Читать книгу Mami Jubiläum 3 – Familienroman - Laura Martens - Страница 3
ОглавлениеEs war sechs Uhr und schon dämmerig, als Birgit Lohmann, die junge Kosmetikerin, ihre letzte Kundin zur Tür begleitete.
Kurz darauf sah sie ein kleines Mädchen langsam hinter einem Rosenbusch hervorkommen.
»Du bist ja noch draußen, Annika«, rief Birgit bestürzt. »Es wird doch schon dunkel.«
»Mutti hat Besuch«, erwiderte die Kleine schüchtern. »Darf ich ein bisschen zu dir, Birgit?«
Annika und ihre Mutter, Christine Nielsen, wohnten erst seit zwei Monaten in diesem Haus, in dem sich acht Dreizimmerwohnungen befanden. Im Hochparterre hatte Birgit ihren Kosmetiksalon, im Stockwerk darüber ihre Privatwohnung.
Christine Nielsen und ihre kleine Tochter wohnten in der Wohnung nebenan.
Während Frau Nielsen sich sehr reserviert verhielt, hatte Birgit mit der reizenden kleinen Annika schnell Freundschaft geschlossen.
Das Kind war oft sich selbst überlassen. Birgit hatte dafür wenig Verständnis, denn das Mädchen war erst vier Jahre, und deshalb bemühte sie sich auch nicht, einen engeren Kontakt zu Frau Nielsen herzustellen.
Mit der Zeit war sie auch dahintergekommen, dass Annika immer dann in den Garten geschickt wurde, wenn Christine Nielsen Herrenbesuch hatte. Es war zwar immer derselbe Mann, aber Birgit befremdete es sehr, dass das Kind dann abgeschoben wurde.
»Ich mag Onkel Horst nicht«, sagte Annika jetzt. »Er mag mich auch nicht. Mutti streitet heute auch mit ihm.«
Birgit wollte sich gewiss nicht in die Privatangelegenheiten ihrer Nachbarin einmischen, aber sie meinte doch, dass diese sich mehr um ihr Kind als um diesen Mann kümmern sollte.
»Hörst du, sie streiten immer noch«, flüsterte Annika, als sie vor Birgits Wohnungstür standen.
»Das kannst du nicht mit mir machen, Horst!«, tönte es schrill ins Treppenhaus. »Ich brauche dich doch!«
Schnell schob Birgit das Mädchen in ihre Wohnung.
»Möchtest du etwas essen, Annika?«, fragte sie, um das Kind abzulenken.
»Hunger habe ich schon«, erklärte die Kleine. »Bin froh, dass du da bist, Birgit. Hast aber immer viel zu tun. Wann kommt denn Bambi mit ihrer Mami mal wieder zu dir?«
Inge Auerbach und deren Töchterchen Bambi mochte Annika besonders gern. Mit Bambi konnte sie spielen, wenn sich Inge Auerbach von Birgit behandeln ließ.
»Morgen kommen sie«, sagte Birgit, aber sie lauschte nach draußen, denn sie hatte gehört, dass nebenan die Tür heftig zugeschlagen wurde.
»Jetzt geht er endlich«, meinte das Kind. »Aber ich möchte eigentlich noch ein bisschen bei dir bleiben. Mutti weint bestimmt wieder. Sie weint so oft.«
Vielleicht müsste man sich doch mehr um sie kümmern, dachte Birgit. Dann hörte sie Christine Nielsen auch schon laut, aber mit heiserer Stimme nach Annika rufen.
»Warte«, bemerkte sie zu der Kleinen, »ich sage deiner Mutti Bescheid.«
Sie ging hinaus. Annika machte gar keine Anstalten, ihr zu folgen.
Sie lauschte nur darauf, was Birgit mit ihrer Mutter sprach.
»Annika ist bei mir, Frau Nielsen«, sagte Birgit. »Wenn es Ihnen recht ist, kann sie auch noch ein bisschen bleiben.«
»Annika soll gleich kommen«, entgegnete Christine Nielsen rau. Aber dann sah sie Birgit an und sagte: »Danke, dass Sie sich um Annika gekümmert haben.«
Später ertappte sich Birgit dabei, dass sie immer wieder hinüberlauschte zur andern Wohnung, aber es blieb alles still.
*
Annika hatte gegessen. Christine hatte nichts angerührt.
»So, jetzt trinkst du noch deinen Kakao, und dann gehst du ins Bett«, sagte Christine.
»Ich muss noch einen Brief schreiben.«
»Kann ich mir noch ein Bilderbuch anschauen, Mutti, und den Kakao dabei trinken?«, fragte Annika.
Mit einem ganz seltsamen Blick sah ihre Mutter sie an.
»Meinetwegen«, entgegnete sie. »Ich bringe ihn dir ans Bett.«
»Und wenn ich kleckere?«
»Das macht auch nichts mehr«, äußerte Christine gepresst.
»Kommt Onkel Horst jetzt nicht mehr?«, fragte das Kind.
»Nein, er kommt nicht mehr«, antwortete Christine tonlos.
»Ich bin eigentlich froh, Mutti. Er war gar nicht lieb mit dir. Gell, wir gehen mal zu Birgit? Sie ist immer so lieb zu mir. Rede doch auch mal mit ihr.«
Christine erwiderte nichts. Sie ging in die Küche und blieb ziemlich lange fort.
Annika zog sich indessen aus und kuschelte sich ins Bett.
Sie blätterte schon in ihrem Bilderbuch, als ihre Mutter mit dem Becher hereinkam.
»Du musst ihn aber austrinken, Annika«, sagte sie mahnend.
»Hmmm!«, machte Annika. »Kommst du noch mal rein, Mutti?«
Christine nickte geistesabwesend. Sie ging ins Wohnzimmer und warf mit flüchtigen Schriftzügen ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier. Ihre Finger zitterten dabei.
Annika nippte an ihrem Kakao. Sie hatte eigentlich gar keinen Durst, denn sie hatte schon bei Birgit ein Glas Milch getrunken.
Der Kakao schmeckte komisch. So bitter.
