzt, wo er nur konnte. Er hatte es von Anfang an nur auf ihr Geld abgesehen. - Schon gut, unterbrach ihn der Hauptkommissar. - Das haben wir schon oft gehört, und zum Schluss stellt sich dann doch wieder alles ganz anders dar. Die ganze Wahrheit bitte, Herr Pfarrer! - Aber ja doch... natürlich... nichts als die Wahrheit! Nichts als die volle Wahrheit... Bodensieck faßte sich an die Schläfe und spürte mit den Fingerspitzen, wie seine Stirnadern unter der Haut geschwollen waren. Es kam ihm vor, als habe er schon viel zu viel von sich gegeben, als redete er sich um Kopf und Kragen. - Begreifen Sie denn nicht? Strehlow registrierte das Flehen in Bodensiecks Stimme, war jedoch nicht sicher, wie er es deuten sollte, ob als Eingeständnis von Schwäche oder von Schuld. - Begreifen Sie denn nicht, meine Herren? Bodensieck wandte sich ihnen mit flehend ausgestreckten Händen zu. - Verstehen Sie doch! Diese Sache bringt mich wieder dorthin, wo ich damals war, als man mich ins Sanatorium steckte und ich alles verlor. Vera und ich haben einen Neuanfang gemacht. Sie hat mir geholfen, mit dem Alkohol fertigzuwerden, mit den Verleumdungen. Sie ist der einzige Mensch auf der Welt, der mir in privaten Dingen Vertrauen schenkt, und dem ich völlig und mit Leidenschaft vertraue. Gewiss... Er schien nachzudenken und fingerte nervös an seiner Uhr. - Gewiss, es gibt auch andere, die mir vertrauen. Schließlich hat man mir ja eine Chance hier geboten. Das ist wahr. Und dafür bin ich den Menschen in der Gemeinde dankbar. Aber Vera ist ganz anders. Ich brauche sie. Ohne sie und ohne meinen Gott im Himmel... Strehlow erhob sich umständlich von der Schreibtischkante, strich seine Hose glatt und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Er suchte nach einem Aschenbecher. Bauer reichte ihm einen, den er auf Bodensiecks Bücherregal entdeckt hatte. - Rauchen Sie eigentlich? Strehlows Frage ließ Bodensieck verdutzt aufblicken. - Wie bitte? Er sah verwirrt zum Beamten hinüber, der gerade etwas durch das Fenster zu beobachten schien und einen Moment nicht auf Bodensiecks überraschte Entgegnung reagierte. - Ich meine, ob Sie rauchen. Strehlow gab Bauer durch eine Kopfbewegung zu verstehen, daß sich draußen vor dem Fenster etwas tat, worauf der jüngere Beamte sich unmerklich zur Fensterbank begab und hinausschaute. Bodensieck hatte Strehlows verdeckte Geste nicht bemerkt. - Nein... nein, ich rauche seit Jahren schon nicht mehr. Ich sage Ihnen doch, ich führe ein durch und durch enthaltsames Leben. - Wissen Sie, welche Marke Vera Ceretiy raucht? Bodensieck sah sein Gegenüber mit misstrauisch gerunzelter Stirn an. - Ich weiß nicht... ich glaube, ja, ich glaube sie hat keine bestimmte Marke. Sie raucht mal dieses und mal jenes. - Mit Filter oder ohne? Kommissar Bauer verließ seinen Platz am Fenster und beteiligte sich wieder am dienstlichen Frageritual seines Kollegen. - Mit Filter, entgegnete Bodensieck ohne Zögern. - Wissen Sie, wer in Mustafa Ceretiys Bekanntenkreis holländische Selbstgedrehte raucht? Bodensieck war für einen Augenblick um eine Antwort verlegen. - Na, ich möchte meinen, nicht gerade wenige der jungen Leute, die bei ihm verkehrten, rauchen Selbstgedrehte. - Hm... mag schon sein. Strehlow hatte, wie es schien, den Faden verloren, doch bevor er fortfahren konnte, klopfte es an der Tür und Karoline Wintjen steckte den Kopf herein. - Herr Paster, entschuldigen Sie, die Céline Tillich ist wieder da... soll ich sie... - Céline? Bodensieck wirkte plötzlich konsterniert, fing sich jedoch rasch. - Einen Augenblick soll sie noch warten. Die Herren Kriminalbeamten gehen sicher gleich.

