Читать книгу Leni Behrendt Classic 52 – Liebesroman - Leni Behrendt - Страница 3
Оглавление»Herr Baron, hier ist ein Einschreibebrief.«
Hellersen, der arbeitend am Schreibtisch saß, nahm der alten Barbe den Brief ab und setzte seinen Namen auf den Zustellungsschein, mit dem die Alte wieder hinausging. Gleichgültig öffnete er das Schreiben; doch schon bei den ersten Zeilen trat ein Ausdruck höchster Überraschung in sein Gesicht. Der Bogen trug links oben die Anschrift eines Notars, und der Inhalt des Schreibens lautete dann:
Baron von Hellersen, Verwalter auf Rittergut Lorren, wird gebeten, nach Empfang dieses Schreibens unverweilt nach Waldwinkel zu kommen. Die Aufforderung geschieht auf ausdrücklichen Wunsch des Herrn Leopold von Hellersen, des Besitzers von Waldwinkel, der schwer erkrankt ist.
Unten stand der schlecht leserliche Namenszug des Notars. Swen schüttelte zweifelnd den Kopf: Wenn dem Herrn Justizrat da nur nicht ein Irrtum unterlaufen war!
Waldwinkel, das sagenumwobene. So konnte man es wohl nennen, weil viele davon sprachen, wenige es jedoch mit eigenen Augen erschaut hatten. Ein wundervoller Besitz sollte dieses Waldwinkel sein, zu dem noch einige Vorwerke und die Güter Jagen und Trollen gehörten. Es war der Stammsitz der Hellersen, der immer auf den erstgeborenen Sohn vererbt wurde.
Das war im letzten Falle der verwachsene Leopold von Hellersen gewesen. Seinem jüngeren Bruder Ewald waren das naheliegende Rittergut Hirschhufen und die beiden Nebengüter Wallen und Lutzen als Erbteil zugefallen. Er hatte jedoch ein so verschwenderisches Leben geführt, daß sein Besitz unter den Hammer gekommen war. Sein Bruder Leopold hatte die Familiengüter ersteigert, weil er sie nicht in fremde Hände übergehen lassen wollte. Ewald erschoß sich, und seine Familie, die nun mittellos dastand, wurde von Leopold von Hellersen unterhalten. Er fühlte sich dazu verpflichtet, weil sie seine nächsten Anverwandten waren. Swen von Hellersen entstammte einer entfernten Seitenlinie. Er hatte Leopold von Hellersen nur einmal gesehen und ihn als unfreundlichen, stark verwachsenen und grundhäßlichen Mann in Erinnerung, der einsam auf seinem herrlichen Besitz lebte und nicht einmal seine nächsten Verwandten und Erben um sich duldete.
Und da sollte der alte Herr ausgerechnet ihn, Swen, der so entfernt mit ihm verwandt war, daß er eigentlich nur den Namen mit ihm gemein hatte, zu sich rufen?
Das war doch wohl kaum denkbar.
Es war wohl am besten, wenn er den Notar anrief; seine Telefonnummer stand ja auf dem Briefbogen.
Der Justizrat war jedoch nicht in seinem Büro zu erreichen. Er wäre in Waldwinkel, erhielt Hellersen als Auskunft. Und erst, als er dort anrief, bekam er den Herrn an den Apparat.
Nein, es wäre absolut kein Irrtum, lautete der Bescheid. Das Kommen des Barons wäre dringend, sehr dringend. Es hinge der Frieden eines Sterbenden davon ab; denn Leopold von Hellersen erwartete ihn mit Ungeduld.
Swen wurde die Angelegenheit immer rätselhafter. Was hatte er mit dem Frieden dieses fremden Mannes zu tun?
Nach Waldwinkel mußte er fahren, das konnte er wohl nicht umgehen. Es hieß also zuerst den Reiseplan aufstellen; er wußte ja nicht einmal, wohin er eigentlich zu fahren hatte, mußte erst die Station ausfindig machen.
Nach einiger Mühe war sein Plan fertig. Bis Königsberg konnte er mit dem D-Zug fahren, dann einige Stationen mit der Nebenbahn, dann mit der Kleinbahn, und schließlich hatte er noch ungefähr vier Kilometer zu Fuß zu gehen. Dieses Waldwinkel schien ja ein ganz gottverlassener Winkel zu sein. Gut, daß die Anschlüsse paßten, sonst käme er heute überhaupt nicht mehr ans Ziel.
Hellersen packte einen kleinen Koffer und ging dann nach dem Herrenhause hinüber, um sich Urlaub zu erbitten.
Als Hellersen sein Anliegen vorbrachte, sagte Herr Hungold: »Den Urlaub sollen Sie selbstverständlich haben.«
»Gehorsamsten Dank für die Urlaubsbewilligung. Ich komme wieder, sobald es mir möglich ist.«
Der alte Herr reichte seinem Verwalter mit betonter Herzlichkeit die Hand.
»Kommen Sie recht bald wieder!« verabschiedete er ihn.
*
Der Zug lief in einen Bahnhof ein, und Hellersen fuhr aus seinen Gedanken auf. Er spähte hinaus und las den Namen der kleinen Station, an der er zum zweitenmal umsteigen mußte. Rasch verließ er den Zug und wollte sich gerade nach dem Weg zur Kleinbahn erkundigen, als ein Herr auf ihn zutrat.
»Ich habe wohl Herrn Baron von Hellersen vor mir?« fragte er höflich, und der Gefragte war überrascht.
»Woher kennen Sie mich denn, mein Herr?«
Ein leichtes Lächeln ging über das ausdrucksvolle Gesicht des Mannes.
»Es steigen nicht viele Menschen auf dieser Station aus, und da dürfte es nicht schwerfallen, einen Hellersen herauszufinden. Gestatten: Roger Wieloff, Sekretär des Herrn von Hellersen-Waldwinkel«, stellte er sich mit einer respektvollen Verbeugung vor. Swen streckte ihm die Hand hin.
»Das freut mich, Herr Wieloff«, sagte er herzlich. »Sind Sie gekommen, um mich nach Waldwinkel zu holen?«
»Jawohl, Herr Baron. Eile tut nämlich not.«
Dabei schritt er schon auf ein elegantes Auto zu, neben dem der Fahrer in gestraffter Haltung stand.
»Darf ich den Herrn Baron bitten, Platz zu nehmen?« bemerkte Wieloff höflich und wollte sich neben den Führersitz setzen; doch Hellersen winkte ihn an seine Seite.
»Kommen Sie zu mir, Herr Wieloff. Sie müssen mir erzählen, was eigentlich in Waldwinkel los ist.«
Der Wagen sprang an. Obgleich aber Swen den Sekretär, der nun neben ihm saß, vieles fragen wollte, blieb er doch sehr schweigsam, erkundigte sich nur nach belanglosen Dingen, und Wieloff gab höfliche und klare Antworten.
Aufmerksam sah Swen sich um. Zuerst ging es durch das Städtchen, das einen erstaunlich großstädtischen Eindruck machte. Jetzt ging es ungefähr fünfzig Meter durch einen alten Park, und dann hielt der Wagen endlich vor dem Schloß. Ein alter Diener öffnete den Schlag. Swen stieg zögernd aus, und seine Blicke gingen an dem stattlichen Gebäude hoch. Mit einem Gefühl der Ehrfurcht betrachtete er den wundervoll zusammengefügten Bau. Soviel er von diesem Schloß auch schon gehört hatte, so bedeutend hatte er es sich doch nicht vorgestellt. Und dann die ganze Umgebung, einfach unvergleichlich schön! Vor dem Schloß, nur durch einen breiten Kiesweg getrennt, streckten sich gepflegte Rasenflächen mit Baumgruppen, Ziersträuchern und prachtvollen Blumenrabatten hin. Dahinter leuchteten die roten Dächer der hiesigen Wirtschaftsgebäude. Kleine Häuser lagen überall zerstreut; es waren wohl die Häuser der Gutsarbeiter. Und alles das eingerahmt von Wald – Wald und wieder Wald, so weit das Auge reichte. Herrlich, hier leben und schaffen, dieses Paradies sein eigen nennen zu dürfen. Beneidenswerter Leopold von Hellersen.
Mit einem leisen Seufzer ging Swens Blick wieder zum Schloß zurück und blieb an zwei männlichen Gestalten haften, die unter der Portaltür standen – still und stumm wie ja alles hier ringsum war. Er stieg die breiten Stufen empor und stand nun vor den Herren, die sich tief vor ihm verneigten.