Sie probierte noch einmal einen größeren Schluck, damit ihre Mutti nicht mit ihr schimpfte.
Nein, den Kakao wollte sie nicht austrinken. Vielleicht war die Milch schon sauer. Saure Milch mochte Annika nicht.
Aber das Glas musste ja leer sein, wenn die Mutti hereinkam. Sonst schimpfte sie.
Manchmal konnte sie richtig böse werden.
Sie stand auf und schüttete den Kakao aus dem Becher in eine bauchige Blumenvase.
Als sie sich hinlegte, war ihr ganz schwindelig und sehr übel, aber darüber konnte sie gar nicht mehr nachdenken, denn alles drehte sich, und ihre Augen fielen ganz von selbst zu.
Christine Nielsen betrat zehn Minuten später das Zimmer. Sie sah das Kind, das wie leblos dalag, und den leeren Becher.
Sie kniete an dem Bett nieder und flüsterte: »Gott möge mir verzeihen.«
Dann ging sie schnell zurück, trank hastig ein Glas Tee und sank auf die Couch.
*
Brigit schrak zusammen, als sie einen dumpfen Fall hörte.
Sie schalt sich ihrer Nervosität, aber sie hatte zu lange und unentwegt über Christine Nielsen nachgedacht.
Sie eilte hinaus, klingelte an der Nachbartür und rief Annikas Namen.
Keine Antwort kam. Sie rief auch Christines Namen.
Unten wurde die Tür der Hausmeisterwohnung geöffnet.
»Was ist denn los?«, fragte Frau Prölling. »Ist was passiert, Frau Lohmann?«
»Ich weiß nicht. Haben Sie einen Schlüssel zu Frau Nielsens Wohnung?«
Gleich darauf konnte Birgit feststellen, dass dieses unheimliche Gefühl, das sie den ganzen Abend bewegt hatte, sie nicht getrogen hatte.
Christine Nielsen lag reglos am Boden. Ihr Körper war ganz verkrampft.
»Schnell einen Arzt!«, stieß Birgit hervor. »Ich sehe nach Annika.«
Annika lag auch leblos da, aber Birgit meinte doch, einen schwachen Pulsschlag zu fühlen.
»Oh, mein Gott!«, flüsterte sie, aber kein Zuruf, kein Schütteln konnte Annika wecken.
Aber Annika lebte noch. Sie wurde sofort in die Sternseeklinik gebracht, und Birgit fuhr, ohne zu zögern, mit.
Ich weiß nicht mehr weiter. Ich bin krank. Ich muss mein Kind mit in den Tod nehmen.
Das stand auf dem Zettel, den man auf dem Tisch gefunden hatte.
Sie war dazu schon entschlossen, als sie das Kind von mir holte, dachte Birgit. Warum hat sie Annika nicht bei mir gelassen? Warum sollte auch dieses kleine Geschöpf sterben?
Verstört ging sie im Warteraum der Klinik hin und her.
Annika wurde der Magen ausgepumpt. Dr. Allard und Dr. Fernand waren schon bereit gewesen, als sie eintrafen.
Sie dachte nicht daran, was nun aus diesem Kind werden sollte, wenn es am Leben blieb. Sie dachte nur, dass Annika leben müsse.
Birgit wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sich die Tür auftat.
Sie war ganz benommen. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.
»Wir werden das Kind durchbringen«, sagte eine dunkle Männerstimme. »Sind Sie eine Verwandte?«
Aus tränenverschleierten Augen blickte Birgit zu Dr. Allard auf. Schweigend schüttelte sie den Kopf.
»Es war furchtbar. Wie sie dalag …«, flüsterte Birgit. »Warum hat sie nicht gesagt, was sie bedrückt? Man hätte ihr vielleicht helfen können. Annika ist so lieb. Ich habe das Kind gern.«
Endlich konnte sie weinen. Die Tränen befreiten sie von dem schmerzenden Druck im Kopf.
Dr. Nicolas Allard begleitete sie dann zu Annika. Deren Gesichtchen hatte jetzt schon wieder ein bisschen Farbe. Birgit streichelte es.
»Wenn sie niemanden mehr hat, würde ich mich gern um sie kümmern«, sagte sie leise.
»Jetzt bleibt sie erst einmal hier. Alles andere wird sich finden«, erklärte Dr. Allard. »Ich lasse Sie jetzt nach Hause bringen.«
*
Fast hätte Birgit das Läuten des Weckers überhört, aber gleich danach schrillte auch ihre Türglocke.
Taumelnd erhob sich Birgit, schlüpfte in ihren Morgenmantel und öffnete. Ein Mann mittleren Alters stand vor ihr.
»Entschuldigen Sie die frühe Störung, Frau Lohmann«, erklärte er höflich, »aber ich möchte gern ein paar Auskünfte von Ihnen. Ich bin Kriminalinspektor Eisenmann.«
»Kriminalinspektor?«, wiederholte sie überrascht.
»Wir müssen feststellen, ob bei diesem Todesfall Fremdverschulden vorliegt«, bemerkte er.
»Aber Frau Nielsen hat doch eine Nachricht hinterlassen«, stammelte Birgit.
»Es wurde uns jedoch mitgeteilt, dass sich gestern ein Mann bei ihr befand. Sie kannten Frau Nielsen näher?«
»Nur Annika«, erwiderte Birgit schleppend. »Ich weiß wirklich nichts. Gestern machte Frau Nielsen auf mich einen kranken Eindruck.«
»Sie war tatsächlich sehr krank, wie die Obduktion ergeben hat. Sie hatte einen Gehirntumor. Diese Tatsache macht auch einen Selbstmord begreiflich. Warum sie allerdings das Kind mit in den Tod nehmen wollte, bleibt unklar. Es hat schließlich einen Vater.«
»Annika hat einen Vater?«, fragte Birgit verstört. »Sie sagte doch Onkel Horst zu ihm. Ich meine den Mann, der auch gestern bei Frau Nielsen war.«
»Annikas Vater heißt Bernd Nielsen. Er ist Schiffsarzt. So viel haben wir inzwischen in Erfahrung gebracht. Wo er sich derzeit befindet, wissen wir allerdings nicht. Anscheinend lebte das Ehepaar getrennt, aber geschieden waren sie nicht.«
»Annika hat nie von ihrem Vater gesprochen«, äußerte Birgit geistesabwesend.
