Читать книгу Fürstenkrone 12 – Adelsroman - Laura Martens - Страница 6

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»Was bedrückt dich, Sandra?« fragte der hochgewachsene blonde Mann. »Du bist so verändert.«

Die junge Frau im apfelgrünen Sommerkleid machte eine hilflose Geste. Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Ich bin schwanger, Gunter. Es gibt keinen Zweifel. Der Test war eindeutig.«

Gunter blieb stehen wie vom Donner gerührt. Seine Lippen bebten, dann aber ging ein Strahlen über sein Gesicht. Er faßte Sandras Hände, zog sie an sich und küßte sie.

»Das ist doch kein Grund zum Weinen!« rief er übermütig. »Na­türlich heiraten wir, keine Frage. Ich liebe dich, Sandra, ich werde nie eine andere lieben. Im wievielten Monat bist du?«

»Ende des zweiten. Gunter, ich möchte nicht, daß du denkst, ich hätte dich einfangen wollen. Mit allem habe ich gerechnet, nur nicht mit einem Kind. Ich verstehe es nicht, es muß mit der Pillenpause zusammenhängen. Dabei glaubte ich, an alles gedacht zu haben, schließlich bin ich Ärztin. Was die Heirat betrifft, hast du dir das auch wirklich reiflich überlegt? Du mußt mich nicht heiraten, das ist altmodisch.«

Gunter blieb auf dem einsamen Waldweg stehen. Er hielt Sandras Hand.

»Hiermit mache ich dir in aller Form einen Heiratsantrag. Willst du mir als meine Frau auf Schloß Falkenau folgen?«

»Genau das ist es. Du bist Fürst Gunter von und zu Falkenau, ein Mitglied des Hochadels. Du wohnst auf einem Schloß, verwaltest deine Güter und wirst mit Durchlaucht angeredet. Du bist in der Tradition erzogen, die mir fremd ist. Mein Vater ist ein mittlerer Beamter, meine Mutter war Angestellte. Ich habe Medizin studiert und arbeite als ­Assistenzärztin am Main-Taunus-Krankenhaus. Ich liebe meinen Beruf, ich kann mir nicht vorstellen, als Fürstengattin nur hochvornehm im Salon herumzusitzen. Wie sollen wir zusammenleben? Wie können unsere Kinder aufwachsen?«

Gunter lachte, er sah dabei aus wie ein großer Junge.

»Was heißt hier Kinder? Du erwartest doch wohl keine Zwillinge? Das festzustellen, wäre wohl noch zu früh. Es wird einen Weg geben – wenn wir uns lieben.«

Sie küßten sich, alles um Sandra herum versank. In den Armen dieses Mannes spürte sie, was sie noch bei keinem anderen empfunden hatte. Einen Gleichklang, ein Beben in ihrem Innern.

»Ich nehme deinen Heiratsantrag an«, sagte sie förmlich, als Gunter sie losließ. »Aber…«

»Kein aber. Heute abend spreche ich mit meiner Mutter. Morgen kommst du zum Tee nach Schloß Falkenau. Ich bin sicher, du wirst Fürstin Claudia sehr gefallen.«

Genau da hatte Dr. Sandra Richter ihre Zweifel.

*

Gunter runzelte die Stirn, die Limousine mit der Wiesbadener Nummer, die in der Einfahrt des Schlosses parkte, kannte er. Sie gehörte Edgar von Balsingen, einem Gunter höchst unsympathischen Menschen. Er wußte auch, weshalb der Baron Schloß Falkenau wieder einen Besuch abstattete.

Er warb um die Fürstin, außerdem versuchte er, seine Nichte Marion an den Fürsten zu bringen. Gunter stoppte seinen Wagen vor der Garage, stieg aus und eilte die Freitreppe hinauf ins Schloß. Hubert, der alte Schloßverwalter, erwartete ihn in der Halle.

Hubert war für Schloß Falkenau unersetzlich. Er war außerdem ein eiserner Verfechter der alten Tradition des Fürstengeschlechts.

»Baron Edgar von Balsingen und Baronesse Marion von Balsingen geben sich die Ehre«, meldete er. »Sie finden Ihre Durchlaucht, Fürstin Claudia, und die beiden Besucher auf der Terrasse, Durchlaucht.«

»Seit wann sind sie da?«

»Seit zweieinhalb Stunden.«

Wenn die vielbeschäftigte Fürstin sich am Sonnabendnachmittag so lange ihren Besuchern widmete, hatte das einen Grund. Die Fürstin hätte Baronesse Marion gern als ihre Schwiegertochter gesehen. Gunter zog sich um und eilte auf die Terrasse, wo die drei unter dem Sonnenschirm saßen.

Von der Terrasse aus hatte man einen schönen Ausblick über die Wälder und Berge des Taunus’. Gegenüber, einige Kilometer entfernt, lag die Ruine von Burg Felseneck.

Jahrhundertelang waren sich die Herren von Falkenau und jene von Felseneck wenig sympathisch gewesen.

Einer schimpfte den anderen einen Raubritter und Landfriedensstörer, recht hatten sie alle beide damit. Es gab Fehden, bis die Herren von Felseneck Anfang des 19. Jahrhunderts ausstarben.

Das Geschlecht derer von Falkenau arbeitete hart, damit sein Stammsitz nicht das Schicksal der Burgruine Felseneck teilte.

Gunter küßte seiner Mutter die Hand und begrüßte den Baron und seine Nichte. Fürstin Claudia war eine stattliche Frau Anfang Fünfzig, jeder Zoll eine Aristokratin. Gunter hatte seine Mutter nie anders erlebt als überlegen und selbstsicher. Sie war schön, auch jetzt noch, da sich die ersten grauen Strähnen durch ihr dunkelbraunes Haar zogen.

Die Fürstin ließ sie nicht färben. Ihr Rubinschmuck funkelte auf dem Samtkleid.

Der Baron war schlank und wirkte sehr gepflegt. Er hatte eine weltmännische Art und konnte charmant plaudern. Gunter hielt ihn für aalglatt und verschlagen, ohne das genau begründen zu können.

Baronesse Marion war zweifellos eine Schönheit. Schwarzhaarig, blauäugig, mit einer Figur, die einen Mann zum Träumen bringen konnte. Sie hatte eine nette, natürliche Art, Gunter hätte sich in sie verlieben können, wenn… ja, wenn nicht Sandra Richter gewesen wäre.

»Ich habe Baron Edgar und Baronesse Marion eingeladen, übers Wochenende unser Gast zu sein«, sagte die Fürstin. »Ich hatte dich früher zurückerwartet, Gunter.«

Sie schaute bedeutsam auf die Uhr, aber Gunter gab keine Auskunft, wo er gewesen war. Das Dienstmädchen brachte ein Gedeck für ihn. Die Unterhaltung verfolgte er nur höchst unkonzentriert.

Er bemerkte auch die verliebten Blicke nicht, die ihm Marion zuwarf. Für die Baronesse war Gunter der Mann ihrer Träume. An diesem Wochenende hoffte sie, ihn für sich zu gewinnen.

»Wollt ihr nicht eine Partie Tennis spielen?« fragte die Fürstin. »Oder in den Pool springen? Ich möchte später auch noch ein paar Bahnen schwimmen.«

Gunter zeigte sich wenig begeistert, erhob sich aber und verließ mit Marion die Terrasse. Fürstin Claudia und Baron Edgar blickten ihnen lächelnd nach.

»Sie sind ein schönes Paar«, stellte der Baron fest. »Gunter so groß und stattlich, Marion dagegen zierlich und schwarzhaarig. Wir könnten uns glücklich schätzen, wenn sie Gefallen aneinander finden würden.«

Fürstin Claudia stimmte ihm zu, konnte sich aber nicht verkneifen, noch etwas hinzuzufügen.

»Gunter ist sehr begehrt, schließlich bringt er nicht nur den Fürstentitel mit, sondern auch ein beträchtliches Vermögen. Außerdem ist er Diplom-Ingenieur und ein tüchtiger, charaktervoller Mensch. Er könnte seine Auswahl unter mehreren Prinzessinnen treffen.«

»Die Stimme des Herzens entscheidet, Claudia. Heutzutage ist es leider sogar möglich, daß ein Adeliger eine Bürgerliche heiratet. Eine besser Gattin als Marion könnte Gunter nicht finden. Sie verfügt über gute Bildung und hat ein ausgesprochen heiteres und liebenswürdiges Wesen. Sie ist gesund, standesgemäß erzogen und sie bringt eine stattliche Mitgift.«

»Wir wollen nicht über Geld reden. Auf eine Bürgerliche würde Gunter nie verfallen, dazu kenne ich ihn zu gut. Er weiß, was er seinem Stand schuldig ist. Adel verpflichtet, Edgar, besonders in der heutigen Zeit.«

»Ganz meine Meinung.«

*

Während man versuchte, für ihre Zukunft die Weichen zu stellen, spielten Gunter und Marion auf dem zum Schloß gehörigen Tennisplatz. Den ersten Satz verlor Gunter, weil Marion eine verblüffend gute Rückhand schlug. Im zweiten und dritten nahm er sich zusammen. Er gewann knapp.

»Vorzüglich.« Marion lachte. Der Tennisdreß stand ihr ausgezeichnet, sie war braungebrannt. »Ich spiele nämlich in der Landesliga.«

»Du hast eine Menge Qualitäten. Wollen wir jetzt schwimmen?«

Später, als sie beim Pool auf der Hollywoodschaukel saßen, sagte Marion: »In dieses Schloß und die Umgebung könnte ich mich verlieben. Es ist schön hier. Der Park mit den alten Bäumen wirkt so romantisch und heimelig. Dazu das Schloß, an dem Generationen gebaut haben.«

»Ursprünglich war es eine Ritterburg. Die Falkenaus wurden nach den Bauernkriegen in den Fürstenstand erhoben.«

»Ich kann meine Ahnenreihe bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Wir wurden nach dem Krieg von unserem Besitz im Baltikum vertrieben.«

Gunter kannte seine Ahnen bis ins 12. Jahrhundert. Plötzlich hatte er Angst. In all den Jahrhunderten hatten die Falkenaus standesgemäß geheiratet. Aber sollte er deshalb der Tradition sein Lebensglück opfern? Er beschloß, die Unterredung mit seiner Mutter nicht aufzuschieben, obwohl die Balsingens auf dem Schloß weilten.

Marion merkte, daß sich Gunters Stimmung änderte.

»Was hast du? Langweile ich dich etwa?«

»Nein, nein. Eine angenehmere Gesellschaft könnte ich mir nicht vorstellen.«

»Du bist freundlich zu mir, aber förmlich. Magst du mich nicht?«

Der knappe weiße Bikini betonte Marions hinreißende Figur. Aber Gunter konnte nur an Sandra denken, er war gegen Marions Reize immun. Er hätte Sandra nie mit ihr betrügen können, besonders da sie ein Kind von ihm erwartete.

»Du bist bildhübsch, Marion, und ich mag dich sehr. Als Freund.«

Marion verbarg ihre Enttäuschung. Sie rückte näher an Gunter heran. Er spürte die Wärme ihres Körpers, ihren zarten Duft. Die dunkelbraunen Augen strahlten ihn an. Gunter erhob sich.

»Ich muß ins Haus, es – eh – ich habe ein dringendes geschäftliches Gespräch zu führen. Wir sehen uns zum Dinner.«

Er ging eilig weg. Marion schaute ihm nach, bis er im Schloß verschwand. Wie kann er sich nur so benehmen, fragte sie sich, spürte er denn nicht, was ich für ihn empfinde? Männer zeigten manchmal merkwürdige Reaktionen und waren in Herzensdingen hölzern und schwerfällig.

Marion tröstete sich. Sie würde dafür sorgen, daß Gunter sich ihr noch vor der Abreise erklärte. Er konnte ihr nicht immer ausweichen.

*

»Warum wolltest du mich unbedingt sprechen?« fragte Fürstin Claudia. »Es ist unhöflich, unsere Gäste allein zu lassen.«

Gunter hatte seine Mutter in die Bibliothek gebeten. Das Dinner war vorüber, der Baron und Marion warteten im Salon des Siebzig-Zimmer-Schlosses. Durchs Fenster der Bibliothek sah man die untergehende Sonne und das Abendrot.

Gunter eröffnete seiner Mutter ohne Umschweife, wie es zwischen ihm und Sandra stand.

»Ich habe sie für morgen nachmittag eingeladen«, schloß er.

Volle drei Minuten lang herrschte Schweigen. Die Miene der Fürstin wurde immer eisiger.

»Ich wußte, daß du ein Verhältnis hast«, sagte sie schließlich. »Aber ich hätte nie gedacht, daß du dich soweit vergessen würdest. Dieses Mädchen ist keine Partie für dich, ich bin überzeugt davon, daß sie mit Absicht schwanger geworden ist, um dich einzufangen. Das passiert einer Ärztin nicht, wenn sie es nicht will.«

»Da bin ich anderer Ansicht.«

»Sei es, wie es sei, jedenfalls kannst du sie nicht heiraten. Das ist völlig ausgeschlossen.«

Gunter wollte verzweifeln. Seine Mutter reagierte noch abweisender, als er es sich vorgestellt hatte. Er sprach von anderen Adeligen, die Bürgerliche geheiratet hatten, vom König von Schweden.

»Die Feudalherrschaft besteht seit langem nicht mehr, die Adels­privilegien wurden 1919 per Gesetz abgeschafft. Mein Titel ist im Grunde genommen nur noch ein Bestandteil meines Namens.«

»Er ist mehr! Er verkörpert eine Tradition und Lebensanschauung. Du bist als Fürst der Repräsentant derer von Falkenau, du stehst für das Geschlecht und die Ahnenreihe, für das Schloß, die Porzellanmanu­fakturen, die 1.500 Hektar Boden. Du bist nicht nur eine Person, sondern auch eine Institution, die von Gott selbst eingesetzt wurde.«

»Werde nicht pathetisch, Mutter! Ich bin ein Mensch wie jeder andere auch. Ich liebe Sandra und will sie so schnell wie möglich heiraten. Wirst du sie morgen auf dem Schloß empfangen oder nicht?«

»Auf gar keinen Fall. Wenn das Fräulein Richter…«

»Fräulein Dr. Richter, Mutter.«

»Das ändert nichts. Wenn sie dir den Kopf verdreht hat, ist das schlimm genug. Ich will sie nicht sehen, daran wird sich nichts ändern. Wenn du sie einlädst, kann ich dich nicht hindern, du bist der Fürst und seit deiner Volljährigkeit das Oberhaupt der Familie. Ich empfange sie auf keinen Fall.«

»Ist das dein letztes Wort, Mutter?«

»Ja.«

Die Fürstin verließ die Bibliothek, zu einem weiteren Gespräch war sie nicht bereit. In ihren Räumen betupfte sie sich die Schläfen mit Kölnisch Wasser, ging eine Weile aufgeregt auf und ab und schaute dann aus dem Fenster in die Abenddämmerung.

Erst jetzt dachte sie wieder an die beiden Besucher. Es war geplant gewesen, daß Gunter mit Marion wegfahren sollte, nach Wiesbaden oder Bad Homburg zum Tanzen. Das fiel ins Wasser.

Irgend jemandem mußte die Fürstin sich anvertrauen, Baron Edgar bot sich an. Zwar zögerte sie etwas, schließlich handelte es sich um intime Familienangelegenheiten. Aber man mußte dem Baron nicht unbedingt sagen, daß die Geliebte des fürstlichen Sohnes ein Kind erwartete.

Fürstin Claudia faßte sich. Sie wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser ab, frischte ihr Make-up auf und begab sich in den Salon. Baron Edgar und seine Nichte blätterten in Zeitschriften. Die Fürstin duldete keinen Fernseher im Salon, das wäre ein Stilbruch gewesen.

Sie zwang sich zu einem Lächeln.

»Darf ich Sie in meinem Arbeitszimmer sprechen, Edgar? Du kannst dich sicher noch etwas gedulden, Marion.«

»Natürlich.«

Marion langweilte sich, nachdem der Onkel und die Fürstin weggegangen waren. Sie wartete auf Gunter. Nach dem Gespräch mit seiner Mutter hätte er sich am liebsten für den Rest des Abends zurückgezogen oder wäre zu Sandra gefahren.

Er war nicht verpflichtet, sich um die Besucher zu kümmern, er hatte sie nicht eingeladen.

Aber er war zu gutherzig, um Marion einfach die kalte Schulter zu zeigen und sie im Salon sitzenzulassen. Außerdem brauchte auch er jemanden, mit dem er reden konnte, jemanden in seinem Alter. Von Marion erhoffte er sich Verständnis.

Deshalb ging er in den Salon und bat sie zu einem Spaziergang in den Park. Marion strahlte. Gunter bedachte nicht, wie sehr sie seine Eröffnungen verletzen konnten.

Sie gingen hinaus in den Park, Marion faßte Gunter spielerisch an der Hand. Sie hatte eine Strickweste mit gerüschtem Kragen übergezogen, denn es wurde kühl. Unter den Buchen und Eichen tanzten Glüh­würmchen.

»Ich muß mich dir anvertrauen«, begann Gunter.

Marions Herz klopfte stürmisch. Sie hoffte auf eine Liebeserklärung.

»Ich bin verliebt und dabei, einen sehr ernsten Schritt zu unternehmen«, fuhr Gunter fort. »Aber ich habe Angst.«

Er fürchtet, daß ich ihn zurückweise, dachte Marion. Gunter ist sensibler, als es den Anschein hat. Sie blieb stehen.

»Fasse Mut und rede offen.«

»Bist du schon einmal so verliebt gewesen, daß du alles andere vergessen hast, Marion? Daß deine Gedanken nur noch um einen bestimmten Menschen kreisten? Daß dir ohne ihn das Leben leer und richtig erschien?«

»Ja, dieses Gefühl kenne ich.«

Für sich fügte Marion hinzu: Genau in diesem Augenblick ist es der Fall. Sprich weiter, Liebster, erkläre dich.

»Ich liebe eine Ärztin«, sagte Gunter. »Eine Bürgerliche. Dr. Sandra Richter heißt sie. Sie erwartet ein Kind von mir.«

Marion war es, als ob alles in ihr absterben würde. Ihr Herz schmerzte zum Zerspringen, sie fürchtete, zum erstenmal in ihrem Leben in Ohnmacht zu fallen. Die Bäume drehten sich im Kreis. Sie hörte kaum, wie Gunter ihr erzählte, daß seine Mutter gegen die Verbindung sei und ihm alle nur mög­lichen Schwierigkeiten bereiten wollte.

»Ich bin so verzweifelt. Ich liebe meine Mutter, ich verstehe auch, was ihr die Tradition des Hauses Falkenau bedeutet. Aber soll ich deswegen auf mein Lebensglück verzichten? Ich habe andere Ansichten als meine Mutter.«

Nach einer Weile des Schweigens fragte Gunter: »Was rätst du mir? Glaubst du, daß ein Adliger unbedingt eine Adlige heiraten muß? Wir würdest du dich verhalten, wenn du einen Bürgerlichen liebtest?«

Es war grausam für Marion, daß er sich ausgerechnet an sie wendete. Sie stand vor einer schweren Entscheidung. Sollte sie die gleiche Linie verfolgen, wie Fürstin Claudia, in der Hoffnung, Gunter vielleicht von jener Frau abbringen zu können?

Sie entschied sich dagegen. Sie mochte nicht intrigieren.

»Folge der Stimme deines Herzens, Gunter«, sagte sie schlicht. »Nur dann wirst du glücklich. Jetzt bring mich bitte ins Schloß zurück, ich fühle mich schon den ganzen Abend nicht wohl.«

Sie kehrten zurück. Im Licht der ersten Laterne am Schloßhof stellte Gunter fest, wie blaß Marion aussah. Er brachte sie zu ihrem Zimmer im Westflügel, holte das Dienstmädchen und fragte Marion, ob er einen Arzt anrufen solle.

Sie stand in der Zimmertür und lächelte matt. Die Besorgnis tat ihr wohl, aber die Schmerzen, die sie hatte, konnte kein Arzt heilen.

»Nein, es geht schon wieder. Vielleicht habe ich in der letzten Zeit zuviel gearbeitet, oder es ist eine Sommergrippe in Anmarsch. Heißer Lindenblütentee und acht Stunden Schlaf werden mich kurieren.«

Später fand Baron Edgar seine Nichte bitterlich schluchzend im Bett. Sie konnte nicht schlafen. Der Baron wußte von der Fürstin über die Heiratsabsichten Gunters Bescheid. Er strich Marion übers Haar.

»Kind, beruhige dich. Es ist noch nicht aller Tage Abend.«

Bitterlich weinend umarmte ihn Marion. Sie schluchzte an seiner Schulter.

»Sie kriegt… ein Kind von ihm. Dabei liebe ich ihn doch so! Ich bleibe hier nicht länger. Gleich morgen früh reisen wir ab, Onkel. Ich halte es auf Schloß Falkenau nicht mehr aus.«

Der Baron saß noch eine Weile bei seiner Nichte. Ihm war sehr daran gelegen, daß seine Nichte Fürst Gunter heiratete. Ihm kam es dabei nicht auf ihr Glück an. Von einer Verbindung mit den Falkenaus erhoffte er für sich selber Vorteile.

»Wir werden sehen«, sagte er.

Auch Gunter schlief in dieser Nacht wenig. Er kannte seine Mutter. Für sie gab es nur einen Willen: ihren eigenen. Den setzte sie auch im allgemeinen durch, wenn sie aus Überzeugung handelte und ihren Vorteil sah.

*

Noch am Sonntag suchte Baron Edgar den Inhaber einer sehr bekannten Detektei auf. Diesen beeindruckte der Adelstitel, er empfing den Baron im Arbeitszimmer seines Bungalows am Sonnenhügel über einer Stadt im Taunus.

»Ich brauche ein komplettes Dossier über Dr. Sandra Richter«, erklärte der Baron und nannte die Arbeitsstelle und die Adresse der Ärztin. Die hatte er schon herausgefunden. »Außerdem über ihre Angehörigen, Freunde und Bekannten. Skandalgeschichten sind mir sehr willkommen.«

»Es wäre für mich gut zu erfahren, wozu Sie diese Auskünfte benötigen, Herr Baron.«

Unter dem Siegel der Verschwiegenheit teilte ihm Baron Edgar mit, daß Fürst Gunter von Falkenau die Ärztin zu heiraten gedachte. Er behauptete, die Erkundigungen im Auftrag der Fürstin einzuziehen.

»Ihre Durchlaucht wollten nicht persönlich an Sie herantreten.«

Der Detektiv verstand. Schon drei Tage später suchte er den Baron in dessen Villa in Wiesbaden auf. Die Villa war bis in den obersten Dachbalken mit Hypotheken belastet. Abgesehen davon gehörte dem Baron eine Burgruine in Bayern, die er nach dem Krieg von einem entfernten Vetter günstig übernommen hatte. Zwar war die unbewohnbar, doch ihr Besitz machte den Baron zum Burgbesitzer.

Zu seinem Leidwesen hörte er, daß es um Sandra Richter keine Skandale gab. Er schaute sich das Teleobjektivfoto an, das die Ärztin im tiefausgeschnittenen Sommerkostüm zeigte, und pfiff durch die Zähne.

»Sehr attraktiv. Sie ist sechsundzwanzig?«

»Genau. Sie gilt als äußerst tüchtig in ihrem Fach und ist in der Klinik bei den Ärzten, dem Pflegepersonal und dem Patienten gleichermaßen beliebt. Außer ihrem jüngeren Bruder und zwei alten Tanten in Norddeutschland hat sie keine lebenden Verwandten. Dr. Richter lernte Fürst Gunter kennen, als er im Januar mit einer Unterschenkel­fraktur, die er sich beim Wintersport zugezogen hatte, in der Klinik lag.«

»Hm.« Der Baron stieß in dem Dossier auf etwas. »Ihr Bruder, ein kleiner Bankangestellter, lebt auf großem Fuß, steht hier. Er fährt einen italienischen Sportwagen und ist häufiger Gast der Bad Homburger Spielbank.« Baron Edgar verkehrte selbst regelmäßig dort und auch in anderen Casinos. »Warum ist kein Foto von diesem Frank Richter dabei? Ich muß ihn mir unbedingt ansehen.«

»Das läßt sich einrichten.«

Am gleichen Abend erhielt der Baron die Nachricht, daß sich Frank Richter wieder in der Spielbank aufhielt. Der Baron fuhr sofort los. Der Detektiv zeigte auf einen jungen Mann mit gewelltem dunklem Haar. Er war groß und schlank und hatte ein etwas mädchenhaftes Gesicht, der Blazer stand ihm vorzüglich.

