Читать книгу Leni Behrendt Classic 54 – Liebesroman - Leni Behrendt - Страница 3

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Dem Kalender nach war es Frühlingsanfang, in der Natur jedoch noch tiefer Winter. Es schneite lustig und unaufhörlich in großen dichten Flocken. Blitzschnell setzten sich Millionen weißer Sternchen auf die Schutzscheibe des rasch dahinrollenden Autos, so daß die beiden Scheibenwischer es kaum schaffen konnten, die weißen Störenfriede hinwegzufegen. Dazu tobte ein Sturm, daß selbst der schwere Wagen nur mit Mühe die gerade Fahrtrichtung halten konnte.

Dieses unvorschriftsmäßige Wetter war zwar nichts Ungewöhnliches in Ostpreußen: Man war daran gewöhnt, daß der Frühling immer auf sich warten ließ, manchmal sogar bis in den Mai hinein. Allein den Besitzer des eleganten Wagens schien das rauhe Wetter irgendwie zu beunruhigen; denn tiefe Besorgnis lag in seinem Blick, der immer wieder hinausschweifte. Fürchtete er sich etwa vor dem Schneetreiben?

Er fürchtete sich tatsächlich, so sonderbar das auch anmuten mochte. Allerdings nicht für sich; er war an die rauhe Witterung gewöhnt. War in Norddeutschland geboren, als zweijähriger Knabe mit seinen Eltern nach Ostpreußen gekommen und dreiundzwanzig Jahre unausgesetzt dort geblieben.

Wenn er sich jetzt vor dem rauhen Winter fürchtete, so geschah es um des neunjährigen Mädchens willen, das, fest in seinen Arm geschmiegt, mit nachtdunklen Augen in das weiße Flockengewirr hinaussah. Immer wieder ging des Mannes besorgter Blick zu dem schwarzen Lockenköpfchen hin.

Jetzt wandte die Erzieherin sich den beiden hinter ihr Sitzenden zu, und ihre grauen Augen, das einzig Schöne an diesem unscheinbaren Menschenkind, ruhten mitleidig auf dem Gesicht des Mannes.

»Sie machen sich wirklich zuviel unnötige Sorgen, Herr Uhde«, sagte sie in der ihr eigenen Ruhe, die immer so angenehm berührte. »Graziella ist kerngesund, wie die Untersuchung des Berliner Professors erwiesen hat; sie wird daher den Klimawechsel ohne Schaden überstehen. Zumal sie ja auf der langen Seereise und in Berlin schon andere Luft geatmet hat als in Brasilien.«

»Ich wünschte, Sie behielten recht«, seufzte der Mann. »Sie wissen nicht, was mir das Kind bedeutet.«

Doch, Fräulein Agathe wußte es. Sie war Zeuge der glücklichen Ehe gewesen, die Uhde mit Graziellas Mutter in Brasilien geführt hatte, nachdem sie durch den Tod ihres Mannes de Avido Witwe geworden war.

Fräulein Agathe hatte die Bemühungen der Donna Elvira um den Deutschen miterlebt, von dem sein Onkel erzählt hatte, daß eine Frau ihn aus seiner Heimat vertrieben hätte und daß er diese Frau noch immer nicht vergessen könnte.

Da hatte Donna Elvira mitleidig gelächelt. Den Mann wollte sie einmal sehen, der ihrer Schönheit und ihrem Charme nicht unterläge. – Tatsächlich war der blonde Deutsche ihr Gatte geworden, und sie hatte an seiner Seite das Glück gefunden, das sie schon immer ersehnt und erträumt hatte. Ob er jedoch restlos glücklich gewesen war, das hatte Fräulein Agathe nie ergründen können; dazu war der Mann zu beherrscht und verschlossen. Auf jeden Fall hatte er seine Frau verwöhnt und ihr jeden Wunsch erfüllt, und seine Trauer war tief und echt gewesen, als die glückselige Frau schon im zweiten halben Jahr ihrer Ehe von einer tückischen Krankheit dahingerafft wurde.

Schwere Wochen und Monate waren gefolgt, in denen Fräulein Agathe der gute Geist des prunkvollen Hauses, das ohne die Herrin so öde und leer er­schien, wurde. Sie war es auch, die dem ruhelosen Mann geraten hatte, wieder in die Heimat zurückzukehren und so alles hinter sich zu lassen, was ihn peinigte und quälte. Das hatte er zuerst entschieden von sich gewiesen. Er wollte doch seine Stieftochter Graziella, das Vermächtnis der Toten, nicht zurücklassen, zumal das Kind mit seinem ganzen leidenschaftlichen Herzen an ihm hing. Und diese verzärtelte fremde Blume, das Kind spanischer Eltern, nach dem rauhen Norden zu verpflanzen, war ihm damals unmöglich erschienen. Aber als er erfuhr, daß das Rittergut, auf dem sein Vater Verwalter und später Inspektor gewesen war, zum Verkauf stände, war sein Freund, Rechtsanwalt Dr. Greißner, auf schnellstem Wege beauftragt worden, das Gut um jeden Preis für Uhde zu erwerben. Und als dann endlich die Nachricht von dem glücklichen Gutskauf gekommen war, da hatte der allzeit beherrschte Mann geweint wie ein Kind.