»Wahrscheinlich werden Sie am ehesten von Annika erfahren können, was wissenswert für uns ist. Dr. Allard will uns nicht erlauben, mit der Kleinen zu sprechen, aber schließlich müssen wir den Aufenthaltsort des Vaters herausfinden. Und wir würden auch gern mehr über diesen Horst erfahren. Den Nachnamen wissen Sie wohl nicht?«
»Nein, ich weiß nichts. Frau Nielsen war sehr verschlossen.«
Inspektor Eisenmann verabschiedete sich höflich und bat um ihren Anruf, wenn sie noch etwas erfahren sollte.
*
Bambi war gerade aus der Schule gekommen und wusch sich die Hände, als das Telefon läutete.
Sie hörte im Badezimmer, was ihre Mami sagte, und das stimmte Bambi sehr nachdenklich.
»Wessen Kind ist denn in der Sternseeklinik, Mami?«, fragte sie, während sie noch ihre Hände trocknete.
»Die kleine Annika«, erwiderte Inge Auerbach.
»Warum schaust du so bekümmert? Ist sie sehr krank, Mami?«
»Es geht ihr schon wieder etwas besser.«
Inge war mit ihren Gedanken noch etwas abwesend. Was Birgit Lohmann gesagt hatte, beschäftigte sie sehr.
»Dann kann ich heute gar nicht mit ihr spielen, wenn du zu Frau Lohmann gehst«, meinte Bambi.
»Ich gehe nicht zu ihr, Kleines. Erst nächste Woche wieder.«
»Ist Frau Lohmann auch krank?«, fragte Bambi.
»Nein, aber sie möchte sich um Annika kümmern.«
»Annika hat doch auch eine Mutti.«
»Annikas Mutti ist gestorben«, erklärte Inge. Lieber sagte sie es Bambi gleich, als dass sie es von anderen erfuhr.
»Das ist aber schrecklich«, flüsterte Bambi mitleidvoll. »Aber es ist auch lieb, dass sich Frau Lohmann um sie kümmert. Kümmern wir uns auch um Annika, Mami?«
»Ja, mein Schatz, das tun wir, wenn es ihr besser geht.«
Inge kannte Birgit Lohmann jetzt schon einige Zeit und wusste, wie empfindsam dieses junge Mädchen war.
Es musste ein furchtbarer Schock sein, wenn nebenan ein Mensch auf diese Weise starb.
Inge Auerbach wusste aber auch, dass Birgit die kleine Annika sehr gern hatte.
»Bei Dr. Allard ist Annika gut aufgehoben«, sagte Bambi, und damit tröstete sie sich auch, denn jedes kranke Kind hatte ihr tiefstes Mitgefühl. »Rufst du nachher mal an und fragst, wie es ihr geht, Mami?«
Inge nickte. »Ruf jetzt Papi, Bambi. Ich höre Hannes kommen. Wir wollen essen.«
Appetit hatte sie keinen mehr. Der war ihr vergangen.
*
Endlich war es ein Uhr! Birgit nahm sich keine Zeit für eine Mahlzeit. Sie fuhr mit ihrem kleinen Wagen zur Sternseeklinik.
Sie hatte auch keine Möglichkeit, etwas für Annika zu besorgen, denn die Geschäfte hatten mittags geschlossen. Aber das konnte sie immer noch nachholen. Vorerst würde Annika sowieso noch nicht spielen können.
Sie traf Dr. Fernand, der sie zum Zimmer begleitete.
»Wie geht es Annika?«, war Birgits erste Frage.
»Wir sind ganz zufrieden, aber mehr hätte sie nicht schlucken dürfen«, erklärte er. »Und Sie waren zum Glück auch noch früh genug zur Stelle. Es wird wohl gut zwei Wochen dauern, bis sie wieder aufgepäppelt ist.«
Annika lag in ihrem Bett. Sie hielt einen Teddy im Arm.
»War denn schon jemand bei ihr?«, fragte Birgit betroffen.
»Den Teddy hat ihr Frau Allard gebracht«, sagte Dr. Fernand. »Es ist immer gut, wenn Kinder etwas im Arm haben, wenn sie erwachen. Sie fühlen sich dann nicht so allein.«
Birgit setzte sich an den Bettrand und nahm das kleine Händchen.
Lange Zeit saß sie so da und ließ den Blick zwischen dem Kind und dem Fenster, von dem aus man auf den Sternsee schauen konnte, hin und her schweifen.
Dann erreichte ein zitternder Seufzer ihr Ohr.
»Birgit«, sagte gleich darauf das heisere Stimmchen.
»Ja, meine Kleine?« Birgit beugte sich rasch zu dem Kind hinab und legte ihre Lippen auf die runde Stirn.
»Der Kakao war so bitter. Ich habe ihn in die Vase geschüttet«, sagte Annika, ohne die Augen zu öffnen.
Ein eisiges Frösteln kroch Birgit über den Rücken. Wenn Annika dies nun nicht getan hätte, würde sie dann noch leben?
Es wurde ihr ganz plötzlich klar, dass es sie entsetzlich getroffen hätte, wenn auch das Kind tot gewesen wäre.
Nie zuvor war es ihr so bewusst gewesen, welchen festen Platz dieses kleine Mädchen in ihrem Herzen schon einnahm.
Nun schlug Annika die Augen auf und blickte um sich.
»Wo bin ich denn?«, fragte sie verwirrt.
»In der Sternseeklinik«, erwiderte Birgit.
»Bin ich denn krank geworden von dem Kakao?«, fragte die Kleine.
»Ja«, antwortete Birgit mühsam.
»Weil die Milch so eklig sauer war. Da wär’ Mutti vielleicht doch nicht böse gewesen, dass ich ihn nicht getrunken habe.«
»Sicher nicht, Annika«, sagte Birgit gequält.