Seine Hände zitterten leicht, als er sechshundert Mark auf drei verschiedene Roulettefelder setzte. Die Kugel rollte. Gebannt hafteten Frank Richters Augen darauf. Er schaute in sein Notizbuch.

»18, 24 und 33«, murmelte er. »Eine dieser drei Zahlen muß kommen.«

Die Kugel blieb auf der Drei liegen. Frank zuckte heftig zusammen. Er vertiefte sich in seine Berechnungen, der Croupier mußte ihn mahnen, entweder zu setzen oder den Platz freizugeben.

»Ein Systemspieler«, sagte der Baron zu dem Detektiv. »Er ist mir bereits früher aufgefallen, er kommt seit einem guten halben Jahr hierher und verliert fast ständig. Sehr interessant, wirklich, äußerst interessant. Laut Auskunft Ihrer Detektei verdient er nicht einmal zweitausend netto im Monat. Er hat keine Vermögenswerte oder andere Einkommensquellen, zumindest keine legalen. Bestellen Sie Ihrem Chef, daß ich vorerst keine weiteren Auskünfte brauche.«

Der Detektiv nickte und ging. Baron Edgar beobachtete Frank Richter noch eine Weile. Während dieser Zeit verlor der junge Mann über viertausend Mark. Ärgerlich riß er ein Blatt aus seinem Notizbuch, knüllte es zusammen und steckte es weg.

Der Baron konnte ihm den Ärger über den Verlust nachfühlen. Er war selber ein gebranntes Kind.

Er folgte Frank an die Kasinobar, wo der junge Mann mehrere hochprozentige Drinks zu sich nahm. Er schien sie dringend nötig zu haben. Baron Edgar hatte einen bestimmten Verdacht, woher das Geld stammte, das Frank mit vollen Händen verspielte.

Sehr viele Möglichkeiten gab es schließlich da nicht.

Der Baron setzte sich neben ihn. Sie kamen ins Gespräch. Frank gab sich als Fabrikantensohn aus, er schnitt mächtig auf.

»Ich glaube, ich habe Sie schon im Kasino von Baden-Baden gesehen«, sagte er zum Baron. »Sie waren in Begleitung einer sehr aparten Dame. Sind Sie nicht ein Adliger?«

»Welche Rolle spielt das heutzutage noch? Nennen Sie mich einfach Monsieur Edgar.«

Es bereitete dem Baron Vergnügen, Frank zu täuschen. Sie sprachen über die Zero beim Roulettespiel, über die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Roulettesystemen und von berühmten Spielern. Baron Edgar erzählte Anekdoten. Frank behauptete, daß er einem absolut sicheren Roulettesystem hart auf der Spur sei, er hätte es fast fertig entwickelt.

Als der Baron das anzweifelte, reagierte er, angetrunken wie er war, beleidigt.

»Sie werden schon sehen. Irgendwann sprenge ich die Spielbank. Wir sprechen uns noch.«

Der Baron hatte ihn eingeladen, Frank war total pleite.

Ganz bestimmt sprechen wir uns noch, mein Junge. Das wird dann kein angenehmes Gespräch für dich, dachte Baron Edgar hämisch, kaum daß der junge Mann gegangen war.

Am nächsten Vormittag rief der Baron den Inhaber der Privatbank an, bei der Frank arbeitete. Der Baron kannte den Inhaber, er führte ein längeres Gespräch mit ihm.

»Wir werden die Konten überprüfen, für die Frank Richter verantwortlich ist«, sagte der Bankier zum Schluß des Gesprächs. »Sie hören auf jeden Fall wieder von mir, Herr Baron, bevor wir etwas anderes unternehmen.«

»Ich bitte darum. Ich habe ein persönliches Interesse an der Angelegenheit.«

*

Gunter von Falkenau ahnte nicht, daß man gegen ihn und San­dra intrigierte. Er holte seine Geliebte jeweils nach Dienstschluß in der Klinik ab, dann fuhren sie zum Essen zu einem netten Lokal, gingen im Wald oder im Kurpark spazieren, besuchten die Taunus-Thermen oder zogen sich in Sandras Wohnung zurück.

Es waren unbeschwerte, glückliche Tage, das Verhalten der Fürstin bestürzte die beiden nicht mehr.

»Wenn das Kind erst da ist, wird meine Mutter ihre Meinung ändern«, sagte Gunter zuversichtlich. Das redete er auch Sandra ein.

*

Der Inhaber der Privatbank hieß Balduin Möller. Er hatte es verstanden, den Titel eines Honorarkonsuls zu bekommen, und war sehr stolz darauf. Er besuchte Baron Edgar am frühen Abend in dessen Villa.

Edgar von Balsingen hatte einige geschäftliche Stationen hinter sich, nicht alle vertrugen das Licht der Öffentlichkeit.

Zur Zeit verdiente der Baron sein Geld als eine Art Strohmann-Direktor für drei Abschreibungsgesellschaften und war auch in der Versicherungsbranche tätig. Er kannte den Bankier Möller durch seine geschäftlichen Tätigkeiten.

Baron Edgar begrüßte den Bankier sehr zuvorkommend. Vor Geld empfand der Baron immer große Hochachtung. In der Bibliothek, die er einmal bestückt hatte, indem er wahllos aus Nachlässen kaufte, was sich preiswert anbot, bewirtete er Konsul Möller mit einem Kognak.

»Ich kann es nicht fassen«, stöhnte der Konsul. »Sie haben mich auf etwas Ungeheuerliches gestoßen, Herr Baron. Richter, dieser Schuft, hat auf raffinierte Weise fünfzigtausend Mark unterschlagen. Das gibt einen Skandal! Wie stehe ich jetzt vor meinen Kundschaft da? Von dem finanziellen Verlust ganz zu schweigen.«

»Was haben Sie vor, Herr Konsul?«

»Natürlich werde ich meinen Angestellten anzeigen. Nur, was nutzte es mir? Er kann mir das Geld ­niemals zurückzahlen. Obendrein bleibt mir der Prestigeverlust.«

Der dickliche Konsul tupfte sich den Schweiß von der Stirnglatze. Baron Edgar strich über seinen graumelierten Kinnbart.

»Vielleicht kann ich Ihnen helfen, lieber Konsul. Sie wissen, eine Hand wäscht die andere. Sie waren mir geschäftlich auch schon gefällig.«

Es gab da eine Geschichte mit geplatzten Wechseln, die einige Jahre zurücklag. Ohne Möllers Entgegenkommen hätte es übel für ihn geendet.

»Ach, die alte Geschichte…« Der Konsul winkte ab.

»Ich habe sie nicht vergessen. Geben Sie mir die Unterlagen, die Richters Unterschlagungen beweisen, ich will zusehen, was ich für Sie erreichen kann. Ihnen ist in erster Linie an Ihrem Geld gelegen, verehrter Konsul, und Sie wollen kein Aufsehen. Vielleicht ist es möglich, beides zu erreichen. Lassen Sie mir freie Hand.«

»Was schwebt Ihnen vor?«

»Frank Richters Schwester ist Ärztin. Wenn Sie für die unterschlagene Summe bürgte, wäre das doch in Ihrem Sinn? Natürlich müßte Richter gekündigt werden. Überlegen Sie, ob eine Anzeige unbedingt notwendig ist, Herr Konsul. Richter ist schließlich ein junger, bisher unbescholtener Mensch, der das Leben noch vor sich hat.«

Baron Edgar brauchte nicht viel Überredungskunst aufzubieten. Kon­sul Möller vertraute ihm die heikle Angelegenheit nur zu gern an. Nachdem der Baron seinen Gast zuvorkommend verabschiedet hatte, versuchte er, Frank Richter telefonisch zu erreichen.

Es nahm niemand ab. Der Baron zündete sich eine Zigarette an, seine gepflegten Finger trommelten auf den Schreibtisch.

»Ich kriege dich schon noch, mein Lieber«, sagte er.

Er würde es später wieder versuchen oder ins Kasino fahren. Vielleicht traf er den Gesuchten dort.

Marion kam nach Hause. Sie hatte den Dobermann spazierengeführt. Der Baron ging seiner Nichte entgegen.

Ein Blick in Marions Gesicht sagte ihm sofort, daß etwas nicht stimmte. Als er sie fragte, verlor sie die mühsam gewahrte Fassung und schluchzte auf.

»Ich habe Gunter mit dieser… mit der andern im Kurpark gesehen… Hand in Hand. Ach, sie waren so glücklich!«

Marion eilte die Treppe hinauf und schloß sich in ihrem Zimmer ein. Der Baron hielt den Hund, der Marion folgen wollte, am Halsband fest.

»Lange werden sie nicht mehr glücklich sein«, murmelte er grimmig.

*

Frank wartete, bis Gunter wegfuhr, ehe er bei seiner Schwester klingelte. Sie meldete sich über die Sprechanlage.

»Ich bin es, Frank. Ich muß dich ganz dringend sprechen.«

Der Türöffner summte. Frank fuhr mit dem Lift in den dritten Stock hinauf. Sandra empfing ihn im seidenen Hausmantel, darunter trug sie nur das Negligé. Es war nach 23 Uhr. Sie gähnte hinter der vorgehaltenen Hand.

»Halte mich nicht zu lange auf, ich habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir und muß früh aufstehen.«

Sie gingen ins Wohnzimmer.

»Wer war der Mann, der die ganze Zeit bei dir gewesen ist?« fragte Frank.

Er hatte Sandra und Gunter von weitem eng umschlungen ins Haus gehen sehen und gewartet, weil er seine Schwester allein sprechen wollte. Schon hatte er gefürchtet, der Besucher werde überhaupt nicht mehr weggehen.

Sein vorwurfsvoller Ton ärgerte Sandra.

»Ein sehr guter Freund«, antwortete sie. »Was treibt dich so spät noch zu mir? Sicher brauchst du wieder Geld.«

Frank blickte etwas verlegen zu Boden.

»Du hast richtig geraten. Es ist ganz bestimmt das letzte Mal, daß du mir aus der Klemme helfen mußt. Aber diesmal stehe ich ganz scheußlich da. Mein Wagen ist in der Werkstatt, die Reparatur kostet achthundert Mark, und ich habe keine Ahnung, wo ich die hernehmen soll. Mein Konto ist total überzogen, in wenigen Tagen ist die Miete fällig. Ich bin total pleite.«

»Und dein Gehalt? Du kriegst Mitte des Monats Geld, wo ist es geblieben?«

»Weg«, gestand Frank. »Ich hatte einiges zu bezahlen.«

»Du warst wieder in der Spielbank«, sagte ihm Sandra auf den Kopf zu. »Wie oft habe ich dich davor gewarnt? Jetzt ist Schluß. Diesmal bleibe ich hart. Ich habe dir oft genug aus der Klemme geholfen. Diesmal wirst du die Folgen deines sträflichen Leichtsinns auch ausbaden müssen, vielleicht besinnst du dich dann anders.«

Frank bat und bettelte. Vergeblich. Als er unverschämt wurde, wies ihm Sandra die Tür.

»Geh, du bist alt genug, ich bin für deine Finanzen nicht zuständig. Adieu.«

Ehe Frank es sich versah, stand er vor der geschlossenen Wohnungs­tür. Er verließ das Haus, zog sich am Automat ein Päckchen Zigaretten, rauchte und überlegte, was er jetzt anfangen sollte. Als er dann zur Bushaltestelle ging, stellte er fest, daß er sein letztes Geld für die Zigaretten ausgegeben hatte.

Noch einmal bei seiner Schwester klingeln wollte er nicht. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Hause zu laufen. Kurz nach ein Uhr kam er an. Das Telefon klingelte, er meldete sich, in der winzigen Hoffnung, daß es Sandra sei, die es sich anders überlegt hatte.

Aber es war der Baron von Balsingen. Frank erkannte an der Stimme, daß er den Monsieur Edgar von der Spielbank vor sich hatte, seinen ironischen Gesprächspartner.

»Was kann ich für Sie tun, Herr Baron?«

»Ich wünsche Sie heute früh um Punkt neun Uhr in meiner Villa zu sehen.« Baron Edgar nannte die Adresse. »Es handelt sich um Ihre Arbeit bei der Privatbank Möller & Cie.«

»Wie? Ich verstehe nicht.«

»Sie verstehen sehr wohl. Ich meine es gut mit Ihnen. Falls Sie nicht kommen, wird das sehr nachteilig für Sie.«

»Aber ich habe zu arbeiten, ich…«

»Nehmen Sie sich frei«, unterbrach ihn der Baron, »oder melden Sie sich krank. Entweder unterhalten Sie sich mit mir oder mit der Kriminalpolizei. Gute Nacht.«

Er legte auf. Frank starrte auf den Hörer wie auf eine Schlange, die ihn zu beißen drohte. Es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter. Er schlief in dieser Nacht nicht. Jetzt sind die Unterschlagungen aufgeflogen, ging es ihm immer wieder durch den Kopf, was fange ich jetzt an? Warum habe ich das getan? Warum hatte ich nicht mehr Glück beim Roulette?

Wegen des Spielteufels hatte er zuerst einen Tausender aus der Kasse genommen, den Betrag mit einer fingierten Buchung abgedeckt und fest vorgehabt, ihn in wenigen Tagen wieder auszugleichen. Das war nicht möglich gewesen. Statt dessen hatten sich derartige Vorfälle ge­häuft.

Frank hatte verzweifelt gehofft, einmal die große Glückssträhne beim Roulette zu erwischen. Sie blieb aus.

Übernächtigt und völlig erschlagen, lieh er sich am Morgen von seinem Wohnungsnachbarn zwanzig Mark.

Er behauptete, Geldbörse und Brieftasche wären ihm gestohlen worden. Bei der Bank hatte er sich krank gemeldet.

Er fuhr zu der Villa in einer stillen Wiesbadener Vorortstraße. Ein Dienstmädchen meldete ihn an. Baron Edgar ließ Frank vor seinem Schreibtisch Platz nehmen. Er sagte ihm auf den Kopf zu, daß er etwas über fünfzigtausend Mark unterschlagen und verspielt hatte.

Er legte die Fotokopien auf den Tisch, die ihm Konsul Möller bereits geschickt hatte. Frank brauchte sie nicht einzusehen, er wußte selbst, was und wo er gefälscht hatte.

Der Baron ließ ihn zappeln. Er sah mit Genugtuung, daß Frank mit nachtschwarzem Gewissen und völlig verzweifelt vor ihm saß.

»Wieso reden Sie eigentlich mit mir?« fragte Frank. »Wäre das nicht die Angelegenheit von Konsul Möller gewesen oder der Kripo?«

»Ich bin kein Unmensch«, antwortete der Baron von Balsingen. Er log: »Der Konsul sprach mit mir über die Angelegenheit, weil er meine Diskretion und Geschicklichkeit schätzt. Er will keinen Skandal. Sie sind sich natürlich im klaren darüber, Herr Richter, daß Sie in Deutschland keine Zukunft mehr haben. Am besten wäre es, wenn Sie sich ins Ausland absetzen würden.«

»Aber womit denn? Außerdem fahndet dann Interpol nach mir.«

»Nicht wenn Sie ein Geständnis unterschreiben und sich verpflichten, den unterschlagenen Betrag zu ersetzen. Binnen zehn Jahren, mit den banküblichen Zinsen. Außerdem müßte Ihre Schwester die Bürgschaft dafür übernehmen.«

Frank war völlig verwirrt. Er fragte sich nicht, warum ihn der Baron aus Deutschland weghaben wollte.

Er rechnete nicht damit, daß seine Schwester für ihn bürgen würde, schließlich hatte sie ihn am Vorabend wegen eines weit geringeren Betrages abgewiesen.

Das teilte er dem Baron mit.

»Ich wage es nicht, ihr als Verbrecher unter die Augen zu treten.« Das Wort wollte ihm kaum über die Zunge. »Das bringe ich nicht fertig.«

Baron Edgar nickte.

»Ich verstehe Sie. Junge Leute begehen oft Dummheiten, die sie ein Leben lang bitter bereuen und bezahlen müssen. Ich glaube, daß Sie nicht schlecht sind, Herr Richter, aber labil und leichtsinnig. Nehmen Sie sich zusammen und führen Sie ein anderes Leben, meiden Sie Spielkasinos und Ihre alten Fehler.«

»Das will ich tun. Ich verspreche es. Aber kann ich denn nicht in Deutschland bleiben, meine Stelle bei Möller & Cie kündigen und anderswo arbeiten und abbezahlen?«

»So weit geht unser Entgegenkommen nicht. Wir haben auch eine Sorgfaltspflicht gegenüber anderen Arbeitgebern. Wie stellen Sie sich das vor? Mit einem günstigen Zeugnis können Sie nicht rechnen. Wenn Sie in der Bundesrepublik eine Stelle antreten wollen, fragt ihr zukünftiger Arbeitgeber auf jeden Fall nach Referenzen und Zeugnissen. Es ist für alle Beteiligten besser, wenn Sie weit weg sind. Wegen der Bürgschaft bin ich bereit, mit Ihrer Schwester zu reden.«

Frank überlegte hin und her, aber er sah keinen anderen Ausweg. So stimmte er zu. Einen Einwand hatte er allerdings noch.

»Wovon soll ich verreisen? Ich nehme an, daß ich schnell abreisen soll. Ich bin völlig bankrott.«

Der Baron schnippte ein unsichtbares Stäubchen von seinem Jackettärmel.

»Ich habe jemanden bei der Hand, der es übernehmen würde, Ihren Haushalt aufzulösen. Sie können mir auch Ihren Wagen überschreiben. Dafür erhalten Sie noch heute Geld.«

Sie einigten sich auf viertausend Mark. Baron Edgar empfahl Frank als Reiseziel Rio de Janeiro.

»Brasilien hat Zukunft«, sagte er. »Wenn ich Ihnen noch einen Rat geben darf, reisen Sie per Schiff und arbeiten Sie die Überfahrt ab, als Steward oder ähnliches. Sie werden Ihren Weg schon machen.«

»Woher soll ich so rasch ein Visum nehmen?«

»Das ist Ihre Angelegenheit, Herr Richter. Wenden Sie sich direkt an die brasilianische Botschaft, schützen Sie dringende Geschäfte vor. Oder gehen Sie in Rio illegal an Land. Auf jeden Fall haben Sie nur drei Tage, um Deutschland zu verlassen, anderenfalls sieht sich Konsul Möller genötigt, Anzeige zu erstatten.«

Frank verabschiedete sich, er war total vernichtet. Drei Tage später rief er von Hamburg aus den Baron an, die gewünschten Papiere hatte er ihm unterschrieben. Unmittelbar nach dem Anruf ging er an Bord eines südamerikanischen Frachtschiffes. Frank hatte nicht gewagt, seiner Schwester noch einmal unter die Augen zu treten oder ihr auch nur ein Sterbenswörtchen zu verraten.

*

Sandra hatte in der Klinik Nachtdienst gehabt. Die Fälle, mit denen sie in der Klinik beschäftigt gewesen war, gingen ihr noch durch den Kopf. Da war die kleine Mathilde, die einer Herzoperation entgegensah, die sie hoffentlich heilen würde, dem sechsjährigen Mathias mit seiner Oberschenkelfraktur, die vierjährige Türkin Sabbek, der man den Blinddarm herausgenommen hatte und die kein Wort Deutsch sprach…

Müde parkte Sandra ihren korallenroten VW-Käfer vor der Villa des Barons. Er hatte sie dringend herbestellt, hinterher wollte sie sich zu Bett legen und ausschlafen. Am Abend würde Gunter kommen, die Verlobung sollte im ersten Hotel am Platze in kleinerem Kreis gefeiert werden.

Die Verlobungsanzeige stand groß in zwei Zeitungen.

Baron Edgar empfing Sandra ebenfalls in seinem Arbeitszimmer. Sie kannte ihn den Namen nach und wußte, daß er Marion von Balsingens Onkel war. Gunter hatte Sandra von den verschiedenen Besuchen der Balsingens auf Schloß Falkenau erzählt, aber für Sandra war das nicht sonderlich interessant gewesen.

Der Baron, ganz Weltmann und Charmeur, rückte ihr den Sessel zurecht. Er bot einen Kognak an.

»Leider habe ich sehr unangenehme Neuigkeiten für Sie, Fräulein Dr. Richter.«

»Am frühen Morgen, zudem noch nach dem Nachtdienst, vertrage ich keinen Kognak. Worum handelt es sich, Herr von Balsingen?«

Baron Edgar legte Sandra die Papiere vor.

»Ihr Bruder hat bei der Bank, bei der er beschäftigt ist, fünfzigtausend Mark unterschlagen. Er setzte sich ins Ausland ab, ich bin sowohl von ihm als auch von Ihrem Bruder bevollmächtigt, diese unerfreuliche Angelegenheit zu regeln.«

Sandra rang nach Luft. Vor ihren Augen verschwamm alles. Sie spürte einen ziehenden Schmerz im Leib. Das Kind, dachte sie, hoffentlich schadet die Aufregung ihm nichts. Der Baron merkte, daß es ihr schlecht ging, und brachte ein Glas Wasser.

Sandra trank. Ihr Blick klärte sich, sie konnte die Unterlagen lesen. Die Angaben des Barons stimmten. Sandra hätte am liebsten aufgeschluchzt.

Soweit hat Frank seine Spielleidenschaft gebracht, dachte sie. Sie warf es sich vor, daß sie sich nach dem frühen Tod ihrer Eltern nicht mehr um ihn gekümmert hatte. Aber sie war mit ihrem Studium beschäftigt gewesen. Ihre zähe Zielstrebigkeit und Selbstdisziplin fehlten Frank.

Sie hatte ihm zugeredet, trotzdem verließ er das Gymnasium und begann, weil ihm nichts Besseres einfiel, eine Banklehre.

»Welche Rolle spielen Sie eigentlich, Baron von Balsingen?« fragte Sandra. »Und was erwarten Sie von mir?«

Der Baron ließ die Katze aus dem Sack.

»Sie stehen in engen, um nicht zu sagen intimen Beziehungen zu dem Fürsten von Falkenau, Fräulein Dr. Richter. Wollen Sie als Schwester eines Defraudanten diese aufrechterhalten?«

Sandra stand sofort auf.

»Hat Fürstin Claudia Sie beauftragt, Baron, oder handeln Sie im Interesse Ihrer Nichte? Jetzt verstehe ich, weshalb Sie sich eingeschaltet haben. Sie als Adliger sollten sich schämen, ein so schmutziges Spiel zu treiben.«

Sandras grüne Augen funkelten den Baron an. Sie wirkte bild­hübsch, wie sich Baron Edgar eingestand, der weibliche Schönheit schätzte.

»Ich werde Fürst Gunter sofort einweihen und ihm alles erklären«, sagte Sandra.

Als sie die Türklinke schon in der Hand hatte, rief der Baron: »Wenn Sie das tun, landet Ihr Bruder im Gefängnis. Dann bleibt ihm nichts erspart. Und Ihnen auch nicht. Fürst Gunter wird, falls er zu Ihnen hält, ebenfalls Unannehmlichkeiten haben.«

Sandra zögerte. Gunter hatte ihr Liebe geschworen, doch das war gewesen, bevor er von den Unterschlagungen ihres Bruders wußte. Sandra war eine Bürgerliche, bisher immerhin eine Bürgerliche aus einer unbescholtenen Familie. Konnte der Fürst es sich überhaupt leisten, die Schwester eines Kriminellen zur Frau zu nehmen?« Und wenn das geschah, würde er es nicht früher oder später bitter bereuen?«

Außerdem war da Frank. Sein Leben würde ruiniert sein, wenn man ihn anklagte. Sandra dachte an ihr Kind. Mit welchem Skandal würde seine Geburt behaftet sein, wenn sie unter diesen Umständen den Fürsten heiratete.

