Читать книгу Der Arzt vom Tegernsee 51 – Arztroman - Laura Martens - Страница 3
ОглавлениеIn einem Nebenraum des Restaurants »Benji« fand an diesem Samstagabend die Abschiedsparty für Dr. Mara Bertram statt, zu der Dr. Eric Baumann seine Angestellten eingeladen hatte. Michaela Ahlert,
die Frau des Besitzers, hatte
den Raum wunderschön geschmückt. Es gab Rostbraten und verschiedene Salate. Zum Nachtisch hatte sich Benjamin Ahlert ein Spezialdessert einfallen lassen.
»Ich weiß noch gar nicht, wie ich in Zukunft ohne dich auskommen soll, Mara«, sagte Eric in der kleinen Rede, die er im Anschluß an das Essen hielt. »Es war eine schöne Zeit mit dir gewesen. Es wird schwer sein, einen Ersatz für dich zu finden.«
Die junge Ärztin stand auf und meinte: »Ich möchte die Zeit in deiner Praxis nicht missen, Eric. Ich habe eine Menge von dir lernen können und vor allen Dingen…«, sie blickte liebevoll Dr. Martin Hellwert an, »… habe ich es dir zu verdanken, daß ich Martin kennenlernen durfte.«
Die Tür des Nebenzimmers öffnete sich, und Erika Bohn trat ein. Sie hatte ihr bestes Kleid angezogen und war am Vormittag beim Friseur gewesen. Im Moment wirkte sie ziemlich gehetzt. »Bitte entschuldigen Sie, daß ich erst jetzt komme«, bat sie und wandte sich dann direkt an Dr. Baumann: »Ich mußte noch einiges für Michaela erledigen. Sie fährt morgen in den Urlaub.«
Katharina Wittenberg, die Haushälterin des Arztes, sah Frau Bohn kopfschüttelnd an. »Warum denken Sie nicht auch einmal an sich selbst?« fragte sie. »Michaela ist bereits über fünfundzwanzig. Ich meine, eine junge Dame dieses Alters sollte gelernt haben, ihre Sachen zu richten.« Es machte sie wütend, daß sich Erika so von ihren Kindern ausnutzen ließ. Nicht einmal den gemütlichen Abend, zu dem Dr. Baumann eingeladen hatte, schienen sie ihr zu gönnen.
»Michaela hat so viel zu tun, Frau Wittenberg«, verteidigte Erika Bohn sofort ihre Tochter. »Sie geht den ganzen Tag arbeiten.«
Eric mußte seiner Haushälterin hundertprozentig recht geben. Erika Bohn hatte vier Kinder, und keines von ihnen schien in der Lage zu sein, selbst für seine Sachen sorgen zu können. Selbst der älteste Sohn Wolfgang, der schon lange ausgezogen war, brachte ihr nach wie vor seine Kleidung zum Waschen und zum Bügeln. Der Arzt wußte allerdings auch, daß man Erika kaum noch ändern konnte. Sie war überzeugt, nach wie vor für ihre Kinder sorgen zu müssen, und vergaß allzu oft sich selbst darüber.
Er stand auf und rückte für die Putzfrau einen Stuhl. »Bitte, setzen Sie sich, Frau Bohn«, bat er. »Daß Sie zu spät gekommen sind, macht nichts. Die Küche bietet trotzdem noch einiges für Sie.«
Benjamin Ahlert erschien keine fünf Minuten später und brachte höchstpersönlich das Essen für Erika. »Guten Appetit, Frau Bohn«, wünschte er.
»Danke«, erwiderte sie. »Das sieht ja köstlich aus.«
»Das schmeckt auch so«, sagte Mara Bertram und lächelte ihr zu.
Katharina Wittenberg blickte zu Franziska Löbl hinüber, die mit ihrem Verlobten an der Längsseite der Tafel saß. Manfred Kessler schien nur Augen für die junge Frau zu haben. Da Franziska seit einem Unfall in ihrer Kindheit nicht mehr sprechen konnte, unterhielt sie sich mit ihm in der Gebärdensprache. Manfred hatte sie innerhalb weniger Wochen gelernt, um seiner zukünftigen Frau das Leben etwas zu erleichtern. So mußte sie nicht aufschreiben, was sie zu ihm sagen wollte.
Allen fiel auf, welches Einvernehmen zwischen den jungen Leuten herrschte. Und auch Dr. Baumann und seine Haushälterin, die erst etwas Bedenken gegen Herrn Kessler gehabt hatten, waren inzwischen überzeugt, daß die beiden später eine gute Ehe führen würden. Sie hatten sich ein Haus in Bad Wiessee gekauft und lebten bereits dort.
Auch Tina Martens, Erics Sprechstundenhilfe, hatte ihren Freund Joachim mitgebracht. Die junge Frau schaute zu dem Hund hinunter, der es sich ihr zu Füßen bequem gemacht hatte. Obwohl Franzl zu Beginn des Essens eine große Portion Fleisch bekommen hatte, war er noch auf Betteltour gegangen und hatte von jedem einen Obulus verlangt. Nun schlief er den Schlaf der Gerechten.