Die Vorbereitungen zur Reise waren dann mit solcher Eile und Eindringlichkeit betrieben worden, als gälte es, keine einzige Stunde mehr zu versäumen. Die Erzieherin Fräulein Agathe und Otto Wicht, ein nach Brasilien ausgewanderter Deutscher, wurden mit hin­übergenommen.

*

Als das Auto in die mit Blutbuchen umsäumte Allee einbog, die zur Herrschaft Rotbuchen führte, lief ein junger Mann wie aufgescheucht kurz vor dem Wagen auf die andere Seite und verschwand hinter den dicken Stämmen.

»Wer war das?« fragte Graziella.

»Ich weiß es nicht, Liebling«, antwortete Uhde. »Es sah bald so aus, als ob er ein schlechtes Gewissen hätte.«

Einige Minuten später hielt man vor dem Portal des Herrenhauses, an dem es von Menschen förmlich wimmelte.

Die Beamten und Arbeiter, die Förster mit ihren Gehilfen, alle waren hier versammelt, um den neuen Besitzer zu empfangen. Selbst der Lehrer mit seiner kleinen Gutsschule fehlte nicht.

Da sah er es wieder, das Herrenhaus von Rotbuchen, das er stets mit ehrfurchtsvoller Scheu betrachtet hatte und das ihm als schönstes und vornehmstes Haus weit und breit erschienen war. Und jetzt sollte er der Herr in diesem Haus sein, das er einst nur bei besonderen Anlässen und nie ohne Herzklopfen betreten hatte? Das war ein Gedanke, an den er sich erst gewöhnen mußte.

Langsam stieg er, Graziella an der Hand, die Freitreppe empor und kam in die hohe weite Halle, die er als Knabe immer mit einem so feierlichen Gefühl betreten hatte, als ginge er in die Kirche.

Tief ergriffen streckte er der treuen Tante Mienchen, die mitten in der Halle stand, die Hand entgegen. Sie war in seinem Leben gewesen, solange er denken konnte. Hatte als treue, selbstlose Gehilfin seiner Mutter zur Seite gestanden und war nach seines Vaters Tode in ein Stift gegangen.

Uhde hatte sie von Brasilien aus schriftlich gebeten, nach Rotbuchen zu kommen und seinem Hause vorzustehen. Doch als er sie jetzt vor sich sah, klein und unscheinbar, ängstlich und scheu, da zweifelte er, daß das gute Mienchen die rechte Repräsentantin seines Hauses sein würde.

»Auf ein glückliches Leben in Deutschland, Tante Mienchen.« Er stellte Graziella und Agathe vor. – »Und nun, Tante Mienchen, zeigst du uns vielleicht einmal das ganze Haus.«

Freudig ging Tante Mienchen voran, und Uhde folgte mit Graziella und ihrer Erzieherin.

Es war wirklich alles so eingerichtet, wie er es von Brasilien aus angeordnet hatte. Das hatte sich ja leicht machen lassen, weil ihm die Räume des Hauses genau bekannt waren. Und selbst er, der doch im Hause seiner Frau von Pracht und Schönheit umgeben gewesen war, fand an seinem neuen Hause nichts auszusetzen.

»Das war hier vielleicht ein Wirrwarr!« erzählte Mienchen. »Sogar ein Architekt war hier, der das Haus eingerichtet hat. Das muß ja ein sündhaftes Geld gekostet haben! Hast du dabei auch keine Schulden gemacht, Olaf?«

Er stritt das belustigt ab, und selbst das stille Fräulein Agathe konnte ein Lächeln nicht unterdrücken bei der Zumutung, daß der Erbe der Donna Elvira bei der Einrichtung eines Landhauses Schulden gemacht haben könnte.

»Na, Prinzeßchen, alles zu deiner Zufriedenheit, hm? Gefällt es dir?« wandte er sich an Graziella.

»Oh, Papi, sehr! Ich möchte hier nie wieder fort. Hier ist es noch schöner als bei uns.«

»Wir sind hier bei uns, mein Kleines. Hier ist deine zweite Heimat.«

»Und meine erste?«

»Ist die Heimat deiner Mutter, mein Kind.«

»Die lebt aber nicht mehr – und du lebst. Also ist dieses meine Heimat. Von der anderen will ich nichts wissen.«

»Das kann ja gut werden!« seufzte er halb bestürzt, halb erheitert auf. »Doch darüber wollen wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Vor allen Dingen wollen wir uns zuerst einmal umkleiden und dann feststellen, was für ein Festessen Tante Mienchen uns anrichten lassen wird. Aber noch vor der Mahlzeit möchte ich mir meine Arbeit etwas ansehen.«

Er hieß Fräulein Agathe und Graziella, sich weiter mit dem Haus vertraut zu machen, und ging hinüber in sein Arbeitszimmer. Wohlgeordnet lagen auf seinem Schreibtisch Akten und Wirtschaftsbücher. Doch trotz aller Ordnung fand er sich nicht in ihnen zurecht.

Uhde überlegte einige Sekunden, dann drückte er auf die Klingel.

»Sie wünschen mich zu sprechen, Herr Uhde?«

Der Mann am Schreibtisch fuhr herum – sprang auf – und ein Ausdruck maßloser Überraschung ging über sein Gesicht. Unwillkürlich beugte er sich vor, um besser sehen zu können.