»Justizrat Glang« – »Sanitätsrat Melch«, stellten sie sich vor. Schweigend gab Swen ihnen die Hand. Er wurde aus zwei Augenpaaren gemustert, sehr scharf, sehr eingehend, und fühlte sich beunruhigter von Minute zu Minute.
»Sie sind wohl der Herr, der mich brieflich hierhergerufen hat?« wandte er sich höflich an den Justizrat, und der nickte.
»Ganz recht, Herr Baron. Der Herr Onkel erwartet Sie schon ungeduldig. Wollen Sie mir bitte folgen.«
Sie betraten die riesengroße Halle des Schlosses, und Hellersen überwältigte fast der durch einige Stockwerke gehende, feierlich wirkende Raum. Er hatte ein kirchenartiges Gepräge, und dieser Eindruck wurde noch durch die buntgemalten Glasfenster erhöht. Es ging über weiche Teppiche, die zum größten Teil den kunstvoll eingelegeten Steinboden bedeckten, und an sehr hohen und sehr breiten geschnitzten Türen vorbei. Swen erschien das alles so unwirklich, beinahe märchenhaft. Er hatte das Gefühl, als ginge er schon stundenlang durch diese feierliche Stille, und er atmete wie befreit auf, als der Justizrat eine Tür öffnete und ihn mit einer höflichen Handbwegung einzutreten bat. Die Tür schloß sich hinter ihm; Swen wurde es recht unbehaglich zumute. Zuerst konnte er in dem Halbdunkel, das in dem weiten Raum herrschte, nichts unterscheiden. Es war so still um ihn her, daß er seine eigenen Atemzüge hörte.
»Ein echter Hellersen, ganz so wie er«, sprach nun eine Stimme ganz in seiner Nähe, sehr langsam, sehr müde und schleppend. Swen fuhr herum und entdeckte zu seiner Erleichterung den Sprecher in einem Lehnstuhl am Kamin.
»Komm näher, mein Junge!«
Er trat rasch auf die Gestalt im Lehnstuhl zu und ergriff die ihm entgegengestreckte, kraftlose, fieberheiße Hand. Aus ihn verhüllenden Decken schaute ein unförmiger Körper, auf dem ein viel zu kleiner Kopf mit einem faltigen Greisengesicht saß, hervor. Die Augen blickten glanzlos und unstet, musterten den Besucher jedoch sehr eingehend.
Das mußte wohl Leopold von Hellersen sein! Swen hatte Mühe, sein heftiges Erschrecken über diese Mißgestalt zu unterdrücken.
»Herr von Hellersen, ich bin gekommen…«, begann er zögernd, doch der Kranke winkte mit einer matten Handbewegung ab.
»Sag Onkel zu mir, mein Junge, wenn ich es auch dem Verwandtschaftsgrade nach kaum noch für dich bin. Zieh dir einen Sessel heran und nimm Platz! Ganz dicht, noch dichter! Ich kann nur leise sprechen und habe dir noch viel zu sagen.«
Swen schob einen Sessel an den Lehnstuhl heran und bemerkte jetzt erst die mächtige Dogge, die an der Seite ihres Herrn lag, jede Bewegung des Besuchers aufmerksam verfolgend.
»Harras hat schon längst erkannt, daß du gut Freund bist. Kannst ganz beruhigt hier sitzen«, ermunterte ihn der häßliche Mann, dessen kraftlose Greisenhände nun nach den jungen, nervigen des Neffen griffen. Wieder mußte Swen einen langen, prüfenden Blick über sich ergehen lassen. Die Musterung schien jedoch zur Zufriedenheit des Kranken ausgefallen zu sein. Er seufzte auf, ließ die festen Männerhände los und legte sich tiefer in den Lehnstuhl zurück.
»Beneidenswerter Junge«, murmelte er mehr für sich und sank förmlich in sich zusammen. Doch gleich richtete er sich wieder auf, so gut es gehen wollte. Er begann mit Fragen, die ebenso rätselhaft waren wie alles, was Swen hier erlebte und die der seltsame Frager immer gleich selbst beantwortete. Er sprach mit brüchiger Stimme, leise und abgehackt und überließ es dem Zuhörer, angedeutete Dinge zu Ende zu denken.
»Du warst verheiratet? Ich weiß, mit Ilse Neßling, der Tochter des Verwalters aus Lorren, dessen Stelle du nach seinem Tode bekamst. Zum Dank dafür heiratetest du seine Tochter.«
»Das stimmt nicht ganz, Onkel, ich liebte meine Frau. Leider starb sie zu früh.«
»Hast es dir eingebildet, mein Junge. Das weiß ich, der ich durch die Hölle der Liebe gegangen bin. War sie gut, deine Ilse? Ja, sie war lieb und nett, aber keine rechte Frau für dich. Du wirst an meine Worte denken, wenn du einmal die rechte gefunden hast.«
Je länger der Kranke sprach, desto überraschter war Swen. Es war erstaunlich, wie gut der Onkel über ihn Bescheid wußte.
»Du hast eine Tochter«, sprach nun wieder die dünne, brüchige Stimme. »Ich weiß, sie ist drei Jahre alt. Ist verzogen und verwöhnt.«
»Ein Kind, das ohne Mutter aufwächst, Onkel!«
»Brauchst dich nicht zu entschuldigen, Junge. Brauchst ja nur wieder zu heiraten, mußt überhaupt heiraten. Hörst du, du mußt! Du darfst nicht ohne Erben bleiben, das wäre Frevel an deinem Geschlecht. Versprichst du mir das?«
»Aber, Onkel, ich weiß nicht.«
»Nein, du weißt nicht – jetzt noch nicht. Aber du wirst es gleich wissen. Und du sollst mir versprechen…«
Swen sah, wie der Kranke nach dem Herzen griff, wie er sich zu erregen begann, und nickte wie unter einem Zwang. Da wurde der Mann wieder ruhiger.
»Ich habe deine Mutter geliebt, deinen Vater gehaßt«, flüsterte er. Swen zuckte zusammen.
»Onkel Leopold!«
»Laß nur, daran ändert dein ganzes Entsetzen nichts. Dein Vater war ein ganzer Mann, stolz und aufrecht – genau wie du, sein Sohn! Er besaß alles, wonach ich förmlich lechzte – Schönheit, Kühnheit. Auch die von mir bis zur Raserei geliebte Frau. Darum haßte ich ihn. Und dich auch, weil du ihm bis zur Lächerlichkeit gleichst. Das war unrecht von mir, das habe ich voll bitterer Not erkennen müssen.«
Er brach unvermittelt ab und schien angestrengt über etwas nachzudenken. Swen hatte eine so eigenartige Stunde noch nie erlebt, und das Herz klopfte ihm vor Unruhe bis zum Halse hinauf.
»Du weißt noch nicht, wie das ist, wenn man innerlich fast verbrennt – vor Liebe, vor Leidenschaft, und dazu so aussieht wie ich. Aber du wirst es schon noch erfahren. Bist ja ein echter Hellersen, und die hat die Liebe nie verschont. Hat sie geschleift durch Himmel und Hölle. Ich habe nur die Hölle kennengelernt.«
»Aber Onkel, wie kannst du dich nur so erregen«, sagte Swen vorwurfsvoll, als er merkte, wie sehr sich der Kranke quälte. »Ich werde jemand herbeirufen, damit er dich bequemer bettet.«
»Nein, ich will mit dir allein bleiben«, kam es eigensinnig zurück. »Kennst du die Gerswint Hellersen? Ich weiß, du kennst sie, hast sie nur fünf Jahre nicht mehr gesehen. Sie ist schön, aber hochmütig und hoffärtig, genau wie ihre Mutter, wie die ganzen Kinder überhaupt nach dieser dünkelhaften, verschwenderischen Frau geraten sind. Keines ist Hellersensche Art, schade. Sie sind nicht schlecht, nur im Sinne ihrer Mutter erzogen – falsch, total falsch. Ganz wertvolles Material, kann viel Gutes daraus geschaffen werden.«
Diese lange Rede schien den Kranken sehr angestrengt zu haben. Er legte sich völlig erschöpft im Lehnstuhl zurück und sah den Neffen mit angstvollen, hilflosen Augen an.
»Deine Hände, Junge«, murmelte er. »Sie strömen so viel Kraft aus, so große Beruhigung.«
Swen faßte behutsam nach den welken Greisenhänden. Stand über den Kranken gebeugt da und wagte sich nicht zu rühren. Bemerkte mit Grausen, wie das häßliche Gesicht sich veränderte, spitz und kalkweiß wurde. Der Atem wurde immer unregelmäßiger, unruhiger, wurde zuletzt pfeifend und schwer.
Die Augen des Kranken öffneten sich beängstigend weit, die Lippen liefen blau an.