Die Ahlerts kamen mit vier Flaschen Sekt. Sie stellten sie vor Mara Bertram auf den Tisch. »Schließlich müssen wir alle auf Sie anstoßen, Frau Doktor«, meinte Benjamin. »Wir werden Sie in der Praxis von Doktor Baumann zwar vermissen, freuen uns aber dennoch mit Ihnen.«
»Es wird bestimmt eine gewaltige Umstellung für Sie sein, Frau Doktor Bertram«, sagte Michaela. »Zum Glück soll es sich bei Doktor Häußermann um einen sehr umgänglichen Mann handeln.«
»Und selbst, wenn es nicht so wäre, würde es nicht viel ausmachen«, warf ihr Mann ein. »Immerhin werden Sie im Januar seine Praxis übernehmen.«
»Eine Umstellung wird es auf jeden Fall«, erwiderte sie junge Ärztin. »Und ehrlich gesagt, es wird mir etwas bange, wenn ich daran denke, daß ich schon am Montag nicht mehr in der Praxis von Doktor Baumann arbeite.« Sie schaute zu Franzl hinunter, der es sich inzwischen neben ihr bequem gemacht hatte. »Und dich werde ich natürlich auch vermissen, Franzl.« Liebevoll streichelte sie ihn.
»Kaum zu glauben, daß Sie einmal vor Franzl Angst hatten«, bemerkte Katharina Wittenberg. Sie konnte sich noch gut an den Tag erinnern, an dem sie Mara kennengelernt hatte. Damals war ihr die junge Ärztin äußerst unsympathisch gewesen.
»Franzl hat mir beigebracht, daß nicht jeder Hund so bissig ist wie der, der mich als Kind angefallen hat«, sagte Mara. »Was nicht heißen muß, daß ich um manche Hunde nicht auch heute noch einen großen Bogen mache. Kindheitserinnerungen sind nicht so leicht abzuschütteln.«
Dr. Martin Hellwert legte den Arm um ihre Schultern. »Ich
habe beschlossen, mir einen Neufundländer anzuschaffen«, scherzte er.
»Zutrauen würde ich es dir ohne weiteres, Martin«, erklärte seine Freundin und küßte ihn auf die Wange.
»Werden Sie wieder einen Praxisassistenten einstellen, Doktor Baumann?« erkundigte sich Michaela Ahlert, nachdem sie alle zusammen auf Maras Zukunft angestoßen hatten.
Dr. Baumann nickte. »Ja, das werde ich wohl tun. Die Arbeit wäre sonst kaum zu schaffen.« Er schenkte Tina Martens ein bedauerndes Lächeln. »Während der nächsten Zeit werden wir beide alle Hände voll zu tun haben«, sagte er. »Leider hat sich auf meine Annonce wegen einer weiteren Sprechstundenhilfe auch noch niemand gemeldet. Sieht aus, als müßten wir uns vorläufig so behelfen.«
»Wird uns wohl kaum etwas anderes übrigbleiben«, erwiderte die junge Frau. »Zum Glück habe ich es gelernt, auch mit dem Ozongerät umzugehen.«
Erika Bohn tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab. »Haben Sie schon gehört, daß Frau Gabler und Herr Hofmeister im nächsten Monat heiraten?« erkundigte sie sich.
»Nein«, sagte Mara Bertram.
»Ich habe auch noch nichts davon gehört«, bemerkte Tina. »Neulich habe ich Andrea Stanzl und Klaus Riedl in der Stadt gesehen. Sie sind Arm in Arm am See spazierengegangen. Vielleicht nehmen sie die Hochzeit auf dem Leinerhof zum Anlaß, ihre Verlobung zu verkünden.«
»Davor müssen sie noch eine fast uneinnehmbare Festung stürmen«, meinte Katharina Wittenberg. »Klaus’ Großmutter dürfte mit ihrer Verlobung überhaupt nicht einverstanden sein. Sie kann Frau Stanzl nach wie vor nicht leiden. Als ich Beate Riedl neulich beim Einkaufen getroffen habe, hat sie kein gutes Haar an der jungen Frau gelassen.«
»Hoffen wir, daß sie zur Vernunft kommt«, warf Eric ein. »Sie ist eifersüchtig auf Andrea und meinte, weil sie ihren Enkel großgezogen hat, müßte er nun Tag und Nacht für sie dasein. Frau Gabler hat deswegen schon des öfteren mit ihr gesprochen. Leider scheint die alte Frau unbelehrbar zu sein.«
»Wenn sie so weitermacht, wird sie ihren Enkel verlieren«, warf Benjamin Ahlert ein.
Mara Bertram und ihr Freund standen auf und gingen durch die Verbindungstür auf den schmalen Balkon hinaus, der sich an der Längsseite des Restaurants entlangzog. Eine mit Efeu bewachsene Mauer schirmte ihn gegen die große Terrasse ab, die auf den See hinausführte und die wie jeden Abend voll besetzt war. Martin Hellwert legte den Arm um die Schultern der jungen Ärztin. Schweigend blickten sie zum nachtdunklen Himmel hinauf.
