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Kapitel 3

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Schockiert?

Überrascht?

Begeistert?

Erregt?

Betroffen?

Zusammengefasst konnte dies als zutreffende Beschreibung für Iains inneren Zustand gelten. Seitdem er seinen unwilligen Gast auf wundersame Weise gefunden und in sein Bett gelegt hatte, war es um seine Ruhe geschehen.

Dieses Wesen hatte es in kürzester Zeit fertiggebracht, ihn in einer Weise aufzuwühlen, die er in den einhundertachtundneunzig Jahren seines Daseins, über der wunderschönen Welt mit dem klangvollen Namen Paxia, nie erlebt hatte. Selbst die Vorstellung, ihm könnte ein solches Gefühlschaos je widerfahren, war ihm bisher zu unglaublich in seiner Intensität vorgekommen.

Was er nun brauchte, war Zeit – Zeit, um seinen inneren Frieden wiederzufinden.

Iain war kein Mann, der mit seinen Emotionen Verstecken spielte, er verbarg nur wenig von sich seiner Umwelt gegenüber und konnte meistens sehr frei erscheinen. Es war seine entwaffnende Offenheit, mit der er es verstand, Freunde und Herzen zu gewinnen.

Aber Offenheit brauchte Kraft und Mut. Beides Eigenschaften, die er ohne Frieden und Klarheit mit sich selbst nicht aufbringen konnte.

Auch wenn er ein äußerst fähiger Diplomat war und nicht selten eine gewinnende Persönlichkeit an den Tag legte, mit der er hervorragend umzugehen verstand, so war es für ihn von absoluter Wichtigkeit, dass er mit sich uneingeschränkt ehrlich war. Keine Wahrheit konnte schädlicher sein als die harmloseste Verdrängung.

Diesem Motto stets getreu, war er seiner inneren Stimme gefolgt und hatte sich in den Ebenensaal begeben. Der Saal umgab halbkreisförmig das größte und höchste Fenster der Burg und war durch Treppenstufen in drei Ebenen unterteilt, von denen die oberen beiden einen kleiner werdenden, halben Ring beschrieben.

Hier fanden alle wichtigen Veranstaltungen wie Feierlichkeiten, Gesellschaften oder auch Richtsprüche statt. Hauptsächlich an den Abenden füllte er sich mit einer Schar fröhlicher Bewohner und Gäste, die es liebten, die unterste Ebene als Tanzfläche zu verwenden. Er selbst war einer der Fleißigsten, die sich in den Genuss dieses Ortes stürzten.

Doch an diesem Tag hatte er sich aus einem anderen Grund in den Saal begeben. Für ihn gab es nichts Erholsameres, nichts Heilsameres als die überwältigende Aussicht, die sich dem Beobachter durch das Fenster bot. Dort, wo das gewaltige Gebirge aufklaffte, in steilen Abhängen der Erde zustrebte, in ihr verschwand und den Blick auf die scheinbar unendlichen Weiten Paxias eröffnete – die ungetrübte Natur der Wälder, unberührte Steppen, der sich windende Gebirgsfluss, mündend in einen durch die roten Sonnenstrahlen der Morgensonne verfärbten, glitzernden See.

Dieser Atmosphäre gab er sich hin, löste sich von allem Erlebten, allem Negativen, machte Raum für die innere Ruhe, den Frieden, die er zu gewinnen suchte – fand – und die ihm neue Stärke gaben.

Es war wie eine Befreiung für ihn, auf einer Steinstufe sitzend die Geburt eines neuen Tages zu erleben, während er die vergangenen Eindrücke zu verarbeiten begann.

Dieses Mädchen faszinierte ihn, faszinierte ihn sogar sehr, wie ihm mehr als deutlich bewusst war. Es war nicht allein der Reiz des Unbekannten, der Reiz, eine unerforschte Art der Sagenwesen zu studieren. Der Reiz ging auch von ihr allein aus, von ihrer aggressiven Persönlichkeit. Sie war die Reinform einer Kriegerin.

Ihr erkennbar weitreichender, schneller Verstand, das ausgeprägte Ehrgefühl und die wilde Schönheit ihrer Art, vereinten sich in seinen Augen zu einem Wesen, das kennenzulernen wie ein Zwang auf ihm lastete und mit jeder Minute an Intensität zunahm.

Er konnte und wollte sie nicht sich selbst überlassen. Ihre Gegenwart berauschte ihn, forderte ihn heraus. Es trieb ihn, in ihrer Nähe zu verweilen, alles über sie zu erfahren. Ihre Gedanken, Gefühle, ihre Geschichte – nicht nur die Geschichte ihres Volkes –, dieses Wissen sollte ihm gehören. Und sie.