Sie kehrte wieder um und setzte sich.

»Ich bin bereit, mir Ihre Vorschläge anzuhören, Baron. Zuvor möchte ich Ihnen sagen, daß ich Sie verachte.«

»Halten Sie das, wie Sie wollen, Fräulein Doktor. Ob mein Spiel schmutzig ist oder nicht, steht dahin. Ich werde es jedenfalls gewinnen. Wenn Sie erreichen wollen, daß die Unterschlagungen Ihres Bruders vertuscht werden, müssen Sie eine Bürgschaft für das unterschlagene Geld leisten und sich verpflichten, jeden Kontakt zu Fürst Gunter von Falkenau abzubrechen.«

Sandra stand vor einer fürchterlich schweren Entscheidung.

»Heute abend wollen wir unsere Verlobung feiern, Baron.« Es klang wie ein Schrei. »Außerdem bin ich im dritten Monat schwanger.«

»Von Fürst Gunter? Sind Sie sicher, daß das Kind, das Sie erwarten, von ihm ist? Es könnte angezweifelt werden.«

Soviel Gemeinheit verschlug Sandra die Sprache. In diesen Minuten zerbrach ihr Glück und damit ihre Zuversicht auf eine Zukunft mit Gunter. Der Baron triumphierte, er saß am längeren Hebel. San­dra hörte ihn reden. Falls sie sich mit dem Fürsten verlobte, würde zur gleichen Stunde die Anzeige gegen ihren Bruder erfolgen, die Skandalblätter sollten Mitteilung erhalten.

»Ich verlobe mich nicht«, sagte Sandra. »Aber wie soll ich es Gunter beibringen?«

»Lassen Sie sich etwas einfallen, meine Liebe. Frauen sind erfinderisch. Weitere Einzelheiten besprechen wir später.«

Dumpf fiel die Tür hinter Sandra ins Schloß. Sie konnte den Anblick des Barons nicht mehr ertragen.

*

Um achtzehn Uhr fuhr Gunter, strahlend und im festlichen Abendanzug, bei Sandra vor, um sie zur Verlobungsfeier abzuholen. Er war erstaunt, sie in der Wohnung in alten Jeans, mit noch unfrisiertem Haar und einem bedruckten T-Shirt vorzufinden. Er überreichte ihr die zur Verlobung gekauften Rosen.

»Ich dachte, du seist schon fertig. Worauf wartest du noch?«

»Wir können uns nicht verloben, Gunter. Ich habe es mir anders überlegt.«

Gunter lachte, er hielt das für eine Laune von ihr, für eine Art Torschlußpanik.

Was ist denn plötzlich in dich gefahren, Mädchen? Hast du Angst vor meinem Adelstitel gekriegt? Oder bestehst du auf einer Verlobung im Schloß? Sie ließ sich so rasch nicht einrichten. Aber wir heiraten auf Schloß Falkenau, da kannst du sicher sein.«

Sandra setzte sich im Schlafzimmer vor den dreiteiligen Spiegel und kämmte ihr Haar. Sie konnte Gunter nicht in die Augen sehen und mußte einfach etwas tun, um Haltung zu bewahren.

»Wir werden nicht heiraten.«

Jetzt erst begriff Gunter, daß es sich nicht nur um etwas Vorübergehendes handelte. Er legte die Rosen aufs Bett, in dem er so glückliche Stunden mit Sandra verbracht hatte.

»Was soll das heißen? Meine Freunde warten, es ist alles für die Verlobungsfeier vorbereitet. Reporter sind da. Die Verlobungsanzeigen sind erschienen, wie du weißt.«

»Ich weiß, aber die Verlobung findet trotzdem nicht statt. Auf dem Tisch dort liegt dein Ring. Ich will ihn nicht haben.«

Gunter war wie vor den Kopf geschlagen.

»Geh jetzt«, bat ihn Sandra. »Ich will dich nicht wiedersehen.«

»Warum?« stammelte Gunter. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Du erwartest doch ein Kind von mir, Sandra! Wir lieben uns und wollen heiraten. Weshalb sagst du plötzlich, du hast deine Meinung geändert? Wenn das ein Scherz sein soll, dann ist es ein sehr schlechter und grausamer.«

»Es handelt sich nicht um einen Scherz. Es war mir nie so ernst wie jetzt zumute.«

Sandra drehte sich auf dem Frisierhocker um.

Sie wußte, daß es nur eine Möglichkeit gab, um Gunter von sich wegzubringen.

Sie mußte ihn so schlimm verletzen, wie es nur möglich war, und seine Liebe zerstören.

»Ich habe dich nur heiraten wollen, weil du der Fürst von Falkenau bist. Als Mensch bedeutest du mir gar nichts.«

»Sandra!«

»Aber mit einer Lüge kann ich auf die Dauer nicht leben. Das habe ich jetzt gemerkt. Das Kind, das ich erwarte, ist übrigens nicht von dir.«

»Das ist nicht wahr!«

»Doch. Verlaß meine Wohnung, Gunter. Geh! Nimm dir eine Adlige zur Frau, sie wird besser zu dir passen und auch deiner Mutter genehm sein. Laß mich allein.«

Sie deutete auf die Wohnungstür. Es war der schlimmste Augenblick in Gunters Leben. Ein glühendes Schwert bohrte sich in sein Herz, und er litt, wie er nie zuvor gelitten hatte.

Sandra hielt seinem ungläubigen, gequälten Blick stand. Ein Zittern durchlief die hohe Gestalt des Fürsten.

Aber Gunter zeigte Haltung. Das war etwas, was ihm von klein auf anerzogen worden war.

»Wer ist der Vater des Kindes? Ich will es nur wissen. Du brauchst nichts zu befürchten.«

Auch das hatte sich Sandra überlegt.

»Dr. Stanitz, ein Kollege von mir. Ich habe dir eigentlich von ihm erzählt.«

»Der schöne René, der Schwarm aller Frauen in eurer Klinik. Gratuliere. Weiß er schon von seinem Glück?«

»Was kümmert das dich? Adieu, Gunter.«

Der Fürst schritt hinaus, steif, fast wie ein Roboter. Sein Gesicht glich einer Maske.

»Der Ring«, rief Sandra hinter ihm her.

»Bring ihn zum Pfandleiher«, sagte Gunter über die Schulter. »Oder wirf ihn in den Rhein. Ich mag ihn nicht mehr anfassen.«

Er schloß die Wohnungstür leise hinter sich. Sandra hätte ihre Rolle nicht mehr länger spielen können. Sie fiel aufs Bett. Die herrlichen roten Rosen wurden unter ihr zerdrückt, während ihr Körper von haltlosem Schluchzen geschüttelt wurde. Alles in ihr schrie danach, hinter Gunter herzulaufen, ihn zurückzuholen und ihm die wahren Zusammenhänge zu erklären.

Doch das durfte sie nicht. Sie konnte nicht zurück…

*

Vorm Haus sprang Gunters Wagen an, Sandra kannte den Klang des Motors. Mit aufheulendem Motor raste der Fürst davon.

Gunter war außer sich. Er brachte es nicht fertig, ins Hotel zu gehen und dort Erläuterungen abzugeben. Er rief von einer Telefonzelle aus an, verlangte seinen Freund, den Schauspieler Alexander Karben, und teilte ihm mit, die Verlobung sei geplatzt.

Er gab keine Erklärungen ab.

»Feiert auf meine Kosten«, sagte er. »Amüsiert euch gut. Schickt die Reporter weg.«

»Gunter, Menschenskind, was ist denn passiert? Habt ihr euch gestritten? Das ist kein Grund, um alles hinzuwerfen, das kommt in den besten Familien vor. Soll ich mit Sandra reden?«

»Auf keinen Fall. Ich verbiete dir, auch nur ein Wort mit ihr zu sprechen. Wenn du mein Freund bist, stell jetzt keine Fragen. Ich will niemanden sehen.«

»Wo bist du jetzt, Gunter? Wohin gehst du?«

Aber der Fürst hatte schon eingehängt. Er fuhr in sein Jagdrevier im Taunus. Dort irrte er umher. Die Nacht, den darauffolgenden Tag und die nächste Nacht verbrachte er im Wald und in der Jagdhütte. Erst zu Anfang der Woche kehrte er nach Schloß Falkenau zurück.

*

»Ich habe es dir gleich gesagt, diese Bürgerliche ist nichts für dich. Sie hat dich zum Gespött gemacht, dich, den Fürsten von Falkenau! Was willst du jetzt unternehmen?«

Gunter sprach in der Bibliothek mit seiner Mutter. Er war erst vor einer halben Stunde aufs Schloß zurückgekommen. Natürlich wußte Fürstin Claudia längst von der geplatzten Verlobung. Gunter sah den Triumph in ihren Augen. In diesem Moment haßte er seine Mutter.

»Ich bleibe im Wohnhaus bei der Porzellanmanufaktur, dort werde ich mich für die nächste Zeit einrichten. Ich werde arbeiten, arbeiten und nochmals arbeiten.«

Gunter sprach voller Bitterkeit. »Wir brauchen einen neuen Brennofen im Werk. Die Produktion muß verbessert werden. Unsere französischen Geschäftsfreunde von der Firma Servan haben sich angesagt. In unseren Forstbetrieben gibt es viel zu tun. Ich will durchrechnen, ob es sich lohnt, unsere Sägemühle wieder in Gang zu setzen. Die Genehmigung für den Bau des Stalls für fünfzig Milchkühe mit Melkanlage und automatischer Fütterung und Entmistung läßt schon viel zu lange auf sich warten, ich muß mich mit den zuständigen Stellen in Verbindung setzen.«

»Das willst du alles allein erledigen?«

Es war eine Herkulesarbeit, die Gunter sich aufbürden wollte. Der verstorbene Fürst hatte die Tätigkeiten auf seinen Gütern und in den fürstlichen Porzellanmanufakturen meist den bezahlten Kräften überlassen. Wenn er sich dort einmal eingemischt hatte, hatte er nur Verwirrung gestiftet. Als Landtagsabgeordneter war er populärer und erfolgreicher gewesen.

Gunter zeigte bisher für die Politik keine Neigung, aber er hatte außer seinem Ingenieurstudium auch ein paar Semester Land- und Forstwirtschaft studiert. Er war immer sehr fleißig gewesen und kannte sich in allen Zweigen des Besitzes derer von Falkenau aus.

»Nicht allein«, beantwortete Gun­ter die Frage seiner Mutter. »Wir haben schließlich Mitarbeiter.«

»Warum ziehst du nicht wieder ins Schloß?« Gunter hatte es, nach einigen Meinungsverschiedenheiten wegen Sandra in der letzten Zeit, verlassen. »Die paar Kilometer zur Manufaktur kannst du mit dem Wagen fahren.«

»Ich fühle mich beim Betrieb wohler, dort bin ich auch gleich vor Ort.«

Der wahre Grund war, daß Gunter zu seiner Mutter Distanz halten wollte. Er wollte keine Bemerkungen wegen seiner gescheiterten Verlobung hören, auch nicht in mitleidsvollem Ton. Es war, nach dem bitteren Schmerz, den ihm Sandra zugefügt hatte, vollends erwachsen geworden und brauchte Freiraum.

Die Fürstin sah, daß sie ihn jetzt nicht umstimmen konnte. Irgendwann würde er ins Schloß zurückkehren. Sie stellte die entscheidende Frage.

»Was ist mit dem Kind, das diese Dr. Richter erwartet? Wie du weißt, sind uneheliche Kinder heutzutage per Gesetz den ehelichen gleichgestellt und erbberechtigt. Deshalb sollten gerade Leute unseres Standes sich hüten, Bastarde in die Welt zu setzen.«

Gunter zuckte zusammen wie unter einer Ohrfeige.

Dann sagte er steif: »Du kannst unbesorgt sein, Mutter. Dr. Richter wird keine Ansprüche stellen, auch nicht für Alimente. Sie hat kein Recht dazu.«

»Was heißt das?« Erst allmählich ging der Fürstin der Sinn dieser Bemerkung auf. »Das Kind ist gar nicht von dir?«

Ohne Antwort, weiß im Gesicht, verließ Gunter die Bibliothek.

Die Fürstin mußte sich setzen. So eine Infamie, dachte sie. Dieses elende Weib. Aber wie hat Gunter das nur herausgefunden?

Sie klingelte, Marthe eilte herbei. Sie war die Gattin des steifen Schloßverwalters Hubert, gleichaltrig mit der Fürstin und mit ihr zusammen im Schloß aufgewachsen. Marthe Rosthal diente der Fürstin als Kammerzofe und hatte noch zahlreiche andere Funktionen auf Schloß Falkenau.

Fürstin Claudia vertraute ihr völlig.

»Gib mir einen Sherry, Marthe. Ja, jetzt schon, ich weiß selbst, daß es Vormittag ist.«

Als Marthe der Fürstin den Sherry brachte, teilte sie ihr mit, daß Fürst Gunter in seinen Räumen mit Packen beschäftigt war. Fürstin Claudia winkte nur ab. Marthe machte sich in der Bibliothek zu schaffen. Sie konnte ihre Neugierde wegen der gescheiterten Verlobung nicht bezähmen.

»Was ist mit dem Kind, das Fräulein Dr. Richter erwartet, Durchlaucht?«

»Marthe!« empörte sich die Fürstin. »Du hast wieder gehorcht!«

Die füllige Frau legte die Hand aus Herz.

»Tot umfallen will ich, wenn ich das getan habe. Ich hörte neulich zufällig einen Teil eines Telefonats mit, das Fürst Gunter mit, hmhm, diesem Fräulein führte. Ich konnte es nicht vermeiden. Selbstverständlich habe ich zu niemandem ein Wort darüber gesprochen, nicht einmal zu Hubert.«

»Wegen des Kindes ist nichts zu befürchten«, sagte die Fürstin spröde. »Gunter ist nicht der Vater, deswegen ist die Verlobung gelöst worden. Aber das behältst du streng für dich, Marthe. Weiß der Teufel, wo das Fräulein Doktor den Balg herhat.«

Marthe schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Ihr hessischer Dialekt klang noch stärker durch als sonst.

»Der arme Förscht! Totgeschlache gehört das Weibsstück! Und so eine wär’ fast auf Schloß Falkenau eingezogen. Nein, was ist die Welt so schlecht, es werd’ immer schlimmer.«

Fürstin Claudia war zornig und tief betroffen. Wenn sich das herumsprach, würde man in ganz Deutschland und auch beim ausländischen Hochadel über die Falkenaus lachen.

Die Fürstin ging verdrossen ins Eßzimmer, um zu frühstücken. Erbitterte Vorwürfe machte sie in Gedanken ihrem Sohn, weil er sich mit der Ärztin eingelassen hatte.

Mit einer Adligen wäre ihm das nicht passiert, dachte sie. Als ihr der Baron von Balsingen gemeldet wurde, wollte die Fürstin sich zuerst mit Unpäßlichkeiten entschuldigen. Dann entschloß sie sich aber doch, ihn zu empfangen.

Er küßte ihr galant die Hand.

»Sie sehen bezaubernd aus, meine Liebe!«

Unten im Hof verließ indessen Fürst Gunter das elterliche Schloß.

»Schmeichler«, sagte die Fürstin. »Ich fühle mich scheußlich, bestimmt sieht man es mir an. Seit der gescheiterten Verlobung steht hier das Telefon nicht still, ich nehme schon keine Anrufe mehr entgegen. Einige Reporter habe ich abweisen müssen. Sollen sie sich an meinen Sohn wenden. Was für ein Skandal! Es ist entsetzlich.«

»Ja, aber trotz allem ging es noch gut, Claudia. Gunter erfuhr rechtzeitig die Wahrheit über das Fräulein Dr. Richter. Außerdem ist da noch etwas. Frank Richter, der Bruder der Ärztin, hat bei der Bank, bei der er arbeitete, Geld unterschlagen, er setzte sich ins Ausland ab. Dr. Richter wird es zurückzahlen müssen, von einer Strafverfolgung hat man abgesehen.«

»Edgar, was eröffnen Sie mir da? Nehmen die Schrecken denn kein Ende?«

»Ich habe mir erlaubt, Nachforschungen anzustellen, meine liebe Claudia, und zwar über eine Detektei. Sie brachte die Wahrheit heraus. Sie, meine Liebe, haben einen viel zu vornehmen Charakter, um so einen Schritt zu unternehmen. Dennoch war er bitter notwendig. Von Marion hörte ich etwas über den Zustand von Fräulein Dr. Richter. Ich hielt es für meine Pflicht, als Freund des Hauses, die Initiative zu ergreifen.«

»Sie haben völlig richtig gehandelt, Edgar. Das werde ich Ihnen nie vergessen.«

Der Baron faßte die Hand der Fürstin.

Er blickte ihr tief in die Augen.

»Darf ich hoffen, irgendwann mehr für Sie zu sein als ein guter Freund, Claudia? Sie würden mich zum glücklichsten Mann unter der Sonne machen.«

»Vielleicht… irgendwann. Ich kann jetzt nichts dazu sagen, Edgar, ich bin zu verstört im Moment. Es ist unglaublich, in welche Abgründe ich schauen mußte. Ein… ein Flittchen und ein Defraudant, und mit solchen Leuten hat sich mein Sohn eingelassen! Mit diesem Pöbel bringt er mich ins Gerede!«

»Es wird geheim bleiben«, versicherte der Baron, »die Betroffenen schweigen aus gutem Grund. Von mir erfährt niemand etwas. Es war mir eine Ehre, dem Haus Falkenau einen Dienst erweisen zu können.«

Der Baron verabschiedete sich bald. Er fuhr fröhlich vom Schloß weg, sein Weizen blühte. Was kümmerte es ihn, wenn dabei zwei Herzen brachen und ein Kind ohne Vater zur Welt kam und um seine Geburtsrechte betrogen wurde.

Sandra hatte den Baron am Tag nach ihrem Gespräch mit Gunter aufgesucht. Der ganze Fall war damit abgeschlossen.

Der Baron vermied es allerdings, an den Blick zu denken, mit dem ihn Sandra gemustert hatte. Noch nie hatte er soviel Abscheu und Verachtung zu spüren bekommen…

*

Marion von Balsingen arbeitete als Bibliothekarin in der Wiesbadener Schloßbibliothek. Sie liebte Bücher, hatte gern mit Menschen Kontakt und wollte nicht untätig sein. An diesem Vormittag herrschte wenig Betrieb in der Bibliothek, die über zwei Lesesäle verfügte und sich in drei Etagen ausdehnte.

Marion stellte gerade eine Liste der Bücher auf, die ausrangiert werden sollten, als sie jemand ansprach.

»Haben Sie Literatur über die frühmittelalterlichen Minnesänger, Fräulein? Hauptsächlich über Walter von der Vogelweide?«

»Selbstverständlich.«

Marion schaute von der Liste auf. Sie wollte dem Frager gerade erklären, wo er das Gesuchte fand. Da erkannte sie ihn. Alexander Karben war groß und schlaksig, er hatte eine dunkelbraune Haarmähne und braune Augen. Um seinen Mund lag oft ein spöttischer Zug. Alexander war alles andere als ein Zyniker. Er nahm nur manches weniger ernst als andere.

Mit seinen achtundzwanzig Jahren zählte er zu Deutschlands besten Nachwuchsschauspielern. Wer seine Darstellung des »Hamlet« gesehen hatte, würde sie nie vergessen. Er hatte auch in zahlreichen anderen Rollen brilliert und trat im Fernsehen auf.

Marion kannte Alexander von verschiedenen Veranstaltungen. Sie wußte, daß er ein Auge auf sie geworfen hatte. Zwar schätzte sie ihn als Schauspieler, doch abgesehen davon gab es nur einen Mann: Gunter von Falkenau. Trotzdem freute sie sich, Alexander Karben zu sehen.

»Ich dachte, Sie halten sich zu Dreharbeiten in Norddeutschland auf, Herr Karben?«

»Der Fernsehkrimi ist abgedreht. Endlich durfte ich mal einen Schurken spielen. Meines Erachtens war der Schluß des Films viel zu flau, aber der Regisseur und die Herren von der Produktionsleitung ließen sich leider nicht umstimmen. Schauspieler sollten viel mehr Mitspracherecht beim Drehbuch haben. Aber ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen darüber zu reden, Baronesse von Balsingen.«

Grübchen erschienen in Marions Wangen, als sie lächelte.

»Lassen Sie die Baronesse weg. Nennen Sie mich Marion.«

»Marion und ›Sie‹ paßt nicht zusammen. Ich heiße Alexander. Darf ich Sie – dich – jetzt gleich oder während der Mittagspause zu einer Tasse Kaffee einladen? Ich möchte etwas mit dir besprechen, Marion.«

»Über die Minnesänger und Walter von der Vogelweide?«

»Nein, über Gunter von Falkenau. Und auch – über uns. Gunter ist völlig am Boden zerstört, seit seine Verlobung vor drei Wochen in die Brüche ging. Ich habe ihn seitdem zweimal gesprochen. Er war abweisend bis zur Unhöflichkeit. Dann rief ich Fräulein Dr. Richter an. Sie gab keine Erklärungen ab und sagte nur, sie und Gunter hätten festgestellt, daß sie nicht zusammenpaßten. Damit war das Gespräch beendet.«

Marion wußte von ihrem Onkel, dem Baron, daß die Ärztin Gunter schändlich hintergangen haben sollte. Er sei nicht der Vater des Kindes gewesen, das sie erwartete, hatte Baron Edgar seiner Nichte anvertraut und sie beschworen, zu niemandem darüber zu reden.

Marion war Gunter bisher ferngeblieben. Sie wollte ihm Zeit geben, den Schock zu überwinden und wieder zu sich selbst zu finden. Sie empfand keine Freude über die Entwicklung der Dinge. Gunter hatte Sandra aufrichtig geliebt. Marion wäre bereit gewesen, zurückzutreten und den beiden ihr Glück zu gönnen.

*

Jetzt stimmte Marion jedenfalls zu, mit Alexander Karben ein Waldrestaurant aufzusuchen, wo sie zu Mittag essen wollten. Er mußte sich eine Weile gedulden.

»Lies nur über die Minnesänger nach, Alexander«, empfahl ihm Marion. »Sie wußten die Gunst einer Dame wenigstens noch richtig zu schätzen.«

»Es blieb ihnen auch nichts anderes übrig. Dadurch, daß sie die Burgfrauen umschmeichelten, verdienten sie ihr Brot. Bei den Burgherren wäre es ihnen kaum geglückt. Die dachten praktischer.«

Alexanders Sportwagen parkte vor dem Schloß, dessen Bibliothek der Öffentlichkeit zugänglich war. Marion bestaunte den Sportflitzer.

»Ich fahre ihn aus Imagegründen und zur Steuerersparnis«, sagte der Schauspieler leichthin.

Sie setzten sich an einen Tisch im Garten des Waldrestaurants. Die Vögel zwitscherten in dem dichten Laub der Linde, die besser als Sonnenschirme einen angenehmen Halb­schatten spendete.

Marion und Alexander unterhielten sich zunächst über Gunter. Marion verriet nichts, als sie merkte, daß der Schauspieler über Sandras Schwangerschaft nicht informiert war. Er rätselte hin und her, was den Bruch zwischen Sandra und Gunter hatte verursachen können.

»Ich hatte den Eindruck, die beiden seien rasend ineinander verliebt. So kann man sich irren. Ob wohl ein anderer Mann im Spiel ist? Eine andere Frau keineswegs, dazu kenne ich Gunter zu gut.«

»Ich weiß es nicht. Gunter braucht vor allem Zeit, um den Schlag zu verwinden. Seine alten Freunde sollten mit ihm Kontakt halten, aber ihn nicht bedrängen.«

Der Meinung war Alexander auch. Er blickte Marion nachdenklich an.

