Читать книгу Sophienlust Extra 8 – Familienroman - Laura Martens - Страница 3
ОглавлениеJutta Walberg trat mit einem schmerzlichen Ausdruck ans Fenster. Der Blick ihrer sanften Augen huschte verloren über die Felder und Wiesen, die Gut Hoheneichen umgaben. Es war Erntezeit. Jutta konnte das Geräusch der Traktoren bis zu ihrem Platz hören. Vor kurzem hatte sie hier als Gutsfrau Einzug gehalten. Zuvor war sie Sekretärin auf dem nahe gelegenen Staatsgut gewesen. Als sie dem vierundvierzigjährigen Gutsbesitzer und Witwer Richard Walberg begegnet war, hatte sie sofort gewusst, dass sie den Mann ihres Lebens kennengelernt hatte. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass sie sich mit ihren neunundzwanzig Jahren auf den ersten Blick derart würde verlieben können. Und doch war es geschehen.
Dass ihre Zuneigung auch noch Erwiderung gefunden hatte, war ihr wie ein herrlicher Traum vorgekommen. RichardWalberg hatte lange unter dem frühen Tod seiner Frau gelitten. Bettina war eine perfekte Gutsherrin, eine glänzende Gastgeberin und eine sehr charmante Frau gewesen. Aus der Ehe mit ihr stammte Mirja. Dieses jetzt schon vierzehnjährige Mädchen vermisste die Mutter sehr und konnte nicht verstehen, dass ihr Vati wieder geheiratet hatte. Die Hoffnung, dass sich das Kind an die zweite Mutter gewöhnen würde, hatte sich bis jetzt nichterfüllt.
Jutta wandte sich mit einem tiefen Seufzer vom Fenster ab. Wie wunderbar könnte es hier sein, dachte sie, wenn Mirja sich nicht derart in ihren Hass verbohrt hätte, wenn meine Ehe nicht darunter leiden würde. Richard versucht zwar, das Problem durch sein heiteres Wesen zu überspielen. Doch es ist dadurch nicht gelöst. Auch der Entschluss, Mirja in das Kinderheim Sophienlust zu geben, hat die Situation nicht gebessert. Im Gegenteil! Ohne dass darüber gesprochen wird, steht diese Tatsache trennend zwischen mir und Richard.
Jutta ging in die geräumige Gutsküche und stellte das zweite Frühstück für das Gesinde zusammen. Sorgsam legte sie alles in den großen Picknickkorb und stellte Wasser in eine Kühltasche. Richard würde gleich hier sein, um alles abzuholen. Doch als sie sein Auto vorfahren hörte, war es nicht ihr Mann, sondern dessen Schwägerin Erika Lauheim.
Über Juttas offene Züge lief ein Schatten. Ihre Lippen pressten sich voller Abwehr zusammen. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie das Tuch über den Korb breitete. Denn sie wusste genau, dass die Schwester von Mirjas verstorbener Mutter das Kind in ihrem Hass ungünstig beeinflusste. Erika Lauheim wäre selbst gern hier die neue Gutsfrau geworden. Sie kam zwar nicht oft vorbei, doch wenn sie kam, stiftete sie Unfrieden.
So fiel die Begrüßung zwischen den beiden Frauen auch reichlich kühl aus. Erika Lauheim hielt mit dem Grund ihres Kommens nicht lange zurück.
»Was musste ich hören?«, begann sie aufgebracht. »Ihr habt Mirja aus dem Haus gejagt und in ein Heim für Waisenkinder gesteckt! Ist es denn nicht genug, dass Sie sich auf Hoheneichen breitgemacht haben? Musste nun auch noch das Kind meiner Schwester entfernt werden?«
»Sie irren sich!«, erwiderte Jutta so ruhig wie möglich, »wenn Sie annehmen, dass Sophienlust ein Waisenhaus ist. Es ist ein exklusiv geführtes Heim für reiche und arme Kinder, die der liebenden Hilfe bedürfen. Richard hat sich bestens über Sophienlust orientiert. Wir haben sogar Zeitungsberichte gelesen, die begeistert berichten, dass sich die Besitzerin des Heimes Denise von Schoenecker zusammen mit ihren Mitarbeitern in selbstloser Weise für die Kinder einsetzt.«
Erika Lauheim lachte spöttisch auf: »Ein Heim für Kinder, die der liebevollen Hilfe bedürfen! Es ist ja wirklich die Höhe, wenn Sie annehmen, dass die arme kleine Mirja die Hilfe fremder Menschen nötig hat. Sie haben das Kind seinem Vater entfremdet und meinen Schwager gegen sein eigenes Fleisch und Blut aufgehetzt. Sie allein sind schuld daran, dass Mirja ihr Elternhaus verlassen musste. Meine Schwester würde sich im Grabe herumdrehen, wenn sie das wüsste!«
Juttas sanfte Augen wurden um einen Schein dunkler. Es lag ihr ein rasches Wort auf den Lippen, doch sie überwand ihren aufsteigenden Zorn und entgegnete besonnen: »Richard und ich sind der Überzeugung, richtig entschieden zu haben. Eines Tages wird Mirja mich nicht mehr ablehnen. Sie wird fühlen, dass ich sie liebhabe und dass ich ihr die Mutter ersetzen möchte, die sie so schmerzlich vermisst. Oh, bitte, ich möchte noch etwas hinzufügen. Sophienlust ist gerade für Kinderprobleme der richtige Ort. Frau von Schoenecker hat vor allem mit Problemkindern großen Erfolg. Sophienlust ist kein Heim im üblichen Sinne, das müssen Sie mir glauben. Es ist ein alter Familienbesitz.«
Mit einer abfälligen Handbewegung und harten Worten wurden Juttas Argumente hinweggefegt. »Wie dem auch sei«, meinte Erika Lauheim schließlich, »Mirja ist erst durch Sie ein schwieriges Kind geworden. Nach dem Tod meiner Schwester hat sie durch ihren Vater und durch mich Trost in ihrem Kummer gefunden. Erst als Sie auf Hoheneichen Einzug hielten, entstanden diese unerfreulichen Probleme.«
Jutta nickte leicht hilflos, als sie gestand: »Das kann ich nicht abstreiten. Aber weder ich noch Richard konnten dies vorausahnen. Sie müssen doch verstehen, dass Hoheneichen wieder eine Gutsfrau brauchte, dass Mirja wieder eine sorgende Mutter haben sollte und Richard eine Frau.«
Erika Lauheim lachte schallend auf. »Von Ihrer Warte aus gesehen, ja. Sie haben meinem Schwager eingeredet, dass er Sie auf Hoheneichen braucht. Sie mögen als Gutssekretärin unentbehrlich gewesen sein, doch hier werden Sie auf die Dauer gesehen auf verlorenem Posten stehen, denn Richard hängt an Mirja. Wenn er Sie und Ihre spekulativen Absichten erst durchschaut haben wird …«
»Aber Erika!« Richard Walberg stand groß und stattlich in der Tür. Mit einem liebevollen Lächeln ging er nun auf seine Frau zu und legte ihr den Arm um die Schulter. »Erika meint es gut«, sagte er schlichtend. »Sie vergreift sich nur manchmal im Ton.«