»Wo ist Mutti denn? Ist Horst wieder da?«
»Nein. Deine Mutti ist auch krank, Annika.«
Was sollte sie sagen? Wie sollte man es dem Kind begreiflich machen, dass es keine Mutter mehr hatte?
»Warum bin ich denn so müde, Birgit? Ich möchte schon wieder schlafen.«
»Dann schlaf doch, Kleines.«
»Was habe ich denn da im Arm?«, fragte Annika nun doch. »Oh, ist der Teddy lieb! Hast du mir den mitgebracht, Birgit? Ich habe mir immer einen Teddy gewünscht.«
Ihre Stimme wurde immer leiser, und die Augen fielen ihr zu.
Birgit war erleichtert, dass sie keine Antwort mehr zu geben brauchte.
Dr. Allard kam herein.
»Sie wird jetzt wieder schlafen«, erklärte er, nachdem er den Puls gefühlt hatte.
»Sie wird noch viel schlafen, und das ist gut.«
Aber sie wird erwachen und Fragen stellen, dachte Birgit.
»Herr Doktor, würden Sie Annika bitte sagen, dass der Teddy von mir ist? Ich bezahle ihn gern. Heute Mittag konnte ich nichts besorgen, weil die Geschäfte geschlossen waren. Ich konnte meine Kundinnen nicht wegschicken. Vielleicht wäre Annika enttäuscht, dass ich ihr nichts mitgebracht habe.«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Wir haben immer Spielzeug hier.« Er machte eine kleine Pause. »Sie haben das Kind sehr gern, Frau Lohmann?«
»Ja, das ist mir erst jetzt so richtig klar geworden. Sehen Sie, ich lebe allein. Annika kam manchmal zu mir. Sie war so zutraulich. Sie war so ganz anders als ihre Mutter, aber nun da ich weiß, wie krank Frau Nielsen war, verstehe ich ihr Verhalten besser. Sie hoffte wohl, wieder einen Mann zu finden, und erlebte nochmals eine Enttäuschung. Man kann einen Menschen nicht einfach verurteilen.«
»Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen«, sagte Dr. Allard. »Man kann einem andern Menschen auch keine Anteilnahme aufzwingen. Sie haben einen Beruf, der Sie beansprucht, der Sie ausfüllt. Es verdient Bewunderung, dass Sie sich auch noch Zeit für ein fremdes Kind nehmen.«
»Müsste man nicht mehr tun?«, fragte Birgit. »Man lebt Wand an Wand. Da ist ein Mensch, der mit seinem Leben nicht fertig wird. Ich muss diesem Kind doch einfach helfen, Herr Doktor. Nicht nur, weil ich Annika gernhabe, sondern auch deshalb, weil ich nichts für ihre Mutter getan habe. Vielleicht wäre sie doch zu retten gewesen.«
»Nein, das glaube ich nicht. Sie wäre einen schmerzvollen Tod gestorben. Bitte, belasten Sie sich nicht mit unnützen Gedanken, Frau Lohmann. Frau Auerbach hat mich übrigens vorhin angerufen. Sie wollen sich der Kleinen auch annehmen, und wie ich hörte, existiert da irgendwo auch ein Vater.«
»Und wenn er nichts von ihr wissen will, steht sie allein«, sagte Birgit. »Ich verstehe nicht, wie sich ein Vater nicht um sein Kind kümmern kann, selbst wenn es in der Ehe Schwierigkeiten gab. Nein, das verstehe ich nicht.«
Diese Gedanken bewegten sie auch noch, als sie heimfuhr.
Im Treppenhaus traf sie den Inspektor an.
»Ich war bei Annika. Es geht ihr besser«, sagte sie leise. »Haben Sie schon etwas herausgefunden? Annika schläft noch sehr viel.«
»Es widerspricht vielleicht den Vorschriften«, bemerkte Inspektor Eisenmann verlegen, »aber da Sie sich so um das Kind kümmern, möchte ich Ihnen sagen, dass wir einige Briefe gefunden haben, die von Annikas Vater stammen. Wir werden uns bemühen, ihn möglichst schnell zu erreichen.«
Birgit verschlang die Hände ineinander.
»Ich möchte nicht, dass Annika herumgestoßen wird. Geht es denn nicht, dass sie bei mir bleibt? Ich verdiene genug, um für sie zu sorgen. Sie wird nichts entbehren.«
Er musterte sie nachdenklich.
»Sie sind jung und, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, sehr hübsch. Sie werden eines Tages heiraten und selbst Kinder haben. Bedenken Sie das bitte, aber abgesehen davon muss der Vater befragt werden. Ich möchte Ihnen auch nicht verschweigen, dass Frau Nielsen nicht nur unheilbar krank war, sondern auch große finanzielle Schwierigkeiten hatte. Sie hinterlässt einige tausend Euro Schulden, für die ihr Mann aufkommen muss.«
»Hoffentlich«, sagte Birgit.
»Wir haben übrigens auch den Namen jenes Mannes festgestellt, mit dem Frau Nielsen befreundet war. Er heißt Horst Miller. Wir werden ihn selbstverständlich auch befragen.«
Sie betraten Christine Nielsens Wohnung und sahen sich Annikas Zimmer an.
An den Wänden hingen bunte Bilder.
Sie stellten eigentlich nichts dar. Es waren nur Farbkleckse, aber Birgit fühlte sich auf unerklärliche Weise beeindruckt.
Wenn man ganz genau hinschaute, hatten diese Bilder auch Motive, aber sie begriff, dass sie von einer ungeübten Kinderhand gemalt waren.
»Annika hat mir einmal gesagt, dass sie gern malt«, äußerte Birgit gedankenverloren, »aber ich wusste nicht, dass sie so malt.«
Inspektor Eisenmann deutete auf ein Bild.
»Mit einiger Fantasie könnte man sogar sagen, dass dies dort Sie sein sollen. Die Farbe Ihres Haares ist recht genau getroffen. Es ist ja nicht gerade schmeichelhaft, aber Kinder sehen alles anders. Ich habe selbst drei, und mein Ältester malt auch gern.«
»Annika ist doch erst vier Jahre«, entgegnete Birgit leise.
