Читать книгу Leni Behrendt Classic 49 – Liebesroman - Leni Behrendt - Страница 3

Оглавление

Gemächlich wanderte ein junges Mädchen den Weg entlang, der sich durch die Heide schlängelte. Die Augen, so blau wie der Himmel, der sich über das verträumte Stückchen Erde wölbte, schienen sich nicht sattsehen zu können an all dem Neuen, Niegeschauten. Der krautbewachsene Boden, die Baumgruppen und Büsche aller Art, der Bach, der munter und geschwätzig über blankgewaschene Steine hüpfte, weiter hinten der Wald, der die Ebene wie schützend umschloß, das alles war dem Stadtkind wundersam neu.

An einer Stelle gaben die Bäume einen Durchblick zum Horizont frei, an dem die untergehende Sonne im Halbrund stand. Wie ein Feuerbrand lohte es ringsum.

Die im Schauen versunkene Wanderin, die wie ein verwunschenes Wesen in dieser träumenden Einsamkeit anmutete, ließ sich auf den kniehohen Stein, an den sie fast gestoßen wäre, sinken. Dabei gab es ein helles Klingen. Es rührte von der Laute her, die dem Mädchen auf dem Rücken hing. Schräg über die Brust lief ein buntbestickter Lederstreifen, der oben und unten an dem Instrument befestigt war und sich lustig auf dem hellen Grund des Kleides ausnahm. Gleichfalls buntbestickte Lautenbänder flatterten leicht im sachten Abendwind.

Eines davon berührte wie liebkosend des Mädchens Hand und weckte es aus seiner Versunkenheit. Den Blick wie trunken ins Weite gerichtet, zog es die Laute auf den Schoß, die Saiten klangen auf, und aus einer Wirrnis von Melodien zupfte die zarte Mädchenhand eine schwermütige Weise. Glockenrein setzte die junge Stimme ein:

»Wenn abends die Heide träumt,

erfaßt mich ein Sehnen,

und ich denk unter Tränen

an verlorenes Glück.

Wie schön war doch der

Sommertag,

wir gingen Hand in Hand

so selig durch den Rosenhag,

als wär’s ein Zauberland.«

O nein, was der jungrote Mund da sang, davon konnte das Herz nichts wissen. Ein Sehnen mochte es wohl erfassen, aber unter Tränen an verlorenes Glück zu denken, dazu war dieses Mädchen bestimmt noch zu jung. Hand in Hand mit dem Liebsten durch den Rosenhag wandeln, vielleicht?

Wie unter einem Zwang löste sich der Blick der Sängerin vom Horziont, wo das Abendrot allmählich verblaßte, und blieb an zwei Menschen haften, die nur einige Meter entfernt standen und dem Gesang wahrscheinlich gelauscht hatten. Der Rollstuhl gehörte eigentlich nicht hierher, wo alles heiligen Frieden zu atmen schien, auch nicht das finstere Antlitz des Mannes, der hinter dem Stuhl stand.

Erschrocken stand das Mädchen auf und näherte sich zögernd den beiden. Scheu streiften ihre Augen die Dame im Rollstuhl, die wiederum überrascht auf das junge Menschenkind schaute, das in all seiner taufrischen Schönheit dastand.

»Guten Abend«, sprach die Dame in die Stille hinein. »Wenn ich nicht irre, dann sind Sie Fräulein Rothe?«

»Ja«, war die überraschte Antwort.

»Woher kennen Sie mich denn, gnädige Frau?«

»Von Ihrem Bild, das Sie mir schickten.«

Ein Ausdruck des Erschreckens glitt über das Mädchengesicht und überflutete es mit heißer Röte. »Dann sind Sie?«

»Feline Elchenbrock. Und das ist mein Sohn Egbrecht.«

Ein banger Blick aus den leuchtendblauen Augen ging zu dem Genannten hin, der sich leicht verneigte, die lichte Mädchengestalt dabei mit einem Blick streifend, wie man ihn etwa bei einer unangenehmen Begegnung hat. Und da stotterte Holda Rothe, die sonst gewiß nicht schüchtern war, kläglich heraus: »Aber dann bin ich wahrscheinlich nicht weit von Elchenheiden, und ich wollte doch… ich werde doch… erst morgen erwartet.«

Ein amüsiertes Lächeln umzuckte den Mund der Dame. »Da Sie jedoch heute schon da sind, Fräulein Rothe, so sollen Sie mir herzlich willkommen sein.«

Aufatmend beugte sich das Mädchen über die feine Frauenhand, die sich ihr entgegenstreckte. Und dann perlte ein herzerfrischend frohes Lachen auf.

»Oh, Frau Gräfin, das war so ein richtiger Schreck in der Abendstunde! Also bin ich dreist den falschen Weg gegangen. Denn ich wollte heute noch nicht nach Elchheiden, sondern nach Waldheide, um dort zu übernachten. Ich gedachte erst ein wenig die Gegend kennenzulernen, außerdem wandere ich gern…«

»Und scheinen überhaupt ein bißchen abenteuerlich zu sein«, ergänzte die Gräfin, als das Mädchen unter ihrem nachsichtigen Lächeln verlegen schwieg. »Es ist recht gewagt, in einer fremden Gegend herumzustreifen. Ein Fremder kann sich in Wald und Heide sehr leicht verirren. Wo befindet sich Ihr großes Gepäck?«

»Auf dem Bahnhof, Frau Gräfin. Dorthin wollte ich morgen zurückwandern und dann ordnungsgemäß in Elchheiden eintreffen. Allein der Zufall wollte es anders.«

»Nehmen wir an, daß es ein guter ist.« Die Dame sah wohlgefällig in das klare Mädchengesicht. Es schien tatsächlich ein frischfröhliches Menschenkind zu sein, das sie da als Gesellschafterin und Haustöchterchen zugleich engagiert hatte. Hoffentlich hielt diese es in der leiderfüllten neuen Umgebung aus, brachte ein wenig Sonne darein.

Einen Seufzer unterdrückend, wandte sie sich an den Sohn: »Fahr zu, Egbrecht, damit wir nach Hause kommen. Fräulein Rothe wird nach der langen Wanderung müde und hungrig sein.«

Der Rollstuhl setzte sich in Bewegung, und neben ihm her schritt Holda Rothe ihrem neuen Wohnort zu. Wohl hatte die Gräfin ihr geschrieben, daß sie leidend sei, aber so schwer hatte sie sich das Leiden nicht vorgestellt. Ein tiefes Mitgefühl mit der Gelähmten erfüllte ihr Herz.

Es mußte nicht leicht sein, den Rollstuhl über den sandigen Weg zu schieben, doch der hochgewachsene Mann mit dem stolzen, hartgeschnittenen Antlitz schien es spielend zu schaffen. Er hatte noch kein Wort gesprochen, Holda nur so finster angeblickt, daß ein beklommenes Gefühl in ihr aufstieg.

Nachdem man ungefähr zehn Minuten gegangen war, hatte man den Wald erreicht. An seinem Rande blühten Heiderosen in verschwenderischer Fülle. Entzückt ließ Holda ihre strahlenden Augen über die prangende Blütenpracht schweifen.

Eine kurze Strecke ging es auf breitem Weg durch Wald, und dann bot sich dem überraschten Mädchen ein neuer Anblick. In einer Lichtung, wie hingezaubert, lag ein stattliches Anwesen. Langgestreckte Gebäude umschlossen im Geviert einen riesengroßen Hof, über den sie nun schritten. Dann kamen Anlagen mit Ziersträuchern, Blumenrabatten und einem Springbrunnen auf dem gepflegten Rasengrund. Ein sauberer Kiesweg wurde überquert, dann stand man vor dem schloßartigen Wohnhaus.

Ein Bau, der schon Jahrhunderte trutzig überdauert haben mochte, feudal, romantisch, geheimnisvoll. Zu beiden Seiten des mächtigen Portals standen auf Podesten lebensgroße Elche wie hoheitsvolle Hüter. Und einen Elch zeigte auch das Wappen derer von Elchenbrock, das steingehauen über der Haustür prunkte.

Überwältigt schaute Holda Rothe auf das stolze Bild, erst ein Diener in schlichter Livree, der sich lautlos genähert hatte, ließ sie aus ihrer Versunkenheit aufschrecken.

»Das ist unser getreuer Gottfried«, stellte die Gräfin mit einem lächelnden Blick auf den Mann, in dessen Augen es überrascht aufblitzte, vor. »Führe die junge Dame zu Auguste, damit sie sich ihrer annimmt. Auf Wiedersehen beim Abendessen, Fräulein Rothe!«

Noch ganz benommen von all dem Neuen folgte Holda dem Diener zu einem Seitenflügel, in dem sich die Wirtschaftsräume befanden. Ein großer Flur nahm sie auf, dann ging es weiter nach der geräumigen Küche, an dessen Herd ein rundliches weibliches Wesen stand und der Fremden mit unverhohlener Neugier entgegensah. Es waren Augen, die einem Menschen bis auf den Grund der Seele zu schauen schienen.