»Ich vergreife mich im Ton, weil das Recht auf meiner Seite ist!«, warf Erika Lauheim beißend ein. »Mirja ist das Kind meiner verstorbenen Schwester. Ich lasse nicht zu, dass sie freudlos in einem Heim aufwachsen soll. Dagegen werde ich mit allen Mitteln einschreiten, umso mehr, als in Gut Hoheneichen auch das Vermögen meiner Schwester steckt, das Mirja zusteht und sonst niemandem.«
Richard erblasste. Seine Hand drückte sich fest auf Juttas Arm. Es sollte eine schützende Geste sein. In seinen Augen blitzte Zorn auf, als er antwortete: »Jutta und ich haben aus Liebe geheiratet. Unsere Liebe zueinander wird stark genug sein, Mirjas Vertrauen und Zuneigung zurückzugewinnen. Wir haben Mirja nicht nach Sophienlust gegeben, um sie von uns zu entfernen, um sie loszuwerden, sondern um ihr zu helfen.«
»Ich weiß, was du damit sagen willst!« Erika Lauheim hob empört den Kopf. »Du wolltest Mirja meinem Einfluss entziehen. Aber ist es gerecht, das Kind zwingen zu wollen, die geliebte Mutter zu vergessen? Dir ist es leichtgefallen, deine Frau aus deinem Gedächtnis zu streichen. Aber bei Mirja wirst du kein Glück haben! Ein vierzehnjähriges Mädchen ist kein kleines Kind mehr. Mirja ist klug. Sie fühlt, dass dir deine Frau etwas vorgaukelt, um sich hier breitmachen zu können.« Erika Lauheim eilte zur Tür. Sie wollte keine Gegenrede mehr hören. Mit einer energischen Bewegung presste sie ihre Krokohandtasche an sich. »Du bist auf eine schöne Fassade hereingefallen, weiter nichts!«
Mit Genugtuung sah sie, dass ihr Schwager unter der tiefbraunen Haut grau wie Asche geworden war. Es war ihr unerträglich, ihn so nahe bei dieser Frau stehen zu sehen, den Arm fest um sie gelegt. Das hätte ihr Platz sein sollen. Aber sie war nicht so jung und nicht so raffiniert wie diese Person. Ihr Mund verzerrte sich, als sie bösartig zischte: »Ich bin es meiner Schwester schuldig, mich um Mirja zu kümmern. Du hast sie aus deinem Herzen und aus Hoheneichen verstoßen. Das soll dir schlecht bekommen, lieber Schwager!«
Der heiße Sommertag trieb die Kinder von Sophienlust in ihrer Freizeit an den Forellenbach oder an den See, der in der Nähe lag und ein geliebtes Badeziel war. Dominik von Wellentin-Schoenecker, der künftige Besitzer von Sophienlust, ließ es sich nicht entgehen, möglichst oft von Gut Schoeneich nach Sophienlust herüberzukommen. Dominik, auch zärtlich Nick genannt, stammte aus der ersten Ehe seiner Mutter, Denise von Schoenecker. Er war noch sehr klein gewesen, als seine Mutter den alten Familienbesitz der Grafen von Wellentin in ein Heim für solche Kinder verwandelt hatte, die vom Schicksal schwer geprüft waren. Damit hatte sie das Vermächtnis der Gräfin Sophie von Wellentin erfüllt, die ihren Urenkel Dominik als Erben eingesetzt hatte. Denise, die laut Testament das Gut Sophienlust und ein recht beträchtliches Vermögen bis zu Dominiks einundzwanzigstem Lebensjahr verwaltete, hatte es nicht versäumt, ihren Sohn von klein auf mit seinen künftigen Aufgaben vertraut zu machen. So fühlte sich Dominik mit den Kindern von Sophienlust verbunden und hielt ganz besonders jenen Jungen und Mädchen die Treue, die keine Eltern mehr hatten und auf Sophienlust eine neue Heimat gefunden hatten. Das waren die Schwestern Angelika und Vicky Langenbach, die schon viele Jahre hier waren, der zehnjährige Fabian, mit dem sich Nick sehr gut verstand, und Angelina Dommin, genannt Pünktchen, der er besonders zugetan war. Das nahm niemand übel, denn jeder wusste, dass Dominik das Mädchen vor Jahren auf einer Bank sitzend entdeckt und nach Sophienlust mitgenommen hatte. Pünktchens Eltern waren bei einem Zirkusbrand umgekommen, und da es ihr bei den Verwandten sehr schlecht ging, war sie einfach davongelaufen. Doch die Jahre der Geborgenheit auf Sophienlust hatten die Erinnerungen an diese schwere Zeit längst verwischt. Niemals aber würde Pünktchen vergessen, dass sie durch Dominik auf Sophienlust eine neue Heimat gefunden hatte. Seine Mutter, die die Kinder Tante Isi nannten, war ihr so lieb und teuer wie eine leibliche Mutter geworden. Ihre große Liebe gehörte jedoch schon immer ihm selbst, der fünf Jahre älter war als sie. Deshalb störte es sie auch, dass er sich der Neuen, die seit kurzem unter ihnen weilte, so intensiv annahm. Mirja Walberg war zu Pünktchens Leidwesen außerdem ein ganz besonders hübsches Mädchen. Sie hatte volles langes Haar, das wie reifer Weizen schimmerte und das sie meistens kokett mit einer weißen Schleife zusammenband, aber so, dass links und rechts zwei helle Strähnen ihr aufregend hübsches Gesichtchen einrahmten. Sie wäre noch viel hübscher gewesen, wenn sie lachen würde. Aber niemand hatte Mirja bisher auch nur einmal lächeln gesehen. Stets lag ein trotziger und auch verbitterter Zug um ihre fein geschwungenen Lippen, und ihre blauen Augen sahen gleichgültig über alles hinweg. Nur weil Dominik ihr eindringlich zugeredet hatte, war sie heute mit an den See gekommen. In sich gekehrt saß sie nun abseits der anderen. Es war ihr anzusehen, dass sie Probleme wälzte, von denen niemand etwas ahnte.
Als die anderen fröhlich im See schwammen oder plätscherten, setzte sich Nick zu dem stillen Mädchen, das sich an einen Baumstamm gelehnt hatte und unverwandt über den See starrte.
»Gefällt es dir denn gar nicht bei uns?«, begann Dominik das Gespräch. Mirjas Blick kehrte langsam zurück und huschte flüchtig über den hübschen Jungen. Sie zuckte die Schultern und sagte zurückhaltend: »Es könnte hier sehr schön sein.«
»Was hast du zu bemängeln?«
»Nichts!«
»Es scheint dir aber doch etwas nicht zu gefallen. Du sonderst dich ab und sprichst kaum ein Wort mit den anderen.«
Mirja krauste leicht die Stirn.
»Ich bin Kinder nicht gewöhnt. Zu Hause ist es weit bis zum nächsten Dorf. Hoheneichen ist ein Einödhof, nicht weniger schön gelegen als Sophienlust. Kinder sehe ich nur in der Schule. Mittags fahre ich mit dem Zug ein paar Stationen und gehe zu Fuß über die Felder heim. Wenn es regnet, werde ich mit dem Auto abgeholt.«
»Wer holt dich ab?«
»Mein Vati.« Mirjas Stimme schwankte bei dieser Antwort ein wenig. Ihre Mundwinkel zogen sich bekümmert herab.