»Weißt du, daß ich ein bißchen Angst habe?« fragte Mara nach einer Weile.
»Das kann ich verstehen«, antwortete Martin. »Ein neuer Anfang ist immer schwierig, aber ich weiß, daß du es schaffen wirst. Und wenn du im Januar die Praxis von Doktor Häußermann übernimmst, werden die Patienten aus allen Himmelsrichtungen kommen, um sich von dir behandeln zu lassen.« Er zog sie an sich. »Du bist eine wundervolle Ärztin, Mara.«
»Ich kann es kaum noch abwarten, bis du in meine Praxis eintrittst.« Sie drehte sich ihm zu und blickte ihm in die Augen. »Ich hätte niemals gedacht, daß nach meinem Fiasko mit Jürgen jemals ein Mann wieder so wichtig für mich werden könnte, wie du es bist.«
»Das ist das Schönste, was mir je gesagt wurde«, meinte Dr. Hellwert und küßte sie.
*
Barbara Schneider bog zu der kleinen Appartementanlage ab, in der sie ein Studio gemietet hatte. Es war früher Nachmittag. Die lange Fahrt von Frankfurt nach Rottach-Egern hatte sie ziemlich ermüdet. Sie freute sich darauf, erst einmal etwas auszuruhen und dann am See spazierenzugehen.
Kaum hatte sie junge Frau vor dem Hauptgebäude der Appartementanlage gehalten, als ihr auch schon Maria Huber, die Besitzerin, entgegenging. Freundlich begrüßte sie Barbara und stellte sich vor. »Hatten Sie eine schöne Fahrt, Frau Schneider?« erkundigte sie sich.
Barbara nickte. »Ich hatte Glück und bin nicht ein einziges Mal in einen Stau geraten«, erwiderte sie.
»Ihr Studio liegt gleich dort vorn.« Maria Huber wies zu einem flachen Gebäude, das von einer breiten Veranda umgeben wurde, von der mehrere Türen abgingen. »Sind Sie schon einmal am Tegernsee gewesen, Frau Schneider?«
Barbara zögerte einen Augenblick, bevor sie sagte: »Ja, in Tegernsee selbst.«
»Dann wissen Sie ja, was Sie an unserem See so alles erwartet«, meinte die Wirtin, während sie mit Barbara über den Hof ging. »Falls Sie Lust haben, morgens im Haupthaus zu frühstücken, so können Sie es jederzeit.« Sie nahm einen Schlüsselbund aus ihrer Schürzentasche und schloß auf. »Bitte!« Mit einer großartigen Geste wies sie ins Studio.
»Ab und zu werde ich es bestimmt«, antwortete die junge Frau und ging an ihr vorbei. Vom ersten Augenblick an war sie begeistert. Das Wohnzimmer mit der kleinen Küche und der Schlafnische wirkte genauso gemütlich, wie es auf dem Bild im Reiseprospekt ausgesehen hatte. Das Bad war geräumig und mit schwarzweißen Kacheln gefliest. Die Armaturen glänzten vor Sauberkeit.
»Gefällt es Ihnen?«
»Ja, es gefällt mir«, sagte Barbara. Sie folgte Maria Huber ins Hauptgebäude hinüber, um die notwendigen Formalitäten zu erledigen und sich auch dort ein wenig umzusehen.
Eine halbe Stunde später packte Barbara ihren Koffer und die Reisetasche aus, brühte sich eine Tasse Kaffee auf und setzte sich auf ihren Teil der Veranda, um ihn dort in aller Ruhe zu trinken.
Die junge Frau dachte daran, wie sehr sie den Tegernsee als Kind geliebt hatte. Es hatte für sie kaum etwas Schöneres gegeben, als mit ihrer Mutter auf den See hinaus zu rudern, später irgendwo an Land zu gehen und zu picknicken. Doch diese Zeit war lange vorbei. Sie fragte sich, ob es richtig gewesen war, hierher zurückzukehren.
Es war kurz vor halb sieben, als Barbara sich in ihren Wagen setzte, um zu einem nahen Restaurant zum Abendessen zu fahren. Danach wollte sie die Gegend erkunden. Sie konnte es kaum noch erwarten, all die Orte aufzusuchen, an denen sie mit ihrer Mutter glücklich gewesen war. Als sie jedoch auf die Straße hinausfuhr, überlegte sie es sich anders und schlug den Weg nach Tegernsee ein.
Langsam wurde es dunkel. Rund um den See gingen die Lichter an und spiegelten sich im Wasser. Ein unendlicher Frieden schien über dem ganzen Tal zu liegen.
Barbara erreichte die Schwaighofer-Straße und folgte ihr entlang des Sees. Hinter dem Point bog sie zur Innenstadt von Tegernsee ab. Schon bald erreichte sie die Rosenstraße. Die junge Frau stellte ihren Wagen auf einem Parkplatz ab und ging zu Fuß zum Elektrogeschäft Schneider.