»Das ist Fräulein Rothe«, erklärte der Mann mit der stoischen Ruhe des gutgeschulten Dieners. »Frau Gräfin wünscht, daß du dich der Dame annimmst.«

»Ja, Fräulein, wie kommen Sie denn so plötzlich her?« ließ die Wirtschafterin ihrer Verwunderung freien Lauf. »Sie werden doch erst morgen erwartet.«

»Ich bitte um Entschuldigung für mein verfrühtes Eintreffen«, sagte Holda lächelnd. »Aber Frau Gräfin und Herr Graf lasen mich in der Heide auf…«

»Wie kommen Sie denn da hin?« wurde unfreundlich dazwischengefragt.

»Zu Fuß vom Bahnhof.«

»Ist das die Möglichkeit?« Die Küchengewaltige stemmte die Arme in die Hüften. »Und gleich mit einem Dudelsack? Das kann ja gut werden!«

Der barsche Ton schüchterte Holda merkwürdigerweise gar nicht ein. Immer noch lächelnd fragte sie: »Wo sollte ich das empfindliche Instrument denn lassen?«

»Zu Hause. Solche Firlefanzereien sind hier nicht angebracht«, kam es brummend zurück. »Ein Glück, daß ich Ihr Zimmer schon instandgesetzt habe, sonst wüßte ich tatsächlich nicht, wohin mit Ihnen. Kommen Sie mit.«

Mit Schritten, die ihrem Ärger Ausdruck gaben, ging sie voran. Durch die Küche, einen Flur, die Treppe hinauf, über einen Gang. An dessen Ende öffnete sie eine Glastür. Nun wurde der Gang breiter und war mit einem dicken Läufer belegt. Links zeigte er Fenster mit duftigen Gardinen und üppig blühenden Topfblumen auf den Brettern, rechts hohe Flügeltüren.

Eine davon öffnete die Wirtschafterin und betrat vor dem jungen Mädchen ein Zimmer, in dem alles licht und hell war: die Möbel, das breite Bett mit dem duftigen Himmel und der hellgrünseidenen Daunendecke, der gleichfalls grüngemusterte Teppich, die zarten Gardinen.

»Wie schön!« sagte Holda erfreut, was ihre Begleiterin freundlicher stimmte.

»Bei uns ist alles schön«, entgegnete sie gnädig. »Nebenan ist das Bad.«

»Danke, Fräulein.«

»Eine Frau bin ich.«

»Entschuldigen Sie bitte, Frau Auguste. In diesem entzückenden Zimmer werde ich mich sehr wohl fühlen.«

»Müßte man, aber Undank ist nun mal der Welt Lohn. Haben Sie denn eigentlich gar kein Gepäck?«

»Das ist noch auf dem Bahnhof. Was ich heute brauche, birgt das Köfferchen.«

»Na, schön. Um sieben Uhr gibt es Abendbrot, halten Sie sich also bereit. Mein Mann, der Diener Gottfried, wird Sie nach dem Speisezimmer führen. Unpünktlichkeit gibt es bei uns nicht, verstanden?«

»Ja, Frau Auguste.«

Jetzt wurde das Mädchen ungeniert und sehr eingehend gemustert, und dann kamen Fragen, in barschem Ton gestellt, der wahrscheinlich die Neugier verdecken sollte, die Gustchen förmlich aus den Augen sprang.

»Woher kommen Sie?«

»Aus Königsberg.«

»Du lieber Himmel, auch das noch! Von Großstadtmädchen halte ich nämlich nicht viel. Die haben doch bloß Kino und Tanzerei im Kopf. Das gibt’s bei uns nicht, verstanden?«

»Ja. Auf eben erwähnte Dinge lege ich gar keinen Wert.«

»Abwarten! Wenn die alten Scharteken, die wir bisher hier hatten, so scharf auf Vergnügen aus waren, dann ist es ein so junges Blut wie Sie allemal. Ich habe die Frau Gräfin oft genug gewarnt, sich so was Firlefanziges ins Haus zu nehmen. Sind Sie wenigstens schon zwanzig?«

»Nein, aber ich werde es nächstens.«

»Ich sage ja, viel zu jung für uns! Haben Sie denn was Ordentliches gelernt?«

»Wie man’s nimmt. Ich machte Ostern mein Abitur.«

»Wollen Sie denn studieren?«

»Ja.«

»Was?«

»Medizin.«

»Na, hören Sie mal, davon möchte ich Ihnen entschieden abraten. So ein spilleriges Ding und Doktor werden? Das hat ja noch nicht einmal so viel Kraft, um einen Zahn zu ziehen.«

Diese Entrüstung entlockte Holda ein herzfrohes Lachen, das die Gestrenge jedoch gnädig auffaßte. Denn es klang eher wohlwollend als tadelnd, als sie meinte:

»Sie scheinen noch ein rechter Kindskopf zu sein. Aber sowas will die Frau Gräfin ja partout um sich haben. Fröhlichkeit soll um sie herrschen, als ob die in diesem Haus angebracht wäre! Hier gibt’s nichts zu lachen, bloß zu trauern. Nun wissen Sie Bescheid, Fräulein Rothe.«

»Sagen Sie ruhig Holda zu mir.«

Guste starrte sie mit aufgerissenen Augen an wie etwas Grausiges. Dann jammerte sie, indem sie buchstäblich die Hände überm Kopf zusammenschlug: »Ach, du liebes Gottchen im Himmel droben, daß du das zuläßt! Das ist doch Frevel!«

»Warum denn?« fragte Holda verständnislos. »Ist mein Name etwa frevelhaft?«

»Ach was!« schnauzte Auguste, besann sich dann jedoch auf ihre Würde und wurde sachlich. »Wenn Sie studieren wollen, haben Sie auch das Geld dazu? Oder sind Sie gar so etwas wie eine Werkstudentin?«

»Erraten, Frau Auguste.«

»Dann lassen Sie man lieber das Studieren, und werden Sie was Vernünftiges. Wie Sie es vorhaben, kommt doch bloß ein Hungerleben dabei heraus. Nehmen Sie mal zuerst zwanzig Pfund zu, damit Ihnen nicht der Wind durch die Backen pustet.«

Damit entfernte sie sich gewichtigen Schrittes, und die Zurückbleibende hatte Mühe, nicht herzlich hinter ihr herzulachen.

*

Bald darauf betrat Holda das Speisezimmer, wo die Hausherrin bereits in ihrem Rollstuhl am gedeckten Tisch saß. Ein weites Gemach mit gediegenen Möbeln, die wohl schon seit Generationen breit und wuchtig ihren Platz behaupteten.

Gespeist wurde an dem runden Tisch im Erker, weil der in der Mitte des Raumes stehende für drei Personen zu groß und wuchtig war. Die sorgfältig gedeckte Tafel ließ darauf schließen, daß man hier Wert auf verfeinerte Lebensweise legte. Es lag ein Hauch von Vornehmheit über Raum und Menschen.

»Nun, Fräulein Rothe, sind Sie mit Ihrer Unterkunft zufrieden?« fragte die Hausherrin freundlich.

»Sehr, Frau Gräfin. Ein so entzückendes Zimmer habe ich nicht erwartete. Überhaupt ist alles, was ich bisher sah, so einzig schön, daß ich mich ordentlich müde gefreut habe.«

»Das ist der Reiz der Neuheit, mein Fräulein«, ließ sich von der Tür her eine Stimme vernehmen, tief, dunkel, klangvoll. Sie paßte zu dem herrischen Mann, der an den Tisch trat und besorgt die Mutter musterte, die ihm herzlich zunickte.

»Ich fühle mich wohl, mein Junge.«

»Wirklich, Muttchen?«

»Ganz wirklich. Die Ausfahrt ist mir gut bekommen.«

»Dann bin ich beruhigt. Nehmen Sie Platz, Fräulein Rothe.«

Er wies mit einladender Handbewegung auf einen der wuchtigen Lehnstühle, in dem ihre grazile Gestalt fast verschwand. Der Hausherr ließ sich ihr gegenüber nieder. Gleich darauf servierte Gottfried das ländliche Mahl, das Holda sich trefflich munden ließ. Sie zierte sich durchaus nicht, als der Diener ihr die Schüssel mit den Speckeiern zum zweitenmal reichte, langte zu, und die Hausherrin sagte freundlich:

»So ist es recht, Fräulein Rothe! Essen Sie nur tüchtig. Sie sind ja in dem glücklichen Alter, wo Sie auf schlanke Linie noch nicht zu achten brauchen.«

»Würde ich auch sonst nicht tun, Frau Gräfin«, kam es ver­gnügt zurück. »Meinen guten Appetit lasse ich mir durch niemand und nichts rauben.« Als sie sah, daß der Diener das Zimmer verließ, setzte sie lachend hinzu: »Außerdem hat Frau Auguste mir geraten, mein Körpergewicht um zwanzig Pfund zu vermehren, bevor ich mit dem Hungerleben einer Werkstudentin beginne. Sonst traut sie mir nämlich nicht die Kraft zu, einen Zahn ziehen zu können.«

Frau Feline lachte amüsiert, was den Sohn aufhorchen ließ. Demnach schien ein Lachen bei der Dame nur selten zu sein. Kein Wunder bei dem Schmerzenszug in dem vornehmen Antlitz, den Augen, die gewöhnlich so leidvoll blickten, und dem weißen Haar, wie es nur Kummer und Gram so frühzeitig bleichen kann.