Es durfte nicht sein, dass sie keine gemeinsame Verständigung fanden. Eine, die nicht auf Missverständnissen durch zu unterschiedliche Verhaltensmuster basierte.

Sicher gab es ein Entgegenkommen, das ihnen beiden einen Weg ebnete, sofern Saya nur dazu bereit war.

Bei Paxia, er würde alles dafür tun, um dies zu erreichen!

Diese Betroffenheit, die ihn seit dem Zeitpunkt erfüllte, da Saya ihm verdeutlicht hatte, dass sie in ihm einen Feind sah, lastete schwer auf ihm. Einen Feind, der sie gewaltsam ihres Zielpunktes entrissen und mit unlauteren Mitteln ihren freien Willen unterjocht hatte. Und statt ihn als Helfer zu akzeptieren, der nur aus Sorge um ihr Wohl auf diese Weise gehandelt hatte, unwissend, dass ihr Volk ein solches Vorgehen als intolerierbar betrachtete, sah sie sein Handeln sogar als feindlichen Affront an.

Nichts davon hatte in seiner Absicht gelegen. Wenn er auch ihre Denkart zu verstehen begann.

Ihre Verwunderung und Verärgerung, dass er Janos nicht energisch zurechtgewiesen hatte, wegen seines zugegebenermaßen empörenden Verhaltens, halfen ihm dabei, einige Dinge und Reaktionen, die ihrem Volk zu eigen waren, nachvollziehen zu können.

Sie erwartete von ihm, die Verantwortung für sein Handeln, das in ihren Augen mehr als verwerflich gewesen war, zu tragen und in ihrem Sinne für sie einzutreten, sobald es angebracht war.

Janos hätte er folglicherweise augenblicklich des Gemachs verweisen müssen.

Nun verfluchte er sich seines mangelnden Scharfblicks. Mit seinem Fehlverhalten hatte er sich eine Möglichkeit, ihr Vertrauen zu gewinnen zerstört.

Saya hatte im Gegensatz zu ihm wesentlich mehr Weitsicht bewiesen, sie hatte schnell erkannt, dass Janos keine Kämpfernatur war. Auf ein Duell mit ihr würde er sich in seiner Feigheit nicht einmal mit ihrer Verletzung einlassen. Doch würde er genauso wenig den Mut aufbringen, ihr Gift oder Ähnliches zu verabreichen.

Eine Kriegernatur wie sie konnte ihm nichts anderes entgegenschleudern, als diese hasserfüllte Verachtung. Selbst er brachte Janos keine wohlwollenden Gefühle entgegen.

Am stärksten aufgewühlt hatte ihn allerdings die Nachricht ihrer Unsterblichkeit.

Wie alt mochte sie wohl schon sein?

Was mochte sie bereits alles erlebt haben?

Vielleicht war sie viele Jahre oder sogar Jahrzehnte und Jahrhunderte älter als er.

Wenn dem so war, wie viel konnte man dann von ihr lernen?

Er war noch recht jung, auch sein bester Freund Cecil, der am gleichen Tag geboren war wie er, hatte noch nicht viel Lebenserfahrung vorzuweisen, verglich man es mit der Ewigkeit, die noch vor ihnen lag.

Iain hatte sich seinen Gedanken vollständig hingegeben, so dass ihm erst auffiel, dass er nicht mehr allein war, als Colia bereits vor ihm stand.

Erschrocken keuchte er auf und erhob sich eiligst, ihr in die amüsiert blitzenden Augen sehend.

„Ich dachte mir, dass ich dich hier finden würde“, erklärte sie ruhig und lehnte sich an das Fenster, massierte den verspannten Nacken mit einer Hand. Seinen erstaunten und beunruhigten Blick quittierte sie mit einem schiefen Grinsen.

„Unser Gast ist … wie soll man es beschreiben? … Anstrengend.“

„Wie geht es ihr?“, wollte er wissen. Die Sorge war ihm deutlich genug anzusehen, dass die Medizinerin kurz auflachte.

„Frag mich lieber, wie es mir geht! Dieses Mädchen ist halsstarrig und aggressiv wie ein wildes Tier und mindestens so gefährlich.

Ich wollte ihr eine schmerzlindernde Kräutermixtur geben, damit sie meine Untersuchung besser erträgt, die hat sie mir fast ins Gesicht geschüttet. Wenn sie Erfolg gehabt hätte, wäre ich die nächsten Wochen sicher mit einer Binde um die Augen herumgestolpert. Dabei war in der Mixtur nichts Rauschförderndes, worauf ich, wie ich erwähnen möchte, ausdrücklich hingewiesen habe.