Dominik tat, als merkte er nichts. Da er das Gespräch nicht abreißen lassen wollte, fragte er rasch: »Warum bist du hier?«
Das Mädchen zögerte lange. Es sah einen Augenblick aus, als wollte Mirja aufspringen und weglaufen. Dann aber sagte sie überraschend offen: »Mein Vater hat wieder geheiratet. Ich mag die neue Frau nicht.«
»Ach, weißt du«, entgegnete Dominik leichthin. »Meine Mutter hat auch wieder geheiratet, nachdem mein Vater tödlich verunglückt war. Ich habe anfangs gedacht, ich würde mich nie an den neuen Vater gewöhnen können. Ebenso wollten seine Kinder, die er als Witwer mit in die Ehe gebracht hatte, zunächst von meiner Mutter nichts wissen. Ich kann sehr gut verstehen, wie dir zumute ist, Mirja.«
Auf dem Gesicht des Mädchens lag ein nachdenklicher Zug. »Und?«, fragte Mirja mit einem raschen Blick. »Vertragt ihr euch jetzt, oder nicht?«
»Hast du eine Ahnung!«, sagte Dominik im Brustton der Überzeugung. »Wir denken kaum noch daran, dass wir nicht unsere richtigen Eltern haben. Und dann ist da noch Henrik. Er stammt aus der jetzigen Ehe unserer Eltern. Aber wir fühlen uns alle wie richtige Geschwister mit den richtigen Eltern!« Dominik brach misstrauisch ab, denn Mirja sah plötzlich so entsetzt aus. »Oh, mein Gott!«, flüsterte sie. »Sie wird sicher auch Kinder von ihm bekommen!«
»Das wäre doch wunderschön, Mirja! Dann wärest du nicht mehr so allein auf Hoheneichen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schön es ist, wenn man Geschwister hat. Glaube mir, eines Tages wirst du ganz vergessen, dass deine zweite Mutter nicht immer bei euch war.«
Mirja nahm eine Haarsträhne und wickelte sie um ihren Finger. Dabei traten ihr Tränen in die Augen. Sie konnte sie nicht unterdrücken. »Ich will nicht!«, stieß sie verzweifelt hervor, sprang auf und lief davon.
Dominik folgte ihr nicht. Von seiner Mutter wusste er, dass man einem unglücklichen Kind viel Zeit lassen musste. Auch Mirja würde auf Sophienlust anders werden. Dominik war fest davon überzeugt, dass seine Mutter auch bei diesem Mädchen Erfolg haben würde. Sie hatte schon viel schwerere Schicksale gemeistert.
Außerdem war ja auch noch Frau Rennert da – Tante Ma, wie die Kinder sie liebevoll nannten. Sie leitete das Heim, denn seine Mutter lebte ja auf Gut Schoeneich und konnte nicht die ganze Zeit auf Sophienlust sein.
»Nick!«, rief Pünktchen und winkte dem Jungen lebhaft zu. Sie kam aus dem Wasser und lief ihm entgegen. »Wo bleibst du denn? Du scheinst dich ja maßlos für diese Transuse zu interessieren!«
Dominik machte große Augen. »Wie redest du denn? Was ist eigentlich in dich gefahren? Seitdem Mirja hier ist, bist du reichlich komisch.«
Er betrachtete Pünktchen aufmerksam. Sie ist bestimmt nicht weniger hübsch als Mirja, dachte er. Süß sieht sie in ihrem bunten Bikini aus! Die lustigen Sommersprossen, die ihr den Namen Pünktchen eingetragen haben, geben ihrem süßen Gesicht einen ganz besonderen Reiz.
Pünktchen strich sich das nasse Haar aus der Stirn und sagte beleidigt: »Und ich finde dich komisch, Dominik!«
*
Wenn Pünktchen Dominik statt Nick sagte, war Feuer unter dem Dach. Da dies selten vorkam, fiel es Dominik doppelt auf. Er sah jedoch nicht ein, dass er mit Mirja nicht sprechen sollte, nur weil Pünktchen eifersüchtig war. Er fand ihr Verhalten kindisch und ungerecht. Mirja brauchte jetzt jemand, dem sie vertraute. Sie musste sich alles von der Seele reden können, um Erleichterung zu finden.
»Du, hör’ mal«, sagte Nick am nächsten Tag zu Pünktchen, »wenn du nicht verstehen kannst, dass man Mirja helfen muss, dann tust du mir leid. Ich habe das Gefühl, dass sie allmählich Vertrauen zu mir hat. Auch meine Mutter hat mich ermuntert, Mirjas Vertrauen zu gewinnen. Warum soll ich eigentlich nicht auf sie eingehen? Kannst du mir das erklären?«
Pünktchen wusste keine Erklärung. Sie schmollte und zog sich von Dominik zurück. Gleichzeitig beobachtete sie mit flinken Augen, wie der Freund wieder mit Mirja in ein Gespräch kam.
Die beiden saßen auf der Bank im Park und schienen nur noch für sich Interesse zu haben. Angelika und Vicky versuchten die neue Freundin zu trösten, doch Pünktchen sagte außer sich: »Sie stellt sich wie eine Diva an, die sich selbst unerhört wichtig findet, Wenn sie wüsste, dass wir keine Eltern mehr haben und was wir durchgemacht haben, bevor wir nach Sophienlust kamen, müsste sie ihre Probleme doch geradezu lächerlich finden.«
»Das kannst du nicht sagen!«, widersprach Angelika. »Mirja ist ganz einfach sehr traurig. Und wenn man traurig ist, findet man immer, dass niemand trauriger sein könne, als man selbst es ist.«
Vicky, mit ihren neun Jahren das jüngste der drei Mädchen, legte die Hand vor den Mund und gähnte demonstrativ: »Ihr langweilt mich wirklich! Den ganzen Tag wird nur noch von Mirja gesprochen. Dabei haben wir schon oft erlebt, dass ein neues Kind sich so anstellte wie sie. Nach einiger Zeit ändert sich das alles ganz von selbst.«
»Vicky hat recht!«, lobte ihre Schwester sie. »Ich kenne keinen, der Sophienlust nicht so gesund und munter wie ein Fisch verlassen hätte. Herrjeh, was haben wir schon für schwierige Kinder hier gehabt … Da ist Mirja gar nichts dagegen!«
Pünktchen hob hochmütig ihre kecke, kleine Nase. »Aber um Mirja kümmert sich Nick ganz besonders intensiv. Schaut nur, wie wichtig er es mit ihr hat!«
Im selben Augenblick sagte Dominik zu Mirja: »Du solltest froh sein, dass du nicht, wie die drei dort vorn, keine Eltern mehr hast. Denkst du übrigens auch mal über deinen Vater nach? Mensch, ich kann mir vorstellen, dass er ganz schön leidet, weil du ihn nicht mehr liebhast!«
»Da bist du auf dem Holzweg!«, platzte Mirja heraus. »Es ist genau umgekehrt. Die andere Frau hat mir meinen Vati gestohlen. Ich hasse sie! Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich sie hasse!«
Plötzlich war das ganze zierliche Persönchen in Bewegung geraten. Was sich in ihr angestaut hatte, drängte nun aus ihr heraus.
