Читать книгу Der Arzt vom Tegernsee 50 – Arztroman - Laura Martens - Страница 3
Оглавление»Auf geht’s, Franzl, wir sind lange genug durch die Gegend gelaufen«, meinte Dr. Baumann und dirigierte den Hund die beiden Stufen hinauf, die zu der Straße führten, in der sein Haus stand. Wie jeden Morgen hatte er mit Franzl einen ausgiebigen Spaziergang am See gemacht, doch jetzt wartete das Frühstück auf sie. Katharina Wittenberg, seine langjährige Haushälterin, hatte bestimmt schon Kaffee aufgebrüht und den Tisch gedeckt.
Franzl ergab sich in sein Schicksal und trottete gehorsam zum Doktorhaus. Sie hatten gerade erst das Grundstück erreicht, als Katharina aus dem Haus kam und ihnen entgegenging. »Frau Eschen hat eben angerufen, Eric«, sagte sie. »Als ihr Mann vor zwanzig Minuten aufstehen wollte, konnte er kaum seine Beine bewegen. Außerdem hat er starke Schmerzen. Sie vermutet, daß es sich um einen neuen Schub seiner multiplen Sklerose handeln könnte.«
»Wahrscheinlich hat sie damit recht«, erwiderte der Arzt. »Ich habe befürchtet, daß seine schwere Erkältung einen neuen Krankheitsschub auslöst.« Eilig trat er ins Haus und ging durch die Verbindungstür in die Praxis hinüber, um seine Tasche zu holen.
»Dein armes Herrchen hat nicht einmal Zeit zu einem gemütlichen Frühstück, Franzl«, bemerkte Katharina bedauernd und wandte sich der Küche zu. Sie konnte sehr gut verstehen, daß Dr. Baumann sofort zu den Eschens fahren wollte. Davon abgesehen, daß sie Daniela und ihren Mann sehr gern hatte, wußte sie auch, um was für eine heimtückische Krankheit es sich bei multipler Sklerose handelte.
Eric kam aus der Praxis. Seine Haushälterin erwartete ihn mit einem vollen Kaffeebecher bei der Treppe. »Danke, Katharina.« Rasch griff er nach dem Becher, nahm ein paar Schlucke, gab ihn der älteren Frau zurück und verließ das Haus.
»Komm, Franzl, unser Frühstück wartet.« Katharina kehrte in die Küche zurück, Franzl folgte ihr. Herausfordernd setzte er sich vor die Speisekammer. »Wuff«, machte er und sah sie so treuherzig an, daß sie lachen mußte.
Auf dem Weg zum Flechnerhof, der am anderen Ende von Tegernsee lag, erinnerte sich Dr. Baumann daran, wie Stefan Eschen vor zwei Jahren an den Tegernsee gekommen war. Der junge Mann hatte damals schon an multipler Sklerose gelitten, auch wenn sich seine Krankheit noch kaum bemerkbar gemacht hatte. Er hatte Daniela Flechner kennengelernt und wenig später ihrem abenteuerlustigen Bruder Rainer das Leben gerettet, als dieser während einer Schatzsuche in der Althof-Mühle verunglückt war. Die jungen Leute hatten sich ineinander verliebt und geheiratet. Kurz vor ihrer Hochzeit war die Wohnung im zweiten Stock des alten Bauernhauses, das den Flechners gehörte, fertig geworden. Daniela, die inzwischen ein Kind erwartete, arbeitete nach wie vor im Geschäft ihrer Eltern mit, während Stefan eine Anstellung als Lehrer am Tegernseer Gymnasium gefunden hatte. Seine schwere Krankheit hatte ihn bisher nicht allzu sehr belastet.
Jochen Flechner, Danielas Vater, war auf dem Weg zu seiner Werkstatt, in der er antike Möbel restaurierte, als Dr. Baumann in den Hof fuhr. Er blieb stehen und wartete, bis der Arzt ausgestiegen war. »Guten Morgen, Herr Doktor!« rief er Eric zu.
»Guten Morgen, Herr Flechner«, antwortete der Arzt. »Ich bin auf dem Weg zu Ihrem Schwiegersohn.«
Jochen nickte. »Am besten, Sie gehen gleich nach oben«, meinte er. »Stefan geht es gar nicht gut. Hoffentlich können Sie etwas für ihn tun. Wir machen uns alle große Sorgen.«
»Die Krankheit Ihres Schwiegersohnes ist leider unberechenbar«, sagte Eric. »Aber man muß nicht sofort an das Schlimmste denken.«
»Leider tut man es automatisch.« Jochen Flechner nickte ihm zu und verschwand in seiner Werkstatt.