»Also hat unsere Getreue Sie bereits unter strenges Verhör genommen?«

»O ja, Frau Gräfin. Ich kam mir beinahe wie im Examen vor. Fürchtete schon, daß sie mir das Lachen verbieten würde, aber ein striktes Verbot erfolgte gottlob nicht. Denn ich lache für mein Leben gern!«

Wie fragend sah sie in die finsterblickenden Augen des Grafen hinein. Nanu, sie hatte doch nichts Ungehöriges gesagt? Lachen war doch etwas Gutes, Schönes. Komischer Kauz! Nein, er gefiel ihr nicht.

Umso mehr tat es die Gräfin. Die hatte sie bereits in ihr Herz geschlossen. Sie nahm sich vor, recht lieb zu der Ärmsten zu sein, die so jammervoll dahinvegetieren mußte. Ein Mitgefühl bemächtigte sich ihrer, das sie bis in den Traum verfolgte.

Sie zerbrach sich darin den Kopf, wie der Frau mit dem schmerzlichen Lächeln wohl zu helfen wäre. Und da ein Traum ja Unmögliches möglich machen kann, fühlte sich Holda als hervorragende Ärztin. Als sie jedoch über die Heide schritt, um im Gefühl ihres Könnens der Gräfin Heilung von ihrem Leiden zu bringen, kam diese ihr leichtfüßig entgegen. Lachend schlug sie die Laute und sang dazu das Lied, das die jetzt Träumende am Abend gesungen hatte. Sie jubelte die Weise hinaus in die blühende Heide, und ihr Sohn, der glückstrahlend an ihrer Seite schritt, tat begeistert mit.

Allein der Anblick erfreute Holda keineswegs, sondern verursachte ihr einen brennenden Schmerz, der auch noch anhielt, als sie sich erschrocken im Bett hochrichtete. Unwillkürlich griff sie nach dem Kopf und stieß dort auf ein Etwas, das gewiß nicht traumhaft schön zu nennen war. Eine Biene hatte sich im Haar der Schläferin verfangen und in ihrer Bedrängnis zugestochen.

Bienen, nein, die liebte Holda durchaus nicht. Also tötete sie das Tierchen, das mit Verlust seines Stachels sowieso sein Leben einbüßen mußte, vollends und rieb dann wehleidig die schmerzende Stelle am Kopf. Der Tag fing ja gut an!

Sie sprang aus dem Bett, trat an das geöffnete Fenster, und was sich da ihren Augen bot, ließ ihr das Herz wieder einmal aufgehen vor Entzücken. Eine weite, gepflegte Rasenfläche, die wie smaragdgrüner Samt schimmerte. In der Mitte gleichfalls ein Springbrunnen, wie in den Anlagen vor dem Schloß. Den Rasen umsäumten Blumenrabatten und die Wege hoher Bäume.

Natürlich kannte Holda so manche Parkanlagen, aber diese schienen ihr besonders schön zu sein. Andächtig verharrte sie am Fenster, bis ein Geräusch sie aus ihrer Andacht riß. Sie beugte sich vor und erspähte unten eine Terrasse, wo Gottfried den Frühstückstisch deckte. Die Wirtschafterin stand daneben.

»Guten Morgen, Frau Auguste!« rief das Mädchen fröhlich, worauf die Angesprochene hochsah.

»Guten Morgen, Fräulein Rothe«, grüßte sie gnädig zurück. »Gut, daß Sie auch schon munter sind. Da kann Ihr Gepäck gleich nach oben gebracht werden.«

Fort war sie und erschien bald darauf bei Holda, in jeder Hand einen großen Koffer, die sie mit Nachdruck abstellte.

»Daß Gott erbarm, sind die Dinger schwer! Möchte nur wissen, was Sie da alles mitgeschleppt haben! Darüber wunderten sich schon die Männer, die das Gepäck von der Bahn holten.«

»Warum mühen Sie sich nun selbst damit ab?«

»Ach was!« wurde sie unwirsch unterbrochen. »Soll etwa so ein Mannsbild die Koffer hierherbringen, wo Sie im Spinnwebennachthemd herumlaufen? Und die Hausmädchen sollen sich durch Nebenarbeit nicht versäumen.«

»Ich hätte die Koffer ja holen können«, wagte Holda einzuwenden.

Die Gestrenge funkelte sie empört an. »Im Hemd vielleicht, was? Außerdem wären Sie Heimchen unter der Wucht zusammengeknickt.«

»Aber Frau Auguste, warum sind Sie den immer gleich so böse?« Holda lachte sie treuherzig an. »Es ist gewiß nicht meine Art, im Nachthemd herumzuspazieren. Ich besitze nämlich so ein Etwas, das sich Morgenrock nennt. Schauen Sie mal.«

Sie hielt der Frau das Kleidungsstück hin, worüber diese mißbilligend den Kopf schüttelte.

»Ein Nuschtwerk ist das. Haben Sie von der Sorte noch mehr in den Koffern?«

Aha, dachte Holda amüsiert, die liebe Neugierde! Dann sagte sie harmlos: »Darin sind nur die Kleidungsstücke, die jeder Mensch haben muß.«

»Und wovon sind die Dinger denn so schwer?«

»Das machen die Bücher.«

»Wozu brauchen Sie die?«

»Um mich zu bilden.«

»Lernen also. Na, dazu dürfte Ihnen wenig Zeit bleiben. Sie stehen hier nämlich in Lohn und Brot und haben daher Ihre Pflicht zu tun, verstanden?«

»Selbstverständlich, Frau Auguste. Aber in meiner Freizeit…«

»Haben Sie wenig.«

»Na schön«, entgegnete das Mädchen friedfertig, was Guste beschwichtigte.

Es klang schon freundlicher, als sie sagte: »Man muß eben erst abwarten, ob Sie taugen oder nicht. Nun ziehen Sie sich an, in einer halben Stunde ist Frühstück. Heute werde ich Ihnen noch das Bad richten, aber bilden Sie sich nur nicht ein, daß dieses zur Gewohnheit wird.«

»Wo werde ich denn so unbescheiden sein«, tat Holda scheinheilig. »Ich kann mich als einfache Angestellte doch unmöglich von Ihnen bedienen lassen, die Sie hier eine so einflußreiche Persönlichkeit sind.«

»Nun schwingen Sie bloß nicht so große Töne.« Ihre Ehrfurcht fand bei der anderen keine Würdigung. »Von Bedienen kann hier gar nicht die Rede sein. Das gibt’s hier nicht. Die Frau Gräfin hält sich noch nicht einmal eine Zofe, weil sowas nur für gesunde Menschen ist. Bei uns gibt’s überhaupt nur so viel Dienerschaft, wie es sich für Herrschaften schickt.«

Damit verschwand sie im Badezimmer, und Holda lachte in sich hinein. Sie schloß einen Koffer auf, blickte prüfend auf die Kleider, wählte ein buntgemustertes Seidenkleidchen, dazu ein samtnes, besticktes Bolerojäckchen, breitete beides über das Bett und war gespannt, was die Gestrenge daran zu bekritteln haben würde.

Die nahm die niedlichen Sachen denn auch scharf aufs Korn und gab ihr Urteil ab: »Hm, ganz hübsch, nur zu flitterig und zu schade für den Alltag. Jetzt aber rasch angezogen! Wenn die Hofglocke klingelt, dann gibt es Frühstück. Schon das zweite; denn die Arbeit beginnt um sechs. Für Fräuleins wie Sie allerdings erst um acht, weil die Frau Gräfin dann auch erst erscheint. Sie hätte besser getan…« Was, das blieb unausgesprochen, weil die Tür hinter der Nörgelnden zuklappte.

Holda beeilte sich nun mit der Morgentoilette und war gerade damit fertig, als die Hofglocke bimmelte und es gleichzeitig im Hause gongte. Hier schien tatsächlich Pünktlichkeit zu herrschen.

Sie fand nach einigen Irrwegen die Terrasse, wo die Gräfin am Tisch saß und ihr Sohn an der Brüstung lehnte. Ein leichtes Kopfnicken des Mädchens zu ihm hin, das mit einer knappen Verbeugung erwidert wurde, dann neigte Holda sich über die feine Frauenhand.

»Guten Morgen, Frau Gräfin.«

»Guten Morgen, Fräulein Rothe. Gut geschlafen?«

»Danke, ausgezeichnet. Geweckt wurde ich weniger sanft und zwar durch einen Bienenstich am Kopf«, setzte sie lachend hinzu. »Man scheint mich hier als Eindringling zu betrachten, den man verjagen will.«

»Dagegen müssen Sie sich eben wehren«, war die lächelnde Erwiderung. Freundlich schaute dabei die Hausherrin in das reizende Mädchengesicht.