Leider scheint sie mir nicht genug zu vertrauen, um meinen Worten Glauben zu schenken – was ich ja verstehe. Wahrscheinlich wäre es mir an ihrer Stelle nicht anders ergangen. Allerdings wäre es sicher nicht nötig gewesen, jedes Mal nach meinem Arm zu greifen, bevor ich eine Untersuchung begann.

Ich sage dir Iain, in einer Hand dieses Mädchens steckt mehr Kraft als in einem ausgewachsenen Krieger unseres Volkes, und sie weiß diese sehr genau einzusetzen. Ich hörte meinen Arm bereits knacken, da ließ sie kurz vor dem Bruch von mir ab. Sie wusste genau, wie weit sie gehen durfte, ohne mir ernsthaft zu schaden.

Niemals zuvor habe ich eine Person so gezielt so große Kraft einsetzen erlebt, nicht einmal Blutergüsse habe ich, die ich als Beweis dir hätte präsentieren können.“

Iain konnte sich die Szene lebhaft vorstellen, wie die beiden Frauen um die Oberhand bei der Untersuchung rangen. Colia konnte sehr bestimmend werden, und Saya war sicher nicht die Person, die das ohne Widerstand akzeptierte. In seine Augen trat ein humorvolles Lachen.

„Kann ich sie besuchen?“

Er war nicht auf Colias abschätzenden Blick gefasst, der ihn langsam von oben nach unten maß, als würde die passende Antwort von ihm abhängen. Ihre Miene wechselte zwischen verschiedenen Stadien von Skepsis, Nachdenklichkeit und schließlich entschlossener Ablehnung, während sein anfängliches Erstaunen sich angesichts dieser schleichenden Absage langsam in Verständnislosigkeit wandelte.

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Iain“, meinte sie in gedehntem Tonfall, hob aber sofort die Hand, als er aufgebracht den Grund fordern wollte, und gebot ihm mit warnendem Blick zu schweigen.

Es reichte ihr, sich mit dieser wilden Fremden mehrere Stunden sowohl körperlich als auch und vor allem geistig gemessen zu haben, bis sie endlich gewonnen hatte und die Untersuchungen zu einem Abschluss hatte bringen können. Sie hatte weder die Lust noch die Kraft, eine Wiederholung mit einem neuen Gegner durchzuführen, der es zuweilen mit seinem Forscherdrang absolut übertrieb und eindeutig wesentlich mehr Energie besaß als sie selbst.

In der meisten Zeit konnte sie darüber schmunzeln, zumal Iain einen eigenen Charme besaß, der es vor allem weiblichen Wesen sehr schwer machte, ihm etwas abzuschlagen. Aber im Augenblick wollte sie nur noch eines – ein warmes, entspannendes Bad und ein aufgeschlagenes Bett, dem sie sich die nächsten sechs bis acht Stunden voll und ganz widmen würde.

Doch erst hieß es, den jungen Mann vor sich zu zügeln und zumindest für eine Weile zur Ruhe zu bringen.

„Es gibt zwei gute Gründe für meine Meinung. Bevor du dir also die Mühe des Widerspruchs machst, schlage ich vor, du hörst mich erst an.“

Sie verschränkte die Arme abwartend und blickte ihn an, ihre Erschöpfung kaum mehr verbergen könnend. Auch deswegen genügte ihr ein ungeduldiges Nicken als Reaktion.

„Es ist offensichtlich, dass das Mädchen unter einem großen Druck steht, ihren Auftrag auszuführen. Ich befürchte, wir können sie nicht die angemessene Genesungszeit halten, wenn wir sie nicht festketten – was im Übrigen auch nicht hilfreich für ihre Erholung wäre.

Das bedeutet für mich als Medizinerin, dass ich dafür sorgen muss, sie so schnell als möglich auf die Beine zu bringen, was auch heißt, dass sie viel Ruhe braucht und jede Form der Aufregung ihren Heilungsprozess verzögert.“

„Ich möchte doch nur mit ihr reden, ich habe nicht vor, ihr zu schaden“, unterbrach Iain sie ein wenig irritiert. Traute Colia ihm tatsächlich zu die Gesundung eines lebenden Wesens verhindern zu wollen?

„Iain, sie versteht uns nicht!“ Ohne es zu bemerken, erhob Colia ihre Stimme mit verzweifelter Ungeduld. „Du wirst doch bemerkt haben, dass eine Kommunikation ohne Missverständnisse nicht möglich ist.