»Bei dir ist es sicher anders gewesen«, sprudelte Mirja erregt hervor. »Deine Mutter ist ja ganz anders als die jetzige Frau meines Vaters. Deine Mutter muss man liebhaben, und deine Stiefgeschwister sind sicher sehr, sehr glücklich, dass deine Mutter nach Schoeneich gekommen ist, um auch ihre Mutter zu sein. Aber bei mir? Hach, ich werde sie nie mögen, die Neue, die sich nur ins warme Nest setzen wollte. Gutssekretärin ist sie gewesen. Aber jetzt tut sie so, als würde sie auf Hoheneichen mehr als alle anderen verstehen. Es ist direkt lächerlich, wie mein Vater auf sie hört und sich mit ihr bespricht, Tante Erika sagt auch, es sei eine Schande, dass Vati meine Mutter vergessen hat.«
Mirjas Lippen zitterten. Dann rollten zwei Tränen über ihre rosigen Wangen, die sie hastig abwischte.
Dominik legte dem Mädchen mitfühlend den Arm um die Schulter. »Wer ist denn Tante Erika?«, erkundigte er sich und sah Mirja ruhig an.
»Das ist die Schwester meiner Mutter«, antwortete das Mädchen. »Sie wohnt in Lindau und besucht uns manchmal. Jetzt kommt sie aber kaum noch. Sie kann die Neue auch nicht leiden. Sie hat zu mir gesagt, dass noch nicht aller Tage Abend sei und dass es möglich sein würde, die fremde Frau hinauszuekeln. Ich dürfe nur nicht aufgeben.«
Dominik nickte gewichtig: »Ach, so ist das!«
»Ja«, stieß Mirja heftig hervor, »ich werde sie hinausekeln! Sie hat bei uns nichts zu suchen. Ich gönne ihr nicht, dass sie dort lebt, wo meine Mutter zu Hause war! Sie hat die Möbel umgestellt und Änderungen eingeführt, damit mein Vati möglichst wenig an seine frühere Frau erinnert wird. Mich aber kommandiert sie herum. Neulich, als ein Gewitter aufzog, hat sie mich sogar aufs Feld hinausgeschickt. Eine unserer Maschinen war kaputtgegangen, und ich musste hinter dem Wagen das Heu nachrechen. Sie triumphierte förmlich, dass das Heu noch vor dem Regen in die Scheune kam.« Mirjas Gesicht verzerrte sich, als sie fortfuhr: »Sie hat alles getan, um mich fortzuekeln. Mein Vati ist von ihr verhext. Sie ist nur darauf aus, ihn ganz allein für sich zu haben. Oh, ich könnte sie in der Luft zerreißen, diese raffinierte, gemeine Person, diese Mitgiftjägerin …«
»Na, na!«, brummte Nick und rüttelte mit seinem Arm leicht Mirjas Schulter. »Nun überschlage dich nicht noch in deinem Hass. Das Wort Mitgiftjägerin hast du sicher von deiner Tante Erika gehört. Sie scheint dich ganz schön aufzuwiegeln. Du aber hörst auf sie, ohne selbst nachzudenken.«
»Was gibt es denn da nachzudenken?«, fragte Mirja verwundert. »Ist es nicht genug, dass sie sich an die Stelle meiner Mutter gedrängt hat? Wir hätten sie überhaupt nicht gebraucht. Vati und ich haben uns prima verstanden. Sie hat uns auseinandergerissen, und jetzt hat sie es auch noch fertiggebracht, dass Vati mich nach Sophienlust abgeschoben hat.«
»Du siehst das alles nicht ganz richtig.« Dominik nahm seinen Arm von Mirjas Schulter weg, denn er merkte genau, dass Pünktchen herüberstarrte. Sicher denkt sie jetzt, überlegte er, dass ich mit Mirja flirte. So was Dummes!
Mirja sagte kalt: »Ich sehe alles richtig. Viel lieber wäre ich zu Hause, auch wenn es mir hier gut gefällt. Aber mit dieser Stiefmutter will ich nicht unter einem Dach leben. Deshalb bin ich doch lieber hier. Hoheneichen und mein Vater sind für mich gestorben!« Mit einem kläglichen Laut presste sie beide Hände vors Gesicht und schluchzte gequält auf.
Dominik legte nun doch wieder den Arm um Mirja und zog sie ein wenig an sich. »Denke doch nicht nur an dich, Mirja!«, sagte er herzlich zu ihr. »Du musst dich auch mal in die Lage deines Vaters versetzen. Er ist doch noch jung. Warum soll er sich nicht noch mal eine Frau nehmen? Auf einen Gutshof gehört doch auch eine Frau. Verstehst du das nicht?«
»Nein!«, schluchzte Mirja.
Dominik erwiderte fest: »So klein bist du doch nicht mehr, dass du nicht einsehen könntest, dass ein Mann in einem gewissen Alter auch eine Frau braucht. Deshalb ist er deiner verstorbenen Mutter nicht untreu oder sowas. Lass ihn doch wieder glücklich sein, Mirja! Höre nicht mehr auf deine Tante Erika. Sie ist wahrscheinlich nur neidisch. Ist sie verheiratet?«
»Nein, sie ist eine alte Jungfer.« Mirja nahm die Hände vom Gesicht und sah Dominik leicht belustigt an. »Das hat Vati gesagt. Aber die Neue hat ihm widersprochen. Stell’ dir das vor! Sie hat gesagt, dass Tante Erika mit ihren fünfundvierzig Jahren keine alte Jungfer sei. Heute bleibe man als Frau zeitlos jung, wenn man die richtige Einstellung zum Leben habe. Tante Erika habe sie leider nicht, doch man dürfe es ihr nicht übelnehmen, wenn sie manchmal durchdrehe.«
»Da hat deine Stiefmutter aber sehr nett gesprochen!«
»Nett …? Sie ist schlau, Dominik. Sie arbeitet mit allen Mitteln, um sich im Haus und bei meinem Vater immer mehr einzunisten. Zu mir war sie auch immer sehr nett. Sie hat meine Ablehnung ihr gegenüber völlig ignoriert. Schließlich habe ich mich sogar geweigert, mit ihr an einem Tisch zu sitzen. Da hat sich Vati dann nach einem Heim für mich umgesehen.«
»Ich halte das nicht mehr aus!«, sagte Pünktchen in diesem Augenblick zu Angelika und Vicky. »Die sitzen wie ein Liebespaar nebeneinander. Ich finde Nicks Verhalten mir gegenüber unerhört!«
Vicky lachte amüsiert auf. »Du bist nur eifersüchtig, Pünktchen!«
Angelika versuchte zu vermitteln, aber Pünktchen sprang von ihrem Platz auf und meinte weinerlich: »Macht, was ihr wollt. Ich gehe. Dominik hat gesagt, dass er gleich wiederkäme. Jetzt findet er kein Ende und hat auch noch den Arm um sie gelegt.«
»Mirja bleibt ja nicht ewig hier!«, erwiderte Vicky gutmütig.
»Klar!«, bestätigte auch Angelika. »Es war doch schon öfters so, Pünktchen, dass du auf ein anderes Mädchen eifersüchtig warst. Ich könnte eine ganze Reihe aufzählen. Und wo sind sie jetzt? Sie schreiben uns nur noch oder kommen hin und wieder mal zu Besuch mit ihren Eltern. Du brauchst nur abzuwarten. Außerdem könnten Angelika und ich genauso eifersüchtig sein, denn Dominik ist zu uns nicht weniger nett als zu dir. Natürlich nimmst du trotzdem bei ihm eine Sonderstellung ein. Daran wird auch Mirja nichts ändern können.«
*
Mit einem bedauernden Schulterzucken legte Richard Walberg den Hörer auf die Gabel zurück.