*
Etwas später läutete Inspektor Eisenmann an der Wohnung eines modernen Wohnhauses, das schon von außen sehr komfortabel wirkte.
Ein dunkelhaariger, schlanker Mann öffnete ihm.
»Herr Miller?«, fragte Inspektor Eisenmann.
»Der bin ich, aber wenn Sie etwas verkaufen wollen, können Sie gleich wieder verschwinden«, erwiderte Horst Miller.
Als sich Inspektor Eisenmann vorstellte, erblasste er. Aber er fing sich rasch und lächelte arrogant.
»Sie sind befreundet mit Frau Nielsen?«
»Hetzt sie mir jetzt die Polizei auf den Hals?«, stieß Horst Miller unbeherrscht hervor.
»Hätte Frau Nielsen Grund dafür?«, fragte der Inspektor ironisch.
»Ach was! Sie ist hysterisch. Außerdem habe ich die Beziehung zu ihr abgebrochen.«
Inspektor Eisenmann war es nur recht, dass sein Gegenüber anscheinend völlig ahnungslos war.
»Sie waren gestern bei Frau Nielsen«, begann er vorsichtig.
»Ja, um ihr zu sagen, dass endgültig Schluss ist! Sie will einfach nicht begreifen, dass ich ihre Launen nicht mehr ertragen kann, aber deshalb braucht sich doch nicht gleich die Polizei einzuschalten. Ich habe ihr nichts getan.«
»Frau Nielsen ist tot«, sagte Inspektor Eisenmann nun ruhig.
»Tot? Mein Gott, sie wird es doch nicht wahrgemacht haben? Glauben Sie mir doch! Sie hatte schon so oft gedroht, dass sie sich umbringen wolle. Ich habe damit nichts zu tun. Sie wollte mich unbedingt heiraten, aber eine solche Frau kann man doch nicht heiraten. Sie war schon lange krank.«
Das war ihm doch unbedacht herausgerutscht, und da hakte Inspektor Eisenmann ein.
»Sie wussten also, dass Frau Nielsen krank war?«, bemerkte er.
»Sie hatte dauernd Wehwehchen«, schwächte Horst Miller seine Äußerung ab. »Sie ließ sich gehen. Es war einfach nichts mehr mit ihr anzufangen. Muss ich Ihnen eigentlich Rechenschaft ablegen?« Sein Blick wurde lauernd.
»Es gibt allerlei zu klären«, meinte der Inspektor. »Frau Nielsen war verheiratet, aber sie hatte mit Ihnen ein Verhältnis.«
Horst Miller war jetzt nicht mehr so redselig. Anscheinend überlegte er sich jedes Wort.
»Wir kannten uns schon sehr lange«, sagte er.
»Wie lange?«
»Seit unserer Jugendzeit. Sie kam nicht mit ihrem Mann zurecht und klammerte sich an mich. Ich kann nichts dafür, Herr Inspektor. Ich wollte ihr helfen, aber mehr als Freundschaft war es nie. Christine war haltlos.«
»Aus Briefen von Ihnen an Frau Nielsen stellt es sich aber etwas anders dar«, entgegnete Inspektor Eisenmann. »Sie hatten ein sehr intensives Verhältnis. Sie haben Frau Nielsen auch dazu veranlasst, sich von ihrem Mann zu trennen und hierherzuziehen.«
»Weil sie mir in den Ohren gelegen hat, dass sie es nicht mehr aushalten würde, immer allein zu sein. Ihr Mann war ja dauernd unterwegs.«
»Außerdem hatte Frau Nielsen von ihren Eltern ein ganz hübsches Vermögen geerbt«, bemerkte Inspektor Eisenmann. »Ihre Wohnung ist überaus bescheiden eingerichtet.«
Er blickte sich um und stellte fest, dass man dies von Horst Millers Wohnung nicht sagen konnte.
»Was kann ich dafür? Fragen Sie doch ihren Mann, was mit dem Geld geschehen ist. Ich bedauere, dass Christine tot ist, aber zu ändern ist das ja nun nicht mehr.«
Nach Annika fragte er nicht, und in seinem Gesicht zuckte kein Muskel, als Eisenmann ihm sagte, dass sie ihre Tochter auch hatte töten wollen.
»Vielleicht wäre es besser gewesen für das Kind«, meinte er nur.
*
Hermine Nielsen nahm einen wohlgelungenen Napfkuchen aus dem Backrohr, als der Türgong anschlug.
»Junge, mein Junge!«, rief sie aus, als sie die Tür geöffnet hatte. »Du bist schon da?«
Der hochgewachsene, sonnengebräunte Mann umarmte sie innig.
»Ich konnte gar nicht schnell genug zu dir kommen, Mutti«, erwiderte er zärtlich. »Ich freue mich so!«
Seine Stimme klang jedoch eher schwermütig. Hermine Nielsen legte ihre feinen Hände um das Gesicht ihres Sohnes und betrachtete ihn nachdenklich.
Die erste Frage, die er stellte, war genau die, die sie gefürchtet hatte.
»Hast du Nachricht von Christine?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich meine, dass es an der Zeit ist, dass wir endlich klar sehen, Bernd«, erwiderte sie gepresst.
»Ich werde mir Klarheit verschaffen«, sagte er bitter.
»Ich habe jetzt drei Monate Zeit, Mutti. Ich will sie ja nicht zurückholen, aber das Kind darf sie mir doch nicht einfach entziehen.«
»Vielleicht bist du zu lange weggeblieben, Bernd«, bemerkte Hermine Nielsen leise. »Das soll kein Vorwurf sein für dich und keine Rechtfertigung für Christine, aber ich denke dabei an Annika. Das Kind kennt dich ja noch gar nicht.«
Bernd Nielsen sank in den Sessel.
»Annika«, bemerkte er leise. »Jetzt ist sie schon vier. Hat dir Christine wenigstens mal ein Bild von ihr geschickt?«
»Nein, sie hat mir nie geschrieben. Du weißt, dass sie mich nicht mochte. Ja, wen mochte sie eigentlich?«
»Ich muss endlich Klarheit haben«, sagte er heiser.