Das Haus, in dem sich das Elektrogeschäft befand, hatte sich in den vergangenen Jahren kaum verändert. Es wirkte noch genauso schäbig, wie sie es in Erinnerung hatte, und hätte längst einen neuen Anstrich gebraucht. Sie bemerkte, daß von den Fensterläden im ersten Stock der Lack abblätterte. An den Fenstern hingen vergilbte Gardinen. Eine von ihnen wies einen deutlichen Riß auf. Es waren dieselben Gardinen, die schon bei ihrem letzten Besuch vor zehn Jahren vor den Fenstern gehangen hatten.
Kaum zu glauben, daß dieses Haus einem wohlhabenden Mann gehörte, dachte Barbara. Sie konnte es nicht verstehen. Wider Erwarten hatte sie gehofft, daß Guido Schneider sich in den letzten Jahren geändert hatte. Wie es aussah, war es nicht der Fall.
Die junge Frau überquerte die Straße und besah sich die Auslagen des Geschäftes. Wenigstens bei der Ausstattung der Schaufenster hatte Guido Schneider nicht gespart. Es gab eine große Vase mit frischen Blumen, die vor dem Bild eines Brautpaars stand, das einen Staubsauger ausprobierte, schöne Lampen, mehrere teure Keramiktiere und eine dekorative Schale mit Obst auf einem Herd.
Barbara wandte sich der Eingangstür des Geschäftes zu. Schon streckte sie die Hand aus, um die Tür zu öffnen, als sie im letzten Moment zurückzuckte. Sie brachte es nicht fertig, das Geschäft zu betreten. Aufseufzend versuchte sie, durch das Schaufenster in den Laden zu spähen. Verbittert preßte sie die Lippen zusammen, als sie hinter dem Tresen einen großen, hageren Mann bemerkte, dessen Gesicht so verkniffen wirkte, als würde auf seinen Schultern alles Leid der Welt ruhen.
Die Ladentür öffnete sich, und eine Frau kam heraus. Es schien sich um eine Angestellte zu handeln. Als sie Barbara sah, zuckte sie zusammen. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich jedoch anders, wandte sich um und ging zum Parkplatz.
Barbara blickte ihr nach. Sie kannte diese Frau nicht. Vermutlich hing noch das Bild ihrer Mutter im Wohnzimmer, und sie wußte, wie ähnlich sie ihr sah. Es konnte durchaus sein, daß die Frau deshalb so überrascht ausgesehen hatte. Erneut wandte sie sich dem Schaufenster zu. Der hagere Mann kam hinter dem Tresen hervor und ging mit einem Schlüsselbund zur Tür. Sie hörte, wie er den Schlüssel ins Schloß steckte und ihn herumdrehte.
»Gute Nacht, Vater«, sagte sie leise und kehrte zu ihrem Wagen zurück.
*
Gisela Hofer packte sorgfältig einen Warmwasserzubereiter in Geschenkpapier ein. Simone Steiner ließ sie nicht einen Moment aus den Augen. Das Geschenkpapier, das die Verkäuferin ausgesucht hatte, gefiel ihr. Als Gisela fragte, ob sie das Päckchen auch noch mit einer Schleife verzieren sollte, nickte sie.
Guido Schneider kam aus seinem Büro, dessen Tür ständig offenstand, damit er alles beobachten konnte, was in seinem Laden passierte. »Eine Schleife ist bestimmt nicht nötig«, sagte er. Mißbilligend sah er seine Angestellte an. »Dieser Apparat kostet nicht einmal fünfzig Mark.«
Simone streckte entschlossen ihr Kinn vor. »Die Schleife ist nötig«, widersprach sie. »Es handelt sich um ein Geschenk zum Geburtstag meiner Mutter.«
Gisela Hofer beachtete ihren Chef nicht weiter. Sie klebte eine Schleife auf das Päckchen und reichte es dem Mädchen. »Ich hoffe, das Geschenk gefällt deiner Mutter, Simone.«
»Das wird es ganz bestimmt, Frau Hofer«, erwiderte die Zehnjährige. »Auf Wiedersehen.« Eilig verließ sie das Geschäft.
Guido Schneider stieß heftig den Atem aus. »Ich möchte Sie in meinem Büro sprechen, Frau Hofer«, sagte er, drehte sich um und verschwand.
»Das sieht nach dicker Luft aus, Frau Hofer«, flüsterte das Lehrmädchen und machte sich daran, die Lampen abzustauben, die rechts von ihr in einem Regal lagen.