»Ja, was ist denn das?« Holda zeigte auf ein flauschiges kleines Etwas, das in einem Korbsessel saß und sie aus blanken Knopfaugen mißtrauisch musterte.

»Das ist unser kleiner Schnudel«, erklärte Frau Feline. »Ob er rasserein ist, das weiß ich nicht. Doch da mein Sohn ihn mir als Findling ins Haus brachte, besitzt das Tierchen hier Heimatrechte.«

»Du bist ja süß.« Holda näherte sich dem Hündchen, das knurrend das kleine Gebiß fletschte. Auch unter dem Tisch knurrte es. Sich bückend, bemerkte sie Jagdhund und Dackel, die sie alles andere als freundlich ansahen.

»Seid doch nicht so böse«, sagte sie schmeichelnd. »Komm einmal her, du brauner Gesell.«

Der rührte sich nicht. Dafür erhob sich der Jagdhund, ein prächtiger Bursche mit einem selten schönen gelockten Behang. Vorsichtig witternd kam er näher, setzte sich dann vor Holda und blaffte freudig auf. Das war ein Signal für den Langhaardackel, seine buschige Rute in Bewegung zu setzen, und schon war eine dicke Freundschaft geschlossen.

»Man merkt, daß Sie Tiere gern haben, Fräulein Rothe«, sagte die Gräfin befriedigt. »Sonst würden die Hunde nicht so freundlich sein. Selbst Schudel schaut Sie bereits wohlwollend an, was bei seiner Unbestechlichkeit beachtenswert ist. Die Hunde gelten bei uns überhaupt als Barometer für Sympathie und Antipathie.«

Nach dem Frühstück erhielt Holda die Erlaubnis, ihre Sachen auszupacken.

Nachdem alles fein säuberlich am bestimmten Platz lag, ging Holda nach der Terrasse zurück.

»Schon fertig, Fräulein Rothe? Das ist schnell gegangen.«

»Viel war ja auch nicht zu verstauen, Frau Gräfin«, gab das Mädchen frischfröhlich Antwort.

Unter frohem Geplauder verging die Zeit so rasch, daß Frau Feline dem Sohn erstaunt entgegensah, der zu gewohnter Zeit in Begleitung eines Herrn die Terrasse betrat.

»Guten Tag, Herr Doktor«, grüßte sie munter. »Sind Sie gekommen, um mich zu tyrannisieren?«

»Versteht sich, Frau Gräfin«, schmunzelte der ältere Herr. »So vergnügt heute? Das ist brav.«

»Das macht meine muntere Gesellschaft«, wurde ihm erwidert. »Die wirkt mehr Wunder, als Ihre Pillen und Tropfen, Doktorchen. Darf ich bekanntmachen: Herr Doktor Schliereit, Fräulein Rothe.«

»Ah, das zukünftige Fräulein Kollega, wie ich von dem Herrn Grafen hörte.« Der Arzt musterte das Mädchen mit einem Blick, wie man ihn etwa für altkluge Kinder hat, amüsiert und nachsichtig. Dann fühlte er den Puls der Gräfin und nickte zufrieden.

»Erfreulich, in der Tat. Scheint tatsächlich ein Aufheiterungspillchen zu sein, das kleine Fräulein. War schon immer dagegen, daß Frau Gräfin solche Sauertöpfe um sich hatten. Ich bin immer mehr für süße Konfitürenschälchen.« Er zwinkerte Holda verschmitzt zu, die hellauf lachte. So herzerquickend klang das Lachen, daß es selbst einen Griesgram hätte erheitern müssen.

»Wenn das nicht Musik ist!« schmunzelte der Arzt. »Wie alt sind wir denn eigentlich, mein munteres Vögelein?«

»Noch nicht ganz zwanzig, Herr Doktor.«

»Tja, da kann man noch gut lachen. Wenn es Ihre Zeit erlaubt, dann lassen Sie sich mal in meinem Hause sehen! Sind nämlich ein gutes Gespann zu meinen beiden vergnügten Weibsen. Und mein Sohn, der mit mir zusammen praktiziert, sieht sowas Holdseliges auch gern.«

»Herzlichen Dank für die schmeichelhafte Einladung«, gab sie verschmitzt zurück. »Werde ihr Folge leisten, sobald ich kann.«

Das war der Auftakt zu einer Freundschaft, die sich auch für die gräfliche Familie aufs beste bewähren sollte.«

*

Schon am nächsten Sonntag, an dem Holda dienstfrei hatte, machte sie sich auf zum Doktorhaus. Obgleich der Weg durch den Wald bequemer und schattiger war, wählte sie den durch die sonnendurchflutete Heide. Verirren konnte sie sich nicht, da er direkt zu dem Kirchdorf führte. Allerdings in Windungen, aber das machte der wanderlustigen Holda nichts aus.

Nach einer guten Stunde hatte sie das Kirchdorf erreicht. Schmucke Häuser mit gepflegten Vorgärten rechts und links der Asphaltstraße. Dazwischen Läden mit Auslagen, die dem Geschmack der Landbevölkerung angepaßt waren. Wunderschön fand Holda die alte Kirche mit dem Pfarrhaus, das verträumt im Grünen lag. Gleichfalls das Doktorhaus, das daneben stand. Wein und Kletterrosen rankten an dem Gebäude hoch, das in der Mitte eine stattliche Haustür mit geschliffenen Scheiben, an beiden Seiten je vier Fenster aufwies.

Holda zog den Porzellangriff an der Tür, hinter der sich eine Glocke in Bewegung setzte.

Gleich darauf stand ein junges Mädchen vor der Einlaßbegehrenden. »Sie wünschen?«

»Eintreten zu dürfen. Ich bin Holda Rothe.«

»Ach, das neue Fräulein aus Elchheiden! Mein Vater hat schon von Ihnen erzählt. Er wird sich über Ihren Besuch herzlich freuen. Sein Anhang natürlich auch«, wurde lachend hinzugesetzt.

Sie führte den Gast nach der Gartenveranda, wo die Doktorfamilie beim Nachmittagskaffee saß. Der Hausherr: beleibt, graues Haar über dem vollwangigen Gesicht, gutmütige und zugleich kluge Augen hinter scharfen Brillengläsern. Die Hausherrin: rundlich, beweglich, frisches Gesicht mit lachenden Blauaugen und noch vollem, aschblondem Haar. Die Tochter: ihr verjüngtes Ebenbild in noch jugendlicher Schlankheit. Der Sohn: ebenfalls blond und blauäugig, mittelgroß, schlank. Die zerhauene Wange kennzeichnete den Korpsstudenten und gab dem Gesicht des jungen Mannes etwas Verwegenes.

»Ah, das Fräulein Rothe«, schmunzelte der Hausherr. »Lieb, daß Sie Wort gehalten haben! Hier die liebe Familie: meine Frau, meine Tochter Reinhild, mein Sohn Hartwig. Nehmen Sie Platz, und halten Sie beim Schmaus wacker mit!«

Dazu war Holda gern bereit. Die Tochter des Hauses brachte ein Gedeck und füllte die Tasse mit dem aromatischen braunen Trank. Der Gast wurde so herzlich behandelt, daß ein Fremdsein erst gar nicht aufkommen konnte.

»Wie geht es der Frau Gräfin?« erkundigte sich Dr. Schliereit. »Ist sie artig?«

»Was verstehen Sie darunter, Herr Doktor?«

»Was man in Elchheiden von ihr verlangt. Gottergeben dasitzen und ihr Leiden pflegen.«

»Wie trostlos!«

»Ist es auch, kleines Fräulein. Aber rennen Sie mal gegen die Verbohrtheit des Grafen an, ich jedenfalls habe es aufgegeben und mein Sohn schon längst. Der Mann bildet sich nämlich ein, wenn er seine Mutter wie ein zerbrechliches Porzellanpüppchen hütet…«

»Nun gerate nur nicht wieder in Rage, du Hitzkopf«, unterbrach die Gattin ihn gemütlich. »Sonst muß Fräulein Rothe glauben, daß du wer weiß was für ein Baubau bist.«

»Ist doch wahr«, brummte er verlegen. »Die arme Frau kann einem leid tun, die so dahinvegetieren muß, nur weil der Sohn zu überängstlich ist. Daß die Beine der Gräfin wieder Gefühl haben, ist doch daraus zu ersehen, daß sie sie bewegen kann, wenn allerdings auch erst mühsam. Da wären Gehversuche am Platz. Aber sofern sie das auch nur erwähnt, bricht dem Sohn schon der Angstschweiß aus. Das wurmt mich nun ganz gewaltig. Sie werden keinen leichten Stand haben, mein kleines Fräulein.«

»Das weiß ich bereits, Herr Doktor. Übrigens hat Frau Gräfin mich gebeten, ihr bei den heimlichen Gehversuchen behilflich zu sein. Kann ich die Verantwortung übernehmen, Herr Doktor?«

»Von Verantwortung kann da keine Rede sein, Fräulein Rothe. Soweit ich Ihre prächtige Herrin kenne, wird diese für ihre Heimlichkeit, falls etwas davon zutage kommen sollte, ehe der schlagende Erfolg da ist, ganz allein einstehen. Wissen Sie überhaupt schon, wie die Dame zu ihrem Leiden gekommen ist?«

Als Holda hastig den Kopf schüttelte, sah er sie forschend an und sagte:

»Dann halte ich es für angebracht, Sie in die Elchheider Verhältnisse einzuweihen. Umso leichter wird es für Sie sein, für manches Sonderbare Verständnis zu finden.