»Willst du sie zurückholen?«, fragte sie, obgleich sie überzeugt war, dass ihm dies nicht gelingen würde.
»Ich werde es versuchen«, erklärte er. »Christine muss doch auch an das Kind denken.«
Hermine Nielsen schwieg dazu. Sie fühlte, dass Bernd sie forschend musterte.
»Sie hätte doch die Scheidung eingereicht, wenn es eine andere feste Bindung gäbe«, fuhr er fort.
Sie rang mit sich, begann dann aber doch stockend. »Ich bitte dich, meine Worte nicht misszuverstehen, Bernd, aber es gibt Männer, denen es sehr bequem ist, mit einer Frau zu leben, die gebunden ist. Es enthebt sie eigener Verpflichtungen, es bleibt ihnen immer eine Tür offen.«
»Es ist so schwer zu begreifen, Mutti«, äußerte er gepresst.
»Jetzt schlaf erst mal wieder eine Nacht in deinem Bett«, lenkte sie ihn ab.
Das war nicht so einfach, obgleich er todmüde war. Gedanken kamen und gingen.
Christine war labil und überaus sensibel. Wegen der geringsten Kleinigkeit brach sie in Tränen aus.
Sie hatte plötzlich gemeint, dass ein Zusammenleben unter den derzeitigen Umständen zu noch größeren Spannungen führen würde.
Sie hatte sich an diesen Umständen auch selbst die Schuld gegeben. Wenn er zurückkäme, sei Annika schon aus dem Gröbsten heraus, und sie hätte sich dann wohl gefangen, meinte sie.
Und so schien es dann auch zu sein. Sein nächster Urlaub verlief harmonisch. Sie war einsichtig und auch eine liebevolle Mutter. Wenn er von der nächsten Reise zurückkam, wollten sie sich einen festen Wohnsitz suchen. Sie erwähnte auch zum ersten Mal, dass sie das Erbe von ihren Eltern dann zum Aufbau einer Praxis verwenden könnten.
Er hatte sich nie darum gekümmert. Er wusste nicht, wie viel Geld das war, aber er ging damals wieder hinaus mit dem Gedanken, dass nach seiner Rückkehr alles anders werden würde.
Und dann bekam er nach sechs Wochen jenen unbegreiflichen Brief, in dem sie schrieb, ob es nicht doch besser wäre, wenn sie sich trennen würden. Es war der letzte, den er von ihr bekam. Auf sein Antwortschreiben hörte er nichts mehr. Er wusste nur, dass Christine mit Annika zu einer Freundin nach Österreich gefahren sei, um sich dort zu erholen.
Das war also meine Ehe, dachte Bernd Nielsen vor dem Einschlafen. Kommt jetzt das Ende?
*
Zwei Tage verbrachte er damit, Christines derzeitigen Aufenthalt ausfindig zu machen. Er erreichte nichts.
Er brauchte lange Zeit, um sich des Namens von Christines Freundin zu erinnern, den sie nur nebenbei erwähnt hatte.
Plötzlich fiel er ihm dann doch ein. Aline Eberle. Sie wohnte in Granz.
»Ich werde nach Granz fahren«, sagte er an diesem Morgen zu seiner Mutter. »Mir ist jetzt wieder eingefallen, wie Christines Freundin heißt.«
Da läutete es. Der Briefträger kam und brachte einen Einschreibebrief.
Mit einem Gefühl der Beklemmung öffnete ihn Bernd. Sein Gesicht wurde fahl. Blicklos starrte er seine Mutter an. Ihr wurde es richtig unheimlich.
»Christine ist tot«, äußerte er mit schwerer Stimme. »Sie hat Selbstmord begangen, und sie wollte auch Annika mitnehmen. Warum, Mutter?«
»Ich weiß es nicht, Bernd«, erwiderte Hermine Nielsen leise.
»Hohenborn«, sagte er geistesabwesend. »Ich habe nie von einem Ort dieses Namens gehört. Wie ist sie dorthin gekommen?«
»Das wirst du nun wohl erfahren. Du wirst dorthin fahren müssen.«
»Natürlich muss ich das. Annika ist in einer Klinik.«
»Vielleicht war sie in wirtschaftliche Not geraten«, meinte Hermine Nielsen gedankenverloren. »So groß wird ihr Vermögen nicht gewesen sein, dass sie lange Zeit davon leben konnte. Wie viel war es denn?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Bernd. »Aber ich habe ihr laufend Geld auf unser hiesiges Konto überweisen lassen. Es ist nicht angegriffen worden.«
Das hat sie dann doch nicht fertig gebracht, dachte Hermine Nielsen voller Bitterkeit. Dafür, dass sie Bernd betrogen hat, hat sie wohl doch nicht von seinem Geld leben wollen.
»Da Christine nun tot ist, werde ich dir sagen, dass du die Ursache ihres Verhaltens wohl bei Horst Miller suchen solltest«, bemerkte sie leise. »Sie hat die Verbindung zu ihm nie abreißen lassen.«
»Horst? Es war doch nur eine Jugendfreundschaft«, murmelte Bernd. »Er ging doch ins Ausland, bevor wir heirateten.«
»Es ist jetzt ja auch nebensächlich«, erklärte seine Mutter rasch. »Aber ich kenne dich, Bernd. Du wirst dir jetzt Vorwürfe machen, und dazu besteht kein Grund.«
»Sie hat sich das Leben genommen«, äußerte er dumpf. »Es ist schwer, das alles zu verstehen.«
*
Annikas Genesung machte schnelle Fortschritte, aber bisher hatte ihr noch niemand gesagt, dass ihre Mutter tot sei.
Am vierten Tag war sie mit Dr. Allard übereingekommen, Annika die Wahrheit zu sagen. So schwer es ihr auch fiel, wollte sie es doch selbst übernehmen.
Ganz behutsam brachte sie es Annika bei. Das Kind sah sie mit weit geöffneten Augen an.
»Sie ist jetzt im Himmel?«, fragte sie leise. Birgit nickte. »Sie hat oft gesagt, dass sie lieber tot sein will.«
Sie weinte nicht, sie blickte Birgit nur sinnend an.
