Читать книгу Das Leben. Mit dem hast du nicht gerechnet. - Lea Grossmann - Страница 10
Grün
ОглавлениеBröckelt da der Putz von der Decke? Das ist nicht gut. Gar nicht gut. Sie liegt im Bett und starrt den feinen Haarriss an der Decke an, der immer breiter zu werden scheint. Sie richtet sich auf, nimmt ihren Notizblock zur Hand und schreibt dies mit ihrem grünen Filzstift auf ihre To-do-Liste. Sie muss diese Entdeckung unbedingt Marco mitteilen. Er wird das dann schon richten. Das macht er immer. Dafür liebt sie ihn. Nicht nur dafür. Er ist immer für sie da, wenn sie ihn braucht, und das schon seit einem Jahr, zwei Monaten, vier Tagen und fünf Stunden. Sie zählt mit.
Sie legt sich wieder hin, schliesst ihre Augen, damit sie nicht immer den Riss in der Decke anstarren muss. Irgendwie hat sie das Gefühl, dass der Riss nun sie anstarrt. Es ist ihr nicht mehr wohl. Stöhnend dreht sie sich auf die Seite und starrt gegen die weisse Wand. Der Fleck der zerquetschten Mücke von letzter Nacht ist immer noch da. Das nervt sie ungemein. Nicht so sehr jedoch, wie es die Mücke tat. Schliesslich hat sie gegen dieses Vieh gewonnen. Sie grinst. Wegwischen mag sie den Fleck nicht. Ihn weiterhin anstarren zu müssen, ist wiederum auch keine Option. So richtet sie sich wieder auf, greift nach dem Notizblock und schreibt dies mit ihrer krakeligen Schrift ebenfalls auf die To-do-Liste. Marco wird auch das in Ordnung bringen. Das weiss sie. Er ist ihr Ordnungsmacher. Sie lächelt. Sie legt den Block und ihren grünen Stift wieder zurück auf ihr Nachtschränkchen.
Wie gern hätte sie ein Smartphone ihr Eigen genannt. So hätte sie ihren dämlichen Notizblock nicht mehr gebraucht. Sie hätte einfach eine App öffnen und dies eintragen können. Früher hatte sie ein Smartphone. Ein grünes iPhone, um genau zu sein. Das ging aber, kurz bevor sie Marco kennen lernte, kaputt. Sie hätte es nicht an die Wand schmeissen sollen. Das sieht sie mittlerweile ein. Aber sie war so wütend auf ihren Vater gewesen, dass sie gar nicht anders konnte. Eigentlich hatte sie ihn ja am Kopf treffen wollen. Nun ja, sie war noch nie gut im Zielen gewesen. Vielleicht bekommt sie ja ein Neues zu ihrem Geburtstag, der immerhin schon in fünf Wochen, drei Tagen und sechs Stunden sein wird. Sie wünscht sich nichts weiter als ein Smartphone. Das ist alles. Die Marke ist ihr egal. Es wäre nur schön, wenn es wieder grün wäre. Die gleiche Farbe, die ihr Filzstift hat. Sie liebt Grün.
Grün gibt ihr die Hoffnung, dass alles gut wird.
Es klopft an der Tür, und der Schlüssel wird gedreht. Sie steht auf. Marco kommt in ihr Zimmer mit einem Tablett in der Hand.
«Hallo Lisa. Alles klar bei dir?»
Wie immer gibt sie ihm keine Antwort, schaut ihm lediglich tief in seine grünen Augen.
«Hier, dein Nachtessen. Lass es dir schmecken! Vergiss nicht, die grüne Tablette zu nehmen. Morgen um acht Uhr werde ich dich wecken. Um neun Uhr beginnt dann deine Gruppentherapie. Hast du noch etwas für mich, Lisa?»
Wortlos geht sie zu ihrem Nachtschränkchen, reisst den Zettel mit der To-do-Liste vom Schreibblock ab und reicht diesen Marco.
Er wird alles richten.
Wie immer.
Inspiration: Fix You von Coldplay