- Das heißt, unterbrach ihn Strehlow, holen Sie die Céline nur herein, Herr Bodensieck. Könnte ja sein, dass auch wir das eine oder andere mit ihr zu besprechen haben. - Also, gut, murmelte Bodensieck, und zu Karoline gewandt: - Bringen Sie sie nur herein, Frau Wintjen... Bitte sehr, meine Herren. Er wies mit entschuldigender Miene auf das nur kärglich ausgestattete Dienstzimmer. - Bitte sehr, setzen Sie sich doch. Strehlow und Bauer bemerkten Bodensiecks Unruhe, gaben sich jedoch leger und entspannt wie zuvor. - Danke, erwiderte Strehlow nur knapp und ließ sich auf einem Stuhl in der Nähe des Schreibtisches nieder. Bauer lehnte sich gegen die Fensterbank und erwartete mit lässig in den Hosentaschen vergrabenen Händen Célines Auftritt. Er hatte schon einmal Ermittlungen gegen sie geführt, als sie vor Jahren das erste Mal mit ihren Freunden nach Indien zog und ein anonymer Anrufer behauptete, die Gruppe habe größere Geldbeträge gestohlen oder unterschlagen, um damit die Reise zu finanzieren und im Orient Rauschgiftgeschäfte zu tätigen. Man hatte den jungen Leuten damals nichts nachweisen können, und auch Bauer hatte den Eindruck gehabt, daß die kriminellen Verfehlungen, die jenen von dem Anrufer unterstellt wurden, wohl dessen Phantasie oder Boshaftigkeit zuzuschreiben waren. Dennoch hielt Bauer in gespannter Erwartung den Atem an, als Céline, geführt von Karoline Wintjen, ins Zimmer trat. Céline erstarrte und wich zurück, als sie die beiden Beamten bemerkte. Ihre Gesichtszüge wirkten fahl. - Entschuldigen Sie, stammelte sie, ich dachte... - Komm´ nur herein, Céline, unterbrach Bodensieck sie mit einladender Stimme und forderte sie mit einer Handbewegung auf sich zu setzen. - Hab´ keine Angst. Diese Männer wollen nichts von dir. Sie werden nur ein paar Fragen an dich richten wegen Mustafa Ceretiy. Céline hatte sich ängstlich auf die Männer zubewegt und ließ sich auf einen Stuhl gleiten. Die Beamten bemerkten den kalten Schweiß auf ihrer Stirn und das Zittern der Hände, mit denen sie sich gelegentlich über ihre bleichen, eingefallenen Wangen strich. - Ganz schön fertig, die Kleine, dachte Strehlow und hielt ihr eine Zigarettenschachtel hin. - Bitte sehr, sagte er. - Rauchen Sie? - Nein, entgegnete Céline. - Sie sind Nichtraucherin? fuhr der Beamte fort. - Nein... aber die Marke rauche ich nicht. Strehlow wunderte sich über die plötzliche Festigkeit ihrer Stimme. Dem Gespür des erfahrenen Kriminalisten verriet dieser nuancierte Wandel mehr als wortreiche Gesten oder clevere Dementis. Strehlow ließ nicht locker. - Welche Marke ziehen Sie denn vor? Céline begegnete seiner Frage mit einem mißtrauischen Augenaufschlag. - Kann ich nicht sagen. Nichts Bestimmtes. - Mit Filter oder ohne? warf Bauer ein, der seine Arme herablassend verschränkte und sie kühl betrachtete. - Ohne... - Sagen Sie dem Mädchen doch erst einmal, warf Bodensieck ein, was Sie bei Ihren Ermittlungen bisher herausgefunden haben. Sie verunsichern die Céline doch nur! Ich finde es unfair und auch rechtlich nicht ganz einwandfrei, wenn Sie ihr so zusetzen, noch dazu in meinem Pfarrhaus. - Sie haben natürlich Recht, Herr Pastor! entschuldigte sich Strehlow rasch. - Natürlich, das sollten wir hier nicht tun, aber Sie werden verstehen, dass die einzige Alternative dann ein Besuch auf dem Polizeirevier ist, nicht wahr? Bodensieck kratzte sich nachdenklich am Kopf. - Wärst du damit einverstanden? fragte er die reglos auf ihrem Stuhl sitzende Céline, die sich zögernd erhob und die Männer mit ausdruckslosem Gesicht musterte. - Wenn es sein muss, flüsterte sie kaum hörbar und wandte sich, in ihr Schicksal ergeben, zur Tür, was Strehlow und Bauer veranlasste, ihr sogleich mit dienstlichem Eifer zu