»Mirja hat sich geweigert, ans Telefon zu kommen«, sagte er traurig. »Es war Frau Rennert am Apparat. Sie meint, man müsse Mirja Zeit lassen. In den letzten Tagen habe sie sich an Dominik angeschlossen. Das ist der fünfzehnjährige Sohn von Frau von Schoenecker. Auch mit anderen Kindern habe sie nun endlich gesprochen. Am liebsten reitet sie aus. Leider verhält sie sich in der Schule völlig passiv.«
Jutta sah recht unglücklich aus. Sie kam sich vor wie ein Eindringling. Die unvorhergesehenen Probleme Mirjas wegen zerrten an ihren Nerven. Sie hätte so gern geholfen, wusste aber nicht, wie. Auch Richard war traurig. Er fühlte sich zwischen ihr und Mirja hin und her gerissen.
»Es tut mir so leid!«, sagte Jutta deprimiert. »Vielleicht hätten wir mit unserer Hochzeit noch warten sollen. Ich bin ganz verzweifelt bei dem Gedanken, dass Mirja in dem Heim unglücklich ist und sich nach Hause sehnt. Vor allen Dingen sehnt sie sich nach dir. Du solltest zu ihr fahren, Richard. Mirja meint sonst, ich halte dich von einem Besuch bei ihr ab.«
Richard Walberg zog seine Frau liebevoll an sich. »Wir dürfen nicht die Nerven verlieren, Liebling! Wir werden Mirja nächstes Wochenende gemeinsam besuchen …«
»Nein, das nicht!«, wehrte Jutta ängstlich ab. »Das wäre pädagogisch gesehen vielleicht nicht richtig. Mirja soll das Gefühl haben, dass du auch ohne mich etwas unternehmen kannst. Wenn ich mitkäme, könnte sie annehmen, ich wollte verhindern, dass du allein mit ihr sprichst!«
»Du zitterst ja!«, murmelte er und küsste seine Frau voller Innigkeit, die sich in seine Arme schmiegte und die Augen schloss. »Ich glaube, fuhr er fort, dass wir Mirja von unserer Liebe überzeugen müssen.«
»Du vergisst, dass du nur Mirjas Mutter lieben sollst«, erwiderte Jutta matt. »Deine Tochter ist noch zu jung, um begreifen zu können, dass du ein Recht auf ein eigenes Leben hast. Sie meint, es würde genügen, wenn du mit ihr beisammen bist. Später, wenn sie einmal selbst verliebt ist, wird sie dich besser verstehen können. Was aber dann bis dahin noch alles geschehen kann!«
»Wie meinst du das?« Richard hob Juttas Gesicht zu sich empor und betrachtete es ernst.
Die junge Frau löste sich von ihm und trat einige Schritte zurück, den Kopf tief geneigt. »So kann es doch nicht mehr weitergehen. Mirja soll nicht in einem Heim bleiben. Sie gehört hierher zu dir. Verzeih, Richard, aber ich kann auf die Dauer nicht mit dir glücklich sein, wenn Mirja gleichzeitig unglücklich ist. Bitte, fahre nach Sophienlust und sprich noch einmal mit Frau von Schoenecker. Vielleicht weiß sie einen Rat.«
So kam es, dass Richard Walberg ganz unverhofft vor seiner Tochter stand. Wie so oft, saß sie auf einer Bank im Park, abgesondert von den anderen. Eigentlich hätte sie im Moment Schulaufgaben machen sollen, doch sie hatte dazu keine Lust gehabt. Wozu lernen? Alles war ihr so gleichgültig geworden. Mirja wusste, dass die anderen Mädchen eifrige Schülerinnen waren. Hauptsächlich Pünktchen tat sich in der Klasse mit den besten Leistungen hervor. Doch Pünktchen war das einzige Mädchen, das ihr aus dem Weg ging.
Sie mag es nicht, dass Dominik sich um mich bemüht, überlegte Mirja. Noch nie hat sie mit mir so lustig gesprochen wie mit den anderen.
Mirja blähte die Wangen auf und stieß den Atem aus, als sei ihr plötzlich sehr heiß geworden. Seit Dominik ihr zuhörte und ihr die Meinung sagte, dachte sie über vieles nach. Zum Beispiel auch darüber, ob ihre Verhaltensweise der Stiefmutter gegenüber vielleicht genauso verkehrt war wie Pünktchens eifersüchtige Haltung ihr gegenüber. Dominik hatte ihr doch erklärt, dass ihr Vater sie trotz seiner zweiten Frau genauso liebhaben würde wie zuvor und dass sie das nur nicht merke, weil sie sich in ihren Hass gegen die neue Frau des Vaters verbohrt hatte. Hatte Dominik vielleicht doch recht, wenn er sagte, dass sie nur sich selbst schade, wenn sie weiter so unzugänglich bleibe?
Dann aber, als ihr Vater plötzlich vor ihr stand, krampfte sich Mirjas Herz wieder in Abwehr zusammen. Trotzig sagte sie: »Was willst du hier? Ich will dich nicht sehen!«
»Aber Mirja!« Richard Walberg gab seiner Tochter einen zarten Kuss auf die Wange und musterte sie in väterlicher Liebe. »Ich dachte, du würdest dich freuen, mich zu sehen.« Er setzte sich neben sie und warf einen Blick in den weitläufigen Park. »Es ist sehr schön hier. Du bleibst trotzdem lieber allein? Warum spielst du nicht mit den anderen?«
Mirja antwortete nicht. Sie sah mürrisch vor sich hin.
Richard Walberg fragte behutsam: »Willst du mit mir nach Hause kommen? Ich vermisse dich sehr. Ich dachte, wenn du ein Weilchen fort bist, würdest du einsehen, wie schön es auf Hoheneichen ist, auch wenn Jutta nun bei uns lebt. Wir könnten uns alle drei gut vertragen, wenn du nur ein wenig nachgeben würdest.«
»Ich will nicht nach Hause!« stieß Mirja unwillig hervor. »Ich werde hierbleiben. Auf Sophienlust sind viele Kinder, die keine Eltern mehr haben und sich hier ganz daheim fühlen. Mit der Zeit werde ich mich an alle gewöhnen. Ich muss nur lernen, Hoheneichen aus meinem Gedächtnis zu streichen.«
»Sieh mal«, sagte Richard, ohne auf ihre Worte einzugehen, »was ich dir mitgebracht habe.«
Mirja warf einen scheelen Blick auf das große Farbfoto, das der Vater ihr reichte. Dann aber konnte sie nicht anders, als es entzückt zu betrachten. »Wie süß!«, rief sie hell. »Wie reizend sehen Nike und Binka aus. Du kannst wirklich fabelhaft fotografieren, Vati!«
»Na, und von dir sagst du gar nichts?«, lächelte Richard. »Du siehst doch bezaubernd aus, Mirja. Als ich dich auf dem Foto sah, hab' ich so sehr Sehnsucht nach dir bekommen, dass ich einfach losfuhr, auch auf die Gefahr hin, dass du mich gar nicht sehen wolltest.«
Mirja strich sich verlegen über das Haar. Sie freute sich mächtig, dass ihr Vati da war. Der Anblick der beiden Hunde auf dem Foto machte sie ganz elend vor Sehnsucht nach Hoheneichen. Als sie die beiden Hundebabys geschenkt bekommen hatte, war von dieser Jutta noch nicht einmal die Rede gewesen. Ihr Vati hatte nur sie allein verwöhnt.