»Du bedeutest mir sehr viel, Marion, bei dir spüre ich etwas, was ich noch bei keiner anderen Frau bemerkt habe. Ich bin umschwärmt und erfolgreich. Und doch fehlt mir etwas. Der oberflächlichen Beziehung bin ich gründlich überdrüssig.«

Diese Wendung des Gesprächs gefiel Marion keineswegs.

»Das sagst du sicher zu jeder. Ich bin nur eine kleine Bibliothekarin, deren Eltern zufällige Adlige waren. Zu einem Schauspieler und Künstler würde ich bestimmt nicht passen, der Lebensstil liegt mir nicht.«

»Du könntest dich daran gewöhnen. Ich bin keineswegs flatterhaft, falls du das meinst.«

Marion lächelte nur. Sie sah auf die Uhr.

»Ich muß wieder in die Bibliothek zurück. Meine Mittagspause ist bald um.«

»Kann ich dich in der nächsten Zeit mal sehen? Wollen wir ausgehen, etwas unternehmen? In Kürze werde ich in Frankfurt auf der Bühne stehen. Kommst du zur Premi­ere?«

»Vielleicht. Gib mir deine Telefonnummer, ich rufe dich an. Für die nächste Zeit bin ich ausgebucht. Ich nehme an einem Französisch-Abendkurs teil, um meine Kenntnisse aufzupolieren.«

»Ach.«

Alexander war sichtlich enttäuscht. Er bezahlte die Rechnung.

Auf der Rückfahrt fragte er: »Kannst du mir eine Frage wahrheitsgemäß beantworten, Marion? Liebst du Gunter von Falkenau und siehst du deshalb keinen andern Mann an? Ich weiß, daß du mit deinem Onkel verschiedentlich auf Schloß Falkenau zu Gast warst.«

Marion wurde sehr verlegen.

Schließlich antwortete sie: »Ich habe Gunter sehr gern, aber er ist mir gegenüber immer unverbindlich geblieben. Zwischen uns ist nie etwas vorgefallen.«

»Ich wollte nur Bescheid wissen. Ich bin kein Fürst, Marion, aber ich liebe dich. Ja, das sage ich nicht nur so daher. Seit heute weiß ich es sicher.«

Vor dem Schloß verabschiedete sich Marion rasch. Sie verschwand durch das große Tor. Es sah fast wie eine Flucht aus. Alexander nahm die Sonnenbrille ab.

»Das wird meine Frau«, sagte er halblaut. »Gunter soll sich eine andere nehmen. Er muß blind sein, wenn er nicht bemerkt, wie sehr das Mädchen in ihn verliebt ist.«

*

Der Frachter lief im Hafen von Rio ein. Frank Richter staunte die weißen Hochhäuser unterm Zuckerhut an. Rio de Janeiro schien ihm von weitem die schönste Stadt der Welt zu sein. In sattem Grün erhoben sich im Landesinnern bewaldete Berge.

Hier habe ich eine Zukunft, dachte Frank, die Schatten der Vergangenheit lasse ich hinter mir.

Den ersten Anblick von Rio würde er nie vergessen…

Aus der Nähe, im Gedränge des Hafens, merkte er schon, daß nicht alles so schön war. Es gab viel Schmutz und Armut in Rio. Die Gegensätze zwischen arm und reich waren kraß.

Nach dem Anlegemanöver suchte Frank den Kapitän auf der Brücke auf.

»Ich will von Bord gehen«, teilte er ihm mit.

Der Kapitän fragte nicht lange.

»Sie müssen wissen, was Sie tun, Herr Richter«, sagte er und schickte ihn zum Zahlmeister.

Eine halbe Stunde später stand Frank mit seinen Papieren, achthundert Mark Heuer und dreitausendfünfhundert Mark von dem Geld, das er von Baron von Balsingen erhalten hatte, am Kai. Das waren rund fünfzigtausend brasilianische Cruzeiros.

Frank schien das sehr viel Geld zu sein.

Er fühlte sich prächtig, das alte Europa lag hinter ihm, damit hatte er alle Schwierigkeiten hinter sich gelassen. Ich werde Brasilien erobern, dachte er, nahm seine Koffer und ging zum nächsten Taxistand.

Der Taxichauffeur fuhr ihn kreuz und quer durch die Acht-Millionen-Stadt, ohne daß Frank es merkte, und forderte von ihm das dreifache von dem, was er hätte verlangen dürfen. Frank stieg in einem Mittelklassehotel ab, das ihm der Taxichauffeur empfohlen hatte. Er brannte darauf, Rio zu sehen, den Strand von Copacabana und all die andern Plätze, deren Namen allein schon Träume und Verlockungen für ihn waren.

Frank duschte, zog sich um und nahm sich wieder ein Taxi. Immerhin war er klug genug, den größten Teil seines Geldes im Hotelsafe zurückzulassen. Den Rest wechselte er bei der Bank am Flughafen um, der auf einer Insel in der Bucht lag. Die Bank sagte ihm besonders darum zu, weil sie rund um die Uhr geöffnet war.

An diesem Nachmittag und Abend gewann er einen gewissen Einblick in diese Riesenstadt. Da waren Abfallberge am Rande der Stadt, und da die Fabriken, die die Straßen mit übelriechenden Abgasen erfüllten.

Es gab aber auch den großen botanischen Garten, Tanzlokale mit glutäugigen Schönheiten, die ihn umschwärmten, die er aber nicht verstand. Und es gab ein verwirrendes Lichtermeer und einen pulsierenden Rhythmus, der ihn begeisterte.

Am nächsten Tag schlief Frank lange. Er schaute sich weiter Rio an, sah die Wellenreiter am Strand von Copacabana und die hübschen Mädchen mit den knappen Tangas. Gegen Abend wurde er unruhig. Das Geld, über das er verfügen konnte, ließ ihm keine Ruhe.

Er fragte den Portier seines Hotels: »Kann man hier irgendwo ein kleines Spielchen auflegen?«

»Was bevorzugen der Herr?« fragte der Portier in schlechtem Englisch. »Roulette, Baccara oder Blackjack? Pokern oder Würfeln?«

»Alles ist gut. Am liebsten wäre mir das Roulette.«

Ein Taxichauffeur brachte Frank in eine Spielhölle. Der Club befand sich im Penthouse eines Hochhauses im Stadtteil Botafogo. Die Aussicht durch die großen Panorama­fenster auf die Bucht war phantastisch, aber keiner der Spieler beachtete sie.

Höchstens daß einer, der alles verloren hatte, ans Geländer der Dachterrasse trat und sich überlegte, ob er hinunterspringen sollte. Frank gewann am ersten Abend mehrere tausend Cruzeiros. Er

verließ den Club wie in einem Rausch.

Der Geschäftsführer, ein Halbblut, sehr gepflegt, mit einer Narbe auf der Wange, flüsterte dem Chefcroupier zu: »Der Gringo hat angebissen. Beim nächsten Mal wird er richtig einsteigen. Dann nehmen wir ihn aus.«

Der Chefcroupier nickte.

Frank erschien selbstverständlich am Abend wieder im Spielclub, kaum daß er geöffnet hatte. Er hatte seine schlechten Erfahrungen mit dem Spielteufel vergessen. Er fieberte nach dem Nervenkitzel, den ihm die rollende Kugel bescherte. Frank war davon überzeugt, diesmal haushoch zu gewinnen.

Zunächst verlor er alles, was er eingesteckt hatte.

»Wir nehmen Schuldscheine von Ihnen entgegen, Señor Richter«, sagte der Geschäftsführer Frank in dem Büro neben der Kasse. »Ich sehe, daß Sie ein Mann von Welt sind. Ihr Wort genügt. Über wieviel Bargeld und andere Werte verfügen Sie?«

Frank nannte eine zu hohe Summe. Er gab an, als Tourist in Rio zu sein. Am Spieltisch setzte er wieder nach seinem alten System.

Der Geschäftsführer grinste. An den Roulettetischen waren Magnete angebracht. Sie beeinflußten den Lauf der Kugel wesentlich, dagegen war jedes System machtlos.

»Ich habe selten einen Spieler gesehen, der eine so unglückliche Hand hatte wie dieser Deutsche«, sagte der Chefcroupier später. »Ich brauchte den Elektromagneten kaum einzuschalten…«

Frank setzte und unterschrieb Schuldscheine. Jemand reichte ihm einen Drink, er trank ihn, ohne hinzusehen. Er gewann wieder ein wenig, ein schönes Mädchen setzte sich neben ihn.

»Gib mir einen Jeton«, schmeichelte sie, »das bringt Glück.«

Frank verstand Jeton und Glück, er ließ einen Fünfhundert-Cruzeiro-Chip in ihren Ausschnitt gleiten. Dann rollte die Kugel wieder. Und Frank verlor. Als der Morgen graute, präsentierte ihm der Geschäftsführer seine Schuldscheine.

»Hundertzwanzigtausend Cruzeiros!« Frank schrie entsetzt auf. »Wie soll ich das jemals bezahlen? Soviel Geld habe ich nicht.«

»Und 78 Centavos, wir haben nichts zu verschenken.« Der Geschäftsführer wirkte gar nicht mehr freundlich und verbindlich. »Leert ihm die Taschen! Pepe und Tio…«

Zwei hünenhafte Neger schoben sich neben Frank. Er wagte keinen Widerstand, als sie ihn durchsuchten. Sie stahlen ihm Brieftasche, Geldbörse und Uhr.

»Wieviel Geld haben Sie, Se­ñor?« fragte der Geschäftsführer. Plötzlich hielt er ein Stilett in der Hand. Die beiden Schwarzen packten Frank und hielten ihn fest. »Wenn Sie versuchen, uns hereinzulegen, werden Sie es bitter bereuen.«

Frank brach der kalte Schweiß aus. Er erzählte von dem Geld im Hotelsafe. Kurz darauf fuhr er zwischen den beiden Schwarzen im Wagen des Geschäftsführers zum Hotel. Der Geschäftsführer lenkte den Wagen, neben ihm saß einer der Croupiers.

Im Hotel öffnete der Nachtportier Frank den Safe. Der Geschäftsführer des Spielclubs stand daneben. Er sprach auf Portugiesisch mit dem Portier. Frank merkte, daß die beiden unter einer Decke steckten.

Die vier vom Nachtclub gingen mit Frank hinauf auf sein Zimmer. Sie durchsuchten es. Der Croupier mit der Pistole hielt den jungen Deutschen in Schach. Anschließend mußte er mit den vieren wieder das Hotel verlassen.

Sie fuhren im Wagen des Geschäftsführers vor die Stadt, an einem Elendsviertel vorbei zu einer Müllhalde. Keine Menschenseele war in der Nähe. Frank hatte Angst wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er verfluchte seine Spielleidenschaft.«

»Steigen Sie aus«, befahl ihm der Geschäftsführer.

Sie stiegen alle fünf aus dem Wagen.

»Sie sind uns noch eine Menge Geld schuldig«, sagte der Geschäftsführer, »aber wir wollen Gnade vor Recht ergehen lassen. Es wäre sinnlos, es von Ihnen eintreiben zu wollen. Eine kleine Lektion sollen Sie allerdings erhalten. Lassen Sie sich nicht noch einmal in unserem Club sehen, und wagen Sie nicht, zur Polizei zu gehen!«

Der Croupier lud die Waffe durch. Pepe und Tio gingen auf Frank los. Er wehrte sich, aber als ihm auch noch der Croupier hinterrücks einen gemeinen Schlag versetzte, war es mit seiner Gegenwehr vorbei.

Frank bezog die schlimmste Tracht Prügel seines Lebens. Er blieb auf der Müllhalde liegen, als der Wagen mit den Männern vom Spielclub wegfuhr. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder erheben konnte.

Dann reinigte er sich an einem nahen Bach, so gut er konnte, und kehrte zu Fuß in die Stadt zurück. Er besaß keinen Centavo mehr.

In seinem Hotel erwartete Frank eine weitere schlimme Überraschung.

Er konnte sich nicht in seinem Zimmer bequem niederlegen, wie er gehofft hatte. Der Hotelmanager legte ihm die Rechnung vor und verlangte sofortige Bezahlung.

»Ich werde das Geld beschaffen«, beschwor ihn Frank. »Sie sehen doch, ich bin überfallen worden. So lassen Sie mich doch in Ruhe.«

»Darauf können wir uns nicht einlassen. Das ist kein – wie heißt das englische Wort dafür? – Asyl. Ihr Gepäck behalten wir als Pfand, Sie können es später auslösen, Se­ñor Richter. Ohne Geld können Sie hier nicht wohnen.«

Ehe er es sich versah, stand Frank auf der Straße. Er stolperte durch Rio, das ihm jetzt gar nicht mehr schön erschien. Gegen Mittag fing sein Magen an zu knurren. Im mehrere Hektar großen botanischen Garten pflückte er sich Früchte und Beeren, aber es gab nicht viele, und er verdarb sich zudem den Magen damit.

In dieser Nacht, seiner vierten in Rio, schlief Frank auf einer Bank im botanischen Garten. Er zog seine Schuhe aus und stellte sie unter die Bank. Als er wieder aufwachte, waren sie gestohlen.

Frank vergrub sein Gesicht in den Händen.

»Mein Gott«, jammerte er. Gewissensbisse peinigten ihn. Heimlich verfluchte er seine Spielernatur.

Auf Strümpfen ging er zum deutschen Konsulat, stellte fest, daß es gerade an dem Tag geschlossen hatte und verbrachte eine weitere Nacht auf der Parkbank. Am folgenden Tag las ihm ein Konsulatsbeamter die Leviten.

»Das war äußerst leichtsinnig und unverantwortlich von Ihnen, sich so zu verhalten, Herr Richter. In welchem Spielclub waren Sie?«

»Ich habe mir den Namen nicht gemerkt. Ich würde ihn auch nicht wiederfinden.«

Frank wollte mit den Gangstern vom Spielclub keinen Ärger haben. Lieber hielt er den Mund.

»Wir werden Anzeige erstatten, der Fall muß von der Polizei untersucht werden«, sagte der Konsulatsangestellte. »Wir bezahlen Ihnen den Flug in die Heimat, Herr Richter. Allerdings ist der Betrag nur ein Darlehen, Sie müssen sich verpflichten, ihn zurückzuzahlen. Wann wollen Sie nach Deutschland fliegen?«

Siedendheiß fiel es Frank ein, daß er sich in Deutschland nicht mehr blicken lassen durfte. Das war die Abmachung mit dem Baron von Balsingen.

Wenn er sie brach, mußte er wegen seiner Unterschlagungen ins Ge­fängnis.

Einen Augenblick erwog er, zurückzufliegen, und sich der Polizei zu stellen. Aber sein Stolz siegte, lieber wollte er versuchen, sich in Brasilien durchzubeißen.

»Ich will hierbleiben und arbeiten«, sagte er zu dem Konsulatsangestellten, einen älteren Mann namens Nagels.

Nagels schüttelte den Kopf.

»Wie stellen Sie sich das vor? Was sind Sie? Bankkaufmann, na ja. Sie sprechen nicht mal Portugiesisch und Spanisch, die Sprachen, die in Südamerika am gebräuchlichsten sind. Wenn Sie Arzt oder Ingenieur wären, Herr Richter, oder wenigstens Facharbeiter, könnten Sie hier etwas anfangen. So nicht. Sie finden nicht mal bei der Müllabfuhr oder auf der Zuckerrohrplantage Arbeit, da gib es zu viel Einheimische. Warum wollen Sie eigentlich nicht nach Deutschland zu­rück? Haben Sie Schwierigkeiten gehabt?«

»Nein. Sie können sich erkundigen.«

»Das tun wir ohnehin. Mit Ihrem Touristenvisum können Sie bis zu acht Wochen im Land bleiben, Herr Richter. Eine längere Aufenthaltserlaubnis erhalten Sie von den brasilianischen Behörden nicht.«

Sie kamen überein, daß Frank zwei Tage in einem billigen Hotel übernachten sollte, das Konsulat würde es bezahlen. Nagels schrieb ihm eine Anweisung aus, damit er an der Kasse einen kleinen Betrag abholen konnte, um sich Schuhe zu kaufen und gab ihm Essengutscheine.

Im Hotel dachte Frank nach. Am Abend aß er am Personaltisch des deutschen Restaurants beim Konsulat. Dabei lernte er den aus Berlin stammenden Oberkellner Emil Letzel kennen und klagte ihm seine Notlage.

»Das Geld liegt hier nicht auf der Straße herum, Junge«, sagte der Oberkellner, »und zum Bananenpflücken und Kaffeebohnenzählen haben sie Neger. Aber tröste dich, wer Arbeit sucht, der findet sie. Und wenn du willst, werde ich dir was verschaffen. Vorerst kannst du hier Teller spülen.«

»Was, Geschirrspüler soll ich werden? Dazu bin ich eigentlich nicht nach Brasilien gekommen.«

»Was willst du? Mancher amerikanische Millionär hat so angefangen. Wenn du dir natürlich zu fein dafür bist, dann flieg’ über den großen Teich zurück und kein Wort mehr darüber.«

Frank fing noch am gleichen Abend mit dem Tellerspülen an. Schon zwei Tage später vermittelte ihn Emil an ein Hotel im Stadtteil Santa Teresa – als Portier.

»Fein siehst du aus, dumm bist du auch nicht. Damit kann man was anfangen.« Mit diesen Worten verabschiedete ihn der Oberkellner Emil Letzel. Weil er wußte, daß Frank durchs Spielen Schwierigkeiten gehabt hatte, fügte er hinzu: »Und geh mir ja nicht mehr zum Roulette, verstehste? Wenn du unbedingt spielen mußt, komm zum Skatdreschen zu mir – der Punkt einen Zehntelpfennig, mehr muß es nicht sein.«

Frank wäre dem guten Mann am liebsten um den Hals gefallen. Er schüttelte Emil die Hand. Auf der Busfahrt nach Santa Teresa, eingekeilt in der Menge auf der Plattform, dachte Frank an Deutschland und seine Schwester. Er wußte nicht einmal, wie der Baron von Balsingen wegen der unterschlagenen Summe mit ihr verblieben war.

Immerhin hatte Frank vom Konsulat nichts gehört, es konnte also keine Anzeige erstattet worden sein. Er empfand nagende Schuldgefühle und schwor sich, nie mehr zu spielen, nicht mal Skat, wie ihm Emil empfohlen hatte. Frank traute sich selbst nicht mehr, er konnte es sich nicht leisten, den Spielteufel in sich zu entfesseln.

Er mußte zuerst einmal versuchen, in Brasilien Fuß zu fassen. Was er als Portier verdiente, reichte allerdings gerade zum Leben. An Rückzahlung war vorerst nicht zu denken.

*

Der Sommer war vorbei. Die Wälder um Schloß Falkenau trugen die bunten Farben des Herbstes. Laub raschelte, und der Wind heulte. Gunter vergrub sich immer noch in seine Arbeit. Er ging nicht aus und empfing kaum Besuche von Freunde. Auf Schloß Falkenau wurde der Name Dr. Sandra Richter nicht mehr erwähnt.

Auch Alexander Karben und die wenigen anderen, die Gunter besuchten, sprachen nicht von der Ärztin. Der Fürst hatte abgenommen, er wirkte älter und ernster. Aber es trat auch ein neuer Wesenszug an ihm zutage, eine Sachlichkeit, die manchmal schon an Härte grenzte.

Fürstin Claudia konnte ihn nicht mehr um den Finger wickeln. Nach einer spitzen Bemerkung über seinen Mißgriff mit der nichtadeligen Geliebten, hatte Gunter das väterliche Schloß vier Wochen lang gemieden. Von da an unterließ Fürstin Claudia derlei Anspielungen.

Eines Sonntagnachmittags sa­ßen sie wieder auf der Schloßterrasse beim Tee. Gunter war schweigsam, wie fast immer in der letzten Zeit.

»Du hast mehrere Einladungen zur Herbstjagd erhalten, Gunter«, sagte die Fürstin. »Wie sieht es mit unserer eigenen Jagd aus? Ich kann sie nicht durchführen.«

Die Fuchs- und Treibjagd in den Forsten von Falkenau war ein gesellschaftliches Ereignis. Jedes Jahr traf sich hier der Hochadel. Gunter lächelte bitter.

»Denkst du schon wieder daran, mich zu verheiraten, Mutter?«

Zur Jagd gehörte ein glanzvoller Ball. Die Töchter des Hochadels gaben sich dabei ein Stelldichein.

Die Fürstin nippte an ihrem Tee.

»Ich finde, daß du eine Frau unseres Standes heiraten solltest. Wie lange willst du dich noch verkriechen, Gunter? Du hast eine herbe Enttäuschung erlitten und viel Kummer gehabt, aber die Zeit des Trauerns muß auch einmal vorbei sein. Es ist eine Binsenweisheit, aber sie stimmt: das Leben geht weiter.«

»Und Adel verpflichtet, wolltest du sicher hinzufügen.«

»Allerdings. Weil dich eine Frau betrogen hat, kannst du nicht alle verurteilen. Das Leben fordert auch oder gerade einem Fürsten allerhand ab. Du kannst dich nicht in einem Schmollwinkel verkriechen, schau nach vorn, nicht zurück. Du hast deine Erfahrungen gemacht, jetzt weißt du, wohin du gehörst.«

Fürstin Claudia sprach ohne Vorwurf.

Nach einer Weile sagte Gunter: »Du hast recht, Mutter. Wir werden die Herbstjagd nicht ausfallen lassen, heute noch lasse ich die Einladungen schreiben. Wie jedes Jahr: der Fürst und die Fürstin von und zu Falkenau geben sich die Ehre… Die Gäste werden kommen. Allerdings, wenn du bei mir mit einer baldigen Heirat rechnest, muß ich dich enttäuschen. Wie steht es übrigens zwischen dir und dem Baron von Balsingen? Er macht dir schon seit längerer Zeit den Hof.«

»Edgar hat seine angenehmen Seiten. Als Freund des Hauses schätze ich ihn sehr.«

»Und als Ehemann?«

»Warum bekümmert dich das so, Gunter? Der Fürstentitel bleibt dir auf jeden Fall. Falls es dich beruhigt, kann ich dir sagen, daß ich eine Heirat zumindest in der nächsten Zeit nicht erwäge. Die Rolle einer Großmutter wäre mir lieber und würde mir auch besser stehen.«

Gunter überhörte diese neue Anspielung. Er war erleichtert. Baron Edgar mißfiel ihm nach wie vor. Er hatte geradezu einen Abscheu vor ihm, vor seinen aalglatten Manieren und seiner Raffinesse. Auf Marion von Balsingen erstreckte sich diese Abneigung nicht.

Gunter fragte sich öfter, wie ein so nettes, natürliches Mädchen mit einem Menschen wie Baron Edgar verwandt sein und unter einem Dach leben konnte. Gunter stand auf.

»Du entschuldigst mich jetzt, Mutter, ich muß mich um die Einladungen kümmern.«

»Geh nur.«

Lächelnd schaute die Fürstin ihrem Sohn nach. Die Jagd und der Ball würden ihn schon auf andere Gedanken bringen. Es war auch Zeit, Marion wieder einmal einzuladen und mit Gunter zusammenzubringen.

*

Am 30. September endete San­dras Zeit als Assistenzärztin. Sie erhielt ausgezeichnete Beurteilungen.

»Wollen Sie weiter wie bisher in der Klinik arbeiten, sich als praktische Ärztin niederlassen oder Ihren Facharzt machen, Frau Kollegin?« fragte der Klinikchef Professor Rübsam.

Sandra war allseits beliebt. Die Kollegen hatten eine Feierstunde ausgerichtet, in der auch zahlreiche Krankenschwestern und ein paar Kinder von der Kinderstation teilnahmen.

»Zunächst möchte ich in der Main-Taunus-Klinik bleiben, Herr Professor«, antwortete Sandra. »Was meine medizinische Weiterbildung betrifft, habe ich privat etwas unternommen, um sie zu fördern.«

»Ach?«

»Ja. Ich bin leidenschaftliche Kinderärztin, das wissen Sie. Ich erwarte ein Kind. Es wird Anfang Februar zur Welt kommen.«

Der Professor staunte. Er schaute auf Sandras schlanke Gestalt im Arztkittel. Zu sehen war nichts. Sandra war etwas verlegen, aber sie hielt ihre Entscheidung für richtig, mit der Wahrheit hervorzutreten. Früher oder später mußten es doch alle erfahren.