Gisela Hofer trat in das Büro ihres Chefs. »So vergrault man Kunden, Herr Schneider«, meinte sie ärgerlich. »Sie wissen, daß Simones Mutter und auch ihr Verlobter alle Elektrowaren bei uns kaufen.«
Guido Schneider preßte die Hände auf seinen Magen. Seit dem frühen Morgen hatte er entsetzliche Schmerzen und sich auch schon mehrmals übergeben müssen. »Was noch lange nicht heißen muß, daß mein Geld zum Fenster rausgeworfen werden darf«, stieß er scharf hervor. »Ich verstehe diese Geldverschwendung durchaus nicht. Ich dachte, nach all den Jahren, die Sie bereits für mich arbeiten, hätten Sie es endlich gelernt, mit allem sparsam umzugehen.«
Es gab einiges, was ihm Frau Hofer daraufhin hätte sagen können, doch sie verzichtete darauf, weil sie wußte, daß sie ohnehin in den Wind reden würde. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie einen so geizigen Menschen erlebt wie Guido Schneider. Sein Geiz richtete sich nicht nur gegen andere, sondern in erster Linie auch gegen sich selbst. Sie merkte, daß er wieder heftige Magenschmerzen hatte, wie so oft in den letzten Jahren. Wider besseres Wissen schlug sie ihm vor, Dr. Baumann aufzusuchen.
Der Geschäftsinhaber sah sie empört an: »Wollen Sie mich denn völlig in den Ruin treiben?« fragte er. »Sie wissen ganz genau, daß ich privat versichert bin und einen so hohen Selbstbehalt habe, daß ich mich bei einem Arztbesuch dumm und dämlich zahlen muß.«
»Das müßten Sie nicht, wenn Sie zu höheren Beitragszahlungen bereit wären, Herr Schneider«, erwiderte Gisela und straffte die Schultern.
»Meine Privatangelegenheiten gehen Sie überhaupt nichts an«, brauste Guido Schneider auf.
Frau Hofer arbeitete seit über zehn Jahren für ihn. Sie wußte, daß sie sich einiges erlauben konnte, weil er sie auf keinen Fall entlassen würde. Außerdem würde er für eine Fachkraft, wie sie es war, bei Neueinstellung bedeutend mehr bezahlen müssen.
»Wenn Sie nicht zum Arzt gehen wollen, Herr Schneider, könnte es womöglich schon helfen, ab und zu mal etwas Vernünftiges zu essen, statt nur von Päckchensuppe und altem Brot zu leben«, erklärte sie.
Das Gesicht des Geschäftsinhabers lief rot an. Bevor er noch etwas sagen konnte, hörten sie, wie die Ladentür ging und hintereinander drei Kunden kamen. Gisela Hofer ließ ihn einfach stehen und ging in den Verkaufsraum hinüber. Kurz darauf folgte er ihr.
Im Laufe des Nachmittags wurden Guidos Schmerzen so schlimm, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als in der Praxis von Dr. Baumann anzurufen. Tina Martens sagte ihm, daß er um fünf Uhr kommen sollte.
Guido Schneider wußte, daß es ihm unmöglich sein würde, mit seinem eigenen Wagen zu Doktor Baumann zu fahren. Ein Taxi war ihm jedoch zu teuer, deshalb bat der Frau Hofer, ihn zum Arzt zu bringen. »Sie können dann gleich zum Geschäft zurückfahren«, sagte er. »Wenn ich fertig bin, werde ich Frau Martens bitten, Sie anzurufen.«
»Wie Sie wünschen, Herr Schneider«, erwiderte Gisela und holte ihren Wagenschlüssel. Sie dachte an die junge Frau, die sie am Montagabend vor dem Geschäft gesehen hatte. Noch hatte sie ihrem Chef nichts davon erzählt und sie war sich nicht sicher, ob sie es tun sollte. Immerhin konnte es sein, daß sie sich irrte und es sich bei dieser Frau nicht um seine Tochter handelte.
Als Guido Schneider die Praxis von Dr. Baumann betrat, fiel es ihm schwer, aufrecht zu gehen. Sein ganzer Körper schien nur noch ein einziger Schmerz zu sein. So starke Magenschmerzen hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Mit beiden Händen stützte er sich auf den Aufnahmetresen in der Anmeldung.
»Wäre es möglich, daß ich gleich zu Doktor Baumann ins Sprechzimmer kann?« Er griff in seine Hosentasche, nahm ein Taschentuch heraus und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
Tina Martens erkannte sofort, wie schlecht es Herrn Schneider ging. »Im Moment ist noch ein Patient bei Doktor Baumann«, sagte sie. »Nehmen Sie bitte im Gang Platz. Ich sorge dafür, daß Sie als nächster drankommen.«
»Danke«, murmelte Guido und schleppte sich zu der gepolsterten Bank, die gegenüber dem Wartezimmer stand.
Tina schaute zu ihm hinüber. Es war ihr unbegreiflich, wie ein so wohlhabender Mann wie Guido Schneider derart abgerissen herumlaufen konnte. Seine Kleidung wirkte, als hätte er sie einer Vogelscheuche ausgezogen. Sie dachte an die Gerüchte, die sie über ihn gehört hatte. Es hieß, daß er mit seinem Geiz nicht nur seine erste Frau aus dem Haus getrieben hatte, sondern auch seine zweite. Hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich, er würde in Lebensmittelgeschäften stets nach abgelaufenen Waren suchen oder danach fragen.