»Swen, versprich mir…«, keuchte er mit großer Anstrengung. »Vergiß nie, daß du – ein Hellersen – bist. Die Pflicht – gegen dein – Geschlecht…«
Ganz plötzlich sank die verkrampfte Gestalt in sich zusammen; über das Antlitz ging ein verklärender Schein.
»Gertraude«, flüsterte er. »Gertraude!«
Dann fiel der Kopf schwer vornüber, und Swen wußte, daß er einen Toten vor sich hatte. Vorsichtig löste er seine Hände und legte den entseelten Körper in die Kissen des Lehnstuhls zurück. Der Hund winselte jämmerlich und drängte sich wie hilfesuchend an Swen, der ihm tröstend über den mächtigen Kopf strich. Er streckte sich dann wieder zu Füßen seines toten Herrn, und Hellersen schoß es durch den Sinn, wie schwer es sein würde, den treuen Gesellen von diesem Platz zu bekommen. Sein Blick ging wieder zu dem Toten hin, der so friedlich aussah.
Lieber Onkel Leopold, dachte er traurig. Warum hast du mich nicht früher zu dir gerufen? Nun habe ich dich kennengelernt, um dich gleich wieder zu verlieren.
Niedergedrückt schlich er leise durch das Zimmer, öffnete die Tür zur Halle – und schrak zurück. Vor ihm standen die Herren Glang, Melch und Wieloff und hinter ihnen Gestalten in Dienstkleidung, wohl das Schloßpersonal. Alle sahen sie mit atemloser Spannung zu ihm hin, und Swen mußte heftig schlucken, bevor er sprechen konnte. Und als er es endlich tat, klang seine Stimme dennoch heiser und gepreßt.
»Mein Onkel ist tot. Eben jetzt verschieden.«
Da senkten sich die Köpfe gottergeben, und hie und da wurde unterdrücktes Schluchzen laut.
»Also doch«, sagte der Sanitätsrat traurig. »Wir haben es stündlich erwartet. Hat er wenigstens einen leichten Tod gehabt?«
»Er schlief mir unter den Händen ein.«
»Wie gut, daß Sie noch zur Zeit kamen, Herr Baron«, sagte der Arzt. Er betrat leise das Sterbezimmer, und die anderen folgten ihm.
Hellersen blieb in der Halle zurück und ließ sich in den nächsten Sessel sinken. Seine Gedanken hasteten hinter der Stirn wie aufgescheuchte Vögel und kehrten doch immer wieder zu der Frage zurück: Warum hat man mich hierhergerufen?
Diese Männer und Frauen, die jetzt im Sterbezimmer weilten und über den Tod des Schloßherrn so erschüttert waren, mußten dem Verstorbenen doch nahegestanden haben. Er jedoch war ihm ein Fremder. Und doch hatte Onkel Leopold so merkwürdig gut über ihn Bescheid gewußt. Immer rätselhafter erschien ihm das alles, immer verworrener und geheimnisvoller.
Eben kehrten die Trauernden aus dem Sterbezimmer in die Halle zurück. Die Dienerschaft zog sich leise zurück, und die vier Herren beratschlagten, wo sie den Hund hinschaffen könnten. »Man müßte Harras zu dem Oberförster bringen«, sagte der Sekretär. »Dort kann er bleiben, bis hier alles vorüber ist. Aber er wird sich kaum dorthin führen lassen. Und fort muß er, weil er niemand an den Toten heranläßt.«
»Man müßte ihn betäuben«, schlug der Baron vor, und dieser Vorschlag konnte in die Tat umgesetzt werden, da der Arzt ein geeignetes Betäubungsmittel in seiner Medikamententasche mit sich führte. Es gab nun noch ein schweres Stück Arbeit, bis man den betäubten Hund zur Oberförsterei schaffen konnte. So schwer es allen auch fiel, man mußte die Läufe fesseln und dem Tier einen Maulkorb umbinden, damit man es, wenn es aus der Betäubung erwachte, bändigen konnte. Erst als der treue Wächter entfernt war, konnte man den Toten hinlegen.
Mittlerweile war es Abend geworden, und der Diener Christian bat die Herren zu Tisch. Man begab sich nach dem sogenannten kleinen Speisesaal, und Hellersen, der von den Erlebnissen des Tages halb betäubt war, konnte nicht verstehen, wie man jetzt an Essen denken konnte.
In dem kleinen Speisesaal, der kaum den Namen verdiente, denn er erschien Swen riesengroß, stand in einem Erker ein runder Tisch mit Speisen bestellt.
Vier Gedecke lagen darauf, und die drei Herren schienen hier ihre Stammplätze zu haben, denn sie traten hinter die Stühle und warteten, daß der Gast sich setzen solle. Der blickte zögernd auf den wuchtigen Lehnsessel, der noch frei war.
»Bitte Platz zu nehmen, Herr Baron!« ermunterte der Justizrat und zeigte auf den Ehrensitz. »Hier hat immer unser lieber Freund Leopold gesessen.«
Hellersen wollte erwidern, daß ihm der Platz gar nicht zukäme.
Aber wozu? Auf mehr oder weniger ungeklärte Dinge kam es hier kaum an. Er mühte sich, etwas zu essen, ließ zwischendurch seine Blicke umherschweifen und war entzückt von der Vornehmheit, die im Saale herrschte.
Zuletzt betrachtete er die Herren, die mit ihm speisten, verstohlen.
Der Justizrat und der Sanitätsrat sahen sich merkwürdig ähnlich. Beide hatten untersetzte Gestalten, ausdrucksvolle Gesichter und kluge, scharfblickende Augen. Sie waren Swen sofort sympathisch, und doch gefiel ihm der Sekretär noch besser. Der Mann sah überraschend gut aus, vornehm, weltmännisch und elegant.
Swen hob die Tafel auf, denn er hatte das Gefühl, daß man das von ihm erwartete, und wandte sich an den Justizrat: »Sie wissen sicherlich hier mit den Fahrgelegenheiten Bescheid, Herr Doktor. Darf ich also um freundliche Auskunft bitten? Ich möchte nämlich heute noch nach Hause zurück.«
»Das wird leider nicht gehen, Herr Baron«, erwiderte der Anwalt höflich. »Nicht etwa, weil Sie um diese Abendstunde weder an Kleinbahn noch an Nebenbahn Anschluß haben. Das Auto könnte Sie ja nach Königsberg bringen – oder nach Lorren. Allein Sie können jetzt hier unmöglich fort.«
»Ja, aber mein Himmel; was soll ich denn noch länger hier?« entfuhr es Hellersen unwillig. »Hier etwa herumsitzen? Das kann ich mir nicht leisten; ich stehe in fremden Diensten. Außerdem möchte ich mit den Erben, die ja bald hier erscheinen werden, nicht zusammentreffen. Ich habe allen Grund dazu.«
»Das weiß ich alles, Herr Baron«, bestätigte der Justizrat und lächelte leicht, als Swen ihn verblüfft anstarrte. »Aber trotzdem können Sie hier nicht fort, wenigstens heute noch nicht. Ich habe so das Gefühl, daß Ihr Herr Onkel einige Stunden zu früh gestorben ist, daß er Ihnen nicht alles gesagt hat, was er Ihnen sagen wollte. Ich kann daher Ihren Unwillen nur zu gut begreifen. Bitte, Herr Baron, ich frage nicht aus Neugierde, aber ich möchte gerne wissen, was der Herr Onkel Ihnen alles gesagt hat.«
»Eigentlich nichts von Bedeutung«, versetzte Hellersen kurz. »Er sprach von mir, meiner verstorbenen Frau, meiner Tochter und von meinen Eltern. Erwähnte seine Erben und starb mir dann unter den Händen weg.«
»Dann möchte ich Sie bitten, mir zu folgen, Herr Baron«, forderte der Anwalt ihn auf, und Swen wurde nun wirklich neugierig, was er wieder erleben würde. Er ging jedoch gutwillig mit Glang, der ihn nach dem Zimmer des Verewigten führte. Der Justizrat schien hier merkwürdig gut Bescheid zu wissen, er kannte selbst das versteckt liegende Geheimfach des Schreibtisches, aus dem er einen schwerversiegelten Brief nahm und ihn Hellersen mit tiefer Verbeugung reichte.
»Der Tote wird jetzt zu Ihnen weitersprechen, Herr Baron«, sagte er feierlich. »Sollte Ihnen manches unverständlich sein, fragen Sie mich. Ich war nicht nur der Anwalt Ihres Herrn Onkels, sondern auch sein Vertrauter und Freund. Daher kenne ich seine Angelegenheiten so gut wie meine eignen. Wenn Sie den Brief gelesen haben, dann rufen Sie mich, ich stehe zu Ihrer Verfügung.« Er verließ das Zimmer, und Swen sah ihm kopfschüttelnd nach.