»Jetzt ist ja niemand mehr da«, bemerkte sie dann, »aber du kannst doch immer mal nach mir sehen, Birgit, gell?«
Sie dachte sich aus, dass sie nun allein in dieser Wohnung bleiben könnte.
»Ich bin auch brav und gehe nur runter, wenn du es mir erlaubst. Ich mache bestimmt keine Dummheiten.«
»Jetzt bleibst du erst noch in der Klinik«, erwiderte Birgit, der die Tränen in die Augen stiegen. »Hier sind doch alle sehr lieb zu dir, und nun wird dich auch Bambi besuchen.«
»Das ist fein«, meinte Annika, »aber kann ich dir nicht auch ein bisschen helfen, Birgit? Vielleicht lässt du mich auch zuschauen, dass ich gleich was lerne.«
Birgit nahm das Kind in die Arme.
»Ich möchte auch, dass du bei mir bleibst, Annika«, sagte sie impulsiv.
Als Birgit von diesem Besuch zurückkam, erlebte sie eine große Überraschung.
Die Tür von Christine Nielsens Wohnung stand offen, und vor ihrer Tür stand ein hochgewachsener blonder Mann, dessen Gesicht tief gebräunt war.
»Mein Name ist Nielsen«, stellte er sich vor. »Ich bin vor einer Stunde angekommen. Inspektor Eisenmann sagte mir, dass Sie sich sehr um meine Tochter kümmern. Sie sind doch Frau Lohmann?«
»Ja, das bin ich«, erwiderte Birgit tonlos. Ganz schwarz wurde es ihr vor Augen. Annikas Vater war tatsächlich gekommen.
Sie wappnete sich mit eisiger Abwehr, bereit, um dieses Kind, das ihr so sehr ans Herz gewachsen war, zu kämpfen.
»Ich habe jetzt zu tun«, erklärte sie kühl.
»Vielleicht haben Sie später Zeit für eine Unterredung?«, fragte er leise. »Ich werde jetzt zu Annika fahren.«
»Nein, das werden Sie nicht!« Birgit schrie es fast. »Sie hat heute erst erfahren, dass ihre Mutter tot ist. Annika weiß nichts von Ihnen, sie spricht nicht von Ihnen, sie ist auch noch nicht gesund. Sie können doch nicht einfach daherkommen und sagen: Ich bin dein Vater!«
»Aber ich bin ihr Vater«, entgegnete Bernd.
»Ich bin bereit, Ihnen eine Erklärung zu geben für Dinge, die Ihnen unklar sind, Frau Lohmann. Ich denke, dass ich Ihnen dies schuldig bin, da Sie sich so um Annika bemühen.«
»Ich gebe sie nicht so einfach her«, sagte Birgit heiser. »Nein, Sie haben überhaupt kein Recht auf dieses Kind.«
»Wir werden später in Ruhe über alles sprechen«, meinte er, sich beherrschend. »Ich werde also noch nicht zu Annika fahren. Ich werde mir Ihre Argumente anhören. Sind Sie damit zufrieden? Bestimmen Sie bitte einen Termin.«
Mit diesem Mann war Christine Nielsen also verheiratet, dachte Birgit. Sie konnte es sich nicht vorstellen, dass sie einem Horst Miller den Vorzug gegeben hatte.
Allerdings wurde ihre Aggressivität Bernd Nielsen gegenüber dadurch nicht gemildert. Sie dachte nicht an Christine Nielsen, sie dachte an Annika.
»Ich bin um sechs Uhr fertig«, erklärte sie mechanisch.
»Danke«, sagte er knapp, und bevor Birgit ihre Wohnungstür noch aufgeschlossen hatte, fiel die Tür von nebenan hinter ihm ins Schloss.
Jetzt ist er in ihrer Wohnung. Was er jetzt wohl denken mag, überlegte Birgit. Wie wird ihm zumute sein?
Nur widerwillig hatte Bernd Nielsen diese Wohnung betreten. Unbehagen hatte ihn erfasst, als er sich darin umschaute. So unpersönlich waren diese Räume, wie Hotelzimmer minderer Klasse.
Er wusste, dass Horst Miller in Hohenborn lebte, allerdings in einem andern Haus, und dass er eine gute Stellung in den Münster-Werken hatte.
Er scheute sich nicht davor, eine Unterredung mit Horst herbeizuführen, nur nicht gleich heute.
Erst wollte er mit diesem seltsamen Mädchen sprechen, mit Birgit Lohmann, die Annika so leidenschaftlich verteidigte, obgleich sie das Kind doch erst ein paar Wochen kannte. Mit einem Ausdruck von Verachtung hatte sie ihn angesehen. Eiskalt war ihre Stimme gewesen.
Annika weiß nichts von mir, sie spricht nicht von mir, ging es ihm durch den Sinn. Deutlich genug hatte es ihm Birgit Lohmann zu verstehen gegeben.
*
Inge Auerbach war mit Bambi zur Sternseeklinik gefahren.
Allerdings hielt sie es für richtiger, dass Bambi allein zu Annika ging.
»Du sprichst aber nicht darüber, dass Annikas Mutti nicht mehr lebt!«, ermahnte sie Bambi.
»Ich sage nichts, Mami«, versicherte die Kleine.
Sie hatten ein wunderhübsches Bilderbuch für Annika gekauft. Das trug Bambi nun vor sich her, als sie das Zimmer betrat.
Annika richtete sich ein bisschen auf. Ein freudiger Schein huschte über ihr blasses Gesichtchen.
»Bambi!«, rief sie aus. »Das ist aber lieb, dass du zu mir kommst.«
»Heute darf ich. Dr. Allard hat es erlaubt, weil es dir jetzt schon besser geht«, berichtete Bambi. »Da, ich habe dir was zum Anschauen mitgebracht. Ich kann dir auch daraus vorlesen, wenn du willst.«
Annika nickte. »Jetzt können wir erst ein bisschen reden. Birgit kann ja nur mittags kommen. Ward ihr schon mal wieder bei ihr?«
»Nein, erst nächste Woche«, entgegnete Bambi.