Dr. Baumann begleitete Anna-Maria Cremer zur Aufnahme. Als er an Guido vorüber kam, nickte er ihm zu. »Bitte vergessen Sie nicht, Ihre Medikamente regelmäßig einzunehmen, Frau Cremer«, ermahnte er seine Patientin. »Wir sehen uns nächste Woche wieder.«
Frau Cremer verabschiedete sich von dem Arzt, rief noch Tina einen Gruß zu und verließ die Praxis.
»Würden Sie bitte gleich Herrn Schneider drannehmen, Doktor Baumann?« bat Tina Martens und sagte ihrem Chef, daß sein Patient große Schmerzen hatte.
»Geht in Ordnung, Tina«, meinte Eric, ging auf Guido Schneider zu und bat ihn in sein Sprechzimmer.
Dr. Baumann untersuchte den Geschäftsinhaber sehr gründlich. Er kannte diesen Mann seit seiner Kindheit. Die Schneiders waren bereits bei seinem Vater in Behandlung gewesen. Guido Schneider litt seit Jahren an einem nervösen Magen. Eric war überzeugt, daß dabei sein sprichwörtlicher Geiz eine große Rolle spielte. All sein Denken schien sich nur darum zu drehen, wo er noch etwas einsparen konnte.
»Es bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie zu einer Gastroskopie ins Krankenhaus zu schicken, Herr Schneider«, sagte er, nachdem er seinen Patienten gebeten hatte, sich anzuziehen. »Es handelt sich um eine ambulante Untersuchung«, fügte er hinzu.
»Sie können mich nicht wegen meiner Magenbeschwerden gleich ins Krankenhaus schicken«, protestierte Guido Schneider und knöpfte sein Hemd zu. »Geben Sie mir etwas gegen die Schmerzen, das reicht.«
»Nein, Herr Schneider, das reicht nicht«, widersprach Eric. Er sah seinen Patienten eindringlich an. »Alles deutet darauf hin, daß Sie eine sehr schwere Gastritis haben. Es wäre wirklich besser, der Sache auf den Grund zu gehen, da durchaus auch der Verdacht auf ein Magengeschwür besteht.« Oder etwas Schlimmeres, fügte er in Gedanken hinzu. Die Symptome, die ihm der Mann geschildert hatte, ließen die Sache alles andere als harmlos erscheinen.
Guido Schneider schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Doktor Baumann, ich sehe diese Kosten nicht ein.«
Eric zwang sich, nicht die Geduld zu verlieren. Vergeblich versuchte er, seinen Patienten davon zu überzeugen, wie wichtig eine gründliche Untersuchung im Krankenhaus war. Schließlich gab er auf. Er konnte Guido Schneider nicht zu dieser Untersuchung zwingen. So blieb ihm nichts weiter übrig, als dem Mann etwas gegen seine Schmerzen zu geben, ihm ein Rezept auszuschreiben und ihn zu bitten, während der nächsten Tage im Bett zu bleiben und leichte Kost zu sich zu nehmen.
»Sie werden sehen, morgen wird es mir bereits bessergehen, Doktor Baumann«, meinte
Guido Schneider, als er das Rezept in seine Jackentasche steckte.
»Und wenn nicht, sollten Sie meinen Rat annehmen und sich einer gründlichen Untersuchung unterziehen, Herr Schneider.«
Guido dachte nach. »Warten wir es ab«, sagte er und reichte Dr. Baumann zum Abschied die Hand. Dank des Schmerzmittels ging es ihm bereits besser. Er war überzeugt, daß Dr. Baumann aus einer Mücke einen Elefanten machte. Zufrieden verließ er das Sprechzimmer und wandte sich dem Aufnahmetresen zu, um Tina Martens zu bitten, Frau Hofer anzurufen.
Eric nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Er machte sich große Sorgen um seinen Patienten, dennoch waren ihm die Hände gebunden. Allerdings war er überzeugt, daß Guido Schneider über kurz oder lang nichts anderes übrigbleiben würde, als ins Krankenhaus zu gehen, ob er wollte oder nicht.
*
Barbara Schneider hatte schon einige schöne Tage in Rottach-Egern verbracht. Sie war auf dem Wallberg gewesen, nach Kreuth gefahren und hatte mehrere Wanderungen unternommen. Am Sonntagnachmittag saß sie bei einem verspäteten Mittagessen in einem kleinen Restaurant und überlegte, ob sie nicht endlich ihren Vater aufsuchen sollte. Während der letzten Tage war sie noch mehrmals in Tegernsee gewesen und hatte vor seinem Geschäft gestanden, sich jedoch nicht entschließen können, es auch zu betreten. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er sich über ihren Besuch freuen würde.
Morgen ist auch noch ein Tag, dachte die junge Frau und bestellte sich zum Nachtisch ein Eis.
Nach dem Essen ging sie zum See hinunter und schaute auf das Wasser hinaus. Ganz in der Nähe lag ein Bootsverleih, der dem Onkel ihrer Wirtin gehörte. Kurz entschlossen mietete sie sich ein Ruderboot, um die nächsten ein, zwei Stunden auf dem See zu verbringen.