folgen. - Wir lassen von uns hören, Bodensieck - rief Strehlow, schon halb im Korridor, wo Karoline den Gästen die Haustür öffnete und die Kripo und das Mädchen in den indischen Sandalen ins Freie geleitete. - Ihren Eltern nichts als Herzeleid gebracht, wirklich, Herr Kommissar, das können Sie mir glauben, raunte Karoline den Beamten im Vorbeigehen zu. - Mein Gott. Wo soll das nur noch hinführen? - Ist schon gut, Frau Wintjen, beruhigte Strehlow sie und legte begütigend einen Arm um ihre Schulter.Verurteilt sie damit aber noch nicht. Machen Sie´s gut, liebe Frau. - So? Karoline sah ungläubig hinter ihm her. - Ins Arbeitslager gehören solche Elemente! stieß die Haushälterin hervor. Auch wenn der Vater Jörn Tillich heißt und im Dorf gerne mal die erste Geige spielt. Karoline seufzte und kehrte mißmutig an ihre Arbeit zurück. Durch die halb geöffnete Tür zu Bodensiecks Diensträumen sah sie den Pfarrer am Telefon sitzen. Er hielt den Hörer fest ans Ohr gepreßt und wartete auf eine Verbindung. Karoline begab sich in die Küche und schloß die Tür hinter sich. Sie meinte sich gut vorstellen zu können, daß Célines sittliche Verfehlungen nicht ganz ohne Bezug zum Pfarramt waren, doch besser, man wußte von nichts. Und immerhin war Bodensieck ihr Chef; von der moralischen Autorität, die er von Amts wegen darzustellen hatte, ganz zu schweigen. Es erschien Bodensieck unendlich lange, bis Vera den Telefonhörer abnahm. Dann hörte er ihre Stimme, die ungewohnt leise klang, fast rauh, wohl vom vielen Reden im Polizeirevier oder den zahllosen Zigaretten, die sie seit Mustafas Tod geraucht haben mußte. - Ach, du bist´s, sagte sie, und es war Bodensieck, als habe sie einige Zeit gebraucht, um ihm in ihrer Erinnerung den Platz zuzuweisen, den er in seiner eitlen Selbstwahrnehmung für sich beanspruchte. - Peter... sie ließ ihm keine Zeit für eine Erwiderung. Du, Peter, ich muss dringend mit dir reden. Komm´ doch bitte gleich vorbei. Bodensieck schluckte und presste den Hörer fester an sein Ohr. - Vera, du, ich... Ich ... Er atmete schwer, Schweißperlen rannen in dicken Bächen an seinen Schläfen herab. - Peter, bitte... ich möchte nicht, dass wir... - Schon gut, murmelte Bodensieck. - Ich mache mich auf den Weg. Er legte den Hörer auf und saß eine Weile gedankenverloren in der kühlen Stille seines Amtszimmers. Erst als Karoline den Kopf hereinsteckte und sich erkundigte, wann er das Essen zubereitet haben wollte, kam er zu sich und stand steifgliedrig von seinem Schreibtisch auf. - Ich habe noch in der Stadt zu tun, Frau Wintjen. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen das nicht früher gesagt habe. Ich werde heute nicht zum Essen da sein. Es tut mir leid. Ja, aber... Karoline stemmte ihre Arme fest in die Seiten und sah ihm mit leerem Blick in die Augen. Sie haben doch für heute extra... Bodensieck unterbrach sie, als er sich an ihr vorbei in den Hausflur zwängte und seinen Mantel vom Garderobenhaken nahm. - Ich weiß, Frau Wintjen, und es tut mir ja auch aufrichtig leid. - Also, wirklich, Herr Paster. Jetzt habe ich mir die ganze Arbeit mit der Ente gemacht, und Sie gehen einfach fort. Wer soll denn das jetzt alles essen? Bodensieck war bereits draußen. Bevor er die Haustür ins Schloß fallen ließ, rief er der besorgten Haushälterin zu: - Entschuldigen Sie vielmals, Frau Wintjen, doch es geht leider nicht anders. Karoline sah ihm mit bitterböser Miene hinterher und schüttelte verärgert den Kopf. - Was ist das nur wieder für ein Aufwand mit dem Mann, räsonnierte sie still vor sich hin und schob sich seufzend durch die Küchentür in ihr Reich der Gewürze und fettigen Düfte. Sie hörte Bodensieck die Garagentür öffnen und kurz darauf mit seinem Auto davonfahren.