»Sie hier –?«

»Sie haben mich doch zu sprechen gewünscht«, sagte das Mädchen.

»Ich warte hier auf meine Privatsekretärin.«

»Die bin ich, Herr Uhde.«

Man sagte Uhde nach, daß er sich eisern beherrschen konnte – und in diesem Augenblick gab er eine glänzende Probe davon. Was andere, weniger beherrschte Menschen hätte fassungslos werden lassen, tat er mit einem kurzen Aufblitzen der Augen ab – das der Sekretärin allerdings sehr viel verriet.

»Das ist allerdings eine ungeahnte Überraschung, gnädige Frau – oder noch Fräulein Grall?« fragte er sehr langsam und merkwürdig betont.

»Letzteres, bitte! Und nun eine Frage, Herr Uhde: Wünschen Sie das Angestelltenverhältnis mit mir zu lösen?«

Nun dauerte es doch einige Sekunden, bis er antwortete. Er schien erst mit etwas fertig werden zu müssen, das ihn stark beschäftigte – und dabei verhärtete sein Gesicht sich mehr und mehr, wurden seine Augen kalt und glitzernd.

»Durchaus nicht, Fräulein Grall. Ich habe sämtliche Angestellten meines Vorgängers übernommen. Warum sollten Sie da eine Ausnahme machen? Herr Härtner, der mir einen genauen Bericht über Rotbuchen sandte, hat Sie mir als tüchtige, zuverlässige Kraft geschildert. Es war wohl nur Zufall, daß Ihr Name dabei nicht genannt wurde. Jedenfalls bitte ich Sie, in meinen Diensten zu bleiben.«

Nach diesen kühlen, geschäftsmäßigen Worten war es eine Weile sehr still. Olaf Uhde und Iris Grall standen sich gegen­über wie zwei Menschen, die sich zum erstenmal sehen. Und doch war der Mann um dieses Mädchens willen vor sechs Jahren aus der Heimat geflohen, um in einem abenteuerlichen Leben Vergessen zu suchen.

*

»Heino, woher kommst du denn?« fuhr Iris Grall erschrocken auf, als der Bruder so ganz unerwartet und in völlig erschöpftem Zustand ins Zimmer taumelte. »Du siehst ja furchtbar aus!«

»Ich – ach, Iris, – ich –«, stöhnte er und ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen. Seine Hand, mit der er die Mütze vom Kopf ziehen wollte, zitterte so heftig, daß er sie wieder sinken lassen mußte. Behutsam nahm die Schwester ihm die Mütze ab, klappte auch den Pelzkragen herunter und sah nun in ein todblasses, verzerrtes Gesicht und in flehende, angstvolle Augen.

»Heino – lieber Heino –«, sagte sie leise und strich ihm den blonden Haarschopf zurecht. »Ist es sehr schlimm, was ich da wieder zu hören bekomme?«

Da umklammerte er sie mit beiden Armen. Der kraftvolle Körper wurde von einem harten, stoßweisen Schluchzen förmlich hin und her geworfen. Sie ließ ihn eine Weile gewähren, dann bat sie gequält: »Heino, so sprich doch endlich! Bist du etwa wieder von deiner Lehrstelle fortgelaufen?«

Ein heftiges Nicken, dann sah er auf. In dem Jungen Gesicht stand jetzt Trotz – und trotzig klang auch seine Stimme, als er sagte: »Ja, ich bin ausgerissen – auf der Stelle, Knall und Fall. Soll ich mir etwa gefallen lassen, daß man mich des Diebstahls beschuldigt?«

»Heino –!!!«

»Jawohl, gestohlen soll ich haben, Iris. Kannst du das von mir glauben?«

»Das kann doch nur ein Irrtum sein. Um welche Summe handelt es sich denn?«

»Um zwanzig Mark.«

»Und ausgerechnet du sollst sie genommen haben?«

»Ja, gerade ich! Weil ich der jüngste Lehrling bin, bei dem man nicht jedes Wort auf die Waage zu legen braucht. Ich habe ihnen aber zu verstehen gegeben –«

»Heino, du bist doch nicht etwa unhöflich gewesen?« unterbrach sie ihn vorwurfsvoll. Da brauste er auf.

»Gewiß bin ich das gewesen! Ich werde mir doch nicht ohne weiteres eine ehrenrührige Handlung nachsagen lassen! In dem Betrieb weiß nämlich einer vom anderen nichts, und einer sucht seine Schuld auf den anderen zu wälzen. Selbst wenn der Irrtum sich aufklären sollte, gehe ich nicht mehr zurück. Nein, Iris, ich tue es nicht – und wenn du mich deswegen noch so vorwurfsvoll ansiehst!« setzte er trotzig hinzu.