*
In einem Königsberger Vorort wohnte die verwitwete Frau Elisa von Hellersen mit ihren vier Kindern Bolko, Gerswint, Edna und Elke. Als Kind wohlhabender Eltern geboren, hatte sie eine sorglose Kindheit und Jungmädchenzeit verlebt. Als sie dann Ewald von Hellersen heiratete, kam sie in noch bessere Verhältnisse. Daher hatte sie nicht die Schattenseiten des Lebens kennengelernt. Rechnen zu müssen war ihr ein fremder Begriff. Ihre Kinder hatte Frau Elisa ganz in ihrem Sinne erzogen, und diese machten ihrer Erziehung auch alle Ehre. Waren schöne, gepflegte Menschenkinder, die selbstbewußt und hoffärtig ihren Weg gingen und sich einbildeten, vom Schicksal etwas Besonderes beanspruchen zu dürfen. Sie lebten alle bei ihrer Mutter, die auch noch nach dem Tode des Gatten ein großes Haus machte.
Der siebenundzwanzigjährige Sohn, der das Landwirtschaftsfach studierte, war nicht energisch genug, um ernstlich vorwärts zu streben und das Studium zu vollenden. Ein Herrenleben voll Müßiggang sagte ihm entschieden mehr zu. Die zweiundzwanzigjährige Gerswint füllte ihre Tage aus mit Gesellschaften und Sport, die neunzehnjährige Edna und die zehnjährige Elke besuchten noch die Schule. Frau Elisa war nämlich der Ansicht, daß ihre Töchter das Abitur machen müßten, gleichgültig, ob sie es später verwerten konnten oder nicht.
Also saß Edna noch auf der Schulbank und plagte sich mit Dingen herum, die ihr gar nicht lagen.
Die Zeit in der Stadt war ja nur ein Übergang. Nach dem Tode des Erbonkels würde sich alles für sie mit einem Schlage ändern. Und nun war es endlich soweit: Leopold von Hellersen war tot. Eben hielt Frau Elisa das Telegramm, das sie vom Ableben des Schwagers in Kenntnis setzte, in der zitternden Hand. Ihre Kinder standen um sie herum, und in ihren klaren, gepflegten Gesichtern stand entschieden mehr Freude als Trauer.
Warum sollte der Tod des menschenscheuen, verbitterten Onkels ihnen auch nahegehen? Sie hatten ihn nur einige Male gesehen und sich dann vor seiner Mißgestalt gefürchtet.
»Kinder, nun gilt es, alles in Ruhe zu überlegen«, sagte Frau Elisa würdevoll. Sie verfügte über eine bewundernswerte Selbstbeherrschung, die sie auch ihren Kindern als erste Pflicht gegen sich selbst anerzogen hatte.
So gab es denn kein wirres Durcheinander. Alles das, was besorgt und bedacht werden mußte, wickelte sich in Ruhe ab.
»Ich bin dafür, daß wir im eigenen Auto nach Waldwinkel fahren«, bemerkte die Mutter, als sich die Mädel über die Zugverbindung unterhielten, in ihrer bestimmten Art, die keine Widerrede duldete.
»Bolko, du begleitest mich wohl zum Autohändler; du verstehst ja etwas von Wagen.«
So kam es denn, daß die Familie Hellersen zwei Tage später im neuen Auto, das ganz ihren verwöhnten Ansprüchen entsprach, nach Waldwinkel zur Beisetzung des Erbonkels fuhr. Ein Fahrer, der Frau Elisa zusagte, war auch gemietet worden und steuerte den teuren Wagen mit würdevoller Ruhe.
Während Frau Elisa und ihre Kinder Waldwinkel zufuhren, schmiedeten sie die schönsten Zukunftspläne. Viel zu rasch war für sie das Ziel erreicht, es hatte sich in dem weichgefederten Wagen so gut gesessen. Überhaupt war die schöne Autofahrt ein langentbehrter Genuß für sie alle gewesen.
Swen von Hellersen, der am Fenster des Gastzimmers stand, sah den kostbaren Wagen vor dem Portal des Schlosses halten und ahnte, wer ihm entsteigen würde. Ein Zug von Bitterkeit und Ironie trat in sein hartes Antlitz, als er sie alle, mit denen er vierzehn Jahre lang zusammen gelebt, nach fünfjähriger Trennung wiedersah.
Tante Elisa – ach ja, das war sie. Eine würdige, hochmütige Dame, die alles, was nicht mit ihren Anschauungen übereinstimmte, weit von sich schob. Bolko hatte sich so entwickelt, wie er sich als Sohn dieser Mutter ja nicht anders hatte entwickeln können. Er war sehr selbstbewußt und aufgeblasen.
Und Gerswint? Nun, die zweiundzwanzigjährige junge Dame hatte gehalten, was sie als siebzehnjähriges Mädchen schon versprochen, war zu einer beachtenswerten Schönheit herangereift. Allein Swens Geschmack war sie nicht; sie war ihm zu hochmütig und überheblich.
Edna sah der älteren Schwester sehr ähnlich, erschien jedoch nicht so unnahbar wie sie.
Reizend war die kleine Elke mit den langen blonden Zöpfen. Auch sie glich den Schwestern. Sie gab sich wohl alle Mühe, sich wie eine kleine Dame zu bewegen, wirkte aber trotzdem kindlich und lieb.
Augenblicklich hatten sie alle für nichts anderes Augen als für das Schloß und seine Umgebung; denn auch Frau Elisa und ihre Kinder waren nie in Waldwinkel gewesen. Leopold von Hellersen hatte die Schmarotzer, wie er seinen Bruder und dessen Familie immer genannt, nie um sich dulden wollen.
Also das war Waldwinkel, von dem sie alle schon so viel gehört. Es war größer und gediegener, als man es sich vorgestellt hatte. Man war sehr zufrieden, und der Justizrat, der unter dem Portal stand, um die Gäste willkommen zu heißen, wurde mit freundlicher Herablassung begrüßt.
»Sie waren wohl der Rechtsberater unseres lieben Verewigten?« fragte Frau Elisa und reichte ihm die Hand. »Dann werden Sie ja auch wissen, daß wir ihm am nächsten gestanden haben.«
»Gewiß, gnädige Frau. Die Zimmer sind zum Empfang bereit, der Diener wird die Herrschaften führen«, entgegnete der Anwalt höflich.
Ja, so gefiel es Frau Elisa, so hatte sie es erwartet. Sie fühlte sich schon ganz als Herrin und hielt es daher für selbstverständlich, daß man die Gastzimmer für sie und ihre Kinder gerichtet hatte.
Schön war es hier, wunderschön. Alles so vornehm, so ungemein harmonisch. Solche Räume konnte eine Stadtwohnung nie aufweisen, und wenn sie noch so elegant eingerichtet war.
Zuerst machten Frau Elisa und ihre Töchter sich daran, die Koffer auszupacken. Dann kleideten sie sich um, wobei sie die mollige Wärme, die dem Kamin entströmte, angenehm empfanden.
Später gingen sie dann hinunter, wo sie in der Halle den Justizrat vorfanden, der die Herrschaften zur Mittagstafel bat.
Das Mahl war köstlich zubereitet, die Bedienung tadellos, und Frau Elisa wurde immer zufriedener.
»Nun erzählen Sie uns mal Näheres über den Tod unseres lieben Onkels Leopold, Herr Doktor«, wandte sie sich freundlich an den Justizrat. »Er ist wohl unerwartet gestorben?«
»Nein, gnädige Frau. Er kränkelte schon seit dem Frühjahr.«
»Der Arme! Aber da wundere ich mich, daß er uns nicht zu sich gerufen hat. Wir waren doch seine einzigen nahen Verwandten, und er wird doch noch so manches auf dem Herzen gehabt haben?«
»Davon weiß ich nichts zu berichten, gnädige Frau.«
»Das finde ich aber merkwürdig. Waren Sie nicht sein Anwalt und Vertrauter, Herr Doktor?«
»Ich war sogar sein Freund«, setzte er hinzu. »Doktor Melch und ich gingen hier als einzige Fremde aus und ein.«
»Sonst hatte mein Schwager keinen Verkehr?«
»Keinen, gnädige Frau.«
Das war dieser Weltdame unverständlich, denn sie schüttelte mißbilligend den Kopf.