Vera empfing ihn mit ausdruckslosem Gesicht an der Tür ihres Wohnhauses. Sie reichte ihm stumm beide Hände und drängte sich wortlos an ihn, dann löste sie sich von ihm. - Es tut mir sehr leid, Vera, sagte Bodensieck und blieb verlegen nah der Tür stehen. Sie wies ihm einen Platz auf dem kostbaren Diwan, von wo aus sein Blick auf ein großformatiges Foto von der Altstadt Istanbuls fiel, in dessen Mitte sich eine prächtige Moschee erhob mit einem spitz in die Lüfte ragenden Minarett und davor geschäftig ins Halbdunkel der Gassen huschende Frauen unter wehenden Tschadors, welche bauchige Krüge auf ihren stolz abgewandten Häuptern trugen. Bodensieck bemerkte ähnliche, byzantinisch geformte Steingefäße auf dem Regal seitlich des großflächigen Panoramafensters, das die Kargheit der norddeutschen Landschaft in getöntem Polaroid ins Innere der Wohnung dringen ließ. Bodensieck schluckte, er fühlte sich deplaziert neben dieser Frau, die ihm jetzt noch weniger gehörte als jemals zuvor. Mustafas Bild in dem Glasschrank mit den vielfältigen Reliquien islamischer Herkunft übte eine lähmende Wirkung auf den Geistlichen aus. Vera stand auf und zündete sich mit nervösen Fingern eine Zigarette an. - Lass uns bitte über alles reden, Peter, sagte sie und hustete unwillkürlich, dumpf klang ihr Husten, kränklich und bedrohlich. Bodensieck sah sie verlegen an. - Offen... ja... natürlich, murmelte er. Er blickte nachdenklich vor sich auf den Boden. - Glaubst du, dass Mustafa Selbstmord begangen hat? Bodensieck sah überrascht zu ihr auf. Sie war einen Schritt auf ihn zugegangen. Bodensieck streckte mechanisch eine Hand nach ihr aus, doch Vera blieb wie erstarrt stehen. - Selbstmord? Bodensiecks Stimme klang merkwürdig belegt. - Ja, Selbstmord, wiederholte Vera. - Das ist doch eine der Überlegungen, die von der Kripo angestellt werden. Bodensieck ließ seine ausgestreckte Hand sinken. Er überlegte nicht lange. - Ich weiß nicht, Vera. Ich kannte ihn nicht so wie du. Vera wandte sich ab. Bodensieck sah, dass sie ihre Schultern nach innen gezogen hielt, eine bleierne Kälte ausstrahlend. Sie lachte höhnisch auf: - Kennen? Nun, kennen tat ihn wohl keiner so recht. Bodensieck atmete tief, ehe er hinzufügte: - Wenn jemand mit seinem Leben fertig ist, wird er denen, die ihm am nächsten sind, Hinweise und Aufschlüsse über seinen verzweifelten Zustand geben und nicht in den letzten Stunden seines Lebens noch eine rege Betriebsamkeit entfalten, zur Erledigung von Dingen, die im Angesicht des Todes von nebensächlicher Natur sind. Vera zog erregt an ihrer Zigarette. - Von welcher Betriebsamkeit sprichst du? - Naja, entgegnete Bodensieck. Du erwähntest die Hypotheken. Damit würde er sich doch nicht... - Schon gut, unterbrach sie ihn mit plötzlichem Nachdruck. - Peter, lass uns bitte nicht länger über Mustafa reden. Er ist ja noch nicht einmal beerdigt. Weißt du... Ihre Stimme zitterte; sie fuhr sich mit geöffneten Handflächen über ihr Gesicht und begann unvermittelt zu weinen. Ihre Schultern hoben und senkten sich, erstarrt wie zuvor, doch ihre Tränen lösten die Anspannung nicht. Bodensieck trat wortlos hinter sie und massierte sanft ihre Schultern. - Vera, ich bin doch bei dir, flüsterte er und drehte sie an den Schultern zaghaft zu sich herum. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Bodensieck zog sie zu sich auf den Diwan, wo sie eine kurze Weile eng beieinander saßen, bis Vera sich erhob, ein Taschentuch aus der Kommode kramte und sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischte. - Schon gut, Peter. Ist schon gut, sagte sie mit leiser Stimme. - Es geht schon. Bodensieck sah hilflos zu ihr auf. Vera begann unsicher im Zimmer auf und ab zu gehen. - Du, Peter, sagte sie endlich. Ihre Augen glänzten matt in rotgepressten Höhlen. - Mustafa machte so merkwürdige Andeutungen vor seinem Tod über Dinge, die damals im Moor passiert sein sollen, an denen du wohl beteiligt warst. Peter, sage mir bitte, was damals wirklich passiert ist. Bodensieck fasste sich unwillkürlich an den Hals. Was sollte er ihr sagen? Lola war tot. Nur die Erinnerung an sie war geblieben. Lola, die Hure, Patronin ihrer Zusammenkünfte drüben auf der Moorwiese in der Abenddämmerung, wenn die ersten Nebel fielen und ihre Feuer die düstere Stille der Moorlandschaft auszuleuchten begannen. Stille umfing sie dann, Zwiesprache zu halten mit dem Allmächtigen. - Wir hatten unsere Zusammenkünfte im Moor, entgegnete er tonlos. - Bis eine Zeitung davon erfuhr und im Nu alles zerstörte, mit einer reißerischen Aufmachung, Exklusivstories, Interviews und so fort. Sex, Alkohol und Drogen sollten eine Rolle gespielt haben. Und dann natürlich ich, als Vertreter der Kirche. Er lachte trocken. - Lola... Lola Spinola war... Wir wählten eine aus unserer Mitte, die Lola für eine Nacht verkörperte. Lola, die Sphinx... die Unberührbare... Vera betrachtete ihn mit gespannter Neugier. - Wir haben Feste der Vorsehung gefeiert im Moor, fuhr er fort, seine Augen leuchteten, sie schienen starr auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. - Feste der Wahrnehmung, der Aufnahme, der reinen Empfindung... bis es Morgen wurde...