Daniela Eschen öffnete dem Arzt die Wohnungstür. Man sah ihr ihre Schwangerschaft bereits an. Eric erkannte sofort, daß die junge Frau geweint hatte. »Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Eschen«, sagte er und drückte ihre Hand. »Selbst ein schwerer Krankheitsschub muß nicht bedeuten, daß die Lähmungserscheinungen bleiben werden.«
»Das sage ich mir auch, trotzdem habe ich entsetzliche Angst, Doktor Baumann«, bekannte die junge Frau. »Und was ist mit den Schmerzen? Sie sind für diese Krankheit nicht typisch.«
»Nein, das allerdings nicht«, antwortete Eric. »Vermutlich liegt bei Ihrem Mann noch eine besondere Nervenreizung vor. Es könnte sich auch um Phantomschmerzen handeln. Derartige Schmerzen treten nicht nur nach Amputationen auf.«
Daniela führte ihn ins Schlafzimmer. Stefan Eschen lag mit aschfahlem Gesicht im Bett. Er versuchte, sich aufzurichten, aber es kostete ihn große Mühe, da ihn jede Bewegung schmerzte. »Es ist, als würden meine Beine eigentlich nicht zu mir gehören«, meinte er, nachdem sie einander begrüßt hatten. »Trotzdem tun sie mir sehr weh, besonders die Füße. Und dazu diese Empfindungsstörungen…«
Dr. Baumann stellte seine Tasche auf den Boden. Sorgfältig untersuchte er den jungen Mann. Es gab keinen Zweifel, Stefan
Eschen hatte einen neuen Krankheitsschub erlitten. »Ich würde Sie gern zu einer Spezialuntersuchung an die Münchner Universitätsklinik überweisen«, sagte er und gab seinem Patienten gegen die Schmerzen eine Spritze.
»Was bleibt mir anderes übrig, als damit einverstanden zu sein?« fragte der junge Lehrer. »Meinen Sie, daß ich nach der Untersuchung sofort nach Hause entlassen werden kann?«
»Selbst, wenn du ein paar Tage in der Klinik bleiben müßtest, solltest du damit einverstanden sein, Stefan«, mischte sich Daniela ein. Mit beiden Händen stützte sie sich schwer auf das Fußende des Bettes. »Es ist sehr wichtig, daß alles getan wird, um dir zu helfen.«
»Ich habe nicht vor, irgendeine Untersuchung zu verweigern«, versicherte ihr Mann. »Es wäre sehr unvernünftig.« Er schenkte seiner Frau ein ermutigendes Lächeln. »Du wirst sehen, Daniela, es ist nur ein Sturm im Wasserglas. Du weißt, mich kann so leicht nichts umwerfen.«
»Ja, ich weiß«, behauptete Daniela, nur es klang nicht so, als sei sie davon überzeugt.
Dr. Baumann versprach den Eschens, daß er von seiner Praxis aus in der entsprechenden Abteilung der Münchner Universitätsklinik anrufen würde. »Ich sage Ihnen Bescheid, wann man Sie in München erwartet, und werde mich auch um den Krankenwagen kümmern, der Sie zur Universitätsklinik bringen wird.«
»Danke, Doktor Baumann.« Stefan reichte ihm die Hand. »Ich bin froh, daß Sie so schnell gekommen sind. Ich fühle mich schon entschieden besser.«
Das konnte sich Eric zwar nicht vorstellen, doch er hütete sich davor, dem jungen Mann zu widersprechen. Mit ein paar ermutigenden Worten verabschiedete er sich von ihm.
Daniela brachte den Arzt wenig später in den Hof hinunter. »Ich wußte immer, daß so etwas passieren könnte«, sagte sie. »Damals, als Stefan und ich uns ineinander verliebten, warnte er mich davor, einen Mann zu heiraten, der an multipler Sklerose leidet.« Sie blickte zu Doktor Baumann auf. »Eines können Sie mir glauben, ich würde Stefan jederzeit noch einmal heiraten.«
»Ich bin sehr froh, daß Sie so denken, Frau Eschen«, antwortete Doktor Baumann. Er mochte Daniela und ihre Familie sehr und hoffte von ganzem Herzen, daß es Stefan schon bald wieder bessergehen würde.
Als Eric nach Hause zurückkehrte, sah er, daß der Wagen von Franziska Löbl bereits in der Einfahrt stand. Er ging ins Haus, machte sich ein wenig frisch und bat seine Haushälterin, ihm sein Frühstück in die Praxis hinüberzubringen. Er wollte sich mit Franziska über Stefan Eschen unterhalten. Der junge Mann würde in der nächsten Zeit verstärkt Krankengymnastik brauchen, und er hoffte, daß sie bereit sein würde, zu den Eschens auf den Hof zu kommen.
Franziska war sofort damit einverstanden. »Es macht mir nichts aus, die Eschens zu besuchen«, schrieb sie auf den Block, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Als Kind hatte sie einen schweren Autounfall gehabt und konnte seither nicht mehr sprechen.
»Danke, Franziska«, erwiderte Eric. »Ich hoffe nur, daß die Krankheit bei Herrn Eschen bald zu einem erneuten Stillstand kommt. Du weißt ja selbst, daß es viele Kranke gibt, die niemals gezwungen sind, im Rollstuhl zu sitzen. Leider kann man das niemals voraussagen.«
»Das macht diese Krankheit ja so heimtückisch«, schrieb Franziska. Sie schaute auf. »Manfred und ich haben gestern abend beschlossen, schon eine Woche vor Weihnachten zu heiraten und nicht erst im nächsten Jahr«, verriet sie.
Dr. Baumann nahm die junge Frau in die Arme. »Das freut mich.« Er kannte Franziska seit ihrer Geburt. Schon als kleines Mädchen hatte sie jedem erzählt, daß sie ihn eines Tages heiraten würde. Später war sie auf jede Frau eifersüchtig gewesen, die ihm auch nur in die Nähe gekommen war. Deshalb machte es ihn doppelt froh, daß es nun einen anderen Mann in ihrem Leben gab.