»Na ja, der gute Leopold war eben ein Einsiedler und Sonderling. Schuld daran war wohl seine Mißgestalt. Ist er etwa auch so allein gestorben, wie er gelebt hat?«
»Nei…n!«
»Also sind Sie dabei gewesen? Das ist mir eine außerordentliche Beruhigung, Herr Doktor. Hat er einen leichten Tod gehabt?«
»Einen beneidenswert leichten.«
»Das ist mir ein Trost. Aber wie ist es, Herr Doktor, müßte der Tote jetzt nicht aufgebahrt werden? Ist der Sarg überhaupt schon bestellt?«
»Alles ist aufs beste erledigt, gnädige Frau. Mein lieber Freund ruht bereits auf seinem letzten Lager.«
»Aber das geht doch nicht!« erregte sich Frau Elisa. »Ich meine, das ist doch Angelegenheit der Nächststehenden. Und das sind in diesem Fall doch ich und meine Kinder.«
»Der Verstorbene muß wohl anderer Ansicht gewesen sein«, meinte Glang schulterzuckend. »Denn er hat darüber anders verfügt.«
»So bitte ich, mir die Verfügungen auszuliefern!« verlangte sie kurz und glaubte nicht recht zu hören, als der Justizrat erwiderte, daß er leider nicht befugt sei, das Schriftstück aus der Hand zu geben.
Frau Elisa preßte die Lippen zusammen, und auf ihrer Stirn erschien eine scharfe Falte. Das war immer ein Zeichen höchsten Unwillens.
»Das wird ja immer merkwürdiger. Sie sollten nicht so viel Befugnis haben, hinterlassene Briefe des Verewigten, die zweifellos vorhanden sind, den Erben ausliefern zu dürfen?«
»Bedaure sehr, gnädige Frau.«
Da wandte sie sich schroff ab. Ihre Kinder wußten, wie böse nun die Mama war, wenn man ihr äußerlich auch kaum etwas anmerken konnte. Sie verhielten sich so ruhig wie möglich. Der Justizrat verspürte sowieso keine Lust zu großen Gesprächen, und Wieloff wagte überhaupt nicht, ungefragt zu reden.
Daher war es sehr ungemütlich an der Tafelrunde, und sie atmeten alle erleichtert auf, als Frau Elisa sich erhob.
Sie äußerte kurz den Wunsch, den Toten zu sehen, und der Anwalt war bereit, sie zu führen.
Als sie den großen Saal, in dem der Tote aufgebahrt war, betraten, umklammerte Elke Gerswints Arm und preßte ihr Gesicht daran. Der düstere Raum, der nur von den Kerzen in den Wandleuchtern erhellt wurde, der Duft der Blumen und der Bäume, die den Katafalk umstanden, und endlich der stumme Schläfer in seinem Sarge flößten dem Kinde zitternde Angst ein.
Frau Elisa ließ ihre Blicke umherschweifen, und ihren scharfen Augen entging nichts. Aber sie sah nicht den friedlichen, fast lächelnden Ausdruck in dem Antlitz des Toten, das im Leben nie so schön und edel gewesen war wie jetzt. Sie fand nur, daß alles lächerlich einfach war. Als wäre hier nicht ein reicher Mann, sondern ein armer Schlucker aufgebahrt.
*
In ihren Räumen sagte Frau Elisa: »Herba ist vom Ableben Onkel Leopolds benachrichtigt. Sie wird hier erscheinen, und ich erwarte von dir, mein Sohn, daß du deine spätere Gattin vor allen Menschen auszeichnest.
Auch Alf kommt«, wandte sie sich dann an ihr schönstes und liebstes Kind, es mit wohlgefälligen Blicken betrachtend. Sie sah aber Edna unwillig an, die erfreut ausrief: »Dann kommt auch sein Bruder mit.«
»Hoffentlich kommt er nicht mit!« betonte die Mutter scharf. »Deine Vorliebe für ihn gefällt mir nicht, mein Kind. Er ist weiter nichts als der Schatten seines bedeutenden Bruders Alf – in jeder Beziehung. Und mir daher als Gatte meiner Tochter ganz und gar unerwünscht. Ich habe andere Pläne mit dir. Mache erst deine Prüfung, dann sollst du sie erfahren.«
»Ich dachte, das wäre jetzt nicht mehr nötig«, meinte Edna niedergeschlagen und schwer enttäuscht. »Wir sind doch jetzt wieder reich, Mama.«
»Um so mehr müßt ihr danach streben, euch ein angemessenes Wissen anzueignen. Ich will nicht nur schöne, sondern auch kluge und gebildete Töchter haben«, belehrte sie in einem Ton, der jede Widerrede von vornherein ausschloß.
Da wußte Edna, daß sie weiterlernen mußte.
*
Der Tag der Beisetzung war gekommen – ein grauer, regnerischer Septembertag. Im Schlosse war alles feierlich still. Nichts deutete darauf hin, daß eine Stunde später der tote Schloßherr zu Grabe getragen werden sollte.
Frau Elisa und ihre Kinder kleideten sich sorgfältig an und sahen denn auch sehr schön und elegant aus, als sie unten im Schloß erschienen. Sie war heute mit ihren Kindern zufrieden. Hauptsächlich auf Gerswint ruhten ihre Augen mit Mutterstolz. Diese Tochter war ganz nach ihrem Geschmack.
Aber auch Edna hatte sich gut entwickelt, das fiel der Mutter besonders heute auf. Sie glich Gerswint auffallend. Nur daß ihr das Überlegene, Hochmütige fehlte – das war in Frau Elisas Augen eine Unvollkommenheit.
In der Halle des Schlosses standen schon die Herren Glang, Melch und Wieloff und mit ihnen die Beamten der Hellersenschen Güter. Es war eine ansehnliche Schar, wie Frau Elisa mit der Befriedigung feststellen konnte; die Herrschaft Waldwinkel mußte also noch größer sein, als sie angenommen hatte. Die Frauen und Kinder, die unter den Männern standen, gehörten wohl zu den Beamten.
Frau Elisa und die Ihren schritten an der Gruppe vorüber und suchten sich in gemessener Entfernung einen Platz, als wollten sie den Leuten klarmachen, daß sie keine Gemeinschaft mit ihnen wünschten. Und die ohnehin schon traurigen Mienen der Frauen und Männer wurden immer trostloser. Voll Wehmut gedachten sie der guten Tage, die sie bei ihrem verstorbenen Herrn gehabt hatten.
»Da stehen einem ja die Haare zu Berge bei so viel Unnahbarkeit«, spottete der Sanitätsrat halblaut. »Und was werden Ihre Gnaden dazu sagen?« zeigte er mit einer Kopfbewegung zum Portal hin, durch das soeben die Gutsleute die Halle betraten. Männer, Frauen und Kinder, alle sahen sie niedergeschlagen und verschüchtert aus.
»Arme Leute«, sagte der Arzt mitleidig. »Die guten Tage, die sie bei dem Dahingeschiedenen hatten, werden sie nun doppelt büßen müssen durch die, die jetzt die Herrschaft antreten.«
Der Justizrat nickte zerstreut.
»Ich werde jetzt den Zug eröffnen und in das Totenzimmer gehen, damit den Leuten noch Zeit genug bleibt, von ihrem Herrn Abschied zu nehmen. In einer halben Stunde ist der Pfarrer hier.«
Langsam bewegte sich der lange Zug zum Saale hin. Trotz der vielen Menschen herrschte eine tiefe Stille, die nur von unterdrücktem Schluchzen unterbrochen wurde.
Und dann standen sie vor dem toten Gutsherrn. Die Frauen und Kinder weinten bitterlich, und auch die Männer wurden hier und da von einem trockenen Schluchzen geschüttelt.
Frau Elisa und ihre Kinder sahen mit großen Augen auf das erschütternde Bild. Daß man um einen Menschen so trauern konnte, und um einen fremden noch dazu, das war ihnen neu. Sie fühlten sich recht unbehaglich und hatten nur den einen Wunsch, daß die Trauerfeierlichkeiten erst zu Ende wären.
Doch plötzlich weiteten sich ihre Augen.
Diese hohe Gestalt, die da soeben durch den Saal schritt, das war doch…?
Tatsächlich, es war Swen. Ja, was wollte der denn hier? Der hatte dem Verstorbenen doch gewiß nicht nahegestanden, hatte ihn nicht einmal gekannt.
Und wie gut er aussah, wie er sich in den fünf Jahren, da sie ihn nicht gesehen, herausgemacht hatte!
Einfach unglaublich!
Und wie er dahinschritt. Mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre er hier der Herr.
Frau Elisa und ihre Kinder sahen sich an, und einer las in des andern Augen Überraschung und Bestürzung.