Gräfin Elchenbrock ist nie auf Rosen gebettet gewesen. Dafür sorgten ihr leichtsinniger Mann, ihr leichtsinniger ältester Sohn und ihr Schicksal. Freude hatte sie nur an ihrer Tochter und an Egbrecht, dem Jüngsten. Ich will mich nun kurz fassen. Erster Schlag: In völlig betrunkenem Zustand geriet ihr Sorgenkind ins Moor. Zweiter Schlag, und zwar ein noch härterer: Die Tochter starb mit achtzehn Jahren an einer tückischen Krankheit. Ein Jahr darauf verunglückte der Graf auf der Jagd, sagt man und hinterließ seinem Sohn Egbrecht ein verschuldetes Erbe. Blieb diesem nichts anderes übrig, als reich zu heiraten. Aber es war außerdem eine Liebesehe, was ja nicht oft zusammentrifft.

Sie war reizend, die Gilda Riedlitz, blutjung, lebenslustig und extravagant, wie es Erbinnen oft an sich haben.

Nach einjähriger Ehe wurde ein Töchterchen geboren, der Mutter ein niedliches Spielzeug, der Abgott von Vater und Großmutter, die nach allem Leid wieder langsam das Leben zu bejahen begann.

Man kann nicht sagen, daß die junge Gräfin ein einsames Leben führte. Denn der auch noch recht junge Gatte, mit zweiundzwanzig Jahren hatte er geheiratet, sorgte für Ver­gnügungen aller Art, die er seiner lebenslustigen Frau schuldig zu sein glaubte. Allein, die gute Gilda war nicht lebenslustig, sondern lebensgierig. Kein Wunder, daß sie sich außer den ihr gebotenen Amüsements auch noch heimliche suchte, wobei der obligate Liebhaber natürlich nicht fehlte. Einige Zeit ging es gut, dann kam es zur Tragödie.

Vor ungefähr vier Jahren mußte der Graf in einer dringenden Angelegenheit auf eine Woche verreisen, wobei die Begleitung seiner Mutter notwendig war. Beruhigt fuhren sie ab, weil sie das Töchterchen bei der Mutter in guter Obhut wußten. Tagsüber blieb diese auch brav im Hause, weil sie unter Beobachtung von Auguste und Gottfried, die ihrer Herrschaft treu ergeben sind, stand. Aber abends, wenn alles im Hause schlief, traf sie sich mit ihrem Galan.

So geschah es auch an jenem Spätabend, der so unendlich viel Leid über den Grafen und seine Mutter brachte. Das Kind wachte auf, rief ängstlich nach der Mama, tappte nach deren Zimmer, fand das Bett leer.

Wie das Traurige dann kommen konnte, weiß kein Mensch genau zu sagen. Anzunehmen ist, daß das verängstigte, noch nicht einmal dreijährige Mädelchen durch das geöffnete Fenster die Stimme der Mutter gehört haben muß, ihr nachtapste, sie nicht fand, immer weiter suchte und ins Moor geriet. Leider kam der junge Mann, der durch die Heide wanderte, um ins Dorf zu gelangen, einige Minuten zu spät. Denn als er auf die gellenden Schreie der Kleinen herbeieilte, gelang es ihm zwar noch, das Körperchen aus dem grausigen Schlund zu ziehen, allein das Herzchen tat dabei seinen letzten Schlag.

Und als er mit der kleinen Leiche im Arm Elchheiden zueilte, kam ihm entgegen ein Paar singend daher. Mutter und Sohn gedachten ihre Lieben zu Hause noch am späten Abend zu überraschen, bestellten daher kein Fuhrwerk zur Bahn, sondern schlenderten von dort aus vergnügt über die Heide.

Die Gräfin, die dieser schwerste Schlag zusammenbrechen ließ, lag wochenlang auf den Tod danieder. Und als sie sich dann doch noch einmal von dem Schmerzenslager erhob, blieben die Beine der Ärmsten gelähmt. Natürlich wurden berühmte Ärzte hinzugezogen und alles getan, was nur möglich war. Einem davon vertraut der Graf blind, zieht ihn immer wieder hinzu, während die andern nach einmaliger Untersuchung wegbleiben mußten, weil er sie einfach nicht bezahlen kann.

Mich kleines Licht beorderte man auch nach Elchheiden, und ich muß ehrlich sagen, daß zuerst keine Hoffnung bestand, die Gräfin jemals wieder auf die Beine zu bringen. Und als dann das Wunder geschah und sie ein ganz schwaches Leben darin zu spüren begann, wäre es angebracht gewesen, wenigstens einen der tüchtigen Ärzte zu befragen, dann säße die Frau Gräfin bestimmt nicht mehr im Rollstuhl. Aber der Graf läßt sich von einem vertrottelten Professor einwickeln, der gerade zu dem rät, was einen andern Arzt in Rage versetzen würde.

Sonderbarerweise scheint die Frau Gräfin großes Vertrauen zu mir zu haben. Denn sie dringt darauf, daß ich wenigstens einmal in der Woche nach ihr sehe. Pflichtschuldig verschreibe ich ihr harmlose Pülverchen und Tropfen, die sie wahrscheinlich gar nicht schluckt. Und auch das wirksamste Rezept tut sie lächlend ab: mit Energie ihrem überängstlichen Sohn und seinem Intimus entgegenzutreten. Um all den Aufregungen aus dem Wege zu gehen, will sie ihn vor die vollendete Tatsache stellen.

Was noch über die pflichtvergessene Gilda zu berichten ist, kann man auch als tragisch bezeichnen. Natürlich wies der Graf sie noch in der Unglücksnacht aus dem Hause, was man ihm nicht verdenken kann. Aus Rache verlangte sie das Geld zurück, das sie in die Ehe gebracht hatte, heiratete nach erfolgter Scheidung den Galan, der sie gehörig ausbeutete und der dann, als der Schwiegervater sich weigerte, für neue Zufuhr zu sorgen, auf und davon ging.

Später kam Gilda durch einen Unglücksfall ums Leben, natürlich bei einer leichtsinnigen Autofahrt mit einem neuen Liebhaber. Ihr Vater grämte sich zuschanden, starb auch.

Da Gilda sein einziges Kind war, fiel die Hinterlassenschaft an einen Neffen. Er und der junge Mann, der die kleine Komteß aus dem Moor zog, gewannen durch die Tragödie. Ersterer durch das reiche Erbe, letzterer erhielt als Dank die Rentmeisterstelle auf Elchheiden, und somit hatte seine Arbeitslosigkeit ein Ende. Der Graf dagegen muß sich auf seinem verschuldeten Besitz weiter plagen. So, nun wissen Sie Bescheid, Fräulein Rothe.«

Holda liefen vor Erschütterung die hellen Tränen über die Wangen. Mitleidig sahen die andern auf das blutjunge Menschenkind, dem es gewiß nicht gelingen würde, sich in Elchheiden durchzusetzen.

Allein, darin sollten sie sich getäuscht haben. Denn Holda Rothe war nicht der Mensch, der so leicht mutlos wurde. Sie nahm auch nicht an, daß das Leben ein Rosengarten wäre, wie Graf Elchenbrock vermutete. Er allein sorgte schon dafür, daß es darin Dornen aller Art gab. Er behandelte das Mädchen so schroff, was es jedoch nicht entmutigte, sondern nur seinen Trotz weckte.

Außerdem machte die Wirtschafterin der armen Holda das Leben nicht leicht, beehrte sie mit ihrem Mißtrauen, bespitzelte sie an allen Ecken und Enden. Holda nahm das aber nicht tragisch, sondern freute sich spitzbübisch, wenn es ihr gelang, der Wachsamen ein Schnippchen zu schlagen.

Denn trotz aller Bewachung gelang es ihr immer wieder, der Gräfin bei ihren heimlichen Gehversuchen behilflich zu sein, die streng nach Doktor Schliereits Verordnung vor sich gingen. Viel Erfolg war allerdings noch nicht zu verzeichnen, was Holda mehr entmutigte als Frau Feline.