»Wie geht es Nike und Binka?«, erkundigte sie sich leise. »Kommen sie bald wieder nach Hause?«
Richard erwiderte lebhaft: »Ich habe sie auf der Fahrt zu dir kurz besucht. Die Dressur ist in vierzehn Tagen beendet. Dann hole ich die beiden nach Hause. Willst du sie nicht empfangen, wenn sie als dressierte Jagdhunde zurückkommen? Es sind doch deine Hunde. Du könntest ja auch nur zu Besuch kommen, wenn du lieber auf Sophienlust bleiben möchtest.«
»Ja …«, meinte Mirja zögernd, »vielleicht. Ich könnte Nike und Binka ja mitnehmen. Hier sind viele Tiere, die Kindern gehören. Auf Jagd kann man hier auch gehen. Gut Schoeneich, auf dem die Schoeneckers leben, ist sehr groß. Viel größer als unser Hoheneichen, Vati. Aber da gibt es auch viel mehr Arbeit. Ich finde, Hoheneichen ist gerade recht. Es ist wunderschön … Ich meine …« Mirja brach ab und biss sich auf die Lippen.
Richard Walberg sagte rasch: »Es ist doch herrlich, dass du ein so schönes Zuhause hast und dich nur in den Zug zu setzen brauchst, um hinzukommen. Viele Kinder hier haben keine Heimat und keine Eltern. Du bist reicher als die Halb- und Vollwaisen von Sophienlust. Dafür solltest du dankbar sein. Jutta will dir bestimmt nichts wegnehmen, Mirja. Weder meine Vaterliebe noch Hoheneichen. Du würdest mich unendlich glücklich machen, wenn du heimkehren und mit uns leben würdest. Denke ein wenig darüber nach, wenn ich wieder fort bin. Du braucht mich nur anzurufen. Dann hole ich dich ab. Oder willst du jetzt gleich mit mir heimfahren?«
»Du darfst nicht klein beigeben!«, hörte Mirja da die Stimme ihrer Tante im Ohr. »Denke immer daran, dass man deine tote Mutter verraten hat!«
So schüttelte sie trotzig den Kopf und antwortete: »Du hast Mami vergessen. Ich werde nur kommen, um Nike und Binka zu holen. Die beiden werden nur mich liebhaben. Es sind treue Tiere.«
*
Es tat Richard Walberg sehr leid, seiner Frau keine erfreuliche Nachricht mitbringen zu können. Nur das Gespräch mit Denise von Schoenecker hatte eine beruhigende Ausstrahlung auf ihn gehabt.
»In so kurzer Zeit«, meinte er nun zu Jutta, »kann Mirja ihre Einstellung nicht ändern. Frau von Schoenecker ist der Ansicht, dass ihr Sohn Dominik einen guten Einfluss auf Mirja hat. Sie spricht mit ihm über ihre Probleme. Das sei schon viel wert, meinte Frau von Schoenecker.«
Jutta war enttäuscht. Eigentlich wusste sie selbst nicht, was sie sich erhofft hatte, denn es hatte keinen Sinn, sich etwas vormachen zu wollen. Mirja war in ihrer Abneigung sehr beharrlich. Doch da Jutta von Sophienlust wahre Wunderdinge gehört hatte, war sie der Überzeugung gewesen, Mirja würde rasch zur Vernunft kommen. Richards zärtliche Liebe hüllte sie zwar in einen Mantel des Glücks, doch wenn er außer Haus war, überfielen sie stets düstere Gedanken. Sie wollte nicht in den Geruch kommen, die Tochter aus erster Ehe hinausgedrängt zu haben. Blind vor Liebe war sie diese Ehe eingegangen. Nun waren Wolken über dem Himmel des Glücks aufgezogen, und manches sah anders aus als während ihrer kurzen Brautzeit. Noch hatte Jutta die abfälligen Worte von Richards Schwägerin nicht überwunden. Bald werden mehr Leute so sprechen, dachte sie.
Jutta kam es vor, als würde auch schon die Elevin Katja merkwürdige Augen machen. Das Mädchen absolvierte auf Hoheneichen ihr praktisches Lehrjahr und war bisher sehr aufgeschlossen und zutraulich gewesen. In letzter Zeit schien Katja sich jedoch geändert zu haben. Sie war ausgesprochen zurückhaltend, und manchmal wich sie ihr auch aus, wenn sie sie kommen sah.
Juttas Leben war bis zu ihrer Hochzeit stets offen und ohne Probleme gewesen. Deshalb wurde sie jetzt ganz einfach nicht mit Mirjas Verhalten und den damit verbundenen Auswirkungen fertig. Auf dem Staatsgut Hamm war sie überall beliebt gewesen. Auf Hoheneichen aber war es ihr, als tuschle man über sie und halte sie für eine berechnende Person, die sich ohne Rücksicht auf Verluste den angesehenen Gutsbesitzer Richard Walberg geangelt hatte. Dies kränkte Jutta ungemein. Sie liebte klare Verhältnisse und verabscheute Intrigen. Am liebsten hätte sie mit Katja offen gesprochen, um die Fronten zu klären. Aber die Elevin ging ihr aus dem Weg. Jutta traf sie nur zu den gemeinsamen Mahlzeiten. Dann aber war auch Richard da, und vor ihm wollte Jutta nichts sagen. Er hätte ihre Probleme sicher nicht verstanden, denn ihm kam es nur darauf an, mit ihr einig und zufrieden zu sein. Den Leuten kann man es doch nie recht machen!, war seine Ansicht. Es kommt nur darauf an, vor sich selbst Achtung zu haben.
Jutta sah auf das Gemälde, das Mirjas Mutter gemalt hatte. Ihre Tochter war darauf gut getroffen. Die kleine Mirja mit den langen blonden Haaren und den süßen, freundlichen Zügen war einst der Sonnenschein im Haus gewesen. Mit welcher Liebe hatte Bettina Walberg dieses Bild gemalt!
Jutta presste beide Hände auf die Brust. Wenn sie nur wüsste, wie sie Mirjas Zuneigung erringen könnte! Doch schon zogen neue Schwierigkeiten auf. Sie wusste seit kurzem, dass sie Mutterfreuden entgegensah. Wie hätte sie die Erfüllung ihres sehnlichsten Wunsches entzückt, wäre nicht Mirjas Abneigung ihr gegenüber gewesen. Es musste ein neuer Schock für das Mädchen sein, nicht mehr als einziges Kind dem Herzen des Vaters nahezustehen. Noch mehr würde Mirja sich danach in die Ecke geschoben fühlen. Da sie annahm, dass Richard ihre Schwangerschaft im Augenblick auch als ungünstig ansehen würde, hatte sie ihm ihren Zustand vorerst verschwiegen.
Jutta fuhr erschrocken herum, als es klopfte. Es war Katja, die eintrat und ihr einen Brief überreichte. Ihr tiefbraunes Gesicht war verschlossen, als sie erklärte: »Den Brief hat mir eben Herrn Walbergs Schwägerin für Sie übergeben. Sie hatte keine Zeit hereinzukommen.«
»So!«, sagte Jutta nur und drehte den Brief unsicher in der Hand.