»Danke, Eric«, antwortete die junge Frau schriftlich. »Ich glaube, daß ich mit Manfred sehr glücklich werde.«
Als Dr. Baumann aus dem Zimmer der Krankengymnastin kam, begegnete ihm seine Kollegin Frau Dr. Bertram. Sie war vor fünf Minuten in die Praxis gekommen. Nachdem sie einander begrüßt hatten, fragte sie, ob es am Sonntag dabei bleiben würde, daß sie seine Vertretung übernehmen sollte. Er hatte an diesem Wochenende Dienst.
»Ja, es bleibt dabei, Mara«, erwiderte er. »Gestern abend habe ich noch einmal mit meinem Freund telefoniert. Ich werde den ganzen Sonntag in München verbringen.«
Nacheinander trafen drei Patienten ein. Mara eilte in den kleinen Raum, in dem das Ozongerät stand. Eric ging in sein Sprechzimmer, um rasch noch etwas zu essen, bevor er seinen ersten Patienten empfing. Außerdem wollte er gleich in der Münchener Universitätsklinik anrufen, um einen Termin für Stefan Eschen auszumachen. Er wußte, er würde während der nächsten Stunden kaum ein paar Minuten dafür erübrigen können.
*
»Ich bin eine Rose zu Sharon, eine Lilie im Tal…« Carmen Thiele lauschte hingerissen der Predigt des Pfarrers. Zusammen mit ihrem Mann saß sie in der ersten Reihe der kleinen Kirche, in der sie getraut wurden. Das Lied der Lieder hatte für sie schon in der Schule zu den schönsten Teilen des Alten Testaments gehört. Deswegen hatte sie es sich als Thema ihres Traugottesdienstes gewünscht. Sie konnte sehr gut die Liebe nachempfinden, die Shulamit mit Salomo verbunden hatte. Jedes ihrer Worte hätte auch ihr eigenes sein können.
Christian Thiele drückte zärtlich die Hand seiner Frau. Seit ihrer standesamtlichen Trauung am gestrigen Vormittag hielt er sich für den glücklichsten Mann der Welt. Die jungen Leute hatten sich vor zwei Jahren kennengelernt. Für Christian war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Von Anfang an hatte für ihn festgestanden, daß sie eines Tages heiraten würden.
Nach dem Segen begannen die Glocken zu läuten. Arm in Arm verließ das Brautpaar die Kirche. Ein langer Hochzeitszug folgte ihnen. Carmen arbeitete bei der Post, Christian als Informatiker bei einer großen Firma. Zu ihrer Hochzeit hatten sie all ihre Freunde und viele ihrer Kollegen eingeladen.
Vor der Kirche wurde den jungen Leuten von allen Seiten gratuliert. Es war ein wunderschöner Tag, kein Wölkchen zeigte sich am strahlend blauen Himmel. Carmen schien es, als wollte sich alle Welt mit ihr freuen. »Ich bin so glücklich, Christian«, flüsterte sie ihrem Mann ins Ohr. »Ich könnte immerzu tanzen, mich um mich selbst drehen, mich…«
Martina Weiß, Carmens beste Freundin und Trauzeugin, griff nach ihrer Hand. »Wie glücklich mußt du sein«, meinte sie zu ihr. »Ich freue mich für dich, Carmen. Herzlichen Glückwunsch.« Sie wandte sich Christian zu und nahm auch seine Hand. Es fiel ihr nicht leicht, ein fröhliches Gesicht zu machen. Was hätte sie darum gegeben, an Carmens Stelle zu sein. Seit sie Christian kennengelernt hatte, liebte sie ihn. Es tat weh, ihn jetzt mit einer anderen verheiratet zu sehen, auch wenn diese andere ihre beste Freundin war.
In einer langen Wagenkolonne fuhren sie zu einem Hotel am Wannsee. Im festlich mit Blumen und Kerzen geschmückten Bankettsaal wartete bereits der Kaffee auf sie. Vor dem Platz des Brautpaars stand eine mehrstöckige, mit Marzipanrosen verzierte Hochzeitstorte. Auf einem langen Tisch bei der Tür lagen
die Hochzeitsgeschenke. Carmen freute sich schon darauf, sie nachher zusammen mit ihrem Mann auszupacken. Sie war überzeugt, daß es dabei viel zu lachen geben würde. Immerhin kannte sie ihre Freunde und deren Sinn für Humor.
Während des Kaffeetrinkens hielt Christians bester Freund eine Rede und erwähnte in ihr den glücklichen Zufall, der seinen Freund und ihn vor zwei Jahren in das Tanzcafé geführt hatte, in dem auch Carmen und Martina ein paar Stunden verbrachten. Ihm sei vom ersten Augenblick an klargewesen, daß es zwischen den beiden gefunkt hatte.