Nur Elke erkannte den Vetter nicht. Sie war ja auch erst fünf Jahre alt gewesen, als er Hirschhufen verlassen hatte.
Jetzt schien Swen die Verwandten bemerkt zu haben, denn er verhielt den Schritt. Als er jedoch ihre eisigen Mienen sah, ging er weiter, und ein ironisches Lächeln zuckte um seinen Mund.
Wie war Swen hierhergekommen?
Das war die Frage, die Frau Elisa und die Ihren sehr beschäftigte, viel mehr als alles andere.
Wie die Leute ihm ehrerbietig Platz machten, als er an den Sarg trat. Da gehörte er doch wirklich nicht hin! Aber so war es ja schon immer gewesen; er hatte sich Rechte angemaßt, die ihm nicht zukamen.
Frau Elisa schrak aus ihren unerfreulichen Gedanken auf, als Christian plötzlich vor ihr stand und ihr leise eine Meldung machte. Darauf verließ sie den Saal und kam erst nach Minuten wieder. Man sah es ihr an, daß sie etwas sehr erzürnt haben mußte. Sie ging auf die Gruppe zu, in der der Justizrat stand.
»Herr Doktor, ich weiß nicht mehr, was ich zu den sonderbaren Zuständen, die hier herrschen, sagen soll«, begann sie zwar gedämpft, aber leicht vernehmlich. »Soeben läutet ein Bekannter von uns an, der mit Schwester und Bruder aus Königsberg zur Beisetzung hierhergekommen ist, daß man die Tore versperrt hält und niemand auf das Gut läßt. Was hat das zu bedeuten?«
Der Anwalt gab gelassen zurück. »Mein Freund wünschte unter den Trauergästen nur die anwesend, die hier bereits versammelt sind.«
»Und diese Marotte eines Sonderlings wird so streng befolgt? Das ist doch geradezu lächerlich!«
»Wie kann die letztwillige Verfügung eines Verstorbenen lächerlich sein, gnädige Frau?« fragte Glang mit einer Schärfe, die der ungehaltenen Dame auf die Nerven fiel. Sie biß sich auf die Lippen, denn sie sah selbst ein, daß sie doch zu weit gegangen war.
»Na ja, gewiß«, versuchte sie ihre herben Worte abzuschwächen. »Es sollten doch aber wenigstens Menschen eingelassen werden, die uns nahestehen, die sozusagen zur Familie gehören.«
»Nun gut«, entschied der Anwalt noch ein wenig zögernd. »Mögen die Dame und die beiden Herren der Feier am Grabe beiwohnen. Nur hierherzukommen, davon müssen sie absehen.«
Frau Elisa war’s zufrieden, und Christian wurde beauftragt, einen großen grünen Wagen, der vor dem Schloßtor halten würde, einzulassen.
Einige Minuten später wurde der Sarg geschlossen, und gleich darauf betrat der Pfarrer den Saal. Eine kurze, doch sehr wirkungsvolle Feier begann, bei der selbst Frau Elisa die Tränen in die Augen traten. Dann trugen acht Arbeiter den Sarg davon. Dicht hinter ihm schritt Swen mit solcher Selbstverständlichkeit, als müßte er so sein und nicht anders.
Vor dem Portal warteten bereits die Gäste der Frau Elisa. Sie begrüßte sie flüchtig und behielt sie an ihrer Seite.
Langsam bewegte sich der unübersehbare Zug zu dem Platz hin, den Leopold von Hellersen sich für seine letzte Ruhestätte ausgesucht hatte.
Dort, wo der Park durch eine Wiese vom Walde getrennt war, wo sich weiter hinten die Bäume zu einem Halbkreis zusammenschlossen, lag ein Waldsee. Und gerade dort zwischen Wiese, Wald und Wasser hatte Leopold von Hellersen am liebsten geweilt und auch begraben zu werden gewünscht.
Das konnte Frau Elisa nun auch wieder nicht verstehen. Seine Ahnen ruhten doch alle im Erbbegräbnis!
Swen war der erste, der die Handvoll Erde in die Gruft warf. Darauf folgten ein Strauß buntgefärbten Waldlaubes und einige Tannen- und Kiefernäste, was Frau Elisa ein mißbilligendes Kopfschütteln abnötigte. Daß die Leute ihrem Herrn die farbenfreudigen Blumen in den Sarg gelegt – na schön! Sie verstanden es nicht anders, besaßen wohl auch nicht das Geld, um sich geeignete Blumen zu kaufen. Aber Swen hatte sich doch nun wirklich solche besorgen können.
Schade, daß sie nicht an Blumen gedacht; sie war doch manchmal schon zu vergeßlich!
So mußte sie sich damit begnügen, nach Swen die Handvoll Erde auf den Sarg zu werfen; und ihre Kinder taten desgleichen. Als sich jedoch die drei Fremden anschließen wollten, trat der Justizrat mit den Beamten hinzu und kam ihnen zuvor.
Und immer weiter wurden sie zurückgedrängt; denn die Gutsarbeiter, die ungeduldig zur Gruft strebten, schoben sie rücksichtslos zur Seite.
Frau Elisa war das selbstverständlich sehr unangenehm, und sie versuchte ihre Gäste damit zu trösten, daß diese unmanierlichen Leute sich bald geändert haben würden.
Swen, der in der Nähe stand, hörte es, und wieder hockte ihm das ironische Lächeln in den Mundwinkeln. In seinen Augen, die eben noch so traurig geblickt hatten, blitzte es auf. Ei, sieh da, dachte er belustigt, alles schon ganz nett geregelt.
Neben Gerswint, diesem Bild ohne Gnade, der Herzensbetörer Alf von Unitz, ganz der Schönen würdig. An Ednas Seite Enno von Unitz, ganz des älteren Bruders Ebenbild und für die reizende Edna wie geschaffen, was die Frau Mama allerdings nicht anzuerkennen schien. Und neben Bolko ein Mädchen, das vor lauter Vornehmheit kaum geradeaus sehen kann.
Schade, daß Elke noch ein Kind ist. Sie hätte sonst ihren Zukünftigen bestimmt auch an ihrer Seite.
Swen zuckte zusammen, denn jetzt wurde die Gruft geschlossen.
Onkel Leopold, lieber Onkel Leopold, warum hast du mich nicht schon früher zu dir gerufen? Ich hätte dich sehr liebgehabt, dachte er traurig.
Endlich war auch das Letzte und Schmerzlichste vorüber. Scholle um Scholle häufte sich zu einem Hügel, auf den die schönsten Kränze gelegt wurden, die davon zeugten, wieviel Verehrung und Liebe der Sonderling besessen.
Traurig und niedergedrückt kehrten die Leute nach ihren Wohnungen zurück, während die anderen in zwei Gruppen dem Schlosse zuschritten.
Swen ging mit den Herren Glang, Melch, Wieloff und dem Pfarrer, was Frau Elisa ganz in der Ordnung fand. Den Geistlichen verabschiedete sie vor dem Schloß und gab auch den anderen zu verstehen, daß sie von ihrer Gegenwart verschont zu bleiben wünschte.
Doch nur der Pfarrer allein verließ Waldwinkel, während die anderen Herren das Schloß betraten.
Swen, der in der Halle Miene machte, die Tante zu begrüßen, wurde mit einem hochmütigen Blick gemustert.
»Ich wundere mich, woher du den Mut nimmst, dieses Haus zu betreten«, sagte sie mit schneidender Schärfe. »Es ist nun mein Haus, in dem für Leute deines Schlages kein Platz ist. Hoffentlich verstehst du mich?«
»Deutlicher konntest du nicht werden, Tante Elisa«, entgegnete er gelassen. »Habe keine Angst, mein Anblick soll dich nicht mehr stören.«
Damit schritt er, von den drei Herren begleitet, davon, die Tante höchst unwillig zurücklassend.
Und diesen Unwillen bekam die Dienerschaft zu spüren. Ihre schlechte Laune besserte sich erst, als sie in die Wirtschaftsräume ging und sich Küche und Vorratskammern zeigen ließ.
Das würde hier ein anderes Wirtschaften sein als in der Stadt! Schade, daß man das Trauerjahr abwarten mußte, sonst konnte man die schönsten Gesellschaften geben. Aber daß man ab und zu einige Gäste bei sich sah, das vertrug sich ja selbst mit der tiefsten Trauer.
Um das gleich ins Werk zu setzen, wurden die Geschwister Unitz zum Bleiben aufgefordert.
*
Am nächsten Morgen saß die Familie Hellersen mit ihren Gästen am Frühstückstisch. Daß um elf Uhr die Testamentseröffnung stattfinden sollte, erregte sie durchaus nicht.