»Frau Lauheim hatte sonst nichts gesagt?«
Katja hob unangenehm berührt eine Schulter. »Nur wenig«, wich sie aus.
Sie hat gehetzt, dachte Jutta. Sie hob entschlossen den Kopf und musterte die Elevin scharf. »Sie wissen, dass Frau Lauheim mir nicht gut gesonnen ist …«
»Das schon!« Katja sah zu Boden. »Aber sie hat nicht viel gesagt, nur dass das gute Wetter vorüber zu sein scheine, hat sie gesagt. Es könnte zu einem Unwetter kommen, und es sei gut, dass wir die Ernte unter Dach und Fach hätten.«
»Katja!« Jutta trat nahe an das Mädchen heran. »Sie haben doch etwas? In letzter Zeit sind Sie so verändert.«
»Es ist nichts. Wirklich nicht!«
»Sie wirken aber bedrückt. Gefällt es Ihnen auf Hoheneichen nicht mehr?«
»Aber nein!« Katja hob ganz entsetzt den Blick. »Das dürfen Sie nicht annehmen, Frau Walberg. Ich bin sehr gern hier.«
»Aber vor einiger Zeit, als ich noch nicht hier war, hat es Ihnen besser gefallen?«
Katja rieb ihre Hände an der Gummihose, die in hohen Schaftstiefeln steckte, denn sie war eben vom Karpfenweiher gekommen. »Es ist jetzt alles besser als früher«, sagte sie fest. »Ich bin ja erst vier Monate hier. Aber als Sie noch nicht da waren, merkte man deutlich, dass die Gutsfrau fehlte. Sie sind sehr tüchtig. Alle mögen Sie gern.« In Katjas dunkle Augen trat ein herzlicher Ausdruck. »Bitte, denken Sie nicht, dass wir uns von Frau Lauheim aufhetzen lassen. Wir bedauern diese Frau nur. Sie hat sich eingebildet, dass Herr Walberg sie heiraten würde. Das allein ist der Grund ihres negativen Verhaltens. Im Dorfgasthaus hat sie gesagt, dass Sie Mirja verstoßen hätten und dass Herr Walberg Ihnen hörig sei. Als sie gegangen war, hat der Wirt gesagt, welch' ein Glück es sei, dass Herr Walberg Sie und nicht diese alte Jungfer geheiratet habe. Aber das ist Klatsch. Ich hätte es vielleicht nicht erzählen dürfen. Ich wollte aber, dass Sie beruhigt sind. Niemand ist gegen Sie, auch wenn Mirja jetzt in einem Heim ist. Mirja ist nur von ihrer Tante aufgehetzt worden. Sie war sehr aufsässig gegen Sie, und Sie hatten mit dem Kind wirklich eine Lammsgeduld. Aber Mirja ist im Grund ihres Herzens ein gutes Kind. Sie wird schon noch zur Vernunft kommen, Frau Walberg.«
Juttas Augen leuchteten erfreut auf. »Ich danke Ihnen, Katja. Sie haben mir mit Ihren Worten Mut gemacht. Ich war schon ganz verzweifelt. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass Sie etwas Besonderes bedrückt. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Katjas Hände wurden wieder unruhig.
»Nein, danke. Sie sind sehr liebenswürdig. Es ist nichts. Nichts Besonderes jedenfalls.« Als hätte sie schon zuviel gesagt, eilte Katja in ihren schweren Schaftstiefeln schwerfällig zur Tür.
Jutta holte sie dort ein: »Es ist also doch etwas, Katja. Sie sind sehr unglücklich, nicht wahr?«
»Ein wenig«, flüsterte die Elevin. »Es wird vorübergehen.« Sie ließ sich nun nicht mehr aufhalten, und Jutta schloss hinter ihr die Tür.
Nachdenklich starrte die Gutsherrin auf Mirjas Bild. Alle haben wir also unsere Probleme, dachte sie versonnen. Mirja wegen ihrer Stiefmutter, ich wegen Mirja, Richard meinetwegen und wegen seiner Tochter, und Katja …?
Ich werde es herausfinden. Sie ist ein nettes Mädchen. Vielleicht geht es um einen Mann?
*
»Hm!«, machte Dominik und sah nicht sehr erfreut aus. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und musterte seine Mutter fragend. »Meinst du wirklich, dass das gut ist?«
Denise bestätigte es lebhaft: »Du bist der einzige, zu dem Mirja Vertrauen hat. Selbst mir gegenüber bleibt sie zurückhaltend. Ich fände es gut, wenn du ihr bei den Schulaufgaben helfen würdest. Es wird sie anspornen, in der Schule wieder zu lernen. Denn sie möchte von dir ganz bestimmt nicht für dumm gehalten werden.«
Dominik kratzte sich zweifelnd am Kopf. »Das ist alles gut und recht, Mutti. Aber Pünktchen stellt sich schon jetzt so komisch an. Wenn ich nun auch noch mit Mirja pauke, wird sie noch eifersüchtiger werden.«
»Kannst du ihr das nicht ausreden?«
»Ausreden?« Dominik lachte auf. »Sie ist stocksauer auf mich, und reden kann ich mit ihr darüber überhaupt nicht. Sie fühlt sich zurückgesetzt oder, weiß der Teufel, was. Ich hätte sie wirklich für klüger gehalten.«
Denise erwiderte ruhig: »Du musst versuchen, Pünktchens Reaktion zu verstehen. Sie kommt jetzt in ein Alter, in dem ein Mädchen einen netten Jungen ein wenig anhimmelt und allein mit ihm befreundet sein möchte.«
»Du lieber Himmel, Mutti!« Dominik hob den Blick belustigt zur Zimmerdecke empor. »Wenn ich daran denke, wie viele winzige, kleine und halbwüchsige Mädchen, die vorübergehend auf Sophienlust waren, mich später heiraten wollten, dann könnte ich schon einen Harem aufmachen. Ich mag Pünktchen sehr gern. Klar mag ich sie lieber als alle anderen. Auch lieber als Mirja. Aber deshalb darf ich doch wohl noch mit anderen sprechen und auch andere bildhübsch und nett finden. Oder etwa nicht? Dass Pünktchen das nicht versteht, ist ihre Sache. Wenn ich jetzt durch diese Lernerei noch öfters als sonst mit Mirja zusammen bin, wird Pünktchen unversöhnlich sein. Du musst ihr klarmachen, Mutti, dass du diesen Nachhilfeunterricht angeordnet hast.«
»Mache ich, Nick!«
Denise richtete es schon am Nachmittag so ein, dass Pünktchen hörte, was sie zu Mirja sagte. Beide Mädchen reagierten nicht sehr erfreut. Mirja, weil sie nicht lernen wollte, Pünktchen, weil sie Mirja das Zusammensein mit Dominik missgönnte. Mit finsterer Miene beobachtete sie, wie Mirja ihre Schulsachen nahm und mit Dominik ins stille Musikzimmer verschwand.
Von da an hatte Nick noch weniger Zeit für Pünktchen und die anderen Kinder. Mirja aber fand plötzlich wieder Interesse am Schulunterricht. Auch sonst war sie aufgeschlossener als in der ersten Zeit. Wenn man sie auch nie lachen hörte, so sprach sie nun doch mit allen und beteiligte sich auch an den Spielen auf der großen Parkwiese oder – bei schlechtem Wetter – an Gesellschaftsspielen im Pavillon.