Werner wandte sich dem Brautpaar zu. »Ihr ahnt nicht, wie sehr ich mir freue, euer Trauzeuge zu sein. Wenn zwei Menschen füreinander bestimmt sind, so seid ihr es.«
Martina dachte ebenfalls an jenen Abend. Christian hatte auch sie zum Tanzen aufgefordert, allerdings hatte sie schon bald gemerkt, daß es nur Höflichkeit gewesen war. Er interessierte sich nur für Carmen, hatte nur Augen für ihre Freundin. Sie konnte nicht verstehen, was er an Carmen fand, die sie trotz ihrer schwarzen Haare und braunen Augen für ausgesprochen farblos hielt. Christian mußte blind sein, absolut blind, sonst hätte er sich in sie und nicht in ihre Freundin verliebt. Es fiel ihr schwer, dem jungen Paar nicht zu zeigen, daß sie von dieser Verbindung nichts hielt.
Der Nachmittag verging mit Sketchen, die Kollegen von der Post aufführten, dem Auspacken der Geschenke und fröhlichen Gesprächen. Carmen und Christian wollten am nächsten Morgen zu ihrer Hochzeitsreise an den Tegernsee aufbrechen, und so hatte ihnen Werner Vogt außer einem Kaffeeservice auch einen Gutschein für ein Candelight-Dinner im Hotel ›Seeschlößchen‹ geschenkt. Er war dort auf seiner eigenen Hochzeitsreise abgestiegen und überzeugt, daß seine Freunde diesen Abend niemals vergessen würden.
Nach dem Abendessen spielte eine Band zum Tanz auf. Christian hatte sich als Eröffnung Carmens Lieblingslied gewünscht: ›Nachts in meinen Träumen‹ aus dem Film Titanic. Eng umschlungen tanzte er mit seiner Frau quer durch den Saal. Minutenlang gab es für ihn nur noch Carmen, vergaß er völlig, daß sie nicht allein waren. Immer wieder flüsterte er ihr zu, wie sehr er sie liebte.
Auch Martina tanzte. Werner Vogt hatte sie aufgefordert. Seine Frau konnte an der Hochzeit nicht teilnehmen, weil sie wegen einer Knieoperation im Krankenhaus lag. »Sind die beiden nicht ein schönes Paar?« fragte er und schaute zu den jungen Leuten hinüber. »Sie sind wie füreinander geschaffen«, fuhr er fort.
Martina antwortete ihm nicht. In Gedanken summte sie den Text des Liedes mit. ›Nachts in meinen Träumen sehe ich dich und fühle, daß ich nicht weit fort bin von dir. Über alle Grenzen, das weiß ich, das spür ich, daß du immer sein wirst in mir.‹
Es war genau das, was sie empfand. Dieses Lied war allein für sie geschrieben worden. Ja, für sie und Christian. ›Du bist die Liebe in mir und du bleibst mir ganz nah, weil mein Herz dich nie mehr vergißt‹, klang es in ihr nach. Und so war es auch. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie die Liebe, die sie für Christian empfand, jemals vergessen würde.
Carmen und Christian tanzten noch immer miteinander. Sie ahnten nicht, daß Martina sie glühend beneidete. Carmen wäre niemals auf die Idee gekommen, daß Martina in ihr eine Feindin sah. Sie hatten gemeinsam bei der Post angefangen, gemeinsam ihre Freizeit in den letzten Jahren verbracht. Nein, nicht mehr ganz. Als Christian in ihr Leben getreten war, hatte sie mehr Zeit mit ihm als mit Martina verbracht. Aber das war ganz normal, und sie war überzeugt, daß ihre Freundin das verstand.
»Ich liebe dich«, sagte Christian. »Ich liebe dich so sehr, daß es direkt weh tut.« Impulsiv zog er seine Frau an sich und küßte sie.
*
Dr. Eric Baumann hatte einen äußerst vergnüglichen Tag bei den Sanwalds in München verbracht. Er kannte Dr. Sanwald seit seiner Jugendzeit. Dennoch hatten sie sich jahrelang nicht gesehen, da die Sanwalds einige Zeit in Südamerika gelebt hatten und erst vor wenigen Wochen nach Deutschland zurückgekehrt waren.
Trotz des strömenden Regens fuhr der Arzt bester Laune nach Tegernsee zurück. An und für sich hatte er erst um acht aufbrechen wollen, doch bereits um sechs war es so dunkel geworden, als würde ein Weltuntergang bevorstehen. Aus dem Autoradio klang das Brandenburgische Konzert. Er war nur noch wenige Kilometer von Tegernsee entfernt. Noch von München aus hatte er seine Haushälterin angerufen und von ihr erfahren, daß Mara Bertram einen äußerst ruhigen Tag verlebt hatte. Es hatte nicht einen einzigen Notfall gegeben.
Plötzlich sah er im Kegel seiner Scheinwerfer unterhalb der Böschung einen umgestürzten Wagen. Er hielt am Straßenrand an, stieg aus und kletterte im strömende Regen die Böschung hinunter. Der Unfall konnte erst vor kurzer Zeit passiert sein. Die Motorhaube des Wagens fühlte sich noch warm an. Ein Mann und eine Frau hingen in den Gurten. Sie bewegten sich nicht.
Eric versuchte, die Fahrertür zu öffnen. Sie klemmte. Eilig ging er um den Wagen herum und probierte es auf der anderen Seite. Erleichtert atmete er auf, als die Tür nachgab.
Die jungen Leute lebten, wie der Arzt auf einen Blick erkannte, schienen jedoch ohne Bewußtsein zu sein. Er tastete am Hals der Frau nach ihrem Puls. Ganz schwach spürte er ihn unter seinen Fingern. Den Mann konnte er im Moment noch nicht erreichen.