»Heino, es ist deine dritte Lehrstelle in einem halben Jahr. Was soll aus dir werden, wenn du es so weitertreibst? Man muß sich ja schämen, deinem Vormund unter die Augen zu treten.«

»Und ihr sollt euch schämen, mich in einen Beruf zu zwängen, der mir durchaus nicht liegt!« trumpfte er auf. »Gebt meiner Bitte nach und laßt mich Landwirt werden! Dann habe ich einen Beruf, der mir Freude macht, und werde euch nie mehr Anlaß zur Klage geben.«

»Immer noch das gleiche Lied, Heino. Du weißt doch, daß du nicht Landwirt werden kannst. Sieh das doch endlich mal ein, und mache mir mit deinem törichten Wunsch nicht das Leben so schwer! Ein Landwirt ohne Grund und Boden hat es furchtbar schwer, Junge.«

»Ein Kaufmann ohne Vermögen wohl nicht?«

»Heino, du bist fürchterlich in deiner Beharrlichkeit! Hast du dich noch immer nicht mit deinem Schicksal abgefunden?«

»Nein – und das werde ich auch nie! Am wenigsten, wenn ich einem Beruf nachgehen soll, der mir verhaßt ist. – Fünfzehn Jahre hindurch hat man mich in den Glauben gelassen, daß ich der Erbe Rotbuchens sei, hat mich zu den größten Ansprüchen erzogen –«

»Heino, mir ging es doch auch nicht anders als dir«, unterbrach die Schwester ihn hastig. »Glaubst du etwa, daß es mir Freude macht, als Sekretärin mein Leben zu verbringen? Aber es muß sein, darum füge ich mich. Was sollte wohl aus uns werden, wenn ich mich so anstellen wollte wie du?«

»Verzeih mir, Iris«, bat er zerknirscht und umhalste sie stürmisch. »Ist schon wieder gut. Ich werde in meine Lehrstelle zurückkehren – dir zuliebe, weil du dir so große Mühe mit mir gibst.«

Das klang so in sein Schicksal ergeben, daß es der Schwester ins Herz schnitt.

»Das sollst du nicht eher, als bis ich mit deinem Lehrherrn gesprochen habe«, begütigte sie. »Jetzt beruhige dich erst einmal, dann wollen wir beraten, was wir am besten tun. Hast du überhaupt schon Mittag gegessen?«

»Nein – ich bin seit morgens unterwegs.«

»Und jetzt haben wir Kaffeezeit! Wo bist du denn so lange gewesen, Junge?«

»Och – so ein bißchen herumspaziert –«, versuchte er auszuweichen. Allein die Schwester sah ihm so ernst in die Augen, daß er die seinen davor senken mußte. Dabei stieg ihm tiefe Röte bis in die Stirn.

»Nun, Heino? Mich kannst du doch nicht täuschen. Ich sehe doch deine Erschöpfung, deine jammervolle Verfassung. Wie soll ich dir helfen können, wenn du mir nicht alles sagst?«

»Iris – ich – ich schämte mich so sehr, nach – Hause zu kommen –«, bekannte er so leise, daß sie sich zu ihm neigen mußte, um ihn verstehen zu können. »Ich habe mich auf einen Kilometerstein gesetzt und würde wahrscheinlich noch dort sitzen – wenn – wenn Uhdes Auto nicht gekommen wäre und mich durch sein Hupen aufgescheucht hätte.«

»Hat Uhde dich erkannt?« fiel Iris hastig ein.

»Nein! Ich bin schnell aufgesprungen und davongelaufen. Das fehlte gerade noch, daß mich dieser – Eindringling angesprochen hätte!«

»Heino, jetzt wirst du aber kindisch!« Die Schwester schüttelte mißbilligend den Kopf. »Hast du etwa vor, deine Abneigung gegen Härtner auf Uhde zu übertragen, nur weil er jetzt der Besitzer Rotbuchens ist?«

»Gewiß! Er sitzt warm und weich auf dem Platz, auf den ich eigentlich gehöre. Ach, Iris, ich möchte davonlaufen, weit – weit weg, um das alles nicht mehr mitansehen zu müssen!«

»Und ich werde zusehen, daß du etwas zu essen bekommst, damit deine weltschmerzliche Stimmung nachläßt«, entgegnete sie trocken und verließ rasch das Zimmer.

Eine Weile später kam sie in Begleitung Jettchens wieder, die mit viel Liebe und Umsicht das kleine Haus und seine wenigen Bewohner betreute. Sie trug ein besetztes Tablett in den Händen, und ein forschender Blick ging zu dem Jüngling hinüber.

»Nun, Heino, wieder einmal zu Hause?« begrüßte sie ihn harmlos, während sie das Geschirr hinstellte und flink den Tisch deckte.

Heino brummte etwas, was wohl einen Gegengruß bedeuten sollte, und starrte unentwegt weiter zu dem Fenster hinaus, an dem er stand. Erst als die Schwester ihn ansprach, fuhr er herum und setzte sich an den Tisch.

Während die Geschwister aßen, ging Iris’ Blick verstohlen zum Bruder hin.

Es war nicht das erstemal, daß er so vor ihr saß, unzufrieden mit sich und seinem Geschick. Aber diesmal schien er besonders verbittert zu sein. Er konnte es eben nicht verwinden, daß er Kaufmann und nicht Landwirt werden sollte; konnte sich nicht damit abfinden, daß nun ein anderer Herr Rotbuchens war, an das er ein heiliges Recht zu haben glaubte.

Daran trug hauptsächlich der Vater die Schuld, der seine beiden Kinder in diesem Geist erzogen hatte. Deswegen war es ihnen doppelt schwergefallen, sich nach dem Zusammenbruch mit dem neuen Leben voll Not und Entbehrung abzufinden.

*

»Ich habe etwas Eiliges zu erledigen«, sagte Uhde, als Iris zu ihm ins Arbeitszimmer trat. »Hoffentlich habe ich Ihre Mittagszeit nicht zu sehr verkürzt?«

»Nein!« antwortete sie ihm mit demselben kühlen Ton in der Stimme.