Nur als Mirja unverhofft Besuch ihrer Tante bekam, änderte sich ihr Wesen wieder.
»Mirja«, sagte Tante Erika zu ihr, »ich musste kommen. Ich mache mir die größten Sorgen um dich. Tag und Nacht finde ich keine Ruhe, weil du in einem Heim sein musst.«
»Es ist ja nicht irgendein Heim«, antwortete Mirja. »Du siehst doch, wie herrlich es hier ist. Ich habe mich schon ganz gut eingewöhnt. Wir sind wie eine große Familie. Ich kann ausreiten wie zu Hause. Das ist mir die Hauptsache. Außerdem ist es sehr nett, mit anderen Kindern zusammen zu sein. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Tante Erika.«
Diese Antwort passte Erika Lauheim ganz und gar nicht. »Bedenke«, sagte sie eindringlich, »während du hier bist, nistet sich die Frau deines Vaters immer mehr auf Hoheneichen ein. Wenn du mal zurückkommst, hast du überhaupt nichts mehr zu vermelden.«
»Nächstes Wochenende fahre ich heim«, erwiderte Mirja mit einer Stimme, aus der echte Freude klang. »Nike und Binka kommen von der Dressur zurück. Sie wären sicher sehr enttäuscht, wenn ich nicht da wäre.«
»Lasse dich aber ja nicht einwickeln«, mahnte die Tante. »Sie ist eine ganz raffinierte Person. Nur wenn du so ablehnend bleibst, wirst du sie in die Enge treiben können. Ich habe deinem Vater übrigens geschrieben, dass ich dich zu mir nehmen möchte. Wenn es hier auch schön ist, so ist es doch ein Heim. Bei mir sollst du es nicht anders, als bei deiner Mutter haben. Dein Vater hat mir noch nicht geantwortet.«
Mirja war bei diesen Worten leicht erblasst. Wenn sie es genau überlegte, dann mochte sie Tante Erika gar nicht so besonders. Sie hatte stets etwas an ihr auszusetzen.
»Das wäre viel zu umständlich für dich«, entgegnete Mirja. »Ich bleibe lieber hier. Du hast ja auch keine Reitpferde, Tante Erika. Außerdem habe ich mich mit Dominik angefreundet. Das ist ein ganz reizender Junge. Ihm wird mal alles später hier gehören. Aber er spricht nie davon. Wenn man nicht wüsste, wie reich er ist, würde man es kaum merken, weil er so natürlich und umgänglich ist.«
Die Nase der Tante hatte sich bei diesen Worten gekraust. Es sah sehr drollig aus. Mirja spürte einen Lachreiz in sich aufsteigen und wunderte sich, dass sie auf einmal Lust hatte, herauszulachen.
»Also, das gefällt mir überhaupt nicht!«, zischte die Tante nun erbost. »Mädchen und Jungen zusammen unter einem Dach! Das ist einfach unerhört. Ich verstehe nicht, dass dein Vater dies erlaubt.«
»Da ist doch aber gar nichts dabei?«
»Du mit deinem kindlichen Gemüt merkst natürlich nicht, wie schädlich dies für die Erziehung eines halbwüchsigen Mädchens ist. Nein, ich werde jetzt alle Schritte unternehmen, um dich von hier wegzuholen. Ich werde mich an das Jugendamt wenden. Ich werde …«
Erika Lauheim hörte entsetzt auf zu sprechen, denn Mirja lachte plötzlich so laut, dass ihr die Tränen in die Augen traten. »Es ist schandbar, wie du dich hier zu entwickeln beginnst!«, ereiferte sich Erika Lauheim erbost. »Leider ist Frau von Schoenecker heute nicht anwesend, und diese Frau Rennert macht einen mehr als sturen Eindruck. Sie hat mich überhaupt nicht zu Wort kommen lassen. Mit dir soll ich nur zehn Minuten sprechen dürfen.«
»Die scheinen bereits um zu sein!« sagte Mirja immer noch mit einem Lachreiz kämpfend. »Dort kommt Dominik. Jetzt lernst du ihn also kennen. Sieht er nicht fabelhaft aus? Mir ist noch nie ein besser aussehender Junge begegnet!«
Dominik war lässig herangekommen. Er lächelte und stellte sich vor. Dabei bemerkte er mit einem raschen Seitenblick, dass Mirja lachte. Das hatte er bisher noch nie erlebt. Sie sieht entzückend aus, wenn sie lacht, dachte er.
»Entschuldigen Sie«, sagte er höflich, »ich bin extra von Schoeneich gekommen, um Mirja Unterricht zu geben. Wir müssen die Zeit einhalten. Ich habe nämlich nachher eine Verabredung.«
»Geh schon vor!«, befahl Erika Lauheim. »Ich habe mit meiner Nichte noch etwas zu besprechen.«
Dominik ging nur zögernd weg. Auch Mirja setzte sich in Bewegung, sodass die Tante vorwurfsvoll sagte: »Geh nicht so rasch! Dieser Bengel wird ja wohl etwas warten können.«
Noch nie zuvor hatte Mirja so deutlich gemerkt, dass die Tante über alles missachtend sprach. »Dominik ist nett!«, widersprach sie energisch. »Er benimmt sich bestimmt nicht wie ein Bengel!«
»Er gefällt dir wohl mehr als gut!«, erwiderte die Tante spitz. »Aber hör' zu, Mirja. Die jetzige Frau deines Vaters ist noch sehr jung und wird wohl möglichst rasch ein Baby haben wollen, um selbst einen Hoferben zu besitzen. Dein Vater war seinerzeit sehr enttäuscht, dass du ein Mädchen und kein Junge geworden bist. Deine Mutter hat darunter zu leiden gehabt, denn sie bekam kein zweites Kind mehr. Na, das wird nun die Neue besorgen. Wenn es ein Junge wird, ist Hoheneichen für dich verloren. Deshalb müssen wir versuchen, diese Frau rechtzeitig hinauszuekeln. Wenn du nächstes Wochenende zu Hause bist, musst du mit deinem Vater sprechen. Du musst dafür sorgen, dass er dir schon jetzt Hoheneichen für den Fall seines Ablebens und für den Fall, dass dieser Missehe Kinder entsprießen sollten, überschreibt. Wenn er das nicht tut, bist und bleibst du das fünfte Rad am Wagen.« An diese letzten Worte der Tante dachte Mirja, als sie mit den anderen an der langen Tafel beim Abendbrot saß. Der Appetit war ihr vergangen. Noch nie hatte sie darüber nachgedacht, dass ihr Vati mit der Neuen Kinder haben könnte. Diese Möglichkeit war für sie aber so entsetzlich, dass sie ganz verstört wirkte.
Den wachsamen Augen von Frau Rennert entging Mirjas seelische Verfassung nicht. Ihr war klar, dass die Tante das Mädchen wieder negativ beeinflusst hatte. Deshalb sagte sie am nächsten Tag zu Dominik: »Kannst du nicht versuchen herauszubekommen, was Frau Lauheim mit Mirja gesprochen hat? Mirja ist wieder so wie in der ersten Zeit. Ihre Tante muss etwas gesagt haben, was Mirja sehr beschäftigt.«