So schnell es ging, kehrte Eric zu seinem Wagen zurück. Es war ein Fehler gewesen, nicht gleich an seine Tasche und den Gurtschneider zu denken. Er nahm sein Handy aus dem Handschuhfach und rief den Notdienst an.
Nur Minuten später befand sich der Arzt wieder bei dem verunglückten Wagen. Er spürte kaum, daß ihn der Regen schon bis auf die Haut durchnäßt hatte. Vorsichtig stützte er die junge Frau ab, während er den Gurt durchschnitt, dann zog er sie ins Freie und legte sie ins Gras. Bis auf einige Abschürfungen und einer blutigen Stelle an der Stirn schien sie keine äußeren Verletzungen erlitten zu haben.
Dr. Baumann sorgte dafür, daß der Regen nicht ihr Gesicht traf, bevor er sich in den Wagen kniete, um auch den zweiten Gurt durchzuschneiden. Der Mann stöhnte auf, als er ihn berührte. »Keine Angst, Sie sind in Sicherheit«, sagte Eric. »Ihnen wird geholfen.«
Nur ein erneutes Stöhnen antwortete ihm. Dr. Baumann faßte ihn unter die Schultern und zog ihn aus dem Wagen. Behutsam legte er ihn ebenfalls ins Gras. Der Mann schien unter einem schweren Schock zu stehen. Er hatte Schüttelfrost, und sein Blutdruck war so weit gesunken, daß es bereits gefährlich wurde. »Carmen«, murmelte er.
»Ihre Frau lebt«, versuchte Eric ihn zu beruhigen.
»Hochzeit… Carmen… Ich…« Der Mann wollte sich aufrichten, es gelang ihm nicht.
»Bitte, bleiben Sie ganz ruhig liegen«, bat Dr. Baumann. Er breitete eine der beiden Decken über ihn, die er im Wagen gefunden hatte. »Ich muß mich um Ihre Frau kümmern.« Er war sich nicht sicher, ob der Mann ihn verstanden hatte, doch er rührte sich nicht.
Routiniert untersuchte Eric die bewußtlose Frau. Es gab keine Anzeichen für einen Schädelbruch. Er vermutete, ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Je eher sie ins Krankenhaus kam, um so besser würde es sein. Er war froh, als er hörte, wie sich Polizeifahrzeuge und Krankenwagen der Unglücksstelle näherten.
Nur wenige Minuten später wurde die Gegend vom Licht der Scheinwerfer fast taghell erleuchtet. Ein weiterer Arzt und die Sanitäter kümmerten sich um die Verletzten. Dr. Baumann half ihnen, sie zu versorgen. Die junge Frau war noch immer bewußtlos.
»Carmen«, flüsterte der Mann. »Ich muß zu meiner Frau. Sie ist meine Frau. Sie…«
»Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Frau«, bat Dr. Baumann. »Es wird alles für sie getan, was uns möglich ist. Sie kommen in dasselbe Krankenhaus wie Ihre Frau.« Er drückte die Hand des Verunglückten. »Wie heißen Sie? Können Sie sich daran erinnern?«
»Thiele, wir heißen Thiele«, flüsterte der Mann. »Carmen und Christian Thiele. Berlin…« Erschöpft schloß er die Augen. Zwei Minuten später befand er sich bereits auf dem Weg nach Tegernsee.
Eric brauchte nur ein paar Minuten, um noch mit der Polizei zu sprechen, dann stieg er in seinen Wagen und folgte den beiden Krankenwagen. Er hoffte, daß man der jungen Frau helfen konnte. Ihr Mann schien Glück im Unglück gehabt zu haben, allerdings konnte man das ohne genauere Untersuchung nicht so leicht vorhersagen. Auch wenn es keine Anzeichen für innere Verletzungen gegeben hatte, mußte das noch lange nicht heißen, daß der Schock das einzige war, worunter Christian Thiele litt.
Vom Parkplatz des Krankenhauses aus rief Eric erst einmal seine Haushälterin an, um ihr zu sagen, daß es später wurde. Da sie wußte, wann er von München abgefahren war, hatte sie sich bereits Sorgen gemacht.
»Bei diesem Unwetter hat es wenig Sinn, mit Franzl einen längeren Spaziergang zu machen«, meinte Katharina. »Ich werde ihn nur rasch in den Garten lassen.«
»Ja, das ist in Ordnung«, erwiderte der Arzt. »Ich weiß nicht genau, wann ich nach Hause kommen werde, Katharina«, fuhr er fort. »Bitte warte nicht auf mich. Es reicht, wenn du mir mein Abendessen und eine Kanne Tee in die Küche stellst.«
»Nun, wir werden sehen«, bemerkte seine Haushälterin. Sie nahm sich vor, auf jeden Fall aufzubleiben. Schließlich wollte sie alles über den Unfall erfahren.
Als Dr. Baumann in die Aufnahme kam, erfuhr er, daß Carmen Thiele bereits zur Computertomographie in die Röntgenabteilung gebracht worden war. Es bestand der Verdacht einer Gehirnblutung. Ihr Mann lag noch in dem kleinen Raum, in dem man ihn untersucht hatte. Wie Eric vermutet hatte, hatte er einen schweren Schock erlitten, ansonsten schien ihm bis auf ein paar Abschürfungen nicht viel zu fehlen. Der Arzt ergriff Christians Hand. Er schlug die Augen auf.