Dann sprachen sie über geschäftliche Dinge.

Es war mehr als eine Stunde darüber gegangen, als Rechtsanwalt Greißner nach kurzem Klopfen das Zimmer betrat. Sein Gesicht spiegelte peinliche Verlegenheit wider, als er die Privatsekretärin neben dem Gutsherrn gewahrte.

»Willkommen in der Heimat, Olaf!« rief er dann, schnell gefaßt, und schüttelte dem Freund kräftig die Hände. »Laß dich mal anschauen, alter Junge! Potztausend, du bist ja ein Bild von einem Kerl geworden! Ich freue mich unbändig, daß du wieder da bist. Hast auch höllisch lange auf dich warten lassen!«

Iris wollte das Wiedersehen der Freunde nicht stören; sie zog sich unauffällig in das Nebenzimmer zurück, einen mäßig hohen Raum, in dem sie bisher gearbeitet hatte. Sie wußte nicht recht, ob sie gehen oder bleiben sollte. Aber ihre Dienststunden waren ja noch nicht um; da konnte es doch leicht sein, daß Uhde sie noch zu sprechen wünschte.

So machte sie sich denn an die Arbeit, die es ja immer reichlich für sie gab. Leider unterhielten sich die Freunde so laut und lebhaft, daß sie durch die geschlossene Tür jedes Wort verstehen konnte.

Wie peinlich das war! Aber für sie nicht zu ändern; sie mußte während der Dienstzeit auf ihrem Platz verharren. –

»Wieder zu Hause zu sein – was für ein wundersames Gefühl das doch ist!« hörte sie soeben Uhde sagen. »Sämtliche Palmen und Zypressen können mir gestohlen bleiben – jetzt will ich mich wieder einmal an Tannen und Eichen sattsehen!«

»So schlimm war das Heimweh, Olaf?«

»Noch schlimmer, Oskar! Eine wahre Höllenfolter! In der ersten Zeit ließ es sich noch von all dem Neuen, Nie­geschauten verdrängen, und dann hielt mich meine Ehe mit tausend Banden fest –«

Er schwieg, und der Freund sah ihn mitleidig an. »Der Tod deiner Gattin ist dir wohl sehr nahe gegangen, du armer Kerl, wie?«

»Allerdings! Wäre meine kleine Stieftochter nicht gewesen, die mit ganzem Herzen an mir hängt, wer weiß – doch so hielt mich noch immer die Verantwortung, die ich dem Kind gegenüber habe. Ich wußte, daß Graziella mit mir alles verlieren würde.«

»Wie lange ist eigentlich deine Frau tot?«

»Fast zwei Jahre.«

»Und warum kamst du da nicht gleich in die Heimat zurück?«

»Zuerst fehlte es mir an der nötigen Willenskraft, um mein Leben zu ändern. Dann fürchtete ich auch, daß meine Tochter das rauhe Klima hier nicht vertragen könnte. Doch als du mir schriebst, daß Rotbuchen verkäuflich sei, da waren alle Bedenken wie weggeweht, da war nur noch der übermächtige Wunsch in mir, auf schnellstem Wege in die Heimat zurückzukehren. Und wenn Graziella unser Klima vertragen sollte, dann will ich diese Ungeduld segnen, jeden Tag aufs neue.«

»Wo ist eigentlich Fräulein Grall geblieben?« fragte Greißner nach einer längeren Gesprächspause.

»Sie wird nach Hause gegangen sein. Warum hast du mir nichts davon geschrieben, daß sie Privatsekretärin in Rotbuchen ist?«

»Weil ich fürchtete, daß dich das am Heimkommen hindern könnte; denn schließlich bist du ja um dieses Mädchens willen ins Ausland gegangen. Ich bin zwar kein Arzt – und ein Seelenarzt schon gar nicht. Aber ich habe mir sagen lassen, daß es nicht guttäte, eine Wunde wieder aufzureißen, weil sie sich dann nie schließe. Und die Wunde, die du damals davontrugst, schien bedenklich schwer zu sein. Wenn ich dir da noch viel über Iris Grall geschrieben hätte, so wäre das eben ein solches Wiederaufreißen der gefährlichen Wunde gewesen.«

»Du bist ein guter Kerl, Oskar«, sagte Uhde warm. »Aber deine Rücksicht wäre nicht nötig gewesen, weil ich bald über meinen damaligen Kummer hinweggekommen bin. Ich habe in Graziellas Mutter so vollkommen mein Frauenideal gefunden, daß ich der Art einer Iris Grall gewiß keinen Geschmack mehr abgewinnen kann.«

»Dann sage ich: Gott sei Dank!« atmete der Freund befreit auf. »Da hätte ich mir bestimmt nicht so schwere Gedanken darüber zu machen brauchen, wie ich dir am geschicktesten beibringen könnte, wer deine Privatsekretärin ist. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte sie ihre Stellung sofort aufgeben müssen; denn ein erquickliches Zusammenarbeiten wird es kaum zwischen euch werden. Die Art, wie sie dich damals abfallen ließ, war doch immerhin so beleidigend, daß ein Mann das kaum jemals ganz verwinden könnte.«