Warum auch? Sie hatten ja schon ihr reiches Erbe angetreten. Was nun noch kam, war nichts als Formsache.
Sie hatten gerade ihr Frühstück beendet, als auch schon Christian erschien und die Beteiligten ins Arbeitszimmer des Verstorbenen bat. Sehr selbstbewußt begaben sie sich dorthin und waren nun doch voller Erwartung.
In dem Zimmer war es sehr still und feierlich. Auf dem langen Tisch stand das Bild des Verstorbenen, Kerzen brannten daneben. Swen saß zwischen dem Sanitätsrat und dem Sekretär, und hinter ihren Stühlen stand die gesamte Dienerschaft. Frau Elisa und ihre Kinder nahmen die leeren Plätze ein, und aller Augen hingen voll Spannung an dem Justizrat, der am oberen Ende des Tisches saß. Er sprach klar und deutlich, und doch nahm Frau Elisa an, daß sie sich verhört haben müßte.
Swen sollte der neue Besitzer von Waldwinkel sein, Swen, der herumgestoßene Waisenknabe von einst?
Und sie und ihre Kinder…?
Jetzt zuckte sie zusammen, denn ihr Name fiel. Der Justizrat las: Ich, Leopold von Hellersen, vermache meiner Schwägerin, Frau Elisa von Hellersen, geborene Ortleff, und ihren vier Kindern ein Vermögen, das monatlich die Zinsen von zweihundertundfünfzig Mark abwirft, die der jetzige Besitzer von Waldwinkel, Baron von Hellersen, ihnen jeden Monat pünktlich zu zahlen verpflichtet ist. Ich treffe die Bestimmung, weil es gewagt wäre, meiner Schwägerin das Vermögen in die Hände zu geben. Sie hätte es ja doch in kurzer Zeit verschleudert. Ferner erhält Frau Elisa von Hellersen ein auskömmliches Deputat –, bei diesem Wort zuckte die todblasse Frau wie unter einem Hieb zusammen – und das erste Waldhaus als Eigentum. Sollte das Frau Elisa von Hellersen zu wenig erscheinen und sie behaupten, daß sie unmöglich mit dem Bettel – wie sie ja meine Unterstützungen immer nannte – auskommen könnte, so möchte ich ihr zu bedenken geben, daß es tausende Familien gibt, die mit viel weniger wirtschaften und dafür noch schwer arbeiten müssen. Die Arbeit möchte ich meiner Schwägerin und ihren Kindern übrigens warm ans Herz legen. Sie ist nutzbringend und segensreich, und sie zeigt dem Menschen erst, wozu er auf der Welt ist. Wenn sie und ihre Kinder das erst erfaßt haben, dann wird es ihnen fortan besser gehen. Außerdem stelle ich noch zwei Bedingungen. Erstens: daß meine Schwägerin das Waldhaus als ständigen Wohnsitz bezieht. Zweitens: daß sie, wenn das Vormundschaftsgericht meinen Vorschlag gutheißt und Baron von Hellersen zum Vormund bestimmt, sich nicht dagegen auflehnt. Andernfalls dürften meine Schwägerin und ihre Kinder sich als enterbt betrachten. Sie erhalten dann nur ihr Pflichtteil; alles andere fällt dem Baron von Hellersen zu.
Augenblickslang nur schwieg der Anwalt und sprach dann rasch weiter, als wolle er den fünf wie versteinert dasitzenden Menschen Zeit lassen, sich zu fassen. Er verlas die Legate:
Als erster erhielt der Sekretär Wieloff zehntausend Mark, weil er Leopold von Hellersen stets ein selbstloser und unersetzlicher Mitarbeiter gewesen war. Das Schloßpersonal, das ja durchweg länger als zehn Jahre seinem Herrn treu gedient, erhielt je fünftausend Mark. Für die Beamten und Arbeiter waren je Familie eintausend Mark ausgesetzt; die jedoch über vier Kinder hatten, erhielten zweitausend Mark. Glang und Melch wurden nicht mit Geld bedacht, weil sie beide wohlhabend waren. Für sie hatte Leopold von Hellersen Dinge bestimmt, von denen er gewußt, daß die beiden treuen Freunde sich darüber freuen würden.
Nun legte der Anwalt das Dokument fort, und sein Blick fiel auf Frau Elisa. Er konnte sich nicht helfen, die Frau tat ihm leid. Wie sie sich mühte, Haltung zu bewahren, obgleich es in ihrem Innern trostlos genug aussehen müßte; das machte ihr sobald keiner nach.
»Herr Justizrat, ich erkenne das Testament nicht an«, sprach sie nun in die beklemmende Stille hinein. »Schon die Anordnungen, die mein Schwager betreffs seiner Beisetzung getroffen, ließen mich ahnen, daß in den letzten Lebenstagen sein Sinn verworren gewesen sein muß. Dieses merkwürdige Testament bestätigt nun meine Vermutung.«
»Und die ist falsch, gnädige Frau, gänzlich falsch«, entgegnete der Anwalt freundlich. »Aber es steht in Ihrem Belieben, das Testament anzufechten.«
»Das werde ich auch. Denn daß bei der Testamentsaufsetzung etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, die Gewißheit will und werde ich mir verschaffen. Kommt, Kinder!«
Aufrecht ging sie davon, und die Kinder folgten ihr. Als man an Swen vorüberkam, verhielt Frau Elisa den Schritt. Ein Blick traf ihn, der kaum noch verachtend zu nennen war, und das Wort »Erbschleicher« las man förmlich von ihren Lippen.
Dann ging sie weiter zur Halle hin, wo die Geschwister Unitz schon auf sie warteten.
»Laßt das!« winkte sie schroff ab, als man sie gratulierend umringte. »Nicht wir sind die Erben, sondern Baron von Hellersen.«
»Aber das ist doch nicht möglich«, stammelte Alf, blaß bis in die Lippen. Sein Blick suchte die nicht weniger blasse Gerswint.
Aber was das Mädchen nun von ihm erwartete – einen Trost, ein beruhigendes Wort –, es blieb beides aus. Er stand wie erstarrt da, und die grenzenlose Enttäuschung spiegelte sich nur zu deutlich in seinem Gesicht wider.
Da wandte Gerswint sich brüsk ab. Ebenso Schwester und Bruder, denen es bei Herba und Enno nicht anders erging. Sie folgten ihrer Mutter, die langsam die sehr breite, mit schwellenden Teppichläufern belegte Treppe emporstieg. Sie hatten alle nur den einen Wunsch, den zurückbleibenden Geschwistern Unitz nicht zu verraten, wie sterbenselend ihnen zumute war.
Oben starrten sie sich hilflos an, und erst die harte Stimme der Mutter ließ sie wieder zu sich zurückfinden.
»Packt eure Sachen zusammen! Wir fahren sofort nach Hause! Nicht eine Stunde mehr möchte ich das Haus mit diesem – diesem Menschen teilen. Ich erwarte von euch, daß ihr nicht um Dinge jammert, die vorläufig nicht zu ändern sind. Beweist jetzt, daß die sorgfältige Erziehung, die ich euch habe zuteil werden lassen, an keine Unwürdigen verschwendet worden ist.«
Das war in einem Ton gesagt, den die Kinder an ihrer Mutter fürchteten und gegen den sie sich nie aufzulehnen wagten.
Also bissen sie die Zähne zusammen und packten ihre Sachen. Der Autofahrer wurde verständigt, und es war knapp eine Stunde vergangen, als Frau Elisa mit ihren Kindern das Schloß verließ. Den Baron, der vor dem Portal zu ihnen trat, schienen sie nicht zu sehen. Ohne Gruß fuhren sie davon.
*
Eine halbe Stunde später verabschiedete Hellersen die Geschwister Unitz sehr kühl und förmlich. Zu Herzlichkeit hatte man ja auch keinen Anlaß, da man sich fremd war.
Swen sah dem auffallend grünen Wagen nach, bis er verschwunden war. Dann ging er langsam ins Schloß zurück.
Jetzt erst merkte er, wie müde und abgespannt er war. Die letzten Tage waren ja auch ausgefüllt gewesen mit Besorgungen und Erregungen aller Art, so daß er noch keinen Augenblick hatte zur Ruhe kommen können. Mit einem Gemisch von Wehmut und Selbstverspottung mußte er feststellen, daß es gar nicht so einfach war, über Nacht ein reicher Mann zu werden.
Vor allen Dingen mußte er jetzt einige Stunden ruhen. Daher bat er die Herren Glang, Melch und Wieloff, die in der Halle auf ihn warteten, ihn zu entschuldigen. Sie möchten es sich im Arbeitszimmer des Onkels, das ja nun das seine war, bequem machen. Er selbst wolle sich später zu ihnen gesellen.