- Mustafa muss von euren Zusammenkünften gewusst haben. Veras Stimme riss ihn aus seinen Träumen. Verstört sah er sie an. - Jemand hat ihm von eurem Geheimnis erzählt, Peter. Mustafa lehnte euer Tun aus tiefster religiöser Überzeugung ab. Er war gläubiger Moslem. Er hielt dich für einen Scharlatan und wollte mich in der Nacht vor seinem Tod vor dir warnen. Bodensieck lehnte sich zurück und schloss die Augen. Lola sah er vor sich knien, ihr langes rotes Haar fiel über ihr flehendes Antlitz, ihre bloßen Schultern senkten sich, bis ihre Lippen seine Fußspitzen berührten. - So steh´ schon auf, Lola, flüsterte er mit Nachdruck, doch sie verharrte reglos, demutsvoll vor ihm im kühlen Gras. Ihr schlanker Rücken war sehnig und rund. - Lola Spinola, steh´ auf und geh´! befahl er ihr endlich mit barscher Stimme. Lola blickte bestürzt zu ihm auf, erhob sich bald zögernd, kicherte verlegen und entfernte sich kopfschüttelnd von ihrem Gefährten.

- Peter! Veras Stimme drang zu ihm wie aus dem Jenseits. - Peter, so hör´ doch. Soll ich dir etwas holen? Als er wieder zu sich kam, lag er ausgestreckt in Veras Armen. Die Vorhänge waren vor das Panoramafenster mit den getönten Scheiben gezogen worden. Vera begann seinen Puls zu fühlen. Sie legte eine Hand auf seine Stirn und sah ihm fragend in die Augen, die er starr gegen die Decke des Wohnzimmers gerichtet hielt. Bodensieck war zu keiner Entgegnung fähig. Sein Zustand erfüllte ihn mit Angst. Die Vorstellung, nach allen biblischen Gesetzen schuldig zu sein, schuldig des Ehebruchs, der Fleischeslust, der eitlen Selbstüberhöhung, nagte an seinem Gewissen. Veras fürsorgliches Handeln erreichte ihn nicht. Bodensieck spürte, wie sich eine eisige Fessel um sein Herz legte. - Lass uns für einige Zeit voneinander Abschied nehmen, Vera, murmelte er, kaum hörbar. - Wir haben beide gesündigt, Vera. Lass uns einige Zeit nachdenken über alles und unseren Gott im Himmel bitten, gnädig mit uns zu sein ... Vera ... bitte... Vera betrachtete ihn wie aus weiter Ferne. Statt einer Erwiderung strich sie ihm sanft über seine Augen. - Sei still, Peter. Es wird alles gut werden, flüsterte sie nachdenklich.

Bodensieck schloss die Augen. Er sah Lola vor sich. Sie trug eine brennende Fackel in ihrer Rechten und beschwor den Nebelgeist aufzufahren zur Sonne. Geister und Kobolde schwirrten, von Orgelklängen getragen, durch Birkenhain und Niederung, dem Nebel Geleit und Zuflucht gewährend. Schicht um Schicht, Tat um Tat wuchs das Moor, reuelos, dem Tag entgegen. Tag gebar Tag ohne Reue, ohne Schmerz und ohne Gnade. Schicht um Schicht. Sanft zu Einsicht gepresste Duldsamkeit.


Düwelsmoor

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