»Sie waren beim Wagen«, sagte er. »Ja, Sie waren beim Wagen. Sie…« Er schloß die Augen. »Wir haben gestern geheiratet, Carmen und ich. Ich liebe sie. Ich… Carmen… Carmen…«
»Es wird alles gut«, versprach Eric. »Jetzt müssen Sie erst einmal gesund werden. Sie haben einen ziemlichen Schock erlitten. Nun, es ist kein Wunder. Wie ist es denn zu diesem Unfall gekommen?«
»Regen… Der Wagen gehorchte mir nicht mehr. Er…« Christian drehte den Kopf zur Seite. Erneut begann er am ganzen Körper zu zittern.
»Gleich wird es Ihnen bessergehen, Herr Thiele«, meinte die ältere Schwester, die mit einer Spritze in der Hand den kleinen Raum betrat. Behutsam injizierte sie ihm ein Beruhigungsmittel.
Dr. Baumann begleitete Christian Thiele zur Station hinauf. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu ihm ans Bett, um bei ihm zu bleiben, bis er eingeschlafen war. Alle paar Minuten schreckte der junge Mann auf und fragte nach seiner Frau.
Es wurde elf, bis Christian Thiele endlich einschlief. Dr. Baumann verließ leise das Zimmer. Bevor er nach Hause fuhr, erkundigte er sich noch nach Carmen Thiele. Er erfuhr, daß sie inzwischen auf die Intensivstation gebracht worden war. Die junge Frau hatte tatsächlich ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Der Verdacht einer Hirnblutung hatte sich zum Glück nicht bestätigt. Dennoch war sie noch immer bewußtlos.
»Ich werde morgen anrufen, um zu erfahren, wie es ihr geht«, sagte er zu dem zuständigen Arzt. »Wissen Sie bereits, ob es jemanden gibt, den man verständigen kann?«
»Wir haben in den Papieren nachgeschaut, die Herr Thiele dabei hatte. Wir wissen nur, daß das Ehepaar aus Berlin stammt, aber nicht, ob es irgendwelche Verwandten gibt. Nun, das werden wir noch klären.«
Dr. Baumann verabschiedete sich von seinem Kollegen und verließ das Krankenhaus. Tief in Gedanken fuhr er nach Hause. So weit er verstanden hatte, befanden sich die Thieles auf ihrer Hochzeitsreise. Sicher hatten sie sich diese Reise in leuchtenden Farben ausgemalt, und nun lagen sie im Krankenhaus und es war ungewiß, wann die junge Frau aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachen würde. Er hatte schon oft erlebt, daß derartige schwere Schädel-Hirn-Traumata ins Koma führten.
*
Dr. Baumann saß gerade mit Katharina Wittenberg beim Frühstück, als Franziskas Wagen in der Auffahrt hielt. Die Haushälterin stand auf, um die junge Frau zum Frühstück einzuladen. Eric erkannte sofort, daß Franziska in der vergangenen Nacht nicht viel geschlafen zu haben schien. Mit müden Bewegungen streichelte sie Franzl, der ihr schwanzwedelnd entgegengelaufen war.
Katharina stellte ein weiteres Gedeck auf den Tisch und schenkte für die Krankengymnastin Kaffee ein. »Was ist passiert?« fragte sie. »Ich sage es dir nicht gern. Du siehst ziemlich gerädert aus.«
Franziska Löbl holte ihren Block und ihren Stift aus der Rocktasche. »Ich hatte gestern einen heftigen Streit mit meinem Vater«, gestand sie. »Er will nicht einsehen, daß Manfred und ich schon vor unserer Hochzeit zusammenziehen möchten.« Ihr Verlobter und sie hatten vor einiger Zeit in Bad Wiessee ein Haus gekauft. Manfred Kessler hatte zuerst darauf bestanden, allein für die Kosten aufzukommen, hatte sich jedoch von Franziska überzeugen lassen, daß sie ein Recht darauf hatte, sich daran zu beteiligen.
Eric legte eine Hand auf Franziskas Arm. »Es ist für deinen Vater nicht leicht, dich gehen zu lassen. Für keinen Vater dürfte so etwas leicht sein. Außerdem hat er immer gehofft, daß du auf dem Hof bleibst.«
Franziska nickte. »Und Paul heiratete«, schrieb sie. »Nur, Liebe kann man nun einmal nicht erzwingen.« Wer weiß das besser als ich, dachte die junge Frau. Obwohl sie ihren Verlobten von ganzem Herzen liebte, konnte sie nicht vergessen, was ihr Eric bedeutete.