Fast jeder im Aufenthaltsraum hatte es gehört. Dr. Stanitz, der blendend aussehende Chirurg, hob sein Sektglas, als Sandra an den Tisch zurückkehrte.

»Auf Ihr Wohl, Frau Kollegin, und auf das Kind! Hoffentlich wird es so hübsch wie die Mutter.«

Sandra trank einen kleinen Schluck Sekt. Wenn du wüßtest, dachte sie bei Dr. Stanitz’ Anblick, daß ich dich Gunter als Kindesvater angegeben habe…

Beinahe hätte sie sich an dem Sekt verschluckt, denn Dr. Stanitz fragte: »Wer ist denn der glückliche Vater? Werden Sie in absehbarer Zeit heiraten, Frau Dr. Richter?«

»Der Vater des Kindes lebt in Norddeutschland.« Die Lüge ging Sandra ganz glatt über die Lippen. »Ich werde nicht heiraten, weder ihn noch einen anderen.«

Oberschwester Monika, ein altgedienter Stationsdrachen, spitzte die Lippen.

Neugierig fragte sie: »Vor einigen Wochen stand in der Zeitung, Sie und Fürst Gunter von Falkenau hätten sich verlobt, Frau Dr. Richter. Wie verhält es sich damit?«

Gunter hatte nichts mehr von sich hören lassen seit jenem letzten Gespräch in Sandras Wohnung. Obwohl sie sich sagte, daß sie nichts anderes erwarten konnte, kränkte es Sandra.

»Der Fürst gab die Verlobungsanzeige voreilig auf«, antwortete sie auf die Frage der Oberschwester. »Wir waren lediglich – sehr gute Freunde.«

Sandras Herz schmerzte bei diesen Worten. Nachts lag sie oft wach und dachte an Gunter. Dann spürte sie die ersten Regungen des Kindes in ihrem Leib. Sie weinte nicht mehr. Schon seit einiger Zeit nicht. Sie fand sich mit ihrem Schicksal ab.

Sandra bezahlte jeden Monat siebenhundertfünfzig Mark an die Privatbank Möller und Cie, um die von ihrem Bruder unterschlagene Summe zu tilgen, und versuchte, hauptsächlich an das Kind zu denken.

Sandra sah jetzt jedoch, wie betroffen die Oberschwester war, es würde noch mehr Gerede in der Klinik geben. Ihre aufgelöste Verlobung mit dem Fürsten von Falkenau hatte eine ganze Zeitlang als Gesprächsstoff hergehalten. Was jetzt kam, war zweifellos noch ärger.

»Ich werde die Kinder auf die Station zurückbringen«, sagte San­dra. »Anschließend mache ich noch einmal Visite.«

Sie verabschiedete sich. Mit einer Krankenschwester zusammen führte sie die Kinder auf die Station. Die Runde im Aufenthaltsraum löste sich auf. Außer Sandra hatten noch eine weitere Ärztin und zwei Ärzte ihre Assistenzzeit beendet.

Professor Rübsam unterhielt sich mit dem Oberarzt von Sandras Station.

»Dann wird die Kollegin noch vor Jahresende in Mutterschaftsurlaub gehen«, stellte er fest. »Wir müssen uns nach einer Ersatzkraft umsehen.«

»Das wird schwierig sein«, antwortete der Oberarzt. »Dr. Richter ist kaum zu ersetzen. Trotz ihrer Schwangerschaft hat sie sich bisher nicht geschont und den Wochenend- und Nachtdienst geleistet. Sie hat sogar noch zusätzliche Dienstzeiten übernommen. Eine außerordentliche Frau…«

*

Marion von Balsingen stellte den Mantelkragen hoch, als sie aus dem Schloßtor trat. Die Bibliothek hatte gerade geschlossen. Der Wind pfiff, und es regnete. Sie hatte keinen Schirm dabei.

Die Strecke zur Villa ging sie immer zu Fuß.

Im ersten Moment erschrak Marion, als ein hochgewachsener Mann auf sie zutrat. Er hatte neben dem Baum an der Parkplatzeinfahrt gestanden, und sie hatte ihn nicht bemerkt.

»Darf ich dir meinen Schirm anbieten?«

»Alexander!« rief sie. »Nur zu gern! Ich fürchtete schon, ich würde wie eine gebadete Katze nach Hause kommen. Bist du mit dem Wagen da?«

»Auf allen vier Rädern, jawohl.« Er reichte ihr einen Blumenstrauß. »Hier, ein kleines Mitbringsel.«

Auf dem Weg zum Wagen öffnete Marion das Papier. Alexander Karben hatte ihr 15 Baccararosen geschenkt. Wochenlang hatte er nach jenem Mittagessen im Waldrestaurant angerufen und Blumen geschickt. Marion hatte zum Schluß nicht mehr reagiert, im letzten Monat hatte sie nichts mehr von ihm gehört.

Sie überlegte sich, ob es besser wäre, ohne Alexander und seinen Schirm weiterzugehen. Aber dann wäre sie naß geworden. Außerdem konnte sie vernünftig mit ihm reden. Es gefiel Marion, daß der Schauspieler sie umwarb, neben Fürst Gunter verblaßte er allerdings.

Marion stieg in Alexanders Sportwagen ein.

Im Nu waren sie bei der Villa. Alexander nieste, als der Wagen in der Auffahrt hielt. Das Garagentor stand offen, die Garage war leer. Baron Edgar war also fort.

»Ich habe mir nasse Füße geholt, als ich auf dich wartete«, sagte Alexander. »Womöglich erkälte ich mich.«

Marion durchschaute den Trick. Das Niesen hatte nicht sehr echt geklungen.

»Dann muß ich dich wohl zu einem Grog einladen. Sonst fällst du am Ende noch für mehrere Vorstellungen aus. Du hast mit deiner Rolle in dem Büchner-Stück großen Erfolg, Alexander. Ich habe vor drei Wochen in Frankfurt eine Vorstellung besucht. Sie hat mir sehr gefallen.«

»Warum hast du mich nach der Vorstellung nicht aufgesucht?«

Marion beantwortete die Frage nicht. Sie gingen ins Haus, wo sie die Rosen in eine Vase stellte. Marion bot Alexander in ihrem Zimmer im Obergeschoß den Grog an. Sie selbst trank Kaffee.

»Ah, das tut gut.« Der Grog wärmte Alexanders Magen. »Stehst du mir immer noch gleichgültig gegenüber, Marion?«

»Nein, Alexander, ich mag dich. Wir können Freunde sein, aber nichts anderes. Muß es denn zwischen Männern und Frauen immer nur Sex und Liebe geben? Eine Freundschaft kann viel schöner sein.«

»Ab siebzig Jahren, sicherlich. Marion, du weißt, was ich für dich empfinde. Bitte, spiel nicht mit mir! Bist du noch immer in Gunter verliebt, diesen Einsiedler von Schloß Falkenau? Das ist er geworden, seit er die Enttäuschung mit Sandra erlebte.«

»Darüber möchte ich nicht mit dir reden, Alexander. Vielen Dank für die Rosen. Aber schenk mir nächstens bitte keine roten mehr.«

»Andere Rosen kann ich dir nicht geben. Übrigens, stell dir vor, Sandra Richter erwartet ein Kind.«

»Woher weißt du das?«

Es stellte sich heraus, daß Alexander es auf Umwegen erfahren hatte.

»Merkwürdig«, sagte der Schauspieler. »Ich habe Sandra drei- oder viermal getroffen und gewann einen sehr guten Eindruck von ihr. Sie hält den Namen des Kindesvaters geheim, hörte ich. Ob es wohl Gunter ist?«

»Nein. Daran ist die Verlobung gescheitert.«

Alexander war entsetzt.

»Wie konnte sie ihm das antun? Es ist mir unbegreiflich. Ich hätte so etwas nie von Sandra erwartet. Sie hat Gunter betrogen, und während der Zeit, in der sie mit ihm zusammen war, noch mit einem anderen Mann ein Verhältnis gehabt? Das ist unerhört.«

»Für dich als Schauspieler sollte ein Dreiecksverhältnis doch nichts Neues sein.«

»Viele Menschen haben eine ganz falsche Vorstellung vom Künstlerleben. Ich persönlich halte sehr viel von Treue, wenn ich eine Frau wirklich liebe. Es kommt immer auf den Menschen selbst an. Wenn Gunter nicht der Vater von Sandras Kind ist, wer ist es dann?«

»Frag sie doch, vielleicht sagt sie es dir.«

Marion mochte die Ärztin nicht, manchmal glaubte sie, daß sie sie haßte. Sie plauderte noch eine Weile mit Alexander. Seine Einladung, mit ihm auszugehen, verschob sie auf unbestimmte Zeit.

Nachdem sich Alexander verabschiedet hatte, saß er niedergeschlagen in seinem Sportwagen. Er hätte viele Frauen haben können, aber er konnte nur noch an Marion denken. Gerade ihre Zurückhaltung reizte ihn.

Ich muß sie für mich gewinnen, dachte er, koste es, was es wolle. Er gab Gas und fuhr nach Frankfurt zurück, wo er im Hotel wohnte. Am nächsten Tag suchte er Gunter auf und erwähnte bei ihm Sandras Schwangerschaft.

Gunters Gesicht versteinerte.

»Wenn du mein Freund bleiben willst, schweig darüber«, sagte er. »Ich kenne diese Frau nicht mehr und mag nichts von ihr wissen.«

In diesen Worten lag alles, was es zu sagen gab.

*

Sandra wurde nun in der Klinik Anfeindungen ausgesetzt. Es gab Getuschel hinter ihrem Rücken. Sogar von einem Ministerium des Landes, das Träger der Klinik war, wendete man sich an den Chefarzt. Das geschah auf Betreiben von Fürstin Claudia. Sie empfand Sandras Verhalten als eine Kränkung des Hauses Falkenau. Die Fürstin versuchte, sich auf diese Weise zu rächen, Sandra sollte für das bestraft werden, was sie ihrem Sohn angetan hatte.

Die Anwürfe scheiterten an Professor Rübsam. Mit sechzig Jahren war der Professor, der selber sechs erwachsene Kinder hatte, geneigt, von den Menschen nicht zuviel zu erwarten.

Er schrieb in seinem Brief an das Ministerium:

Ich bin kein Moraltheologe, sondern Mediziner. Dr. Sandra Richter hat ausgezeichnete fachliche Qualitäten, ihre Arbeit und ihr Einsatz in der Klinik sind beispielhaft. Eine Schwangerschaft sehe ich als natürliche Entwicklung an, die im Leben einer jungen Frau durchaus eintreten kann. Die privaten Verhältnisse meiner Mitarbeiter haben weder ich noch das Ministerium zu regeln, solange sie nicht den Ablauf der Klinik stören.

Hochachtungsvoll, Professor Rüb­sam.

Später bat er Sandra in sein Büro. Es war kurz vor Weihnachten, und Sandra wollte nun ihren Mutterschaftsurlaub antreten.

Sandra trug ein schickes Umstandskleid. Ihre Augen strahlten, das glänzende dunkle Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefaßt. Ihr Gesicht war schöner denn je. Professor Rübsam erkundigte sich nach ihrem Befinden.

»Ich fühle mich ausgezeichnet«, antwortete Sandra. »Und ich freue mich auf das Kind.«

Gunter hatte sie zwar verloren, aber das Kind konnte ihr niemand nehmen. Es war ihr Kind, und sie wollte dafür sorgen, daß es nichts entbehren mußte. Auch andere Frauen brachten Kinder zur Welt, ohne verheiratet zu sein, und sie als Ärztin stand sich besser als die meisten ledigen Mütter.

»Sie werden das Kind hier in der Klinik zur Welt bringen?«

»Selbstverständlich. Ich wüßte keinen besseren Ort.«

Der Professor schüttelte ihr die Hand.

»Dann wünsche ich Ihnen alles Gute, Frau Kollegin. Wir sehen uns wieder. Sie können auf meine Unterstützung rechnen, soweit es mir möglich ist.«

»Vielen Dank, Herr Professor.«

Auf dem Flur begegnete Sandra Dr. Stanitz. Sie unterhielten sich eine Weile. »Falls ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, lassen Sie es mich wissen«, sagte der Chirurg. »Darf ich Sie einmal besuchen?«

»Liegt Ihnen soviel an mir?«

»Ich schätze Sie als Mensch. Ich muß nicht mit jeder hübschen Frau etwas anfangen, auch wenn man mir das nachredet. Außerdem mag ich Kinder, sie sind der bessere Teil der Menschheit. Wenn ich mich endlich mal auf eine Frau festlegen könnte, hätte ich gern mehrere Kinder.«

Dr. Stanitz war ein Schwerenöter, aber er hatte Herz. Wer seine sonstige flapsige Redeweise kannte, hätte das nicht erwartet. Sandra erhielt, als sie ihre persönlichen Dinge zusammenpackte, ein Weihnachtsgeschenk vom Pflegepersonal und den Kollegen im voraus. Kinder von der Station brachten ihr einen Blumenstrauß und sangen ein Lied.

Gerührt verließ Sandra die Klinik. Die Pförtner trug ihre umfangreiche Ledertasche. Er öffnete ihr die Autotür.

»Alles Gute, Frau Doktor, und fröhliche Weihnachten.«

Sandra fürchtete, daß es recht einsame Festtage werden würden. Der erste Schnee fiel, als sie zu ihrer Wohnung fuhr. Gunters Bild stand nicht mehr auf dem Side­board. Sie hatte es in die Schublade gelegt. Nur manchmal holte sie es hervor. Dann brannten Tränen in ihren Augen. Aber sie verdrängte sie energisch.

Weihnachten wurde dann keineswegs einsam. Sandra verbrachte die Feiertage bei ihrer Freundin Ga­brie­le Anders, einer Studienreferendarin, und deren Freund und Lebensgefährten Holger Stuhlmann. Holger arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an einem Institut in Frankfurt und bereitete sich auf die Doktorarbeit vor.

Er und Gabi Anders engagierten sich sehr für den Umweltschutz. Holger redete öfter davon, ein Bauernhaus im Taunus zu kaufen und zum einfachen Leben in der Natur zurückzukehren.

Gabi hatte sehr moderne Ansichten. Sie hielt viel von Emanzipation und fand es gut, daß Sandra ihr Kind vaterlos aufziehen wollte.

»Von den Männern kommt alles Unheil in dieser Welt«, sagte Gabi, als sie am Tag vor Heiligabend in der Altbauwohnung am Kamin saßen. »Technologisches Denken und die Überbetonung des Verstandes sind die Grundübel. Hast du dem etwas entgegenzusetzen, Holger?«

»Ja, bitte: Zwei Stück Zucker, wie üblich.«

»Bitte?«

Der kahlköpfige Holger schaute von seinem Buch über alternative Anbaumethoden in der Landwirtschaft auf, in das er vertieft gewesen war.

»Ich dachte, du hättest mir Kaffee angeboten, Gabi? Was wolltest du wissen?«

»Nichts, du bist wieder geistesabwesend, wie üblich. Koch dir deinen Kaffee doch selber. Nein, warte, ich lasse welchen durchlaufen. Du nimmst Kakao, Sandra?«

Sandra nickte. Am Heiligabend stand bei Holger und Gabi kein Weihnachtsbaum in der Stube.

»Wir wollen dem Waldsterben nicht noch Vorschub leisten«, sagte Gabi. »Der saure Regen ist schlimm genug.«

Eine ganze Schar junger Leute, darunter viele Studenten, kamen zusammen. Es wurde viel diskutiert, und Zeit zum Grübeln blieb nicht.

Nach den Feiertagen kehrte San­dra in ihre Wohnung zurück. Die letzten Schwangerschaftswochen wurden ihr immer beschwerlicher.

Vier Wochen vor dem errechneten Geburtstermin spürte sie, wie sich das Kind in ihrem Leib senkte. Die letzten Tage der Schwangerschaft näherten sich.

Sandra war zuversichtlich und versuchte, immer seltener an Gunter zu denken.

*

Wegen der Herbstjagd und dem Ball hatte Gunter Befürchtungen gehabt. Aber es zeigte sich, daß er mit anzüglichen Bemerkungen verschont blieb. Auch beim Adel gab es Scheidungen, Affären und unglückliche Ehen. Gunters Pech erzeugte keine Riesensensation. Nur ihm selbst war das Ende seiner Liebe entsetzlich erschienen.

Er stellte fest, daß seine Mutter recht hatte: Das Leben ging weiter. An einem gebrochenen Herzen starben nur sehr wenige, die übrigen lebten damit und entwickelten eine neue Lebenseinstellung. Die beste Heilwirkung ging von der Zeit aus.

Nach dem Ball zeigte sich Gunter wieder gelegentlich bei gesellschaftlichen Anlässen. Er traf Marion von Balsingen ein paarmal und war freundlich und förmlich. Die Weihnachtsfeiertage wollte Gunter im Schloß verbringen, bisher war er im Wohnhaus bei der Porzellanmanufaktur geblieben.

Um Weihnachten herum wurde ihm immer melancholischer zumute. Er dachte an Sandra. Heilig­abend hielt es Gunter nicht länger aus. Er versuchte, Sandra telefonisch zu erreichen. Es gelang nicht, niemand nahm ab.

Der Weihnachtsbaum im Schloß reichte bis unter die Decke des Ahnensaals und strahlte im Lichterglanz. Zum Weihnachtsempfang erschienen auch Baron Edgar und Marion von Balsingen. Fürstin Claudia repräsentierte und war ganz in ihrem Element.

Zwischen den Jahren fuhr Gunter zu Sandra nach Wiesbaden. Er schimpfte sich einen Schwächling deswegen, aber es trieb ihn hin. Er wollte sie sehen und mit ihr reden. Was er sich eigentlich davon erwartete, wußte er nicht.

Er parkte seinen Wagen in der Nähe des Hauses, in dem sie wohnte, und ging im Schneegestöber an der Haustür vorbei. In Sandras Wohnung brannte Licht, sie war also zu Hause. Gunter zögerte, zu klingeln. Er wartete auf der andern Straßenseite, um einen Entschluß zu fassen.

Da sah er einen Wagen vor dem Haus halten und jemanden aussteigen. Es war Dr. René Stanitz. Gunter kannte ihn von seinem Krankenhausaufenthalt wegen der Unterschenkelfraktur zu Anfang des Jahres. Gunters Herz krampfte sich zusammen. Dr. Stanitz klingelte, wo, das konnte Gunter sich denken, und verschwand im Haus.

Der Fürst fuhr wieder weg. Am nächsten Tag lud er Marion zum Silvesterball im Wiesbadener Schloß ein. Auch Dr. Stanitz war dort, mit seinem neuesten Schwarm, einer blonden Fabrikantentochter. Es hieß, daß er sich mit ihr verloben wollte.

In einer Tanzpause geschah es, daß Gunter und Marion neben Dr. Stanitz und seiner Begleiterin auf dem Parkett standen. Der Chirurg grüßte freundlich.

»Ich bin sehr erfreut, Sie zu sehen, Durchlaucht.« Er blickte auf Gunters Bein, hatte damals ausgesehen, als ob eine Operation erforderlich sei, das war dann aber doch nicht der Fall gewesen. »Sie haben keine Beschwerden mehr?«

Das Blut wich aus Gunters Gesicht. Brüsk drehte er sich um und führte Marion einige Schritte weit weg. Er drehte Dr. Stanitz betont den Rücken zu.

»Was hat er denn?« fragte die Fabrikantentochter leise, als der nächste Walzer begonnen hatte.

»Keine Ahnung, eine fürstliche Laune vermutlich«, antwortete Dr. Stanitz, der den Vorfall weiter nicht tragisch nahm. »Er ist eben ein eingebildeter adliger Snob.«

Auch Marion wunderte sich. »Wer war das? Warum hast du ihn geschnitten?« fragte sie.

Gunter nannte den Namen des Arztes.

»Mit einem solchen Charakterlumpen verkehre ich nicht. Er tanzt hier mit einer Millionenerbin und amüsiert sich, während eine andere Frau von ihm schwanger ist.«

Marion dachte sich ihr Teil, wer diese andere Frau sei. Sie schwieg dazu. Sie glaubte, jetzt den Vater von Sandras Kind zu kennen. Von ihr erfuhr es in einem vertraulichen Gespräch Baron Edgar.

Gunter fuhr Anfang des Jahres mit Alexander Karben zu einem längeren Winterurlaub nach Gstaad. Er hoffte, sich nicht gleich wieder ein Bein zu brechen. Vom Wintersport und dem Après-Ski versprach sich Gunter wohltuende Ablenkung.

*

Am dritten Februar kam Sandras Kind zur Welt, fast genau zum errechneten Termin. Holger Stuhlmann fuhr sie in die Klinik.

Mittags war sie in der Klinik angekommen, und um acht Uhr abends hielt ihr der Oberarzt das kleine schreiende Bündel entgegen. Sandra sah es wie durch einen Nebel.

Es war ein Mädchen, und Sandra vergaß, daß sie sich jemals einen Sohn gewünscht hatte. Sie war selig. Behutsam strich sie über den blonden feuchten Haarflaum ihrer Tochter.

»Gratuliere, Frau Kollegin«, sagte der Oberarzt. »Das Kind ist 3500 Gramm schwer und 51 Zentimeter groß. Haben Sie schon einen Namen ausgesucht?«

»Bettina Nicole.«

Eine Krankenschwester fuhr San­dra ins Zwei-Bett-Zimmer auf der Entbindungsstation. Die kleine Bettina kam auf die Säuglingsstation. Sobald es möglich war, drängten sich die Ärzte, Pfleger und Schwestern vor der Sichtscheibe, allen voran Professor Rübsam.

Dr. Stanitz trank mit dem Oberarzt der Frauenstation einen Kognak.

»Das ist ein Prachtkind.« Er strahlte. »Da könnte man direkt Lust kriegen, selber Vater zu werden.«

»Dem steht nichts im Weg, Herr Kollege. Sie üben ja wohl schon ziemlich lange.«

Auch die streng katholische Oberschwester Monika betrachtete ge­rührt das Kind. »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein«, murmelte sie auf dem Rückweg zur ihrer Station. »So steht es in der Bibel. Ohne Vater, hmhm, na ja. Meine Angelegenheit ist es nicht, ich will in Zukunft darüber schweigen. Jeder sollte vor seiner eigenen Tür kehren, hmhm, na ja.«

Gabi Anders und Holger Stuhlmann besuchten die junge Mutter im Krankenhaus. Sandra sollte ein paar Tage in der Klinik bleiben und sich erholen. In der ersten Zeit nach ihrer Entlassung wollte Gabi zu ihr ziehen und ihr helfen.

»Es ist solch ein schönes Kind«, schwärmte Gabi. »Einfach goldig.«

»Mir ist es arg faltig vorgekommen«, sagte der außerhalb seines Fachbereichs ziemlich unbedarfte Holger. »Ist das bei Neugeborenen eigentlich normal?«

»Was glaubst denn du, wie du zur Welt gekommen bist?« Gabi war entrüstet. »Männer haben überhaupt keine Ahnung.«

Die Zuwendung, die sie empfing, tröstete Sandra etwas darüber hinweg, daß Gunter von Falkenau nicht erschien, um seine Tochter

zu sehen. Allerdings wußte er ja nicht einmal, daß er eine Tochter hatte…

Am Tag, bevor Sandra die Klinik verließ, erhielt sie Besuch von Dr. Stanitz. Da sie allein im Zimmer war, konnte er offen sprechen.

»Wer ist denn nun der Vater des Kindes? Mir kannst du es sagen. Es bleibt unter uns.«

Sie waren sich in der letzten Zeit nähergekommen. Sandra schüttelte den Kopf.