Barbara genoß es, mit sanften Ruderschlägen über den See zu gleiten. Sie dachte daran, wie ihre Mutter sonntags immer mit ihr auf den See hinausgefahren war. Es war wunderschön gewesen, mit ihr allein zu sein. Sie hatte sich zu Hause nicht wohl gefühlt. Ihr Vater war sehr auf seine Macht bedacht gewesen und hatte ständig von ihr Rechenschaft gefordert. Mit ihrer Mutter konnte sie lachen und scherzen, mit ihrem Vater war das nicht möglich gewesen. Und wie oft hatten sich ihre Eltern gestritten! Meistens war es nur um Kleinigkeiten gegangen, wie ein Pfund Zucker, das ihre Mutter zu viel gekauft hatte, oder mal eine Tafel Schokolade für sie.
Plötzlich schreckte die junge Frau aus ihren Tagträumen auf. Ein weißes, ziemlich großes Motorboot steuerte direkt auf sie zu. Der Kerl am Steuer muß verrückt sein, dachte sie entsetzt und versuchte, mit heftigen Ruderschlägen ihr Boot aus der Gefahrenzone zu bringen.
In ihrer Angst vor einem Zusammenstoß machte Barbara eine unbedachte Bewegung. Das Boot kippte, und sie stürzte ins Wasser. Eiskalt schlug es über ihr zusammen. Die Kälte raubte ihr fast den Atem. Sie bekam nicht mit, wie das Motorboot wendete und in die entgegengesetzte Richtung davonraste.
Die junge Frau tauchte hustend aus dem Wasser auf. Sie griff nach dem Tau ihres Ruderbootes und zog es zu sich heran. Nachdem sie mehrmals versucht hatte, es herumzudrehen, schwamm sie mit ihm auf das Ufer zu, das noch ein ganzes Stück entfernt lag.
Vor ihr tauchte ein zweites Motorboot auf. Wenige Meter von ihr entfernt stoppte es. Ein dunkelhaariger Mann warf ihr einen Rettungsring zu. Barbara umklammerte ihn hastig. Nur wenig später half ihr der Mann an Bord und hüllte sie fürsorglich in eine warme Decke ein.
»Kommen Sie, setzen Sie sich erst einmal«, bat er und führte sie zu einer Bank, auf der ein weiches Polster lag. »Ich kümmere mich um Ihr Ruderboot.«
»Danke«, murmelte Barbara und bemühte sich, vor Kälte nicht mit den Zähnen zu klappern. Sie hielt nach dem Motorboot Ausschau, das sie fast gerammt hätte, konnte es aber nicht sehen. In die Decke gehüllt, beobachtete sie, wie der Fremde das Tau ihres Ruderbootes an seinem Schiff befestigte und auch noch die beiden Ruder aus dem Wasser fischte.
»Wie geht es Ihnen?« erkundigte sich der Mann.
Barbara zwang sich zu einem Lächeln. »Schon viel besser«, erwiderte sie. »Mit einem unfreiwilligen Bad im See hatte ich natürlich nicht gerechnet.«
Er reichte ihr ein Handtuch. »Ich heiße Arno Vögele«, stellte er sich vor. »Ein Glück, daß ich zur rechten Zeit dagewesen bin.« Er schaute über den See. »Schade, daß mir das Boot, das Sie fast gerammt hätte, völlig unbekannt ist.«
»Sieht nicht aus, als wüßte sein Besitzer, wie man sich auf dem Wasser zu benehmen hat«, sagte Barbara und stellte sich ebenfalls vor. »Ich mache zur Zeit Urlaub in Rottach-Egern«, fügte sie hinzu.
»Das trifft sich gut«, meinte Arno Vögele. »Ich lebe in Rottach-Egern.« Er nahm ihr das Handtuch ab und hängte es über die Reling.
In rascher Fahrt kehrten sie nach Rottach-Egern zurück. Arno vertäute sein Boot an der Mole, half Barbara an Land und brachte das Ruderboot in den Verleih zurück. Die junge Frau wartete auf ihn. Er hatte ihr angeboten, sie zu ihrem Studio zu fahren. Sie fand Arno Vögele ausgesprochen nett. Er machte auf sie einen sehr verläßlichen Eindruck.
Maria Huber stand im Hof, als die jungen Leute kamen. Barbara blieb nichts anderes übrig, als ihr zu erzählen, was passiert war. Ihre Wirtin schlug die Hände über dem Kopf zusammen und schimpfte über die Rowdys, die den See unsicher machten.
»An Ihrer Stelle, würde ich diesen Kerl anzeigen«, sagte sie.
»Das würde ich gern, Frau Huber, leider weiß ich nicht, um wen es sich handelt.«
»Es ging alles sehr schnell«, fügte Arno hinzu. »Mir ist es wichtiger gewesen, Frau Schneider aus dem Wasser zu ziehen, als diesen Kerl zu verfolgen.«
»Natürlich ist so etwas wichtiger«, pflichtete ihm Maria Huber bei.