»Lassen Sie nur, mit einem Streiche fällt eben keine Eiche«, bemerkte die Gräfin einmal humorvoll. »Was meinen Sie wohl, wie herrlich das sein wird, wenn wir beiden Verschwörer eines Tages vergnügt über die Heide wandern werden!«

»Das werde ich nicht mehr erleben, Frau Gräfin.«

»Warum denn nicht? Gedenken Sie etwa zu sterben?«

»Das habe ich durchaus nicht vor«, war die lachende Erwiderung. »Aber bis die Wanderung sich verwirklichen läßt, bin ich schon längst nicht mehr hier. Denn im Frühjahr gedenke ich mit dem Studium zu beginnen.«

»Und solange noch sollte ich mich mit meiner mühsamen Spaziererei ohne Erfolg abplagen? Das ist gerade keine Ermutigung, die Sie mir da geben, mein Kind! Sehen Sie mich nicht so erschrocken an, ich resigniere nicht so leicht, sondern beherzige das Sprichwort, daß Hoffnung nicht zuschanden werden läßt. Jetzt haben wir erst einmal Frühsommer, es folgen Herbst und Winter, und dann sollen sie mal sehen, wie leichtfüßig ich dahinschreite!«

»Wie ich mich darüber freuen würde! Leider kann ich für Frau Gräfin so wenig tun.«

»Sie tun schon gerade genug für mich.« Sie sah lächelnd in die treuherzigen Augen des Mädchens hinein. »Und zwar durch Ihren goldnen Frohsinn. Der ist nämlich meine beste Medizin.«

»Wirklich, Frau Gräfin?«

»Wirklich. Ich werde Sie nach Ihrem Fortgang hier sehr vermissen, meine kleine Holde.«

»O wie schön«, lachte das Mädchen glückselig. »Das ist wie ein kostbares Geschenk, das ich soeben erhielt. Nun weiß ich doch, daß Frau Gräfin zufrieden mit mir sind, und alle anderen können mir gestohlen bleiben!«

Frau Feline stimmte in das herzfrohe Lachen ein und sah so dem Sohn entgegen, der den Rosengang betrat, in dem der Rollstuhl stand.

»So fröhlich, Muttchen?« fragte er fast vorwurfsvoll, und sie antwortete vergnügt:

»Na, was denn! Soll ich etwa grämlich sein, wo die Sonne so golden scheint, die Rosen duften und die Vögel jubilieren? Du verlangst wahrlich viel von mir, mein Sohn.«

»Nicht so, meine kleine Mama. Ich freue mich über deine Fröhlichkeit.«

»So siehst du gerade aus«, bemerkte sie trocken mit einem Blick in sein finsteres Gesicht. »Hast du etwas auf dem Herzen, weil du zu so ungewohnter Stunde bei mir erscheinst?«

»Ja. Ich möchte dir sagen, daß sich der Professor für heute nachmittag angemeldet hat. Er will wieder einmal nach dir sehen.«

»Nett von dem alten Herrn, die beschwerliche Reise zu machen. Seine Anhänglichkeit ist anerkennenswert.«

»Wie du manchmal sprichst, Mutter! Nimmst du den Arzt etwa nicht ernst, der eine Kapazität auf seinem Gebiet ist?«

»Gott bewahre, mein Junge. Die erkenne ich gewiß an.«

»Will ich meinen. Rege dich vor seinem Kommen bitte nicht zu sehr auf.«

»Sollte mir einfallen! Was er sagen wird, weiß ich nämlich schon vorher.«

»Mutter!«

»Egbrecht! Nun friß mich bloß nicht«, lachte sie ver­gnügt. »Ich freue mich direkt auf den Besuch des Professors.«

Den lernte Holda dann auch am Nachmittag kennen. Ein verknöcherter Herr, sehr von seiner Weisheit durchdrungen. Er untersuchte die Gräfin flüchtig und meinte danach wichtig:

»Meine Verordnungen haben zu einem winzigen Schritt der Besserung geführt. Die Lähmung ist natürlich nicht zurückgegangen, wie ich sofort bemerken konnte. Aber Herz und Nerven haben sich gebessert. Demnach ist sie recht brav gewesen, unsere verehrte Kranke.«

»Sehr brav.«

»Muß man auch sein, wenn man sein Leben erhalten will. Also immer weiter folgsam bleiben, Frau Gräfin. Hübsch ruhig dasitzen, sich niemals anstrengen. Das kann zum Herzschlag führen.«

Holda, die auf Wunsch der Gräfin der Unterredung beiwohnte, hätte dem salbadrigen Herrn am liebsten in sein verkniffenes Gesicht gelacht. Wenn er nur wüßte, der Wichtigtuer, der die Besuche nach Elchheiden gewiß nur unternahm, weil sie gut bezahlt wurden! Wie konnte der Graf nur so großes Vertrauen zu dem Mann mit seinen überalterten Ansichten haben? Da hatte Doktor Schliereit schon recht, wenn er ihn verbohrt nannte.

»Wie gefällt Ihnen denn der kluge Herr Professor?« fragte Frau Feline, als sie wieder mit Holda allein war.

»Gar nicht, Frau Gräfin. Wenn ich später einmal einen solchen Chef bekommen sollte, das wäre, um mit Gustchen zu sprechen, daß Gott erbarm.«

»Ja, Holdakind, wer sich in Gefahr begibt, kommt oft darin um. Aber wiederum ist eine Gefahr, die man erkennt, eigentlich keine mehr, weil man sich vor ihr schützen kann.«

»Aha, ich verstehe. Gefahr: Der Professor. Die sich davor Schützende: Frau Gräfin. Gehorchen ist nichts, gehorsam tun alles.«

Beim Anblick des lachenden Mädchengesichts wurde es der Frau warm ums Herz. Wie ein wärmender Sonnenstrahl wirkte die fröhliche Art des jungen Menschenkindes auf die Leidende, die jahrelang durch das Leben so gelitten und so im Schatten gestanden hatte.

*

Es war nun schon das dritte Mal, daß Holda über die Heide dem Dorf zuschritt, um ihren freien Sonntagnachmittag im Doktorhaus zu verleben. Heute bereute sie es, nicht den Weg durch den Wald gewählt zu haben; denn die Sonne meinte es gar zu gut. Sie brannte unbarmherzig vom wolkenlosen Himmel, kein Lüftchen regte sich.

Nun, schön war anders, doch Holda ließ sich nicht verdrießen. Tapfer schritt sie drauflos, aber sie war doch froh, als sie die Doktorfamilie begrüßen konnte, die wie gewöhnlich um diese Zeit auf der Veranda beim Nachmittagskaffee saß.

Auf allgemeinen Wunsch hatte sie ihre geliebte Laute mitgebracht, die ihr in bunter Pracht über die Schulter hing. Mit Wohlgefallen ruhten aller Augen auf dem lachenden Mädchengesicht, die des jungen Arztes am wohlgefälligsten.

Donner noch eins, so eine süße Krabbe konnte einem Mann schon das Herz heiß machen! Wenn es nach ihm ginge, sollte sie gar nicht erst mit dem Studium beginnen, das sie sich so eigensinnig in ihr reizendes Köpfchen gesetzt hatte! Eifrig schob er einen Korbsessel neben den seinen, in den sie sich fallen ließ.

»Was macht die Heimlichkeit?« erkundigte sich der Senior der Familie.

»Es geht langsam voran, Herr Doktor«, berichtete Holda. »Gestern machte Frau Gräfin ganz selbständig drei Schritte. Ist das nicht ganz herrlich?«

»Kann man wohl sagen.« Der Arzt nickte zufrieden. »Aber nun nicht womöglich den Größenwahn bekommen und Raubbau mit den Kräften der Frau Gräfin treiben!«

»Keine Angst, ich bremse schon«, war die vergnügte Antwort. »Wenn es nämlich nach der Frau Gräfin ginge, würde sie viel mehr auf den Beinen sein. Mir wird manchmal angst und bange bei so viel verbissener Hartnäckigkeit…«

»Die zu bewundern ist«, warf die Hausherrin ein. »Ich hätte bei der Dame nie eine solche Willenskraft vermutet, angesichts der Resignation, die sie zur Schau trug.«

»Sie trug sie nicht nur zur Schau, sondern sie wäre ihr schon fast verfallen«, stellte der Gatte richtig. »Kein Wunder unter der strengen Bewachung von Sohn, Auguste und den alten Tanten die man ihr als Gesellschafterin und Betreuerin bisher gestattete. Die hätten schön Zeter und Mordio geschrien, wenn die Ärmste in ihrer Gegenwart gewagt hätte, von den Beinen Gebrauch zu machen. Zu allem noch die Vorschriften des vernagelten Professors…«

»Nun ergrimme dich nicht wieder, mein lieber Mann«, lachte die Gattin dazwischen. »Deine Verordnungen werden noch einmal die deines großen Kollegen glänzend schlagen. Vorausgesetzt, daß Fräulein Rothe der Gräfin ihren Beistand nicht versagt.«

»Wie sollte das wohl möglich sein?« fragte Holda erstaunt.