»Das werde ich mich für behalten. Ich habe meine Gründe dafür. Meine Freundin hat auf dem Standesamt, als sie die Geburt anmeldete, angegeben: Vater unbekannt. So steht es in der Geburtsurkunde.«

»Vater unbekannt, wie das klingt! Warum willst du den Namen dieses Mannes verschweigen, San­dra? Möchtest du ihm Unannehmlichkeiten ersparen? Dann wäre das eine Rücksichtnahme, die leicht auf Kosten deines Kindes gehen kann. Stell dir vor, dir stößt etwas zu, was wir nicht hoffen wollen. Dann könnten die Behörden sich immerhin noch an den Vater des Kindes wenden, oder vielleicht würde er etwas unternehmen. Außerdem stehen dem Kind, falls du sie nicht beanspruchst, Alimente zu und später sein väterliches Erbteil.«

»Das ist alles uninteressant für mich. Ich kann allein für mein Kind sorgen. Mir wird schon nichts passieren, man muß nicht immer das Schlimmste annehmen.«

»Oder handelst du aus verletztem Stolz so, Sandra? Das würde ich noch eher glauben. Bist du gekränkt, weil dieser Mann dich verstieß, als er von der Schwangerschaft erfuhr, vielleicht sogar eine Abtreibung von dir verlangte? Ist das der Grund?«

»Bitte, René, geh jetzt. Ich will nicht mit dir darüber sprechen.«

»Wie du meinst. Es ist dein Kind, ich werde mich nicht mehr in deine Angelegenheiten mischen.«

Die Tür schloß sich hinter Dr. Stanitz. Er hatte bei Sandra eine Wunde aufgerissen. Die Wunde schmerzte noch immer.

Eine Woche nach der Entbindung kehrte sie nach Hause zurück. Gabi und Holger hatten alles vorbereitet, über der Wohnungstür hing ein großes Schild. »Herzlich willkommen ihr beiden«. Mehrere Freunde erschienen und Sandras Nachbarn. Das Kind wurde gebührend bewundert.«

»Ist die winzig!« Der Nachbar, ein Hüne von einem Mann, staunte. »Wenn ich ihre Händchen mit meinen Pranken vergleiche, wird mir ganz anders.«

Er spielte mit Bettinas Händchen und stutzte.

»Was ist denn mit ihren kleinen Fingern?«

Sandra war das schon längst aufgefallen. Die beiden kleinen Finger des Babies waren krumm, das oberste Glied bog sich etwas nach innen.

»Das ist ein Geburtsmerkmal«, sagte Sandra. »Man kann es später richten lassen, falls es die Kleine behindert. Jetzt ist es noch viel zu früh dafür.«

»So etwas hängt mit Vererbung zusammen«, stellte Gabi fest. »Hat jemand in deiner Familie solche Finger, Sandra?«

»Nein.«

Sandra wollte sich nicht weiter dazu äußern. Sie wußte, daß Gunter dieses Merkmal hatte, sie hatte ihn darauf angesprochen.

»Oh«, hatte er ihr geantwortet, »diese Finger hat in unserer Familie jeweils das älteste Kind, schon seit dem 17. Jahrhundert ist das so. Warum, das weiß ich nicht. Mich stört die Verkrümmung nicht, ich kann damit ohne Schwierigkeiten Schreibmaschine schreiben und Klavier spielen. Letzteres mehr schlecht als recht, aber das hängt nicht mit meinen kleinen Fingern zusammen.«

Gabi verkniff sich eine Bemerkung über die väterliche Seite des Kindes oder eine Frage danach. Sandra war erleichtert, als die Freunde und die Nachbarn wieder gingen.

Und Sandra war dankbar dafür, daß Gabi in der ersten Zeit bei ihr wohnte und ihr half. Holger beschwerte sich mit keinem Wort darüber. Er führte in Frankfurt ein Strohwitwerdasein, war allerdings nach Dienstschluß mehr in Wiesbaden »bei den drei Frauen«, wie er es nannte, als in seiner und Gabis Wohnung.

Drei Wochen nach Sandras und Bettinas Ankunft aus der Klinik kehrte Gabi in ihre Wohnung zu­rück. Sandra war jetzt, von gelegentlicher Hilfe der Nachbarn abgesehen, auf sich allein gestellt.

Sie bereute ihre Entscheidung keinen Augenblick.

*

Gunter erfuhr durch sogenannte gute Freunde von der Geburt des Kindes, als es noch keine drei Tage alt war. Er hörte die Nachricht durchs Telefon in seinem Büro in der Porzellanmanufaktur.

Gunter merkte, wie der Anrufer auf seine Reaktion lauerte. Er atmete tief durch und zwang sich, seine Stimme gleichgültig klingen zu lassen.

»Ich bin sehr beschäftigt, mein Lieber, warum sagst du mir das? Was gehen mich anderer Leute Kinder an?«

»Ich dachte, es würde dich interessieren. Schließlich stand eine Verlobungsanzeige von dir und Frau Dr. Richter in der Zeitung.«

»Das ist lange her. Ich habe zu tun. Auf Wiederhören.«

Gunter legte auf, er kehrte aber nicht gleich ins Konferenzzimmer zurück. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. Der Schmerz in seinem Innern meldete sich unvermittelt, dabei hatte Gunter geglaubt, ihn schon überwunden zu haben.

Plötzlich stand das alles wieder so lebhaft vor ihm: Wie er Sandra kennengelernt hatte, als er mit gebrochenem Bein in der Klinik lag. Sie hatte blendend ausgesehen. Er erinnerte sich an das erste Rendezvous, damals war er noch an Krücken gehumpelt. Dann an die erste Liebesnacht…

Er dachte an die Stunden, in denen sie glücklich gewesen waren, an Kosenamen, die sie sich gaben und die gemeinsamen Zukunftspläne… An den Waldspaziergang, bei dem ihm Sandra gestand, daß sie schwanger war. Sie hat mich schändlich betrogen und hintergangen, dachte er, ich will keinen Gedanken mehr an sie verschwenden.

Energisch drückte er die Zigarette aus.

Am Abend fuhr er zu Alexander Karben nach Frankfurt und nach der Vorstellung besuchten sie ein Jazzlokal. Gunter und Alexander hatten beide eine Vorliebe für guten Jazz. Gunter merkte Alexander an, daß er über die Geburt von Sandras Kind Bescheid wußte.

Aber der Schauspieler sprach nicht darüber. An der Bar des Hotels, in dem Alexander wohnte, nahmen sie noch einen Drink.

»Ich habe heute erfahren, daß Sandra eine Tochter hat«, sagte Gunter. »Nun ja, warum nicht. Ich erwäge, mich in absehbarer Zeit zu verloben.«

»Wer ist die Glückliche?«

»Marion von Balsingen.«

Das war für Alexander ein Treffer, der ihn zum Schweigen brachte.

*

Die Regenzeit hatte begonnen. In diesem Jahr war sie besonders heftig. Señora Pereiras Zustand hatte sich derart verschlechtert, daß ihr Mann mit ihr nach Brasilia in die modernste Klinik des Landes fliegen mußte. Eine Operation sollte ihr helfen, nachdem alles andere versagt hatte.

Die älteste Tochter der Pereiras begleitete ihre Eltern. Rosangela und die siebzehnjährige Elvira blieben in Rio. Elvira besuchte noch das Lyzeum und hatte vom Hotelbetrieb kaum Ahnung. Rosangela war dem nicht gewachsen, deshalb lag die Hauptlast der Verantwortung auf Franks Schultern. Denn Joao konnte man nicht trauen, Jorge war zu dumm, um den Hotelbetrieb zu leiten, und Ernesto trank.

Zunächst klappte alles recht gut. Bis die Regenfälle sintflutartige Ausmaße annahmen. Ganze Hügelhänge wurden abgeschwemmt, die Kanalisation schaffte die Wassermassen nicht mehr und verstopfte.

Die tiefer gelegenen Stadtviertel von Rio standen unter Wasser. Durch ihre Straßen wälzte sich eine trübe, stinkende Brühe. Im Hotel »Bela Vista« gelangte man nur noch mit Gummistiefeln durch die Halle. Die Zimmer im Erdgeschoß waren unbewohnbar. Selbst im am Hang gelegenen Haus der Pereiras stiegen die Abwässer aus der Hauptleitung.

Frank arbeitete Tag und Nacht, um der Katastrophe Herr zu werden. Als der Regen endlich aufhörte, mußte das Wasser aus den Kellern gepumpt werden. Das Hotelpersonal mußte die Armeetruppe in diesem Revier unterstützen.

Die Soldaten fackelten nicht. Ein übermüdeter Sachverständiger erklärte das Hotel »Bela Vista« zur einsturzgefährdeten Ruine. Die Soldaten wollten abreißen oder sprengen. Frank und Rosangela fanden mit viel Mühe einen Regierungsbaumeister, dessen Wort mehr galt. Er erschien an Ort und Stelle und sprach dem Sachverständigen jede Fachkenntnis ab. Er erklärte das »Bela Vista« für standfest.

Er schrieb ein entsprechendes Gutachten, Frank lief damit zu den verantwortlichen Stellen. Das Hotel war gerettet.

Als Señor Pereira aus Brasilien zurückkehrte – seine Frau hatte die Herzoperation gut überstanden –, erlebte er eine angenehme Überraschung.

Das Hotel war bis auf den letzten verfügbaren Platz belegt, auch mit den durch die Regenfälle obdachlos gewordenen Menschen. Der Hotelbesitzer umarmte Frank und seine Tochter. Es fiel ihm auf, daß aus Rosangela und dem Alemán ein Paar geworden war. Doch er hatte nichts dagegen einzuwenden.

»Mutter wird in vier bis sechs Wochen zurückkehren«, sagte er. »Solange muß sie noch in Brasilia in der Klinik bleiben. Sie wird wieder gesund. Die geglückte Operation und die Tatsache, daß unser Hotel noch steht, sind die beiden schönsten Ereignisse meines Lebens.«

»Vielleicht gibt es bald noch etwas Schönes zu feiern, Vater.«

Rosangela schaute Frank verliebt an. Er fühlte sich etwas unbehaglich, denn er dachte an den Scherbenhaufen, den er in Deutschland zurückgelassen hatte. Seiner Schwester hatte er bisher nur zwei Postkarten geschickt, knappe Lebenszeichen, die nichts weiter verrieten, weil er sich geschämt hatte, mehr zu schreiben.

Er wußte noch nicht, wie er sich in Zukunft verhalten sollte.

*

Die Überschwemmung hatte noch eine Nebenwirkung. Joao war gleich am ersten Tag, als das Wasser stieg und in Rio der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, einer Polizeistreife in die Arme gelaufen, die nach Plünderern Ausschau hielt. Er war durch sein Benehmen aufgefallen.

Die Polizisten hatten ihn durchsucht und Rauschgift in seinen Taschen gefunden. Er hatte es aus einem Versteck vor dem Wasser geborgen. Der Rauschgifthandel, von dem im Hotel niemand etwas gewußt hatte, brachte Joao hinter Gitter.

Für die nächsten Jahre würde er nicht ins »Bela Vista« zurückkehren. Damit war Frank seinen Erzfeind los. Das Glück lächelte ihm endlich wieder. Nicht am Spieltisch! Dort wollte er es auch nie mehr suchen.

Deutschland war weit. Rosangela bezauberte Frank völlig, er verbannte alle anderen Gedanken. Davon, daß in Deutschland seine Nichte Bettina Nicole zur Welt kam, hatte er keine Ahnung.

*

Gunter und Marion ritten durch den Wald. Die Bäume und Felder waren noch kahl. Doch der Frühling meldete sich schon an. Die Sonne strahlte.

»An der Bergstraße soll es nächste Woche zu blühen beginnen«, sagte Marion. »Dann kommt der Frühling auch zu uns.«

Gunter nickte. Es fiel ihm schwer, einen Anfang zu finden. Schließlich zügelte er sein Pferd.

»Bitte, halt an, Marion. Ich möchte mit dir sprechen.«

Die Baronesse wendete die braune Stute. Im Reitkostüm sah Marion schöner denn je aus. Der frische Windhauch hatte ihre Wangen gerötet. Ihr schwarzes Haar war etwas wirr. Ihre Augen leuchteten.

»Ja, Gunter?«

Der Fürst blickte verlegen zu Boden. Endlich sah er Marion in die Augen. Sein männlich-schönes Gesicht gefiel ihr, und in seinen dunkelblauen Augen bemerkte sie Ruhe und innere Stärke. Fürst Gunter hatte schwer gelitten, sein Lebensmut war dadurch aber nicht gebrochen. Er war gereift und erwachsen geworden.

»Du weißt, daß ich eine schlimme Enttäuschung erlebt habe. Wir wollen nicht über die Einzelheiten reden. Es ist vorbei. Marion, wir kennen uns schon lange. Wir wissen, was wir voneinander zu halten haben. Ich empfinde eine tiefe Zuneigung für dich, und ich hoffe, daß sich meine Gefühl für dich mit der Zeit noch vertiefen werden.«

Die Baronesse schwieg. Sie lä­chelte nur ein wenig. Die Reitpeitsche in ihrer Hand wippte.

»Marion, willst du meine Frau werden? Die Fürstin von und zu Falkenau?«

Marion zögerte, obwohl sie diese Frage immer so glühend herbeigesehnt hatte.

»Liebst du mich denn, Gunter? Mich als Mensch, meine ich, oder bist du nur der Meinung, daß du dir eine Frau nehmen solltest, und ich bin zufällig dafür am besten geeignet…?«

»Ich habe dir die Wahrheit über meine Gefühle gesagt, Marion. Liebe ist nur ein Wort. Es wird oft mißbraucht. Unter dem Deckmantel der Liebe geschehen Ungerechtigkeiten und sogar Verbrechen. Ich habe dich sehr gern, als Frau und als Menschen.«

Da beugte sich Marion herüber und küßte ihn auf den Mund.

»Ich liebe dich, Gunter, mehr als alles andere auf der Welt. Wie lange habe ich mich danach gesehnt, daß du mir einen Antrag machen würdest. Ja, ich will deine Frau werden, ja, ja, und tausendmal ja.«

Sie küßten sich lange.

Später sagte Marion: »Dein Glück geht mir über alles andere.«

Die Verlobung sollte Mitte April stattfinden, zu Marions vierundzwanzigstem Geburtstag. Das würde ihr schönstes Geschenk sein.

Nach der Rückkehr ins Schloß hielt Gunter in aller Form bei Baron Edgar um Marions Hand an. Der Baron erhob sich, er hatte mit der Fürstin im Saal am Kamin gesessen.

Er heuchelte: »Welch eine Überraschung, Fürst Gunter!«

Dann sprach er über die Verantwortung, die er als Marions Vormund noch immer hatte. Sie war zwar volljährig, aber nach dem Familiengesetz der von Balsingens war Baron Edgar das Familienoberhaupt. Ihm oblag bis zu ihrer Verheiratung die Verwaltung von Marions Vermögen.

Er strich die Vorzüge seiner Nichte heraus und erwähnte die ruhmreiche Vergangenheit ihrer Familie. Selbst Fürstin Claudia dauerte es zu lange. Marion hielt Gunters Hand.

Überflüssigerweise fragte der Baron: »Du hast mit Marion schon gesprochen, Gunter?«

»Selbstverständlich.«

»Dann gebe ich meine Zustimmung zu dieser Verbindung – und meinen Segen. Werdet glücklich, Kinder.«

Fürstin Claudia küßte Marion auf beide Wangen.

»Ich freue mich, dich als Schwiegertochter zu bekommen. Du wirst eine würdige Fürstin von Falkenau sein. Ihr wollt doch im Schloß wohnen wie alle Falkenaus vor euch?«

»Ja«, antworteten Marion und Gunter gleichzeitig.

»Darauf wollen wir anstoßen«, sagte die Fürstin. »Marthe soll Champagner bringen.«

Sie zog an der Klingelschnur. So erfuhr Marthe als erste von den Außenstehenden die Neuigkeit. Die Freudentränen rannen ihr über die Wangen. Ehe Marion es verhindern konnte, küßte sie ihr die Hand.

»Ich freue mich so«, stammelte sie. »Unser Fürst verlobt sich und heiratet. Das ist das Erfreulichste, was ich in den letzten zehn Jahren gehört habe. Eine besser Wahl hätte Fürst Gunter nicht treffen können.«

Sie eilte hinaus wie beflügelt und klatschte einmal in die Hände.

»Der Fürst heiratet!« rief sie abermals.

»Habt ihr schon einen Hochzeitstermin im Auge?« fragte Fürstin Claudia.

»Im Sommer«, antwortete Gunter. »Das genaue Datum kannst du mit Marion festlegen, Mutter.«

*

Am Abend, als das junge Paar das Schloß zu einem Spaziergang verließ, wendete sich der Baron an die Fürstin. Wie albern er immer über seinen Bart streicht, dachte sie. Außerdem kleidet er sich übertrieben elegant, ein wahrer Adliger weiß, daß er auch in schlichter Garderobe etwas darstellt.

»Liebe Claudia, nachdem sich Gunter und Marion gefunden haben, möchte auch ich mit Ihnen über eine Herzensangelegenheit sprechen. Sie wissen, was ich für Sie empfinde. Wir sind beide noch nicht zu alt, um ein gemeinsames Glück zu finden. Was würden Sie von einer Doppelverlobung und

-hochzeit halten?«

Fürstin Claudia stellte sich mit Absicht naiv.

»Soll das ein Heiratsantrag sein, Edgar?«

»Ja, Claudia!«

Der Baron schickte sich an, niederzuknien – nach Altväter Sitte.

Fürstin Claudia lachte silberhell. »Edgar, ich bitte Sie! Sie schaden damit nur Ihren Bandscheiben.«

Die Antwort ließ den Baron innerlich zusammenzucken. Der Spott schmerzte ihn. Er wußte: Sein Antrag war abgelehnt worden.

»Ich fühle mich sehr geehrt, aber ich bin der Meinung, daß man jung heiraten und dabei bleiben sollte. Später sehe ich keinen Sinn mehr darin. Sie sind mir als Freund des Hauses hier immer willkommen, Edgar. Lassen wir es zwischen uns doch so, wie es ist.«

Bisher hatte Baron Edgar der Fürstin lediglich die Hand geküßt und bei offiziellen Gelegenheiten mit ihr getanzt. Näher waren sie sich nie gekommen. Es fiel ihm schwer, seine Enttäuschung nicht zu deutlich zu zeigen.

Darf ich fragen, ob Ihre Ablehnung mit meiner Person zusammenhängt, oder ob Sie grundsätzlich nicht mehr heiraten möchten?«

»Das zweite trifft zu. Seien Sie nicht gekränkt, Edgar.«

Der Baron beugte sich über Fürstin Claudias Hand und sagte förmlich: »Nein, natürlich nicht. Trotzdem bitte ich, mich zurückziehen zu dürfen. Ich möchte allein sein.«

»Ach, Edgar, jetzt habe ich Sie doch verletzt! Was soll ich Gunter und Marion sagen, wenn sie nach Ihnen fragen?«

»Sagen Sie ihnen, ich hätte Kopfschmerzen. Sie entschuldigen mich, liebste Freundin…«

In gerader Haltung verließ der Baron den Raum. In seinem Zimmer im Gästetrakt angelangt, zündete er sich eine Zigarette an. Die Fürstin war Nichtraucherin und schätzte es nicht, wenn man in ihrer Gegenwart rauchte. Baron Edgar lief wütend im Zimmer auf und ab.

Er sah ein, daß er sich bei Fürstin Claudia völlig falsche Hoffnungen gemacht hatte. Die Abfuhr war eindeutig gewesen.

Sie glaubt, weil sie Fürstin ist und ich nur Baron, kann sie so mit mir umspringen, dachte er. Aber sie wird sich wundern. Aus der Verbindung zwischen Marion und Gunter wollte Baron Edgar auf jeden Fall seine geschäftlichen Vorteile ziehen.

Er glaubte, seine Nichte in der Hand zu haben. Schließlich hatte er ihr die gute Partie verschafft. So sah er das jedenfalls.

Von Marions Vermögen war nicht mehr viel vorhanden. Baron Edgar hatte in seinen Geschäften keine glückliche Hand gezeigt. Auch bei ihm war viel Geld am Spieltisch geblieben.

Daß gerade er Frank Richter wegen seiner Spielschulden heftig angegriffen hatte, war im Grunde die reinste Ironie.

*

Nach acht Uhr abends klingelte es in Sandras Wohnung. Sie glaubte, es seien Gabi und Holger, und drückte den Türöffner. Als sie die Wohnungstür öffnete, stand Alexander Karben draußen, einen Blumenstrauß in der Hand und mit einem in Geschenkpapier eingewickelten Päckchen unterm Arm.

Sie ist noch schöner geworden, dachte er, als er Sandra sah.

Sie erstarrte.

»Schickt Gunter… der Fürst von Falkenau Sie, Herr Karben?«

»Nein, er weiß nichts davon, daß ich hier bin. Ich möchte Sie besuchen – und mir das Kind ansehen.«

Schweigend gab Sandra die Wohnungstür frei. Sie führte den Schauspieler ins Wohnzimmer, bedankte sich für die Blumen und stellte sie in eine Vase. Für die kleine Bettina hatte Alexander eine Strampelgarnitur und ein Gummitier mitgebracht, das quietschte, wenn man darauf drückte.

»Sie schläft«, sagte Sandra. »Aber nächste Woche nehme ich meine Arbeit in der Klinik wieder auf. Für Bettina habe ich eine Tagesmutter gefunden.«

»Wie ist es, wenn Sie Nacht- oder Wochenenddienst haben, Frau Dr. Richter?«

»Ich habe mit Professor Rübsam und dem Oberarzt gesprochen. Die Kollegen sind überaus verständnisvoll. Ganz kann ich die Nacht- und Wochenenddienste nicht wegfallen lassen. Das will ich auch nicht. Aber Frau Hitzinger, die Tagesmutter, ist sehr entgegenkommend. Sie hat selbst zwei Kinder und hat angeboten, Bettina auch außerhalb der normalen Zeit zu übernehmen. Zur Not kann ich die Kleine auf der Kinderstation lassen, wenn ich Dienst habe.«

»Da haben Sie es gut getroffen.«

»Ja, ich kann mich nicht beklagen.«

Alexander durfte im Schlafzimmer nach der kleinen Bettina sehen. Er näherte sich der Wiege auf Zehenspitzen. Bettina schlummerte selig, den kleinen Daumen im Mund.

Der Schauspieler lächelte.

»Mir geht das Herz auf, wenn ich so ein Kind sehe«, sagte er, nachdem sie das Schlafzimmer wieder verlassen hatten. »Später, wenn sie groß werden, lernen sie allerlei Unarten, und die meisten Erwachsenen sind egozentrisch und hart. Kleine Kinder sind ein Stück Paradies. Ich würde alles darum geben, so ein Kind zu haben – mit der Frau, die ich liebe.«

Sandra schenkte dem Schauspieler einen Kognak ein. Sie selbst leistete ihm mit einem Glas Wein Gesellschaft.

Der Hausanzug stand ihr gut. Sie hatte ihre schlanke Figur nach der Schwangerschaft sehr rasch wiedergehabt.