»Meine Mutti ist nämlich nicht mehr da«, sagte Annika. »Sie ist jetzt im Himmel, weil sie gestorben ist.«
Bambi war es richtig ein bisschen kalt, weil sie es so sagte, als wäre gar nichts dabei.
»Bist du traurig?«, fragte sie flüsternd.
Annikas Augen bekamen einen nachdenklichen Ausdruck.
»Mutti hat doch so oft gesagt, dass sie tot sein will. Muss ich traurig sein, wenn ihr Wunsch in Erfüllung gegangen ist?«
Bambi war nicht so schnell in Verwirrung zu bringen, aber jetzt wusste sie wirklich nicht, was sie sagen sollte.
»Wenn man sehr krank ist und kein Arzt mehr was machen kann, muss man sterben, das ist so«, erklärte sie ernsthaft.
»Ich bin froh, dass du wieder gesund wirst, Annika.«
»Ich war ja nicht sehr krank. Es war bloß die saure Milch. Hast du schon mal welche getrunken? Ganz schwindelig wird einem davon.«
Bambi wusste eigentlich nur, dass saure Milch – ihr Opi nannte sie gesteckelte – recht gesund war. Ihr Opi aß sie gern aus einer Schüssel, mit Zucker bestreut.
Und Joghurt war auch nicht viel anders, wie Ricky ihr erklärt hatte, ihre große Schwester, die jeden Morgen Joghurt aß.
Bambi war nicht so sehr dafür. Sie mochte überhaupt lieber süße Sachen, aber sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass einem davon schwindelig wurde.
Aber darüber wollte sie nachher lieber mit ihrer Mami sprechen.
Annika war doch noch ein ganz kleines Mädchen, das anscheinend nicht einmal begriff, dass tot sein etwas ganz Schreckliches war.
»Hier gibt es aber gutes Essen«, lenkte sie ab.
Annika nickte wieder. »Es schmeckt sehr gut, und alle sind ganz mächtig lieb. Glaubst du, dass ich nun bei Birgit bleiben kann, Bambi?«
Man konnte wohl sagen, dass Bambi sich dieser Situation nicht gewachsen fühlte. Selten war sie so um eine Antwort verlegen gewesen.
»Du kannst auch erst mal zu uns kommen«, meinte sie stockend. »Du kannst auch in den Kindergarten gehen.«
»Ja, das kann ich«, erklärte Annika. »Mutti hat das nicht gewollt. Ich sollte nicht mit anderen reden. Kann man den ganzen Tag im Kindergarten sein?«
»Ja, bis fünf Uhr«, erklärte Bambi. »Mittagessen kann man dort auch.«
»Und dann ist Birgit auch bald fertig mit ihren Damen«, sagte Annika.
Es drehte sich eigentlich alles um Birgit, und als Bambi dann mit ihrer Mami wieder heimwärts fuhr, war ihre erste Frage:
»Geht das denn, dass Annika bei Birgit bleibt, Mami? Sie will das nämlich.«
»Ich kann dazu nichts sagen, Bambi«, entgegnete Inge Auerbach.
»Warum nicht?«
»Weil ich es nicht weiß. Birgit Lohmann ist nicht mit Annika verwandt.«
»Wenn sie aber keine Verwandte hat?«
»Wir müssen es abwarten.«
»Und wenn sie doch Verwandte hat, die sie aber gar nicht haben wollen?«
»Nun hast du aber wieder Sorgen«, versuchte Inge abzulenken.
»Da muss man sich ja Sorgen machen. Annika ist gar nicht traurig, weil ihre Mutti im Himmel ist. Verstehst du das?«
»Sie versteht es noch nicht, Bambi. Sie ist noch zu klein.«
»Sie hat aber gesagt, dass ihre Mutti tot sein wollte und ihr Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Mir war ganz komisch, Mami. Ich glaube, sie hat Birgit lieber als ihre Mutti. So was kann ich mir doch nicht vorstellen.«
Sie schmiegte ihr Köpfchen an Inges Arm. Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie ohne Mami sein könnte. Ihr kamen gleich die Tränen bei solchen Gedanken.
»Wein doch nicht, mein Liebling«, sagte Inge, als das leise Schluchzen an ihr Ohr klang. »Annika begreift das alles wirklich noch nicht. Sie ist doch erst vier, und das ist gut für sie.«
»Habe ich mit vier auch noch nichts begriffen, Mami?«, fragte Bambi darauf.
Leider schon zu viel, dachte Inge. Bambi hatte beizeiten über alles, was sich abspielte, intensiv nachgedacht. Immer war das auch nicht von Vorteil.
»Mit jedem Lebensjahr lernt man etwas dazu, Bambi«, entgegnete sie ausweichend.
»Mit jedem Tag, sagt Opi, und man kann noch so alt werden, man lernt nie aus.«
»Ja, das stimmt«, erwiderte Inge.
*
Birgit war nicht pünktlich fertig geworden an diesem Tag.
Ihre letzte Kundin hatte noch ein vollendetes Make-up gewünscht, weil sie zu einer Party eingeladen war, und dafür ließ sich Birgit auch viel Zeit, weil sie es gar nicht eilig hatte, mit Bernd Nielsen zusammenzutreffen.
Was sollte dabei schon herauskommen? Er war der Vater, und wenn ihm nichts Ehrenrühriges nachzuweisen war, würde er über Annikas Zukunft bestimmen können.
Er wird sie in ein Heim stecken, dachte sie bekümmert. Dass er sich dies leisten könnte, war ihm anzusehen. Arm war er bestimmt nicht.
Aber sie wollte einfach keine Entschuldigung für ihn finden. Wenn sie auch für Christine Nielsen keine fand, für Annikas Vater erst recht nicht, weil sie der Meinung war, er hätte es nicht zulassen dürfen, dass sein Kind mit einem Mann konfrontiert wurde, den es nicht leiden konnte.
Nun war die Kundin doch gegangen.
Es läutete an der Tür. Sie hoffte, dass noch jemand kommen würde, der ihr eine plausible Ausrede eingeben könnte, aber vor ihr stand Bernd Nielsen.