»Sei mir nicht böse, Franziska, ich habe den Eindruck, als wäre es eine Flucht«, sagte Eric. »Ich meine, daß du schon jetzt mit Manfred Kessler zusammenziehst.«
Wieder nickte die junge Frau. Erneut huschte ihr Stift über den Block. »Ja, es ist eine Flucht«, gab sie zu. »Ich kann die vorwurfsvollen Blicke nicht mehr ertragen, mit denen mich mein Vater und Paul bedenken. Zum Glück kann mich wenigstens Tante Magdalena verstehen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Wie war es in München, Eric?«
Der Arzt erzählte ihr von dem Unfall, an dem er auf der Rückfahrt von München vorbeigekommen war. »Als ich heute morgen im Krankenhaus angerufen habe, sagte man mir, daß die junge Frau im Koma liegt. Ihr Mann steht noch immer unter Schock. Trotz einer Beruhigungsspritze hatte er eine sehr unruhige Nacht.«
»Gott sei Dank warst du zur richtigen Zeit an der rechten Stelle«, sagte Katharina Wittenberg. Sie wandte sich an Franziska: »Die jungen Leute sind auf der Hochzeitsreise gewesen.«
»Wie schrecklich«, bemerkte Franziska schriftlich. Sie beugte sich zu Franzl hinunter, der seinen Kopf auf ihr Knie gelegt hatte. Liebevoll kraulte sie ihn, dann gab sie ihm ein Stückchen Wurst, ohne Katharinas vorwurfsvollen Blick zu beachten. Sie wußte nur zu gut, daß weder Katharina noch Eric Franzls bittenden Blicken widerstehen konnten. Also mußte auch sie kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihm zwischendurch etwas gab.
Gleich nach dem Mittagessen fuhr Dr. Baumann ins Krankenhaus. Er besuchte Christian Thiele, der in einem Einzelzimmer lag. Der junge Mann schien langsam seinen Schock zu überwinden.
Eric setzte sich zu ihm ans Bett.
»Danke, daß Sie uns gestern geholfen haben«, sagte Christian, als Eric seine Hand ergriff. »Wenn Sie nicht gewesen wären, hätte meine Frau wahrscheinlich nicht überlebt.«
»Ich bin überzeugt, daß auch der Fahrer eines anderen Wagens den Unfall bemerkt hätte«, erwiderte der Arzt.
»Das fragt sich noch.« Christian strich mit einer müden Bewegung seine dunklen Haare zurück. »Bisher hat man mich noch nicht zu meiner Frau gelassen. Ich bin überzeugt, daß Carmen auf mich wartet, auch wenn sie im Koma liegt. Bitte glauben Sie mir, ich kann es ertragen, sie auf der Intensivstation zu sehen. Ich muß mich selbst davon überzeugen, daß man mir nicht nur etwas vormacht.«
»Ihre Frau lebt«, versicherte Eric. »Sie liegt zwar im Koma, nur das bedeutet noch lange nicht, daß sie nicht mehr aufwachen wird. Bei einer Schädel-Hirn-Verletzung kommt es öfter vor, daß die davon Betroffenen ins Koma fallen. Ihre Frau kann schon in den nächsten Stunden aufwachen, oder erst in einigen Tagen. Allerdings könnte es auch sein, daß ihr Koma länger dauert.«
»Oder bis an ihr Lebensende anhält«, bemerkte Christian. Er holte tief Luft. »Trotzdem möchte ich meine Frau sehen. Sie wird spüren, daß ich bei ihr bin. Vermutlich fragt sie sich schon, weshalb ich sie allein lasse.«
Dr. Baumann stand auf und wandte sich der Tür zu. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach er. »Ich bin gleich zurück.«
Es dauerte keine zehn Minuten, bis Eric tatsächlich in das Krankenzimmer zurückkehrte. Er sagte dem jungen Mann, daß einem Besuch bei seiner Frau nichts mehr entgegenstand. »Meinen Sie, daß Sie laufen können?« erkundigte er sich. »Ich könnte Sie auch im Rollstuhl auf die Intensivstation bringen.«
»Nein, ich kann gehen.« Christian stand auf. Er nahm den Morgenrock aus dem Schrank, den man ihm aus dem Fundus des Krankenhauses gegeben hatte. Schweigend folgte er Dr. Baumann in den Gang hinaus.
Die beiden Männer fuhren mit dem Aufzug zur Intensivstation hinauf. Christian hatte Angst vor dem, was ihn erwartete. Er hatte schon sehr viel über Patienten gehört, die im Koma lagen, und er wußte auch, daß viele von ihnen nicht mehr erwachten. Aber warum sollte dieses Schicksal ausgerechnet seine Frau treffen? Er mußte nur daran glauben, daß alles wieder gut werden würde. Doch die Angst, die sich in seinem Herzen eingenistet hatte, wollte nicht daraus weichen.
Carmen Thiele lag in einem separaten Raum, in dem alle möglichen Apparate und Monitore standen. Inmitten der Schläuche und Kabel, die zu ihrem Körper führten, wirkte sie so klein und hilflos, als sei sie eine zerbrechliche Puppe.
Dr. Baumann erklärte dem jungen Mann die einzelnen Apparate und machte ihn auch darauf aufmerksam, daß seine Frau von allein atmete und nicht künstlich beatmet werden mußte, was ein sehr gutes Zeichen war.
Vorsichtig umfaßte Christian die Hand seiner Frau. Sie fühlte sich kühl und feucht an. Leise sprach er auf sie ein, erinnerte sie an die Hochzeit, daran, was sie noch alles für die Zukunft geplant hatte. Mit zitternder Stimme zitierte er ein paar Zeilen aus dem Lied der Lieder, dann sagte er leise: »Wach auf, Schneewittchen, du weißt, was du mir bedeutest. Was wäre denn mein Leben ohne dich?«
Carmen antwortete ihm nicht. Nichts deutete darauf hin, daß sie seine Stimme hörte. Aber nicht nur Christian, auch Eric war überzeugt, daß sie jedes Wort verstand. Fürsorglich legte er eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. »Sie müssen Ihrer Frau Zeit geben«, meinte er. »Verlieren Sie nicht die Geduld. Wie gesagt, es kann schon heute sein, daß sie erwacht, es kann indes auch länger dauern.«
Christian nickte. »Carmen hat so viel Zeit, wie sie möchte«, erwiderte er, beugte sich vor und küßte seine Frau auf die Wange.