»Solche gefühlvollen Ansichten hätte ich von Ihnen nicht erwartet, Herr Karben. Sie überraschen mich.«

»Dachten Sie, ich hätte kein Herz und wäre ein oberflächlicher Playboy? Keineswegs. Allerdings zeige ich meine weichen Seiten selten. Sonst wäre ich heute noch ein unbedeutender Provinzschauspieler. Sie sind übrigens auch ein Mensch voller Widersprüche. Als wir uns kennenlernten, dachte ich… Es ist vorbei, das war damals, als…«

»Sie brauchen nicht verlegen zu werden. Damals war ich noch mit Gunter zusammen. Wir waren damals übrigens per Du und können es bleiben.«

»Gern, Sandra. Ich will dich nicht verletzen. Vielleicht magst du an diese Zeit nicht erinnert werden?«

»Sprich ruhig offen, Alexander.«

»Ich dachte, daß Gunter und du ausgezeichnet zusammenpaßtet. Zwischen euch stimmte alles, abgesehen davon, daß du keinen Adels­titel hast. Aber was bedeutet das schon heutzutage? Für mich war es ein Schock, daß eure Verlobung scheiterte. Ich begreife es heute noch nicht.«

»Du glaubst, daß ich nicht der Typ bin, um Gunter zu betrügen?«

»Allerdings.«

»Ich danke dir für die gute Meinung, Alexander. Gunter teilte sie nicht. Gunter glaubte es sofort, als ich ihm sagte, daß ich ein Kind von einem anderen erwarte. Ich habe seither nichts mehr von ihm ge­hört.«

»Er verlobt sich in Kürze mit Marion von Balsingen.« Alexanders Kummer brach aus ihm hervor. »Ich liebe sie schon seit langem, wenn du und Gunter zusammengeblieben wärt, hätte aus uns etwas werden können.«

»Ja, wenn, Alexander. Der Mensch denkt und hofft, und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Was geschehen soll, das geschieht. Man muß sich nach den Tatsachen richten, auch wenn es manchmal schwerfällt.«

»Soviel Fatalismus bringe ich nicht auf. Ich bin sehr unglücklich. Marion hat nur Gunter im Sinn, mich hat sie überhaupt nie richtig angesehen. Freilich, mit einem Fürsten kann ich nicht konkurrieren.«

Sandra behielt ihr Lächeln bei, obwohl es ihr schwerfiel. Denn die Nachricht, daß Gunter sich verloben wollte, schmerzte sie.

»Ich kenne Marion von Balsingen fast nur vom Hörensagen. Sie ist hübsch, sie ist adlig, nach allem was ich weiß, ist sie sehr nett. Ich wünsche ihr und Gunter, daß sie miteinander glücklich werden. Fürstin Claudia ist Marion sicher auch als Schwiegertochter genehm. Bist du übrigens zur Verlobung eingeladen, Alexander?«

»Ja, aber ich gehe nicht hin. Ich bin zwar Schauspieler, aber es liegt mir nicht, die Rolle des edlen, verzichtenden Freundes zu spielen. Ich wünsche den beiden alles Gute, doch ich ziehe mich zumindest für die nächste Zeit zurück. Wie steht es mit dir, Sandra? Siehst du den Vater deines Kinder öfter? Werdet ihr vielleicht irgendwann heiraten?«

»Ich habe ihn schon seit Monaten nicht mehr getroffen und werde ihm fernbleiben, genau wie er mir. Es liegen besondere Umstände vor, über die ich nicht sprechen möchte. Ich bin mit meinem Kind sehr glücklich, ich will es allein großziehen.«

Alexander war zu feinfühlig, um weitere Fragen zu stellen. Er hätte von Sandra keine Antwort erhalten. Als er ging, vereinbarten sie, daß er gelegentlich wiederkommen würde. Gunter sollte von dem Kontakt zwischen ihnen nichts erfahren.

»Sonst verfällt er am Ende noch auf ganz falsche Gedanke«, sagte Sandra.

»Er würde sich kaum dafür interessieren«, antwortete Alexander bitter. »Er denkt an dich genausowenig wie Marion an mich. Es ist schlimm, zu lieben und nicht wiedergeliebt zu werden.«

Aber noch schlimmer ist es, wenn die Liebe durch Intrigen zerstört wird, dachte Sandra. Sie sah Alexander die Treppe hinuntergehen. Seine Schultern waren etwas nach vorn gesunken, er wirkte anders als der strahlende Erfolgsschauspieler, den die Öffentlichkeit kannte.

Die kleine Bettina fing im Schlafzimmer an zu schreien.

*

Handle ich richtig, wenn ich mich mit Marion verlobe? fragte sich Gunter. Warum kann ich die andere nicht vergessen? Bis in meine Träume verfolgt sie mich. Aber das wird sich ändern.

Der Fürst stand im Ankleidezimmer. Es war am Nachmittag des Verlobungstages, am Abend stand ein großer Ball bevor. Die von Balsingens waren schon am Vormittag auf Schloß Falkenau eingetroffen. Gunter hatte Marion ihr Geburtstagsgeschenk überreicht.

Eine brillantenbesetzte Uhr, dazu vierundzwanzig rote Rosen – für jedes Lebensjahr eine. An der Mittagstafel hatten Freunde der Fürstenfamilie, des Barons und der Baronesse sowie Mitglieder des Adels teilgenommen. Am Nachmittag trafen weitere Gäste ein.

»Durchlaucht sehen hervorragend aus«, stellte der Kammerdiener fest, der den Fürsten bediente.

Gunter betrachtete sich im großen Spiegel. Der Smoking saß wie angegossen. Er nestelte an der Nelke im Knopfloch. In der Halle traf er Marion. Von einem Starcoiffeur frisiert, im festlichen Kleid mit goldener Gürtelschnalle, goldener Halskette und goldenen Ohrringen, sah sie ganz bezaubernd aus.

Gunter bot ihr galant den Arm. Sie traten auf den Balkon. Die Fürstin, mit ihrem prächtigsten Schmuck, und Baron Edgar gesellten sich zu ihnen. Das Verlobungspaar zeigte sich den Gästen und zahlreichen Zuschauern. Bei den Zuschauern handelte es sich hauptsächlich um Leute, die für den Fürsten arbeiteten oder auf den fürstlichen Gütern lebten.

Hinterher steckte Gunter Marion den Verlobungsring an, ein Familienerbstück. Nach dem Diner erstrahlte das Schloß im Lichterglanz. Im Ballsaal sorgten Musiker für beschwingte Unterhaltung.

Marion war so glücklich, daß sie die ganze Welt hätte umarmen können. Baron Edgar rieb sich die Hände, kaum daß er allein in seinem Gästezimmer stand.

Seltsamerweise vermißte Gunter seinen Freund Alexander Karben sehr. Alexander hatte sich mit beruflicher Überbelastung entschuldigt. Gunter glaubte ihm das.

*

Während es aussah, als ob die Intrigen des Barons Edgar zum totalen Erfolg führen würden, stellte das Schicksal neue Weichen. Der Baron hatte es überwundern, daß Fürstin Claudia seinen Heiratsantrag ablehnte. Er konnte es sich nicht erlauben, lange zu schmollen.

Das Wasser stand ihm finanziell bis zum Hals. Selbst der Schmuck, den Marion bei der Verlobung getragen hatte, war geliehen gewesen. Die Baronesse wußte das nicht.

Baron Edgar erschien künftig noch häufiger als zuvor als Freund des Hauses und als Verwandter in spe auf dem Schloß.

Wenige Wochen nach der Verlobung fuhr der Baron mit der Fürstin zu einer Opernaufführung nach Frankfurt. Sie tranken hinterher noch ein Glas Sekt im Café der Alten Oper. Bei der Heimfahrt regnete es derart heftig, daß sie auf der Autobahn halten und fünfzehn Minuten lang abwarten mußten.

Bei der Weiterfahrt ermahnte Fürstin Claudia den Baron, vorsichtig zu fahren.

»Im Schneckentempo dahinzuschleichen, ist besser, als zu verunglücken. Mein Mann ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem habe ich schreckliche Angst, daß mir auch so etwas zustoßen könnte.«

»Mein Wagen hat eine ausgezeichnete Straßenlage, ich bin ein erstklassiger Fahrer. Uns passiert nichts.«

Baron Edgar trat aufs Gas. Es hatte zu regnen aufgehört. Auf der Landstraße hinter Wiesbaden geschah es. Ein entgegenkommender Wagen blendete den Baron, er verriß das Steuer und wurde auf der regenglatten Fahrbahn aus der Kurve getragen. Fürstin Claudia schrie auf.

Der Baron kurbelte wie rasend am Steuer und trat voll auf die Bremse. Das war grundverkehrt. Der Wagen überschlug sich mehrmals. Es krachte zwischen die Bäume und blieb am Hang liegen – mit den Rädern nach oben. Die Scheinwerfer brannten noch…

Der Fahrer, der mit seinem Fernlicht den Unfall verursacht hatte, hielt an. Er und sein Beifahrer stiegen aus. Ein einzelnes Auto näherte sich aus der anderen Richtung und stoppte. Eine junge, dunkelhaarige Frau stieg heraus.

»Ich bin Ärztin, Dr. Sandra Richter. Was ist geschehen?«

Der Fahrer berichtete hastig.

»Sie fahren sofort zum nächsten Telefon und verständigen den Notarzt und die Polizei«, befahl San­dra. »Anschließend kommen Sie zurück.« Sie wendete sich an den Beifahrer. »Sie gehen mit mir zu dem Unfallwagen, wir müssen uns um die Verletzten kümmern. Nehmen Sie Werkzeug mit, falls wir die Tür aufbrechen müssen. Rasch, rasch!«

Sie holte ihre Arzttasche, die sie immer im Wagen mitführte, und stieg die Böschung hinunter.

Sandra war an diesem Abend, erstmalig seit langem, wieder ausgegangen. Sie hatte eine Alexander-Karben-Aufführung in Frankfurt besucht. Die Einladung hatte sie dem Schauspieler nicht abschlagen können.

Zwischen den Bäumen bemerkte Sandra einen Menschen. Er kroch auf allen vieren. Sie erkannte nicht, daß es sich um Baron Edgar handelte, denn sein Gesicht war von Schmutz und Blut verschmiert.

Der Baron befand sich in einem Schockzustand. Er hatte den Unterkiefer gebrochen und konnte nur unartikulierte Laute von sich geben. Er hatte seinen Sicherheitsgurt gelöst und war durch das zerbrochene Seitenfenster aus dem Wagen gekrochen.

Sandra untersuchte ihn rasch. Sie stellte fest, daß für den Mann keine Lebensgefahr bestand und ermahnte ihn, ruhig liegenzubleiben. Auf der Straße oben war der Fahrer, den Sandra losgeschickt hatte, schon unterwegs.

Der Beifahrer kletterte den Abhang hinunter, er brachte einen Verbandskasten, einen Wagenheber, ein kurzes Eisenstück und eine Taschenlampe mit. Er war hochgradig aufgeregt.

»Ich habe zu Helmut noch gesagt: Mensch, blend ab! Aber da war es schon zu spät. O Gott, o Gott!«

Der Beifahrersitz war aus der Verankerung gerissen. Fürstin Claudia lag daneben, der Sicherheitsgurt hielt sie noch. Ihr Abendkleid war mit Blut durchtränkt. Der Beifahrer leuchtete der Ärztin mit der Taschenlampe. Doch seine Hände zitterte so sehr, daß der Lichtkegel tanzte.

»Bleiben Sie doch ruhig!« ermahnte ihn Sandra. »Wie heißen Sie?«

»Karl Müller.«

»Reißen Sie sich zusammen, Herr Müller, es geht um ein Menschenleben. Die Frau ist noch nicht tot. Sie hat eine Schlagaderverletzung. Wenn wir ihr nicht schleunigst helfen, verblutet sie.«

Fürstin Claudia war nicht bei Bewußtsein. Ein scharfkantiges Metallteil hatte sie am Oberschenkel verletzt. Da der Wagen auf dem Dach und auf der Seite lag, konnte man sie durch die Beifahrertür nicht herausziehen.

Sandra und ihr Helfer strengten sich an. Mit einem Knacken öffnete sich die Fahrertür. Sandra kroch in den Wagen. Weil sie den völlig verdrehten Sicherheitsgurt der Fürstin nicht lösen konnte, kappte sie ihn mit einem Messer.

Der Mann hatte sich wieder gefaßt. Die Kaltblütigkeit der jungen Ärztin und ihre klaren Anweisungen beeindruckten ihn. Allein wäre er hilflos gewesen.

Als sie die Fürstin aus dem Wagen zogen, erkannte Sandra, wen sie vor sich hatte. Sie stutzte nur einen Moment. Dann handelte sie rein routinemäßig. Vor ihr lag eine Verletzte, ob Dienstmädchen oder Fürstin, das war gleich.

Sie drückte mit dem Griff der Schere die Beinschlagader der Fürstin ab, um die Blutung zum Stillstand zu bringen. Eine Aderpresse konnte man nicht anlegen. Wäh­rend Müller leuchtete, untersuchte Sandra die in ihrer Bewußtlosigkeit stöhnende Fürstin.

»Schulterfraktur«, stellte sie fest. »Und dann die Aortaverletzung. Außerdem hat sie einen Schock.«

»Wird sie überleben?« fragte Müller.

»Falls sie keine inneren Blutungen erlitten hat, ja. Ich sehe keine Anzeichen für solche Verletzungen. Wo bleibt denn nur die Ambulanz? Schieben Sie der Verletzten Ihre Jacke unter den Kopf, Herr Müller. So. Dann gehen Sie nach oben auf die Straße. Wenn wieder ein Wagen kommt, stoppen Sie ihn. Der Fahrer soll ebenfalls die Polizei und den Notarzt anrufen. Hoffentlich ist ihr Freund in seiner Panik nicht auch in den Wald gerast.«

»Das fehlte noch!«

»Sehen Sie auch nach dem anderen Verletzten. Fragen Sie ihn, ob er etwas braucht und ob er Schmerzen hat, bevor Sie nach oben gehen. Ich kann nicht von der Fürstin weg.«

»Der Fürstin?«

»Ja, diese Frau ist Fürstin Claudia von Falkenau.«

Noch bevor Müller die Straße erreichte, ertönte Sirenengeheul. Es näherte sich rasch. Bald darauf dröhnte der Lärm eines Rettungshubschraubers. Er senkte sich mit blinkenden Positionslichtern auf die Straße.

Polizeibeamte sperrten die Stra­ße ab. Ein Rettungswagen war schon am Unfallort, um den Baron von Balsingen mitzunehmen. Die Polizisten hatten ihn anhand seiner Papiere identifiziert. Sowie der Hubschrauber aufgesetzt hatte, sprangen ein Arzt und zwei Sanitäter heraus.

Während der Baron bereits zum Rettungswagen gebracht und abtransportiert wurde, legten die Sanitäter Fürstin Claudia auf die Trage. Sandra drückte ihr weiter die Schlagader ab, der Notarzt gab der Fürstin zwei Spritzen, denn ihr Puls war unregelmäßig geworden.

Sandra ließ ihren Wagen am Unfallort stehen. Sie flog mit der Fürstin im Hubschrauber mit. Zwei Ärzte waren besser als einer. Fürstin Claudias Zustand war kritisch. Sie erhielt Blutplasma.

»Ohne Sie wäre die Fürstin verblutet, Frau Kollegin«, sagte der Notarzt während des Fluges zu Sandra. »Es war ihr Glück, daß Sie am Unfallort erschienen.«

Der Rettungshubschrauber flog die Main-Taunus-Klinik an. Sie lag am nächsten. Fürstin Claudia kam sofort auf den Operationstisch.

Dr. Stanitz nähte ihre verletzte Ader. Die Röntgenaufnahme ergab, daß die Fürstin nicht nur die Schulter, sondern auch den rechten Arm gebrochen hatte. Die Ärzte behandelten auch diese Verletzungen.

Sandra rief in ihrer Wohnung an und bat den Babysitter, die Nacht über zu bleiben. Das Mädchen stimmte zu, als es hörte, daß es sich um einen Unfall handelte.

Gunter war auf Schloß Falkenau von dem Unfall unterrichtet worden. Er hatte erfahren, daß seine Mutter operiert wurde. Ihr Zustand sei ernst. Jetzt mußte man abwarten.

Doch Gunter hielt es nicht länger im Schloß. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr zur Klinik.

Sandra wollte abwarten, bis die Fürstin den Operationssaal verlassen hatte, ehe sie mit Schloß Falkenau telefonierte.

Sie sprach gerade im Bereitschaftsraum mit Dr. Stanitz und dem Orthopäden, der die Brüche der Fürstin verarztet hatte.

Da erschien Fürst Gunter, den Mantel über dem Arm, erregt und bleich.

Beim Anblick von Sandra und Dr. Stanitz vereiste seine Miene.

Er wendete sich an den Orthopäden.

»Wie geht es meiner Mutter, der Fürstin von Falkenau?«

»Fürstin Claudias Zustand ist kritisch, aber sie ist außer Lebensgefahr«, antwortete Sandra an der Stelle des Angesprochenen. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Gunter. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird sie keine bleibenden Schäden zurückbehalten.«

»Gott sei Dank«. Gunter atmete tief auf. »Kann ich sie sehen?«

»Jetzt nicht, sie liegt auf der Intensivstation und braucht absolute Ruhe«, schaltete Dr. Stanitz sich ein. »Am besten, Sie fahren nach Hause, Durchlaucht. Hier können Sie nichts ausrichten.«

»Das haben Sie mir nicht vorzuschreiben, wohin ich zu fahren habe!« brauste Gunter auf und stürmte hinaus.

Sandra blieb zurück.

Dr. Stanitz war aber nicht der Mann, der sich ein derart unhöfliches Abkanzeln gefallen ließ. Er lief Gunter hinterher und sprach ihn auf dem Korridor an.

»Auf ein Wort, Fürst Gunter. Was veranlaßt Sie eigentlich zu diesem rüden Benehmen mir gegenüber? Meines Wissens habe ich Ihnen nie etwas zuleide getan. Ohne Dr. Richters Hilfe am Unfallort wäre Ihre Mutter nicht mehr am Leben. Auch ich habe im OP-Saal einiges getan.«

»Es scheint Ihnen zu liegen, Leben zu spenden«, antwortete Gunter bissig. »Sie erwarten doch nicht etwa, daß ich mit Ihnen noch verkehre?«

»Ich verlange eine Erklärung«, forderte Dr. Stanitz. »Ihr Verhalten ist unmöglich!«

Sandra stand in der offenen Tür, Gunter und Dr. Stanitz konnten sie nicht sehen. Sie hörte jedes Wort.

»Tun Sie nicht so, als ob Sie nicht wüßten, was ich gegen Sie habe, Dr. Stanitz«, sagte Gunter leise. »Sie mögen ein erstklassiger Chirurg sein, aber menschlich gesehen sind Sie ein Lump.« In seinem Zorn fügte er hinzu: »Sie passen zu Dr. Richter.«

Der Arzt wich zurück.

»Sind das die Manieren des Adels? Gehen Sie! Sie wissen ja nicht, was Sie reden, Mann.«

Gunter wendete sich wortlos ab und ging davon. Dr. Stanitz starrte ihm nach. Er war einfach fassungslos.

Sandra trat zu Dr. Stanitz, der noch vor Zorn bebte.

»Das… das ist unerhört! Ist der Mensch wahnsinnig?«

Sandra nahm ihn zur Seite.

»Ich kann dir das erklären, René. Fürst Gunter glaubt, du seist der Vater meines Kinder, wir hätten ihn gemeinsam betrogen.«

Dr. Stanitz klappte der Unterkiefer herunter. Er schüttelte fassungslos den Kopf.

»Aber das ist doch absurd. Wer mag ihm das gesagt haben? Er glaubt es tatsächlich. Man muß das richtigstellen, ich werde Fürst Gunter bei nächster Gelegenheit aufsuchen und ein Wort mit ihm reden.«

Gunters Anblick hatte Sandra innerlich einen Stich versetzt. Am liebsten hätte sie ihn umarmt. Aber bei Gunters Bemerkung über Dr. Stanitz und sie war dieses Gefühl in Sandra wieder erstorben.

»Ich bitte dich, es nicht zu tun«, sagte sie zu Dr. Stanitz. »Bettina ist ein gesundes Kind, ich habe meine Freude an ihr. Niemand forscht der Vergangenheit nach und reißt alte Wunden auf. Das ist gut so. Wenn du mit Fürst Gunter sprichst, gibt es nur Unannehmlichkeiten. Laß ihn denken, was er will, was kümmert dich das? Bist du auf den Fürsten von Falkenau angewiesen?«

»Nein, aber…«

»Was aber? Willst du deinen gu­ten Ruf ihm gegenüber wiederherstellen, oder was beabsichtigst du? Er ist im Unrecht, René, nicht du.«

Dr. Stanitz zögerte.

»Ich werde es mir überlegen, ob ich ihn aufsuche.«

Er würde den Fürsten nicht von sich aus ansprechen, das war in diesem Moment bereits entschieden, obwohl Dr. Stanitz sich dessen noch nicht bewußt war. Er ging mit Sandra wieder in den Bereitschaftsraum.

»Ich sorge dafür, daß jemand dich zur Unfallstelle fährt, damit du deinen Wagen holen kannst«, sagte er. »Oder möchtest du gleich nach Hause?«

»Ich brauche mein Auto. Fürst Gunter mag sich benehmen, wie er will, ich habe jedenfalls ein Menschenleben gerettet. Das ist ein schönes Gefühl.«

Sandra fachsimpelte mit ihren beiden Kollegen noch eine Weile über die Verletzungen der Fürstin und die Behandlung und Genesungsdauer. Fürstin Claudia würde den Arm und die Schulter wieder ohne Einschränkung gebrauchen können, meinte der Orthopäde.

»Ein Vierteljahr dauert es allerdings«, sagte er.

*

Frank Richter und Rosangela Pereira saßen auf der Bank unterhalb der Christusstatue auf dem Corvacado-Hügel. Rio lag ihnen zu Füßen. Sie hielten sich bei der Hand, die Sonne schien.

»Es ist schön hier«, sagte Rosangela. »Ich könnte immer so mit dir sitzen.«

Sie hatte die Augen geschlossen. Frank druckste herum. Er hatte schon lange mit Rosangela darüber sprechen wollen. Jetzt, auf der etwas abgelegenen Bank, wo niemand in der Nähe war, war die Gelegenheit günstig. Frank gab sich einen Ruck.

»Einmal muß ich es dir sagen, Rosa. Wir haben darüber gesprochen, uns zu verloben, es soll keine Lüge zwischen uns stehen. Ich mußte Deutschland verlassen, weil ich Geld unterschlagen habe.«

Frank erzählte alles. Er schonte sich nicht.

»Seit ich in Rio in dem Spielclub ausgeplündert wurde, habe ich mich an keinen Roulettetisch mehr gesetzt und keine Karte und keinen Würfel angefaßt. Ich will das in Zukunft auch so halten. Von meiner Spielleidenschaft bin ich endgültig weg, Rosa.«

Das Mädchen war ein Stück von Frank weggerückt.

Angstvoll fragte er: »Denkst du jetzt schlecht von mir? Willst du dich von mir trennen? Ich hätte es verdient. Ich bereue, was ich getan habe, ich möchte es wiedergutmachen.«

»Dann tue es. Geh nach Deutschland, stell dich der Polizei oder triff selbst eine Regelung mit der Bank. Das kannst du nicht einem Fremden überlassen. Dieser Baron von Balsingen erscheint mir überhaupt sehr zwielichtig. Wie steht es jetzt eigentlich? Zahlt deine Schwester das Geld zurück oder wie ist es geregelt?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Frank. »Ich hatte in Rio zunächst genug mit mir selbst zu tun, dann dachte ich nur an dich.«

»Das ist keine Basis für eine gemeinsame Zukunft. Kläre deine Angelegenheiten, Frank, damit unserer Verlobung nichts mehr im Weg steht. Geh nach Deutschland. Falls du ins Gefängnis mußt, werde ich auf dich warten.«

Frank ergriff ihre Hand.

»Das würdest du wirklich, Rosa? Jetzt weiß ich, wie sehr du mich liebst. Es war unrecht von mir, mich die ganze Zeit nicht um diese Sache zu kümmern. Du verstehst, daß es mir unangenehm gewesen ist, aber jetzt will ich es anpacken.«

Sie kehrten zum Hotel »Bela Vista« zurück. Frank wollte in drei Tagen nach Deutschland fliegen, ohne sich vorher anzumelden. Am Tag nach seinem Geständnis sagte ihm Rosangela, daß sie ihn begleiten würde.

»Ich möchte gern deine Schwester kennenlernen und sehen, wo du aufgewachsen bist und gelebt hast. Wir gehören zusammen.«

Frank umarmte Rosa zärtlich und voller Rührung. »Soviel Glück habe ich nicht verdient.«

*

Es fiel Fürstin Claudia schwer, Sandra aufzusuchen. Aber sie drückte sich nicht um diesen Gang. Der Schloßverwalter Hubert fuhr sie hin, lud mehrere Päckchen mit Babykleidung und Geschenken aus und übernahm die Aufgabe der Anmeldung über die Sprechanlage.