Christian erhielt noch den Auftrag, die Herren gut zu versorgen; dann ging der Baron in die Räume, die er seit Tagen bewohnte. Die anderen Herren suchten das bezeichnete Zimmer auf und ließen sich in die wunderbar bequemen Sessel sinken, die am Kamin um einen Rauchtisch gruppiert standen. Christian brachte Wein, Zigarren und Zigaretten, bat die Herren, sich zu melden, falls sie weitere Wünsche hätten, und zog sich dann in seiner lautlosen Art zurück.
»So, meine Lieben, nun wollen wir zuerst einmal Prost sagen und uns dann so langsam wieder zu uns selbst zurückfinden; denn der letzten Stunden Qual war groß«, sagte der Notar. »Das war ja das reinste Todesurteil, das ich der Frau Elisa nebst Anhang verlesen mußte. Hätten sie gewettert und getobt, dann hätte man sich das voller Schadenfreude mit ansehen können. Aber so – na, schön ist anders.«
»Das sagst du, der du den Inhalt des Testaments doch schon kanntest?« gab der Arzt zurück und tat einen tiefen Zug aus dem Glase. »Aber was sollen wir anderen sagen, die uns das unerwartete Testament sozusagen aus allen Wolken riß?«
»Alle Achtung vor der Selbstdisziplin dieser Frau! So jäh und unerwartet von ihrem hohen Roß gestürzt zu werden und dennoch die Würde nicht zu verlieren, das muß man anerkennen.
Auch der Baron hat mir leidgetan. Den hat sein Erbe bestimmt nicht so gefreut, wie es eigentlich der Fall sein sollte.«
»Das hat es auch nicht«, bekräftigte Glang. »Ich möchte nicht in seiner Haut stecken, weiß Gott nicht. Es ist ein außerordentliches Päckchen, das unser Freund Leopold dem armen Kerl nebst dem reichen Erbe aufgebuckelt hat. Ihr wißt nämlich noch nicht alles, was ich weiß.«
»Kann ich mir denken, du Rechtsverdreher!« schmunzelte Melch behaglich. »Dein Amt ist eben die Geheimniskrämerei. Läßt uns der Mensch bei dem unerschütterlichen Glauben, daß Frau Elisa nebst Anhang die Erben sind, und lächelt noch schadenfroh dazu, als uns nach der Testamentseröffnung die Überraschung fast umwirft.«
»Was kann ich dafür, daß ihr eine so lange Leitung habt«, wehrte Glang sich lächelnd gegen den Vorwurf. »Daß der Baron hier so plötzlich auftauchte, das muß euch doch schon zu denken gegeben haben.«
»Hat es auch«, behauptete Melch. »Aber da wir keine Hellseher sind, konnten wir den Zusammenhang ja nicht ahnen. Denn seltsam ist und bleibt die Sache doch auf alle Fälle; das wirst selbst du Neunmalkluger zugeben müssen.
Taucht da plötzlich so ein Mann auf, wie ihn unser alter Herrgott nur in seiner besten Laune schafft, und von dem man bisher kein Sterbenswörtchen gehört, obgleich man hier seit mehr als dreißig Jahren ein und aus geht – und schnappt mir nichts, dir nichts der Frau Elisa von Hellersen das reiche Erbe vor der Nase weg. Wird nicht nur unumschränkter Herr über die prachtvolle Herrschaft Waldwinkel samt Nebengütern, sondern erbt auch noch eine Summe Geld dazu, bei deren Zahl man sich verschluckt, wenn man sie aussprechen will.
Ist das merkwürdig oder nicht? Zumal dieser Herr dem Erblasser unbekannt war.«
»Nimmst du wenigstens an«, entgegnete der Justizrat geheimnisvoll und weidete sich augenblickslang an den verblüfften Gesichtern Melchs und Wieloffs. »Und wenn ich euch nun erklärte, daß Leopold den Baron schon seit seinem zwölften Lebensjahr gekannt hat?«
»Eine Frage habe ich, die du gewiß auch beantworten kannst: Warum nahm Leopold, der doch immer so einsam war, den Knaben nicht ganz zu sich?« wollte Melch wissen.
»Weil der kleine Swen schon damals das verjüngte Ebenbild seines Vaters war, den Leopold ebenso glühend haßte, wie er Swens Mutter geliebt hat.«
»Na, höre einmal, die Sache wird ja immer verzwickter.«
»Durchaus nicht, sie ist vielmehr unendlich einfach und unendlich traurig. Leopold war schon ein alternder Mann, als er Frau Gertraude von Hellersen durch Zufall kennenlernte. Ihn packte die Liebe um so gewaltiger, da sie ihn bisher gnädigst verschont hatte. Sich dieser wirklich bezaubernden Frau zu nähern, war natürlich unmöglich: Erstens mal wegen seiner traurigen Gestalt, zweitens weil die Heißbegehrte an einen Mann gebunden war, den sie über alles liebte. Und diesen Mann, der die Frau sein eigen nannte, nach der unser armer Freund sich völlig verzehrte, haßte und beneidete er glühend. Leopold litt damals entsetzlich, weil ihn die unglückselige Liebe wie eine Krankheit befallen hatte. Ich glaube bestimmt, daß Leopold hauptsächlich deshalb an dem Schicksal des kleinen Swen so regen Anteil nahm, weil er der Sohn der schmerzlich geliebten Frau war. Hätte er ihr geglichen, wäre der Knabe wohl schon damals nach Waldwinkel gekommen. Da er aber ganz seines Vaters Ebenbild war, hätte Leopold es nicht ertragen können, ihn ständig um sich zu haben; denn er kämpfte gegen den Haß und Neid, der ja einen ganz Unschuldigen traf, hart an, da sich beides mit seiner sonst hochherzigen Gesinnung nicht vertragen wollte. Und dann wollte er ja auch vergessen, was ihm nimmermehr gelungen wäre, hätte er den Knaben ständig vor Augen gehabt. Aber sein Erbe sollte Swen werden, diese Tatsache stand für ihn unabänderlich fest. Und je prachtvoller sich der Knabe entwickelte, um so fester wurde Leopolds Entschluß. Jede Kleinigkeit, die Swen betraf, nahm er wichtig, und der Gedanke, den nun Erwachsenen endlich zu sich zu rufen, nahm immer festere Formen an. Wie ich vorhin schon erwähnte, war Swen im Hause seiner Verwandten ein richtiges ›Mädchen für alles‹. Er ertrug auch stets alles mit bewundernswerter Geduld, bis ihm die doch einmal riß, und er ging von Hirschhufen fort. Das jedoch verbitterte die Verwandten maßlos; denn der Baron war ein Mensch, den man nicht ungestraft in der Wirtschaft missen konnte. Er war ein äußerst tüchtiger Landwirt, der Hirschhufen hochgehalten hatte. Tatsächlich ging es nach seinem Weggang auch schnell bergab. Und als gar noch nach knapp einem Jahr der alte Francke starb und ein Oberinspektor verpflichtet wurde, der sich die zügellose Wirtschaft des Gutes zunutze machte und gehörig in seine Tasche wirtschaftete, da war der Zusammenbruch nicht mehr aufzuhalten. Nun war wieder ein Fall eingetreten, wo der junge Baron seine Tüchtigkeit unter Beweis stellen konnte. Leopold war gespannt, wie er sich in fremden Diensten behaupten würde. Und das war wohl auch der Grund, weshalb er den Gedanken, ihn nach Waldwinkel zu rufen, wieder aufgab. Später kam dann allerlei dazwischen. Der Baron heiratete, ein Kindchen stellte sich ein, die junge Frau starb. Das waren alles Ereignisse, die unsern Freund abschreckten, den Neffen zu sich kommen zu lassen. Und als er es dann endlich tat, da hatte es wieder der Tod so eilig, daß Leopold dem Baron nicht einmal alles mündlich sagen konnte, was ihm so sehr am Herzen lag. Wäre er nicht so klug gewesen, in einem langen Brief schon vorher niederzuschreiben, was er von seinem Neffen wünschte und erwartete, so wäre dem Baron die unverhoffte Erbschaft lebenslang ein Rätsel geblieben.«
Nach diesen Worten des Justizrates war es eine Weile beklemmend still. Die Blicke der drei Männer hingen an dem Bild des Verstorbenen, der trotz seines Reichtums so unglücklich gewesen war wie selten ein Mensch, der neben der Verspottung, die seinem abschreckenden Aussehen galt, auch noch die Qualen einer aussichtslosen Liebe hatte auskosten müssen bis zum letzten bitteren Tropfen.