»Du irrst, Oskar. Fräulein Grall ist mir jetzt genauso gleichgültig wie jede andere Sekretärin.«

»Das ist ja großartig! Da hätte ja dann alles wunderbar geklappt, und mein Zittern und Zagen um deine Seelenruhe ist unnötig gewesen. Hat es dich wenigstens überrascht, deine einstige Angebetete als deine Privatsekretärin wiederzusehen?«

»Das kann ich allerdings nicht leugnen. Ich wollte mich nämlich hier gleich tatendurstig in die Arbeit stürzen und vertiefte mich zu dem Zweck sofort in die Akten, die musterhaft geordnet auf meinem Schreibtisch lagen. Trotzdem waren sie mir ein Buch mit sieben Siegeln. Und da ich hörte, daß meine Sekretärin mir darüber genaue Auskunft geben könnte, ließ ich die Dame herrufen – in der ich selbstverständlich niemals Iris Grall vermutet hätte. Ich glaubte sie doch längst mit Almrudt verheiratet. Wie kommt es überhaupt, daß dieses verwöhnte, hochmütige Mädchen Gutssekretärin geworden ist?«

»Das ist in wenigen Worten gesagt, Olaf; denn es ist viel zu bekannt, als daß es noch ein Geheimnis wäre: Zusammenbruch der Finanzen, weil Herr Grall schon immer über seine Verhältnisse gelebt hatte – und sich durch einen reichen Schwiegersohn gesund zu machen hoffte. Da muß er aber doch bei dem Almrudt gründlich vorbeigetippt haben, denn die Heirat kam nicht zustande. Man munkelt sogar, daß Gralls Hände nicht ganz – sauber waren, und daß er in Machenschaften steckte, die große Ähnlichkeit mit – Betrug hatten. Jedenfalls ging er allem, was unweigerlich folgen mußte, aus dem Wege, indem er sich eine Kugel durch den Kopf schoß. Die Frau rührte darüber der Schlag, so daß sie jetzt noch an den Rollstuhl gefesselt ist. Die Hauptleidtragenden waren jedoch entschieden die beiden Kinder. Aus der schönen, vergötterten Iris wurde eine Sekretärin – und der Junge, der auf Wunsch seines Vaters schon als kleiner Knirps von den Gutsleuten als späterer Herr respektiert werden mußte, macht sich jetzt als Kaufmannslehrling recht unbeliebt.

Das alles hat damals – fünf Jahre sind es wohl her – viel Staub aufgewirbelt. Man gönnte allgemein den hochmütigen Leuten ihr trauriges Geschick – hauptsächlich der selbstherrlichen Iris, die erfahren mußte, wie weh es tut, wenn der Bräutigam die Braut kaltlächelnd sitzenläßt, um eine andere zu nehmen, die ihm der Erbonkel aussuchte. Du bist also glänzend gerächt, Olaf. Das Schicksal hat da wieder einmal gerechte Vergeltung geübt.«

»Da hat das Schicksal sich diesmal umsonst angestrengt; denn ich spüre keinerlei Rachegelüste in meiner Brust«, gab Uhde gelassen zurück. »Ich hätte der einst so gefeierten Iris Grall weiß Gott ein besseres Los gegönnt.«

»So willst du sie also als deine Privatsekretärin behalten?«

»Ganz entschieden! Herr Härtner schrieb mir übrigens in den begeistertsten Worten von seiner Sekretärin; er schilderte sie mir als außerordentlich tüchtig. Da wäre ich ja ein Trottel, wenn ich mich um diese tüchtige Kraft brächte.«

*

Plötzlich schrak Uhde von seiner Arbeit auf, denn im Nebenzimmer wurde eine Tür geräuschvoll geöffnet und eine polternde Männerstimme bot einen Gruß. Und zu seiner Überraschung hörte der Mann auch die unwillige Stimme seiner Sekretärin.

»Sie kommen hierher, Herr Mollgeit?«

»Ja, weil man mir bei Ihnen zu Hause sagte, daß Sie hier wären und man nicht wüßte, wann Sie zurückkämen, da der neue Chef angerückt sei. Ich wollte den Weg nach Rotbuchen aber nicht umsonst gemacht haben; deswegen kam ich hierher. Ist das denn so schlimm?«

»Allerdings, Herr Mollgeit. Denn ich weiß nicht, wie mein Chef darüber denkt, wenn seine Sekretärin jetzt ihre Privatangelegenheiten im Dienstzimmer abmacht. Sie kommen sicherlich wegen meines Bruders?«

»Ganz richtig, Fräulein Grall. Der Bengel hat sich benommen – na, unglaublich jedenfalls! Ich meine, das kann doch schon einmal vorkommen, daß einer zu unrecht beschuldigt wird.«

»So hat das Geld sich also gefunden –?«

»Ja! Meine Frau hat es aus der Kasse genommen und dann vergessen, dem Kassierer Bescheid zu sagen.«

»Dann haben Sie meinem Bruder aber wirklich bitter unrecht getan, Herr Mollgeit, und dürfen es ihm nicht verdenken, wenn er aufbraust.«

»Na ja, gewiß, das sehe ich ja ein – sprach auch deshalb bei Ihnen zu Hause vor. Wollte dem Bengel ein gutes Wort geben.