Er sagte: »Hubert Rosthal im Auftrag Ihrer Durchlaucht der Fürstin von und zu Falkenau.«

Sandra wußte erst, daß die Fürstin persönlich erschienen war, als sie vor ihrer Wohnungstür stand. Sie ließ Fürstin Claudia und den Schloßverwalter ein. Hubert blickte sich hochmütig in der nett eingerichteten Wohnung um. Er setzte sich stocksteif auf die Vorderkante des ihm angebotenen Stuhls. Für ihn war es unter seiner Würde, sich in einer bescheideneren Unterkunft als einem Schloß aufzuhalten.

»Ich bin hergekommen, um mich bei Ihnen zu bedanken, Frau Dr. Richter«, sagte die Fürstin. »Sie haben mir das Leben gerettet.«

»Das war meine Pflicht«, antwortete Sandra leichthin. »Ich danke für Ihren Besuch, es ist eine Ehre für Bettina und mich. Ich hätte ihn nicht erwartet. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee oder einen Tee?«

»Tee, bitte. Hier sind ein paar Geschenke für das Kind. Hoffentlich passen ihm die Strampelhös­chen. Wie alt ist die Kleine jetzt?«

»Vier Monate. Sie hebt schon das Köpfchen.«

»Ach ja? Schläft sie nachts durch? Stillen Sie sie oder geben Sie ihr die Flasche? Gunter hatte, als er gerade ein Vierteljahr alt war, eine Diarrhöe, das war schlimm. Wir fürchteten damals schon, er würde sterben. Es ist nur einem alten Hausmittel zu verdanken, daß er am Leben blieb.«

Während Sandra den Tee zubereitete, stand die Fürstin im Flur. Die beiden plauderten angeregt über das Baby. Hubert wollte seinen Ohren nicht trauen. Er und Marthe hatten nie Kinder gehabt. Das Thema war ihm völlig fremd.

Der Tee war fast fertig, als Bettina, die ihren Mittagsschlaf beendet hatte, sich meldete.

»Sie müssen sofort nach ihr sehen«, sagte Fürstin Claudia. »Die Kleine geht natürlich vor.«

Sie folgte Sandra ins Schlafzimmer, die Ärztin zog die Rolläden hoch. Sie drehte Bettina auf den Rücken, das Baby lachte seine Mutter und die Fürstin an. Es gab unverständliche Silben von sich.

»Hat sie Mama gesagt?« fragte die Fürstin lächelnd.

Der Anblick des Kindes ließ sie alles vergessen.

»Man kann es noch nicht verstehen«, antwortete Sandra. »Mein kleiner Schatz, jetzt gibt’s das Fläschchen. Dann wirst du gesäubert und frisch gewickelt. Wollen Sie solange hinausgehen, Durchlaucht?«

»Aber wo werde ich denn. Es ist eine Weile her, seit ich ein Kind gewickelt habe, aber ich habe nicht vergessen, wie man das macht. Die Kleine ist zu süß. Hat noch kein Zähnchen und lacht wie die Sonne.«

Fürstin Claudia spielte mit Bettina, während Sandra das Fläschchen bereitete. Die Fürstin schüttelte die Rassel, Bettina griff tapsig danach.

Um die verletzte Schulter hatte Fürstin Claudia noch einen Stützverband. Sie trug den rechten Arm in einer Schlinge. Als sie dem Baby die Linke entgegenstreckte, gluckste Bettina und packte den ringgeschmückten Mittelfinger der Fürstin mit ihren Händchen.

Dabei fiel Fürstin Claudia etwas auf. Sie schaute sich Bettinas Fingerchen genauer an.

»Bettinas kleine Finger sind krumm«, sagte sie, als Sandra mit der Babyflasche kam. »Ist Ihnen das schon aufgefallen?«

»Natürlich.«

»Das ist ein Familienmerkmal der Falkenaus.« Die Fürstin sah Sandra in die Augen. »Jeweils das älteste Kind hat es, eine genetische Besonderheit.«

»So ein Merkmal ist zwar äußerst selten«, antwortete Sandra, »aber es gibt auch noch andere Menschen als die Fürsten von Falkenau, die es haben.«

Sie gab Bettina die Flasche. Das Baby trank hungrig.

»Nicht so schnell«, ermahnte es Sandra. »Niemand nimmt dir etwas weg.«

Fürstin Claudia ließ sich nicht beirren.

»Wenn Gunter der Vater der kleinen Bettina wäre, wäre es ganz natürlich, daß sie die Verwachsung an den kleinen Fingern hat. Ich finde es äußerst seltsam, daß Ihr Kind das Falkenau-Erbmerkmal aufweist, Frau Dr. Richter, während Sie behaupten, Gunter sei nicht der Vater.«

Sandra blickte sie zornig an.

»Durchlaucht, wer der Vater meines Kindes ist, ist ganz allein meine Angelegenheit. Ich brauche von den Falkenaus nichts, ich will auch nichts haben. Wenn ich gesagt habe, daß Gunter nicht Bettinas Vater ist, dann ist das verbindlich. Jetzt möchte ich über diesen Punkt nicht weiter reden, oder ich muß Sie bitten zu gehen.«

Fürstin Claudia war eine stolze Frau. Aber sie besaß auch Charakter. Zudem entzückte sie das Kind. Sie senkte den Kopf.

»Wie Sie meinen, Frau Dr. Richter.« Zögernd fügte sie hinzu: »Vielleicht bin ich damals zu abweisend gewesen, als Gunter von Ihnen erzählte. Ich kannte Sie noch nicht persönlich.«

»Sie hätten mich kennenlernen können.«

Bettina trank langsamer, nachdem sie den ersten Hunger gestillt hatte. Sandra versorgte anschlie­ßend ihr Kleines. Dann legte sie es ins Bettchen.

»So, Süßes, jetzt bist du wieder frisch und sauber. Gleich geht Mami mit dir spazieren.«

Das war ein Hinweis für die Fürstin, den Besuch zu beenden. San­dra bedankte sich nochmals für den Besuch und die Geschenke und erkundigte sich nach dem Befinden des Fürsten. Dann brach die Fürstin mit ihrem Butler auf. Sandra atmete auf, nachdem die Tür ins Schloß gefallen war.

»Das war vornehmer Besuch, Bettina. Deine Großmutter, eine echte Fürstin. Aber das weißt du alles noch nicht«, sagte sie zu ihrem Kind.

*

Am Abend ließ Fürstin Claudia ihren Sohn zu sich in den Salon kommen.

»Ich habe heute mein Enkelkind gesehen«, eröffnete sie das Gespräch.

Gunter fiel aus allen Wolken.

»Wie bitte? Welches Kind denn?«

»Das Baby von Dr. Sandra Richter.«

Gunter wendete sich brüsk ab und schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus.

»Ich möchte mit dir über dieses Thema nicht reden, Mutter. Der Vater dieses Kindes ist Dr. René Stanitz, ein Kollege von Sandra. Sie hat es mir selbst gesagt.«

»Dann muß sie besondere Gründe dafür haben. Ich zweifele die Vaterschaft von Dr. Stanitz an.« Sie erzählte Gunter von ihrem Besuch bei der Ärztin und dem Erbmerkmal des Babys. »Ich fand, daß du das wissen solltest. Es liegt an dir, die Verwirrung zu klären.«

Gunter verstand seine Mutter nicht.

»Du hast Sandra tatsächlich aufgesucht? Ich hätte nie gedacht, daß du dich soweit überwinden würdest.«

Die Fürstin lächelte schwach.

»Mir ist dabei kein Zacken aus der Krone gebrochen, um bei einem standesgemäßen Vergleich zu bleiben. Dr. Richter hat mir das Leben gerettet.«

Verwirrt kehrte Gunter in seine Räume zurück. Er schlief wenig in dieser Nacht. Bevor er zu Bett ging, hatte er ein paar Telefonate geführt. Am folgenden Tag wartete er im Park auf Sandra und das Baby. Man hatte ihm bei seinem Anruf in der Klinik gesagt, daß Dr. Richter zwei freie Tage hatte.

Am späten Vormittag sah Gunter Sandra mit dem Kinderwagen in dem Park, in dem Bettina jeden Tag spazierengefahren wurde. Sein Herz klopfte schneller. Sandra trug ein schickes Frühjahrskostüm. Ihr schönes Haar schimmerte in der Sonne. Es roch frisch und würzig, und der Himmel war blau – ein wunderschöner Frühlingstag!

Sandra bemerkte Gunter erst, als er aufstand. Sie blieb stehen.

»Du hier? Was willst du? Zwischen uns gibt es nichts mehr zu besprechen.«

»Sandra, bitte, auf ein Wort. Lauf nicht weg. Vielleicht habe ich mich wie ein großer Esel benommen, aber du selbst sagtest mir, daß Bettina nicht mein Kind wäre. Das hat mich furchtbar verletzt und getroffen, denn ich habe dich leidenschaftlich geliebt. Ich liebe dich noch.«

Sandra wollte weitergehen, aber ihre Knie waren zu schwach. Sie sah Gunter an und erkannte, wie sehr er gelitten hatte. Zweifel, die sie bisher immer unterdrückt hatte, stiegen jäh in ihr auf. Die gemeinen Machenschaften des Barons von Balsingen hatten sie damals eingeschüchtert. Sie hatte ihren Bruder vor dem Gefängnis bewahren wollen und sich eingeredet, mit einem vorbestraften Bruder und ohne Adelstitel könnte sie nie mit Gunter glücklich werden.

Aber war es richtig, auf ihre Liebe zu verzichten und ihrem Kind den Vater vorzuenthalten? Abgesehen von allem anderen.

Mit schwacher Stimme sagte Sandra: »Du hast dich mit Marion von Balsingen verlobt. Werde glücklich mit ihr. Bitte, geh.«

Gunter kam noch einen Schritt näher. Er griff nach ihrer Hand. Und plötzlich zog er sie in seine Arme. Sie sagten beide kein Wort.

Endlich brach Gunter das Schweigen. Er fragte mit rauher Stimme: »Sag es mir ehrlich: ist Bettina mein Kind?«

Da lehnte sie den Kopf an seine Schulter und flüsterte: »Du bist ihr Vater.«

Gunter beugte sich gerührt über den Kinderwagen.

Seine Tochter! Und wie sie lachte! Sie hatte strahlendblaue Augen und dünnes blondes Haar, das unter dem Mützchen hervorsah. Für den Fürsten war Bettina das schönste Baby der Welt.

Als Gunter sich aufrichtete, lag ein Leuchten auf seinem Gesicht. Er wirkte auf einmal jung und zuversichtlich.

»Das ist mein Kind, unser Kind! Ich gebe es nicht mehr her!« Er betrachtete Bettinas Hände und die kleinen Finger. »Meine kleine Prinzessin!«

Sie kehrten in Sandras Wohnung zurück. Dort gestand sie ihm alles. Gunter war über die Niedertracht des Barons Edgar außer sich.

»Dieser gemeine Schuft!« rief er. »Na, der kann mich kennenlernen! Marion hat davon sicher nichts gewußt. Sie ist von einem anderen Schlag als Baron Edgar. Und Dr. Stanitz habe ich einen Charakterlumpen gescholten. Ich werde mich persönlich bei ihm entschuldigen.«

»Was ist mir dir und Marion?« fragte Sandra.

Das Baby spielte friedlich in seiner Wiege. Mit gurrendem Lachen griff es nach den Plastiktieren, die darüber gespannt waren.

Ein Schatten überflog Gunters Gesicht. Seine Verlobung mit Marion bedrückte ihn sehr. Denn er wußte, daß Marion ihn aufrichtig liebte.

»Ich sage ihr noch heute alles. Aber die Villa des Barons betrete ich nicht, ich könnte mich vergessen, wenn ich ihn sehe. Ich habe Marion nie so geliebt, wie ich dich liebe, Sandra. Hoffentlich kann ich mich mit ihr einigen und die Verlobung lösen, ohne ihr zu weh zu tun.«

»Es wird schlimm für sie sein«, sagte Sandra. »Sie tut mir leid. Bist du mir nicht böse, Gunter? Ich habe dich angelogen.« Gunter zog sie an sich und küßte sie. Sie vergaßen die Umgebung, bis die Türglocke anschlug. Jemand stand bereits an der Wohnungstür. Als Sandra öffnete, traf sie fast der Schlag. Draußen standen ihr Bruder und ein fremdes schwarzhaariges Mädchen.

»Frank!« rief sie. »Ich dachte, du bist in Brasilien?«

»Wie du siehst, bin ich hier«, antwortete Frank Richter. »Das ist Rosangela Pereira, meine Verlobte. Wir sind heute morgen auf dem Rhein-Main-Flughafen gelandet.«

In der Wohnung stellte Sandra ihren Bruder und Rosangela Gunter vor. Frank begrüßte den Fürsten von Falkenau recht verlegen. Dann erlebte Frank eine Riesenüberraschung. Er sah die kleine Bettina, seine Nichte.

»Sie sind Onkel geworden«, er­öffnete ihm Gunter trocken.

Frank brachte kein Wort heraus. Er setzte sich auf den nächsten Stuhl und sah Gunter an.

»Sie… Sie und Sandra, Durchlaucht?«

Gunter nickte und legte den Arm um Sandra.

»Ja, das ist unsere Tochter. Wir werden heiraten, jetzt bringt uns nichts mehr auseinander.«

Es dauerte eine Weile, bis Frank Rosangela übersetzen konnte. Sie reagierte schneller als er.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte sie spontan.

*

Gunter holte Marion vor dem Schloß ab, als die Bibliothek schloß. Er fuhr mit ihr nach Schloß Falkenau.

»Ich muß dir etwas mitteilen«, sagte er unterwegs. »Und ich will, daß es im geeigneten Rahmen geschieht.«

Marion spürte, daß sich etwas anbahnte. Gunter erschien ihr fremd. Auf Schloß Falkenau angelangt, führte er sie in die Bibliothek.

»Kann ich Fürstin Claudia begrüßen?« fragte Marion und versuchte ein Lächeln. »Du bist so ernst? Hat es ein Unglück gegeben?«

»Du wirst meine Mutter später sehen, habe etwas Geduld. Ein Unglück kann man es nicht nennen, aber es ist etwas geschehen. Ich habe heute verschiedenes erfahren.«

»Was? Bitte, sprich offen, Gunter. Betrifft es uns beide?«

»Ja. Es fällt mir schwer, mit dir darüber zu reden. Aber ich komme lieber gleich zur Sache. Ich bin doch der Vater der keinen Bettina Nicole Richter. Dein Onkel, Baron Edgar, hat Sandra erpreßt. Er hat von Sandra verlangt, daß sie schwieg und die Verlobung aufzulösen.«

Marion erfuhr alles. Sie nahm die Neuigkeiten gefaßt auf.

Als Gunter geendet hatte, fragte sie: »Wie willst du dich jetzt verhalten? Du mußt dich entscheiden. Wenn du Sandra liebst, geh zu ihr. Wenn du mich liebst, müssen wir gemeinsam überlegen, was zu unternehmen ist.«

»Ich bin sehr glücklich, Marion, daß sich eine solche Situation ergeben hat. Ich bitte dich, mich von meinem Heiratsversprechen zu entbinden. Ich habe Sandra immer geliebt. Ohne die Intrigen des Barons wäre es nie soweit gekommen. Ich hätte sie auf jeden Fall geheiratet, ganz gleich, was ihr Bruder verbrochen hat. Das kann man doch ihr nicht anlasten. Selbst der Adel hat seine schwarzen Schafe. Außerdem ist Sandras Bruder kein schlechter Mensch, diese Angelegenheit wird geregelt.«

Marion war totenbleich geworden. Ihre Lippen bebten.

»Ich will eurem Glück nicht im Weg stehen«, sagte sie. »Auch um des Kindes willen. Ich gebe dich frei, Gunter, du bist mir nichts schuldig. Du kannst unsere Verlobung als gelöst betrachten.«

Bitter fügte sie hinzu: »Es ist schon die zweite, die dir gescheitert ist. Beim nächsten Mal heirate besser gleich.«

Gunter wollte sie stützen, denn er sah, daß sie sich nur mühsam auf den Beinen halten konnte.

Aber Marion wich zurück.

»Bitte, faß mich nicht an, Gunter. Ich will gehen, ich möchte allein sein.«

»Ich bedaure es sehr, Marion. Ich habe dich gern, aber ich kann nur eine Frau lieben. Laß uns Freunde bleiben, bitte! Ich habe dich nie verletzen wollen.«

Aber du hast es getan, dachte Marion. Schlimmer als jeder andere es gekonnt hätte.

Sie sagte nur: »Ach, Gunter… Lebe wohl!«

Mit diesen Worten ging sie hinaus. Auf dem Korridor begegnete sie Fürstin Claudia. Mit vor Tränen fast blinden Augen knickste sie und verließ das Schloß. Marion hatte keinen Wagen dabei und bis zu diesem Moment nicht darüber nachgedacht, wie sie wegkommen sollte. Aber sie wollte sich auf keinen Fall länger auf Schloß Falkenau aufhalten.

Gunter erschien oben an der Treppe, um Marion anzubieten, sie nach Hause zu fahren. Doch Alexander Karben hielt mit seinem Sportwagen in der Auffahrt. Fürstin Claudia hatte ihn hergebeten, er wartete auf Marion.

»Darf ich dich nach Hause bringen?« fragte er.

Marion nickte. Sie konnte nicht sprechen. Als sie neben Alexander im Wagen saß und er losfuhr, weinte sie bitterlich. Alexander versuchte, sie zu trösten. Doch sie schüttelte nur stumm den Kopf.

Er brachte sie zur Villa des Barons in Wiesbaden. Bis dahin hatte Marion sich etwas beruhigt.

»Vielen Dank für die Fahrt«, brachte sie mühsam hervor.

»Kann ich dir noch irgendwie helfen, Marion?«

»Nein, es war lieb, daß du mich abgeholt hast.«

Alexander fuhr ein Stück weiter und hielt. Er wußte noch nicht genau, was vorgefallen war.

Marion suchte sofort ihren Onkel auf. Der Baron saß, ohne Kieferstütze inzwischen, in seinem Arbeitszimmer und betrachtete sorgenvoll ein Mahnschreiben seiner Bank. Außerdem hatte ihm eine Gesellschaft, für die er arbeitete, gekündigt, die zweite war bankrott.

»Es sieht finanziell schlecht aus bei uns, Marion«, murmelte der Baron ohne aufzusehen.

»Es sieht noch einiges andere schlecht aus«, fuhr ihn Marion an. »Wie konntest du mich in eine derartige Situation bringen, Onkel? Du hast intrigiert und Sandra Richter erpreßt. Wie konntest du mir das antun? Womöglich glaubt Gunter noch, du hättest im Einverständnis mit mir gehandelt. Ich war so erschüttert, als er mir die Wahrheit eröffnete, daß ich vergaß, meine Unschuld zu beteuern. Das muß ich nachholen. Hoffentlich glauben er und Fürstin Claudia mir, sonst würde ich vor Scham in den Erdboden versinken.«

Der Baron saß da wie vom Donner gerührt.

»Du wirst Gunter also nicht heiraten?«

»Nein.«

Baron Edgar schwieg lange Zeit. Er wagte es nicht, Marion in die Augen zu sehen.

Schließlich sagte er: »Ich habe alles für dich getan. Ich wollte, daß du einmal Fürstin von Falkenau wirst. So wollte ich dir eine glänzende Zukunft sichern.«

»Du lügst. Dir ging es um Vorteile für dich, die du dir durch die Verwandtschaft zum Fürsten von Falkenau und durch seine Beziehungen verschaffen wolltest. Jetzt durchschaue ich dich. Du hast meine Liebe zu Gunter schamlos ausgenutzt. Ich ziehe noch heute hier aus. Ich mag dich nicht länger sehen. Wir sind fertig miteinander.«

Baron Edgar erhob sich. Er streckte Marion die zitternden Hände entgegen.

»Handle nicht voreilig. Gunter hat sich mit dir verlobt und dir ein Heiratsversprechen gegeben. Du kannst darauf bestehen und Geld verlangen, sogar einklagen…«

»Pfui! Du bist ein Schandfleck für den Adel. Ich schäme mich, mit dir verwandt zu sein.«

Marion drehte sich um und ging aus dem Zimmer. Als sie die Tür schließen wollte, ließ ein Stöhnen sie aufhorchen. Sie sah sich um, Baron Edgar war über den Schreibtisch gesunken. Er preßte die Hand aufs Herz.

»Schnell, einen Arzt. Mein Herz, es ist, als ob eine Riesenfaust es zusammenpreßt. Ich sterbe.«

Marion eilte ans Telefon und wählte den Notruf. Sie half ihrem Onkel, sich in den Bürosessel zu setzen, und öffnete ihm den Hemdkragen. Baron Edgar war bleich und röchelte. Bald hörte man die Sirene. Mit flackerndem Blaulicht raste der Krankenwagen heran und bremste vor der Villa. Zwei Sanitäter und der Notarzt eilten ins Haus.

»Herzinfarkt«, sagte der Notarzt, während die Sanitäter den Baron auf die Trage betteten. »Herr von Balsingen muß sofort auf die Intensivstation.«

»Wird er es überleben?«

»Sieben von zehn Infarktpatienten, die schnell ärztliche Hilfe erhalten, überleben. Wollen Sie mitfahren, Baronesse?«

»Nein«, antwortete Marion entschieden.

Sie sah zu, wie der Krankenwagen wegfuhr. Sie würde für ihren Onkel zusammenpacken, was er benötigte, und es ihm ins Krankenhaus bringen. Und das war das letzte, was sie für ihn tun würde. Wenn Baron Edgar aus der Klinik zurückkehrte, würde Marion nicht mehr da sein.

Falls er starb, würde es seine Nichte wenig berühren. Marion wollte nichts mehr von ihm wissen.

Nach der ganzen Aufregung ging sie auf ihr Zimmer. Dort saß sie und sah aus dem Fenster in den Garten der Villa. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt. In ihr war alles tot und leer.

Das erste Klopfen überhörte sie. Dann klopfte es wieder.

»Herein.«

Alexander Karben trat ein. Er wirkte verlegen.

»Ich will mich nicht aufdrängen, Marion, aber ich habe das Gefühl, daß du mich jetzt brauchst. Ich habe den Krankenwagen gesehen. Die Haustür war offen, da bin ich hereingekommen. Was ist mit Baron Edgar passiert?«

»Er erlitt einen Herzinfarkt.«

Zum ersten Mal blickte Marion den Schauspieler unbefangen an. Gunter war nicht mehr der einzige Mann für sie auf der Welt. Alexander war sehr attraktiv und hatte Gefühl und Herzenswärme. Es war noch zu früh, als daß Marion mehr als Zuneigung für ihn hätte empfinden können. Sie schickte ihn jedoch nicht weg. Denn sie brauchte einen Menschen, bei dem sie ihren Kummer loswerden konnte. Und wer wäre da besser geeignet gewesen, als ein Mann, der sie mit allen Fasern seines Herzens liebte?

*

Als an einem strahlenden Sommertag, einige Wochen später, die glanzvolle Hochzeit von Fürst Gunter mit Sandra stattfand, gab es keinen, der Einwände erhoben hätte. Ganz gewiß nicht die Fürstinmutter Claudia, die täglich mehr vernarrt war in ihre Enkelin.

Unter den Hochzeitsgästen waren auch Baronesse Marion von Balsingen und Alexander Karben. Der sensible Alexander hatte es verstanden, Marions Wunde zu heilen. Nun leuchteten auch ihre Augen wieder, und sie schmiegte sich eng an den Mann, der für sie Halt und Heimat bedeutete. Es ließ sich leicht voraussagen, daß das Paar einmal inniger verbunden sein würde, als das jemals der Fall hätte sein können, wäre Marion Gunters Frau geworden.

Denn Gunters Liebe gehörte nur seiner Sandra – und dem kleinen Prinzeßchen.

Fürstenkrone 12 – Adelsroman

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