Kurz darauf verließen die beiden Männer die Intensivstation. Dr. Baumann brachte Christian zu seinem Zimmer hinunter. Als sich der junge Mann zu Bett legte, fragte er ihn: »Welches Hotel haben Sie gebucht?«
»Wir wollten im Luisenhof absteigen«, erwiderte Christian. »Ich weiß nicht genau, wann ich aus dem Krankenhaus entlassen werde. Vermutlich in ein paar Tagen. Soweit geht es mir ja gut. Davon abgesehen habe ich nicht vor, unser Zimmer in diesem Hotel zu beziehen. Ohne Carmen wäre mein Aufenthalt dort bedeutungslos. Das beste wird sein, wenn ich mir eine kleine Pension suche.«
»Sie können zu mir ziehen, Herr Thiele«, bot Dr. Baumann spontan an. »Ich lebe mit meiner Haushälterin zusammen. Sie hat mich schon betreut, als ich noch ein kleiner Bub gewesen bin. Katharina Wittenberg und ich haben gern Gäste.«
Christian dachte darüber nach. »Ich weiß nicht, ob ich Ihr Angebot annehmen kann«, sagte er zaudernd.
»Natürlich können Sie es, Herr Thiele«, meinte der Arzt herzlich. »Und bitte, glauben Sie nicht, daß Sie uns irgendwelche Umstände machen.«
Der junge Mann antwortete nicht sofort. Er dachte darüber nach, daß er außer Dr. Baumann, den Schwestern und Ärzten des Krankenhauses in Tegernsee keinen Menschen kannte. Langsam nickte er. »Gut, ich nehme Ihr Angebot an, Doktor Baumann. Vielleicht ist es wirklich besser, daß ich hier nicht völlig allein bin.« Niedergeschlagen starrte er zum Fenster.
*
Stefan Eschen hatte den ganzen Dienstag und Mittwoch in der Münchener Universitätsklinik verbracht und war erst am Donnerstag nach Tegernsee zurückgekehrt. Die Untersuchungen hatten ihn so erschöpft, daß er fast bewegungslos in seinem Bett lag und nicht einmal etwas essen wollte. Daniela, die mit ihrem Mann in München gewesen war, bemühte sich vergeblich, ihn dazu zu bewegen, wenigstens ein paar Bissen zu sich zu nehmen.
Dr. Baumann besuchte die
Eschens am frühen Nachmittag. Er hatte mit seinen Kollegen in München telefoniert und erfahren, daß der junge Mann diesmal einen besonders schweren Krankheitsschub erlitten hatte.
»Sie wissen, daß es nicht gut ist, wenn Sie nicht regelmäßig essen, Herr Eschen«, sagte er mahnend zu dem Kranken.
»Daniela mag es zwar nicht hören, aber es wäre besser, wenn es mit mir möglichst bald zu Ende gehen würde«, erwiderte Stefan mutlos. »Ich bin nur eine Last für meine Familie.«
»Du wirst niemals eine Last für mich sein, Liebling«, versicherte seine Frau und setzte sich zu ihm aufs Bett. »Du weißt, wie sehr ich dich liebe.« Sie griff nach seiner Hand und legte sie auf ihren Leib. »Möchtest du, daß dein Kind ohne Vater aufwächst?«
»Und was soll es mit einem Vater, der im Rollstuhl sitzt und in einigen Jahren höchstwahrscheinlich nicht einmal mehr fähig ist, es in die Arme zu nehmen?«
»Ich kann mir vorstellen, wie sehr es Sie bedrückt, einen neuen Krankheitsschub erlitten zu haben, Herr Eschen«, meinte Dr. Baumann. »Trotzdem sollten Sie sich daran erinnern, daß wir beide uns vorgenommen haben, diese Krankheit nicht über Sie siegen zu lassen.« Er sah den jungen Lehrer eindringlich an. »Sie müssen gegen Ihre Krankheit ankämpfen, so, wie Sie es bisher getan haben. Viele Menschen, die an multipler Sklerose leiden, kommen bis an ihr Lebensende ohne Rollstuhl aus.«
»Es sieht nicht danach aus, als würde ich dazugehören«, antwortete Stefan dumpf.
»Ein Rückschlag muß nicht bedeuten, daß du nicht dennoch über diese Krankheit siegen wirst«, sagte seine Frau beschwörend. »Ich meine, du solltest weiter mit dieser alternativen Behandlung machen, die du vor zwei Jahren begonnen hast.«
»Geben Sie sich nicht auf, Herr Eschen«, bat Eric. »Sie wissen, Sie sind nicht allein. Sie haben Ihre Frau, Ihre Schwiegereltern und auch Rainer. Der Junge würde für Sie durchs Feuer gehen. Und außerdem gibt es ja auch noch mich. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Ihnen zu helfen.«