Читать книгу Was können wir wissen, bevor wir uns entscheiden? Von Kinderwünschen und Vernunftgründen. - Laurie A. Paul - Страница 10

4. Die transformative Erfahrung, ein Kind zu haben

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Eine Person, die vor der Wahl steht, ein Elternteil zu werden, bevor sie ein Kind bekommt, befindet sich in einer epistemischen Situation, die genau der von Mary im Schwarz-Weiß-Zimmer entspricht, bevor sie ihre Zelle verlässt. Genau wie Mary ist sie, epistemisch gesehen, benachteiligt, weil sie nicht weiß, wie es ist, ein eigenes Kind zu haben.

Warum ist sie epistemisch benachteiligt? Zumindest im Normalfall macht man dann, wenn man sein erstes Kind bekommt, eine einzigartig neue Erfahrung. Bevor eine Person zu einer Mutter oder einem Vater wird, hat sie nie den einzigartigen Zustand erlebt, ihr neugeborenes Kind zu sehen und zu berühren. Sie hat nie die volle Breitseite der äußerst intensiven Reihe von Überzeugungen, Gefühlen, körperlicher Erschöpfung und emotionaler Intensität erlebt, die das Austragen, die Geburt, das Vorzeigen und die Sorge um ihr ganz eigenes Kind begleitet, und weiß daher nicht, wie es sich anfühlt, diese Erlebnisse zu haben.

Da ein eigenes Kind zu haben, sich von jeder anderen menschlichen Erfahrung unterscheidet, weiß sie außerdem nicht nur nicht – bevor sie die Erfahrung gemacht hat, ihr neugeborenes Kind zu sehen und zu berühren – wie es sich anfühlt, ein Kind zu haben, sondern sie kann das auch gar nicht wissen.12 Wie die Erfahrung des erstmaligen Farbensehens ist die Erfahrung, ein Kind zu haben, nicht übertragbar. All das bedeutet, dass ein Kind zu haben epistemisch transformativ ist.

Nun ist ein Kind zu haben nicht nur eine radikal neue epistemische Erfahrung, sondern stellt für viele Menschen ein lebensveränderndes Erlebnis dar. Die Erfahrung mag also sowohl epistemisch transformativ als auch persönlich transformativ sein: Sie kann Ihre persönliche Phänomenologie tiefgründig und weitreichend verändern. Eine persönlich transformative Erfahrung ändert radikal, wie es ist, Sie selbst zu sein, und ersetzt möglicherweise Ihre Kernpräferenzen durch ganz andere.13 Für die meisten Menschen ist es in beiden Hinsichten transformativ, ein Kind zu haben: Es ist eine epistemisch transformative Erfahrung, die außerdem persönlich transformativ ist.

Warum erleben Eltern solche drastischen phänomenologischen Veränderungen? Es handelt sich dabei um eine normale Reaktion auf die intensiven Reihen neuer Erfahrungen, die man macht, wenn man ein eigenes Kind bekommt. Das wird dann am offensichtlichsten, wenn das fragliche Elternteil die Mutter ist. Die Intensität und Einzigartigkeit des ausgedehnten Aktes des Austragens des Kindes, die Körperlichkeit der Geburt, die neue Erkenntnis, dass die Existenz des ganz eigenen Kindes eine völlig neue Tatsache ist, und die Strapazen, die mit der Sorge um das Neugeborene einhergehen, laufen auf eine drastische Veränderung der eigenen körperlichen, emotionalen und mentalen Zustände hinaus. Die Erfahrungen sind auch für die beteiligten Väter sehr intensiv. Bei Vätern kommt es häufig vor, dass sie die Veränderung ihres phänomenalen Zustands auf den Augenblick datieren, als sie ihr Neugeborenes gesehen oder in den Armen gehalten haben.

Vielleicht besteht die primäre Grundlage für den radikalen Wandel der Phänomenologie bei beiden Eltern in der einfachen Tatsache, dass der Gehalt des Zustands des Sehens und Berührens Ihres eigenen neugeborenen Kindes einen epistemisch einzigartigen und persönlich transformativen phänomenologischen Charakter mit sich führen kann.14 Das könnte der Grund dafür sein, warum diese Erfahrung sowohl epistemisch als auch persönlich transformativ ist.

Wahrscheinlich gibt es entsprechende biologische Gründe für die phänomenologische Veränderung bei Eltern: Wenn Mütter ihre Kinder zeugen, stillen und für sie sorgen, dann erleben sie große hormonelle und andere biologische Veränderungen, und frischgebackene Väter durchlaufen ebenfalls bedeutende hormonelle Veränderungen. Anhänger der Evolutionsbiologie werden behaupten, dass es einen biologischen Grund für die physiologischen Veränderungen bei den Eltern gibt, die der empfundenen Verbundenheit mit den eigenen Nachkommen zugrunde liegen. Unabhängig davon, ob die primäre Grundlage für die eigene neue Phänomenologie einfach die Erfahrung des Zeugens, Sehens und Berührens Ihres neugeborenen Kindes, ob es die Tatsache ist, dass Sie sich in einem neuen biologischen Zustand befinden oder ob es eine ausgedehntere und komplexere Reihe von Erfahrungen ist: Eltern haben in jedem Fall eine Erfahrung, die sie nie zuvor hatten – eine Erfahrung mit einem epistemisch einzigartigen phänomenalen Charakter und darüber hinaus eine Erfahrung, die außerdem persönlich transformativ sein kann.15

Die Verbindung zwischen der epistemisch und persönlich transformativen Erfahrung, ein eigenes Kind zu bekommen, bringt tiefgreifende Veränderungen anderer epistemischer Zustände mit sich. Insbesondere deshalb, weil man nicht wissen kann, wie es sich anfühlt, ein eigenes Kind zu haben, bevor man es hat, kann man auch nicht wissen, welche Gefühle, Überzeugungen und Dispositionen davon verursacht werden, wie es sich anfühlt, eines zu haben. Vielleicht empfindet man Freude und Euphorie bei seiner Geburt. Oder Wut und Verzweiflung (viele Eltern bekommen eine postnatale Depression). Und so weiter. Darüber hinaus können Sie nicht wissen, wie es sich anfühlen wird, die besonderen Gefühle, Überzeugungen, Wünsche und Dispositionen zu haben, die von der Erfahrung, ein Kind zu haben, verursacht werden. Gesetzt den Fall, dass man ein Kind hat und dass die eigene Erfahrung sowohl epistemisch als auch persönlich transformativ ist, werden sich infolgedessen viele der eigenen epistemischen Zustände auf subjektiv nicht-voraussehbare Weisen ändern, und viele dieser Veränderungen werden grundlegend sein.

Was können wir wissen, bevor wir uns entscheiden? Von Kinderwünschen und Vernunftgründen.

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