»Indem Sie Reißaus nehmen. Denn lange werden Sie es in Elchheiden nicht mehr aushalten. Wie lange sind Sie überhaupt schon dort?«

»Sechs Wochen. Und ebenso viele Monate gedenke ich noch zu bleiben.«

»Das gebe Gott«, meinte die Dame skeptisch. »Denn falls Ihre und der Gräfin Heimlichkeit herauskommt…«

»Fliege ich«, ergänzte Holda und setzte lachend hinzu: »Das heißt, wenn der zornbebende Herr Graf mich nicht vorher auf der Stelle frißt.«

»Mädchen, Mädchen«, fiel der Hausherr in die allgemeine Heiterkeit ein. »Das könnte Ihnen leicht passieren. Den Brummbär noch in Rage zu bringen, na ich danke!«

»Halb so schlimm«, tat Holda unbekümmert ab. »Man muß es nur verstehen, dem gestrengen Herrn im großen Bogen aus dem Wege zu gehen, dann kommt man gut mit ihm aus. Daß ich ihm nicht nach seiner düster umschatteten Nase bin, habe ich begriffen. Liebend gern würde er mich aus Elchheiden verbannen, aber in der Beziehung setzt seine so rücksichtsvolle Mutter ihm hartnäckigen Widerstand entgegen. Sie mag mich nämlich gern um sich haben, meine liebe Frau Gräfin, was mich unsagbar beglückt. Ich habe sie schrecklich gern.«

»Was auf Gegenseitigkeit beruhen dürfte«, meldete sich die Tochter des Hauses. »Frau Gräfin liebt Sie direkt, wie ich bei meinem letzten Besuch in Elchheiden feststellen konnte. Wenn sie Sie kleine Holde nennt, berührt es wie ein zärtliches Streicheln.«

»Das höre ich auch zu gern«, nickte Holda. »Könnte ich nur noch erleben, daß diese wundervolle Frau, die ihr Leid mit so bewundernswerter Geduld trägt, wieder unbeschwert dahinschritte!«

»Nanu, wollen Sie denn sterben?« fragte der junge Arzt genau so verwundert, wie es die Gräfin vor einiger Zeit getan, und erhielt die gleiche Antwort wie sie:

»Das habe ich durchaus nicht vor. Doch bis die Frau Gräfin soweit ist, bin ich nicht mehr in Elchheiden, weil ich im Frühjahr mit meinem Studium beginnen will.«

»Spukt die fixe Idee immer noch in dem reizenden Köpfchen?«

»Fixe Idee? Nehmen Sie mich etwa nicht ernst, Herr Doktor?«

»Kinder, verderbt uns nicht die Gemütlichkeit mit heiklen Gesprächen«, bog der Hausherr energisch einen Streit ab. »Wollen wir lieber fröhlichen Gesang erschallen lassen. Hol deine Laute herbei, Reinhild, und Sie greifen nach der Ihren, kleine Holde.«

Man tat’s, stimmte die Instrumente auf den gleichen Ton, und schon erfüllte froher Singsang die Veranda. Es waren durchweg keine meisterhaft geschulten Stimmen, aber die einfachen Lieder waren von bestrickendem Wohlklang. Man vergaß bei der vergnüglichen Beschäftigung die Zeit, bis Holda nach ihrer Armbanduhr sah und erschrocken aufsprang:

»Da kann ich mich ja nun in Trab setzen, um pünktlich in Elchheiden zu sein! Sonst kriege ich es mit Guste zu tun, die mir bis sieben Uhr Urlaub bewilligte. Wehe, wenn ich auch nur fünf Minuten zu spät komme!«

Sie nahm herzlich Abschied von der ihr so liebgewordenen Familie und lehnte entschieden ab, als der Sohn des Hauses ihr seine Begleitung anbot.

»Besten Dank, Herr Doktor. Allein geht man schneller, weil man sich nicht festplaudern kann. Und Sie wissen, daß meine Zeit knapp bemessen ist.« Leichtfüßig eilte sie davon und rief auf die Aufforderung, recht bald wieder zu erscheinen, fröhlich zurück: »In zwei Wochen, wenn ich Ausgang habe!«

Weg war sie, und Schliereit senior schmunzelte.

»Ist doch ein Mordmarjellchen. Das wäre so was für uns hier, was, mein Sohn? Schade, daß es so ein Kirchenmäuslein ist.«

»Was du bloß immer mit dem Geld hast, Vater?« entgegnete der junge Arzt schroffer als es angebracht gewesen wäre. »Geld macht nicht glücklich!«

»Aber es beruhigt«, kam es pomadig zurück. »Nichts und Nichts macht nämlich Nichts. Mach also keine Dummheiten, mein Junge!«

»Danach werde ich dich gerade fragen. Dort naht übrigens Reinhilds ›Dummheit‹.«

»So kann man das gerade nicht bezeichnen.« Der Vater sah schmunzelnd zu einem schmucken Oberförster hin, der sich der Veranda näherte. Ein junger, schneidiger Jägersmann, dessen Anblick die Mädchenherzen hochauf schlagen ließ. Und bei der heißerrötenden Reinhild sprang es sogar vor Freude und Glückseligkeit.

Mit so einem Schwiegersohn kann man wohl zufrieden sein, dachte der Vater. Und wenn dann die Reinhild gut versorgt ist, kann sich der Hartwig vielleicht den Luxus gestatten, arm zu heiraten. Na, mal sehen.

Während man im Doktorhaus den willkommenen Gast herzlich begrüßte und sich nebenbei noch in Gedanken mit Holda Rothe beschäftigte, schritt diese über die Heide, die nun vom Abendsonnenglanz überstrahlt war. Da Holda hurtig die Beine geregt hatte, blieb ihr noch so viel Zeit, um ein wenig zu verschnaufen. Sie tat s auf dem Stein, auf dem sie bereits vor sechs Wochen gesessen, ließ sich aufs neue vom Zauber der Heidelandschaft einspinnen.

Und ausgerechnet mußte s Graf Elchenbrock sein, der Holda aus ihrer Träumerei riß. Wie aus der Erde gewachsen stand er plötzlich vor ihr.

»Verzeihung«, stammelte sie verwirrt.

Er winkte ab. »Ich wüßte nicht, was ich zu verzeihen hätte, Fräulein Rothe. Höchstens, wenn Sie um sieben Uhr nicht in Elchheiden sein sollten. So lange haben Sie ja wohl Urlaub.«

»Den ich rechtmäßig zu beanspruchen habe«, blitzte sie ihn empört an. Merkwürdig, wie sich ihr Trotz beim Anblick des Mannes immer sofort regte.

»Man hat manches im Leben zu beanspruchen«, kam es hart über die Männerlippen. »Aber danach fragt es leider nicht, mein eigenwilliges Kind.«

»Nun, jeder macht aus seinem Leben, was er kann«, entgegnete sie aufsässig. »Ich jedenfalls habe vor, mich hindurchzulachen.«

Damit warf sie den Kopf in den Nacken, schulterte die Laute und ging rasch davon. Kümmerte sich nicht um ihn, der an ihrer Seite blieb. Sollte er merken, daß ihr an seiner Begleitung durchaus nichts lag! Sie lachte, als die beiden größeren Hunde heranstürmten. Es gab ein wirklich freudiges Wiedersehen.

»Allons!« forderte sie die Vierbeiner dann mutwillig auf, und fort ging’s im fröhlichen Jagen. Der Dackel rannte, daß die Ohren nur so flogen, in langen Sätzen sprang der Jagdhund dahin.

Und gerade, als das lustige Dreigespann den Gutshof erreichte, holte die Turmuhr aus zu sieben Schlägen. Einige Minuten war es noch Zeit, die Holda damit ausfüllte, in ihr Zimmer zu eilen, die Laute abzulegen, die wirren Haare zu glätten und das heiße Gesicht mit wohlriechendem Wasser zu kühlen. Als der Gong ertönte, betrat sie das Speisezimmer, wo die Hausherrin wie gewöhnlich vor jeder Mahlzeit bereits in ihrem Rollstuhl am gedeckten Tisch saß und ihr freudig entgegensah.

»Lieb von Ihnen, daß Sie so pünktlich sind, Fräulein Rothe.«

*

An den Hügel, unter dem sich so viel Liebes barg, gelangte Holda am andern Tage. Allerdings durch Zufall. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, in der Mittagsstunde, während die Herrin ruhte und ihrer nicht bedurfte, einen Spaziergang zu machen und dabei manches Neue kennenzulernen.

Heute interessierte es sie, woher die langen, mit vier Pferden bespannten Leiterwagen kamen, auf denen sich duftendes Heu türmte. Und als einer der Gutsleute sie neckend aufforderte, einen leeren Wagen zu besteigen, tat sie es fröhlich.

Fort ging’s durch den Wald, der sich nach einer kurzen Strecke lichtete und den Blick auf weite Felder freigab, zwischen denen sich die Chaussee hinzog. In der Ferne dunkelte Wald, so daß das fruchtbare Land wie in einer geschützten Mulde lag. So weit das Auge reichte, wogende Kornfelder, grüne Weiden, auf denen das Vieh friedlich graste oder Schutz vor der Sonne suchte unter den Bäumen, die den Bach umsäumten. Kartoffel-, Rüben-, Lupinenfelder, alles stand in prächtigem Wuchs.