Während Barbara sich in ihrem Studio duschte und umzog, wartete Arno Vögele im Haupthaus und trank eine Tasse Kaffee. Er hatte Barbara zum Essen eingeladen. Die junge Frau gefiel ihm. Sie hatten ihren Schock relativ schnell überwunden gehabt und kein großes Getue um ihren Unfall gemacht.
Es dauerte nicht lange, bis Barbara kam. Sie trug weiße
Jeans und ein dazu passendes Hemd. Ihre Haare hatte sie im Nacken zusammengesteckt. Er stand auf und ging ihr entgegen. »Hübsch sehen Sie aus«, stellte er fest.
»Ich mußte etwas tun, um den Eindruck zu revidieren, den ich vorhin auf Sie gemacht habe. Bestimmt habe ich auf Sie wie eine nasse Katze gewirkt.«
»Ich liebe Katzen«, erklärte er grinsend.
Sie fuhren zum Restaurant »Benji«. Auf dem Weg dorthin erzählte ihr Arno, das Michaela Ahlert, die Frau des Besitzers, in seiner Werbeagentur arbeitete. Er lachte leise auf und fügte hinzu: »Es ist das erste Mal, daß ich in weiblicher Begleitung ins Benji komme. Michaela wird es kaum fassen können.« Er wandte ihr kurz das Gesicht zu und zwinkerte. »Ich bin ein wenig in Michaela verliebt gewesen. Es war ein schwerer Schlag für mich, als sie Benjamin Ahlert den Vorzug gab.«
Nun mußte auch Barbara lachen. »Wie es aussieht, sind Sie gut darüber hinweggekommen.«
»Es ist mir nichts anderes übriggeblieben. Benjamin Ahlert hätte es sich schön verbeten, wenn ich mit einer Fiedel in der Hand auf der Treppe seines Restaurants gesessen hätte, um Nacht für Nacht seiner Frau ein Ständchen zu bringen.«
Der junge Mann gefiel Barbara immer besser. Selten zuvor hatte sie jemanden auf Anhieb so sympathisch gefunden. Es kam ihr vor, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Sieht aus, als hätte ich einen Freund gefunden, dachte sie. Mit Arno Vögele konnte man bestimmt durch dick und dünn gehen.
Michaela Ahlert war angenehm überrascht, daß ihr Chef in Begleitung einer jungen Dame erschien. Sie wußte nur zu gut, daß er nach wie vor sehr viel für sie übrig hatte. Er erzählte ihr von Barbaras Abenteuer und davon, daß der Fahrer des fremden Motorbootes ohne eine Verwarnung davonkommen würde.
»Das ist wirklich mehr als ärgerlich«, meinte Michaela. »Manche Leute glauben, daß Sie sich auf unserem See so richtig austoben können.«
»Ihn wird bestimmt irgendwann das Schicksal ereilen«, sagte Barbara. Jetzt, nachdem sie ihren Schock überwunden hatte, begann sie, ihr Abenteuer zu genießen. Wäre sie nicht auf dem See gekentert, hätte sie niemals Arno Vögele kennengelernt.
Da es zu kühl war, auf der Terrasse zu essen, hatten sie sich einen Tisch neben einem der Panoramafenster ausgewählt. Sie bestellten Fisch und Weißwein. Das Essen schmeckte ausgezeichnet, und Barbara beschloß, während ihres Urlaubs das »Benji« öfter aufzusuchen.
Arno erkundigte sich, ob sie sich schon lange am Tegernsee aufhielt. Die junge Frau verriet ihm, daß sie sogar hier geboren worden war.
»Ich war acht Jahre alt, als meine Mutter mit mir nach Frankfurt zog«, sagte sie. »Sie konnte das Leben an der Seite ihres Mannes nicht länger ertragen. Es ist das Beste gewesen, was sie tun konnte. Dadurch hat sie mir ein normales Leben ermöglicht.«
»Was hat Ihnen Ihr Vater angetan?« erkundigte sich Arno. »Bei einer Scheidung ist es doch meistens so, daß die Kinder in ihren Gefühlen zwischen Vater und Mutter hin und her gerissen werden.«
»Ja, gewöhnlich ist es so«, gab Barbara zu und fragte sich, ob sie sich nicht schämen mußte, weil sie so willig mit ihrer Mutter mitgegangen war. Nein, ganz bestimmt nicht! Sie hob den Kopf. »Mein Vater hat uns das Leben zur Hölle gemacht. Meine Mutter bekam sehr wenig Haushaltsgeld, obwohl er ein sehr wohlhabender Mann ist, und sie mußte es bis auf den Pfennig genau abrechnen. Aus jedem Gramm Mehl hat er eine Staatsaffäre gemacht. Ich bin oft abends hungrig ins Bett gegangen, weil nichts im Haus war, was ich hätte essen können, und mein Vater sich geweigert hat, auch nur ein paar Mark herauszugeben, damit meine Mutter noch etwas einkaufen konnte.«