Aber da kam ich schlecht an! Von Stolz und Ehre hat er gefaselt und mich abgekanzelt wie einen dummen Jungen. Wir sind gehörig aneinandergeraten –«

»Um Gottes willen, meine Mutter – wenn sie das gehört hat!« rief Iris erschrocken, doch er winkte beruhigend ab.

»Die Frau Mutter war nicht im Hause, die traf ich mit der Wirtschafterin im Walde. Ich bin ja schließlich kein Unmensch; ich hätte auf die kranke Frau allemal Rücksicht genommen. Wir gerieten also hart aneinander, wobei der Junge seine Worte durchaus nicht auf die Waage legte. Und wenn er sich bei mir nicht entschuldigt, kann ich ihn nicht länger als Lehrling behalten. Sehen Sie also, Fräulein Grall, daß er sein Unrecht einsieht.«

»Das wird mir leider nicht gelingen, Herr Mollgeit; denn schließlich ist meinem Bruder ja unrecht getan worden«, kam es kühl zurück. »Sie beide würden ja doch wieder bei der nächsten Gelegenheit aneinandergeraten; daher ist es besser, wenn er nicht wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt.«

»Ja, wenn Sie noch auf solch einem hohen Roß sitzen, dann wird in dieser Angelegenheit wirklich nichts mehr zu machen sein«, brummte er ärgerlich. »Ist ja kein Wunder, daß der Bengel so störrisch ist, wenn er bei Ihnen immer Rückhalt findet. Auch gut – wenn er nicht wiederkommt, dann läßt er es eben bleiben! Er wird schon noch sein helles Wunder erleben, verlassen Sie sich darauf!«

»Das wollen wir doch getrost der Zukunft überlassen, Herr Mollgeit.«

»Gewiß, gewiß! Also, dann nichts für ungut, Fräulein Grall. Hoffentlich bereuen Sie es nicht einmal, meine gutgemeinten Worte so stolz in den Wind geschlagen zu haben.«

Damit verabschiedete sich Herr Mollgeit, und dann war es wieder still. – Uhde, der jedes Wort dieser Unterhaltung mit angehört hatte, stand nun auf und ging in das Nebenzimmer, wo Iris erschrocken auffuhr.

»Sie hier, Herr Uhde?«

»Ja, ich war in meinem Zimmer. Übrigens glaubte ich Sie längst zu Hause und war daher nicht wenig überrascht, als ich Sie mit jemand sprechen hörte.«

»Ich muß um Entschuldigung bitten, Herr Uhde, daß Herr Mollgeit mich hier aufsuchte –«

»Das ist weiter kein Vergehen«, winkte er kurz ab. »Ich habe selbstverständlich jedes Wort verstanden. Ihr Bruder scheint wirklich ein störrischer Bursche zu sein, der Ihnen viel zu schaffen macht, da wird Herr Mollgeit schon recht haben. Und Sie sind viel zu jung, um mit ihm fertig zu werden; Sie sind ja kaum vier Jahre älter als er.«

»Ich bin mit meinem Bruder bis jetzt immer gut fertig geworden«, wies sie kühl ab. »Schließlich hat jedes Ding zwei Seiten. Wenn man sich Herrn Mollgeit ansieht, so muß man zu der Überzeugung kommen, daß er gewiß nicht der rechte Lehrherr für einen jungen Menschen von der Art meines Bruders ist. Wer weiß, was er dem Jungen alles gesagt, wie er ihn gereizt hat. Da ist meinem Bruder nicht zu verdenken, daß er nicht stillgeblieben ist. Wenn wir jetzt auch arm und einflußlos sind, mein Bruder und ich, so dürfen wir doch verlangen, daß man uns mit Achtung entgegenkommt – solange wir Achtung verdienen. Mag mein Bruder auch störrisch sein, einer ehrenrührigen Handlung ist er nicht fähig. Wenn man ihm die Ehre absprechen will, so muß er sie eben mit allen Mitteln verteidigen.«

»Das soll also mit anderen Worten heißen: Kümmern Sie sich gefälligst nicht um meine Angelegenheiten! Habe ich recht, Fräulein Grall?«

»Wenn Sie es so auffassen, Herr Uhde –«

»Nun, liebenswürdiger sind Sie in den sechs Jahren bestimmt nicht geworden«, gab er verärgert zurück. »Aber wie jeder es will – wie man sich bettet, so schläft man. Ich bin schließlich nicht mehr der arme Inspektor von einst, den die Tochter des Chefs mit ihrem Hochmut ungestraft quälen konnte. Vielleicht merken Sie sich das, Fräulein Grall!«

Damit verließ er das Zimmer.

Iris sah ihm mit spöttischem Lächeln nach.

*

Am nächsten Morgen war die Sekretärin pünktlich an ihrem Arbeitsplatz und hatte wohl schon drei Stunden fleißig geschafft, als der Gutsherr sein Arbeitszimmer betrat.

Er fand die Postsachen übersichtlich geordnet auf seinem Schreibtisch vor. Dabei lagen kurze erklärende Bemerkungen. Zum Teil waren die Briefe sogar schon beantwortet und zur Unterschrift vorgelegt. Jedenfalls war alles so übersichtlich, daß es eine Kleinigkeit für ihn war, sich hier zurechtzufinden.

Später rief er dann die Sekretärin herbei.