An einer Stelle herrschte emsiges Treiben; denn dort war die Heuernte im Gange. Kurz davor bat Holda den Kutscher absteigen zu dürfen, suchte sich ein schattiges Plätzchen unter einer alten Linde und sah von da aus dem Treiben zu. Die Menschen taten ihr leid, die in der brennenden Sonne so schwere Arbeit leisten mußten, die sie als Stadtkind bisher nur vom Hörensagen kannte.

Jetzt bemerkte sie auch zwei Reiter, die sich zwischen dem Menschenschwarm tummelten. In einem erkannte sie den Grafen. Welch eine prachtvolle Figur er zu Pferd machte, auf dem er mit so lässiger Sicherheit saß, als ruhe er im Klubsessel!

Reiten können, das war schon immer Holdas Wunschtraum gewesen. Aber eine Gesellschafterin und hoch zu Roß – da würde der Graf sie wohl gehörig in ihre Schranken zurückweisen! Also nicht größenwahnsinnig werden, liebe Holda Rothe, immer hübsch mit beiden Beinen auf dem Erdboden bleiben, wo du hingehörst!

Sie erhob sich und ging gemächlichen Schrittes den Fahrweg zurück, den sie auf dem Leiterwagen gekommen war. An einer Stelle zweigte ein Fußweg nach rechts ab und führte tiefer in den Wald hinein. Da sie noch Zeit hatte, schlug sie ihn ein, in der Hoffnung, Neues zu entdecken.

Herrlich, so unter den mächtigen Waldriesen dahinzuschlendern! Mit Behagen atmete sie die würzige Luft, summte ein Liedlein vor sich hin und genoß mit allen Sinnen das Wundersame der Natur.

Jäh hemmte sie den Schritt und schaute überrascht auf das liebliche Bild. Wieder eine Lichtung, in der sich schmucke kleine Häuser aneinander reihten. Die roten Dächer leuchteten im Sonnenlicht, aus den Schornsteinen stieg heller Rauch kräuselnd zum klarblauen Himmel empor. Hinter den geöffneten Fenstern blähten sich Gardinen, in den geschlossenen spiegelte sich die Sonne wie blitzendes Gold. In den Vorgärten blühten Sommerblumen in herrlicher Buntheit.

Holda schritt den gut gepflasterten Weg entlang. An dem Gartenzaun eines besonders schmucken Hauses blieb sie stehen und grüßte zu der Frau hin, die einen Weg harkte.

»Ah, das Fräulein vom Schloß«, sagte die Frau freundlich. »Wollen Sie nicht nähertreten?«

Holda öffnete die Gartentür und stand gleich darauf vor der stattlichen Dame.

»Ich bin Holda Rothe.«

»Und ich die Frau des Oberinspektors Multer«, kam es zurück. »Da wir nun wissen, wer wir sind, steht einem gemütlichen Schwatz nichts im Wege. Wollen wir uns hier auf die Bank setzen?«

Sie ließen sich auf die weißlackierte Bank vor dem Haus nieder, und Holda schaute mit frohen Augen um sich.

»Sie haben es wunderschön hier, Frau Multer.«

»Oh ja, Elchheiden ist ein kleines Paradies. Und da ich Eva heiße, so habe ich das Recht, darin zu weilen.«

Holda lachte hellauf und sah dabei der Dame in die Augen, in denen es schalkhaft blitzte. Rasch nahm sie das Signalement in sich auf: Frisches, vollwangiges Gesicht, Augen blaugrau, Gestalt groß und etwas über vollschlank, Alter zwischen vierzig und fünfzig. Gesamteindruck: äußerst sympathisch.

»Wie geht es der Frau Gräfin?« hörte sie nun eine angenehme Stimme neben sich sagen. »Hat sich der Zustand der Bedauernswerten immer noch nicht gebessert?«

»Ich glaube nicht«, gab Holda zögernd Antwort. »Sie tut mir so schrecklich leid, meine liebe Gräfin.«

»Mir auch. Überhaupt uns allen hier. Wir wundern uns, daß Frau Gräfin ausgerechnet Sie, Fräulein Holda, zu ihrer Gesellschaft ins Haus genommen hat.«

»Warum?« fragte das Mädchen erschrocken. »Mache ich denn einen so widerwärtigen Eindruck?«

»Im Gegenteil«, lachte die andere herzlich. »Sie werden schon noch einmal dahinterkommen, was ich mit meiner Bemerkung meinte. Haben Sie sich schon ein wenig eingelebt?«

»Schon recht gut sogar. Ich finde Elchheiden wunderschön. Immer wieder entdecke ich etwas, das mich entzückt.«

»Der Reiz der Neuheit, mein Fräulein.«

»Vielleicht? Jetzt jedenfalls finde ich es so herrlich auf dem Lande, daß ich nicht mehr in die Stadt zurückkehren mag. Es geht mir ja auch gut. Wenn ich jedoch an die Menschen denke, die bei dieser Hitze auf dem Felde arbeiten müssen…«

»Tun sie Ihnen etwa leid?« warf die Dame verwundert ein.

»Sehr.«

»Da verschwenden Sie umsonst Ihr Bedauern, Fräulein Rothe. Fragen Sie mal die richtigen Landleute, ob sie in der Stadt leben möchten, die würden Sie nur mitleidig ansehen! Die Landarbeit macht ihnen nicht viel aus, weil

sie seit früher Jugend daran gewöhnt sind.«

»Das kann schon stimmen«, meinte Holda nachdenklich. »Sicherlich möchten sie nicht mit mir tauschen, die ich dreizehn Jahre zur Schule gegangen bin und die Lernerei auf der Universität fortzusetzen gedenke.«

»Oh weh«, lachte Frau Multer herzlich. »Die Leute sind froh, wenn sie die Dorfschule hinter sich haben. Was wollen Sie werden?«

»Ärztin.«

»Kein leichter Beruf. Weiß die Frau Gräfin darum?«

»Ja. Ich habe mich nur bis Ostern verpflichtete.«

»Schade. Sie in Ihrer frohgemuten Art bringen gewiß Sonne in das düstere Leben der Ärmsten, während die Gesellschafterinnen, die sie bisher hatte, Transusen waren. Wie stellt sich die Wirtschafterin Auguste zu Ihnen?«

»Die möchte mich am liebsten fressen«, lachte Holda. »Warum, das ist mir nicht klar, aber lassen wir der Guten das Vergnügen. Mich stört ihre Abneigung durchaus nicht.«

»Recht so, nur nicht unterkriegen lassen! Aber jetzt muß ich unsern Plausch leider beenden, weil ich mich um den Kaffee kümmern möchte. Sonst ist mein Mann ungemütlich, wenn er müde und durstig vom Felde kommt und auf den geliebten Trank warten muß.«

»Er hat es wohl sehr schwer?«

»Nicht schwerer als jeder andere Landwirt.«

»Ist er der einzige Gutsbeamte hier?«

»Nein. Noch ein Inspektor, zwei Volontäre, Rentmeister, die alle in diesen schmucken Häusern wohnen. Außerdem gehören zu Elchheiden noch drei große Vorwerke, die jenseits des Waldes liegen und ihre eigenen Gutsbeamten haben. Dazu noch Forstbeamte, weil Elchheiden viel Wald besitzt. Wußten Sie das alles noch nicht?« schloß sie recht verwundert.

»Nein. Frau Gräfin spricht mit mir über derartige Dinge nicht, wahrscheinlich weil sie annimmt, daß ein Stadtkind sich dafür nicht interessiert. Doch nun möchte ich Sie nicht länger aufhalten, Frau Multer. Herzlichen Dank für den netten Plausch.«

»Er hat mir auch gut gefallen. Es würde mich freuen, öfter einmal mit Ihnen plaudern zu können.«

»Wird gemacht. Welchen Weg muß ich einschlagen, um zum Schloß zu kommen?«

»Links den Pfad entlang, der sich durch den Wald schlängelt, bis Sie zum Auffahrtweg kommen. Dann wieder links abbiegen.«

»Danke, nun weiß ich Bescheid. Auf Wiedersehen, Frau Multer.«

»Auf Wiedersehen, Fräulein Rothe.«

Trotz der Beschreibung verfehlte Holda doch den rechten Weg und stand ratlos am Waldesrand. Vor ihr erstreckte sich die Heide. Beunruhigt sah sie nach der Uhr. Gottlob, noch hatte sie eine halbe Stunde Zeit.

Links abbiegen. Wenn sie nun am Waldesrand entlangging, mußte sie eigentlich auf den Auffahrtsweg zum Schloß kommen.

Also schritt sie hurtig aus, bis eine dichte Hecke, die mit Heiderosen übersät war, ihren Schritt hemmte. Im Viereck zog sie sich hin. Holda reckte sich, um über die Hecke lugen zu können, allein diese war zu hoch.

Wie dumm! Nun mußte sie das Geviert umgehen, wobei sie Zeit verlor. Sie hastete weiter und erreichte die Stelle, wo die Hecke durch ein schmiedeeisernes Tor unterbrochen war. Durchlugend erspähte sie einen Friedhof. Hatte sie noch Zeit? Ja, etwa zwanzig Minuten.

Leni Behrendt Classic 49 – Liebesroman

Подняться наверх