Saya stammt offensichtlich aus einem aggressiven, stolzen Volk. Sie wird ihre Natur hier noch oft genug unterdrücken müssen, wenn es wieder zu Verständigungs­unstimmigkeiten kommt – was ja durchaus zu erwarten ist. Da kann man doch wenigstens versuchen, diese Art der Aufregung zu vermeiden, während sie noch Bettruhe braucht. Unterdrückung von Gefühlen ist ihrer baldigen Genesung mehr als hinderlich.

Du hast doch selbst erlebt, wie es sie quält, dass sie nicht für sich selbst voll einstehen kann.“

„Genau deshalb möchte ich sie besuchen!“, unterbrach Iain abermals, diesmal voller Begeisterung in der Stimme. Ihr konsternierter Blick hielt ihn nicht auf.

„Wir haben unterschiedliche Verhaltensmuster – das ist wahr. Aber es gibt mit Sicherheit eine gemeinsame Basis!

Colia, es muss eine gemeinsame Basis geben. Ich glaube, ich verstehe Sayas Beweggründe für die aggressiven Reaktionen auf verschiedene Situationen, die uns vielleicht harmlos erschienen oder von uns nur hilfreich gemeint waren.

Und wenn ich sie wirklich verstehe, dann ist eine Kommunikation zwischen uns möglich, dann kann ich die Missverständnisse, die unsere Völker trennen, ausräumen. Stell dir vor, wie viel wir voneinander lernen könnten!

Wir könnten in der kurzen Zeit, die sie hier verbringen wird, Jahrtausende alte Sagen korrigieren – könnten die Geschichte des anderen Volkes aus erster Hand kennenlernen!

Wir sind doch beide Gelehrte, und die Möglichkeit, endlich mit einer Primärquelle kommunizieren zu können, ist uns doch nun in dieser Zeitspanne grenzenlos gegeben. Auch Saya wird dies, trotz ihres Auftrags oder ihrer Verletzung, nicht ignorieren können.

Außerdem könnte ich als Vermittler fungieren, zwischen ihrem kulturellen Erbe und unserem Reich. So würde sie unsere Verhaltensmuster verstehen lernen und mit der Zeit vielleicht sogar ihre Aggressivität uns gegenüber ablegen und sich von selbst unserer Art anpassen.

Als Gelehrte muss sie dazu doch in der Lage sein!“

Sie verstand ihn – sie verstand ihn sogar sehr gut – konnte seine Gefühle wahrscheinlich besser deuten, als er selbst.

Gerade deshalb entschloss sie sich zur schonungslosen Wahrheit.

„Iain, wir beide sind seit vielen Jahren befreundet. Ich würde sogar behaupten, ich besitze mittlerweile dein uneingeschränktes Vertrauen – so wie ich auch dir vertraue.“

Colia beobachtete seine ernster werdende Miene, die sich langsam ergrauenden Augen, während er schweigend versuchte, in ihren eigenen, ihre nächsten Worte vorherzusehen. Es tat ihr leid, ihm seine Illusionen nehmen zu müssen – aber dennoch …

„Du hast mich eben nicht zu Ende reden lassen, was meine zwei Gründe, dir das Besuchsrecht zu verweigern, betraf. Lass es mich bitte nun tun.

Ich bewundere dich wirklich für deine überragenden diplomatischen Fähigkeiten, deine schier grenzenlose Selbstbeherrschung, deine ungetrübte Begeisterung für deine historischen Forschungen und deine außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit, dich in andere Völker und Wesen hineindenken zu können. Aber diesmal, an dieser Stelle, hast du eine unüberwindbare Tatsache übersehen.

Bei alldem, was du planst, so plausibel und ehrbar sich das auch in meinen Ohren anhören mag, so bist du auf Sayas Bereitwilligkeit auf dich als Person – nicht als Gelehrter – zuzugehen angewiesen.

Sie, nicht ich, muss deine Motive akzeptieren – mehr noch, sie muss einen Teil Vertrauen in sie setzen und dich als Partner in diesem Vorhaben annehmen und damit auch dieses Vertrauen auf dich übertragen.“

Iain lachte nach diesen Worten erleichtert auf. Er wollte Colia erklären, dass er sich darum keine Sorgen machte. Sobald die Missverständnisse ausgeräumt waren und sie miteinander kommunizieren konnten, würde sie ihn als Freund ansehen können – da war er sich sicher.

Doch die Medizinerin legte beide Hände auf seine Schultern, verlangte damit seine ungeteilte Aufmerksamkeit zurück. Ihr eindringlicher Blick und der drängende Ernst in ihrer Stimme ließen ihn förmlich erstarren.

„Iain, Saya hasst dich!“

Die Kinder Paxias

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