»Bitte, Fräulein Grall, lassen Sie uns mit der gemeinsamen Arbeit beginnen«, wandte er sich in höflichem Ton an sie. Dann schob er ein wenig das kleine Mädchen vor, das sich an seine Knie geschmiegt hatte.

»Das ist meine Tochter Graziella – das meine Privatsekretärin Fräulein Grall!« stellte er vor. »Geh, Graziella, begrüße die Dame!«

Langsam trat das Kind auf Iris zu, und die dunklen Augen musterten die Fremde eingehend.

»Sie mag ich leiden«, sagte sie nach einer Weile mit der Freimütigkeit des verwöhnten Kindes, das sich jede Äußerung ungestraft erlauben darf. »Sie haben so schönes Haar wie die Königstöchter und Feen in meinem deutschen Märchenbuch und solche Augen wie die Nixen.«

»Sollen die Nixenaugen nun eine Schmeichelei sein, Graziella?« lachte der Vater erheitert.

»Das soll etwas Gutes sein, Papi!«

»Das beruhigt mich außerordentlich, Kleines. Und nun zu Fräulein Agathe, damit wir ungestört arbeiten können.«

»Laß mich doch hierbleiben, Papi – bitte!« bettelte die Kleine und umhalste den Vater stürmisch. »Ich werde so still wie ein Mäuschen sein.«

»Na –«, zweifelte er. »Ich glaube nicht, daß du lange dein Plappermäulchen halten kannst. Wir jedoch müssen ungestört arbeiten können.«

»Papi – bitte, bitte!«

Es mußte dem Mann wohl unmöglich sein, dem schmeichelnden Stimmchen und den bettelnden Augen zu widersprechen, denn er gab nach.

»So bleibe, du Quälgeist – aber ruhig mußt du sein!«

Damit war für ihn der Fall erledigt, und er wandte sich wieder Iris zu, die bereits an dem kleinen Tisch, der neben seinem wuchtigen Schreibtisch stand, Platz genommen hatte.

Darüber hing jetzt ein großes Bild, das eine Frau in Lebensgrößte zeigte. Nicht mehr ganz jung war sie, aber immer noch schön. Iris konnte gar wohl verstehen, daß der kühle Deutsche sich an der südlichen Schönheit entflammt hatte.

»Gefällt Ihnen meine Mami?« fragte Graziella plötzlich. Da schrak Iris zusammen und löste rasch den Blick von dem Bild.

»Gewiß, Graziella, deine Mami ist sehr schön!« sagte sie hastig.

»So schön wie meine Mami war keine andere Frau«, bekannte das Kind stolz. »Höchstens noch Sie.«

»Graziella, du bist manchmal von einer geradezu beleidigenden Offenheit«, rügte der Vater, der nicht wußte, ob er lachen oder sich ärgern sollte. »Man darf nicht immer alles sagen, was man denkt.«

»Warum denn nicht, Papi? Bei uns durfte ich das immer.«

»Da ist auch vieles gestattet, was hier für ungezogen angesehen wird«, erklärte er mit leisem Unbehagen. »Danach mußt du dich schon richten, mein Kind.«

»Aber ich habe Fräulein Grall doch nichts Kränkendes gesagt! Ich freue mich doch auch, wenn jemand mich schön findet«, beharrte sie.

Da gab der Vater sich geschlagen.

»Bevor wir anfangen, möchte ich noch etwas mit Ihnen besprechen, Fräulein Grall. Ich habe nämlich gestern die Akten durchgesehen, in denen der Verkauf Rotbuchens an Herrn Härtner verzeichnet ist. Demnach blieb Ihnen als Eigentum aus der Versteigerung nichts weiter als das kleine Haus, in dem Sie jetzt wohnen?«

»Nein, sonst nichts.«

»Hätte sich da nicht doch noch mehr für Sie herausschlagen lassen?«

»Vielleicht! Allein uns lag daran, allen Gläubigern möglichst gerecht zu werden. Da blieb eben nur das kleine Haus übrig.«

»Das ist doch aber ein Unfug, Fräulein Grall! Soviel ich mich entsinne, ist schon damals, als ich noch Inspektor auf Rotbuchen war, der Gutskämmerer aus diesem Hause gezogen, weil es ihm als Wohnung nicht genügte.«

»Uns genügt es; wir sind froh, daß wir es haben. Es war ja durchaus nicht baufällig, nur sehr verwohnt, was nun durch geschickte Reparaturen behoben ist. Außerdem hängt meine Mutter sehr an dem Haus, das ihr eine zweite Heimat geworden ist.«

»Dann läßt sich allerdings nichts mehr dagegen sagen. Sie müssen mir jedoch gestatten, daß ich Ihnen an Gehalt zulege, weil doch –«

»Nein, Herr Uhde«, unterbrach sie ihn entschieden. »Ich bekomme neben einem angemessenen Deputat noch zweihundert Mark im Monat in bar. Damit dürfte meine Arbeit bezahlt sein. Ein Übriges würde nach Almosen aussehen.«

Ganz ruhig war das gesprochen – und doch stieg dem Mann dunkle Röte bis in die Stirn hinauf. Er biß die Zähne zusammen, als wolle er eine heftige Antwort unterdrücken, und griff nach einem Brief, über dessen Inhalt er nun sprach.

Er verlangte überhaupt über vieles Auskunft, die Iris ihm auch kurz und klar gab.

Graziella verhielt sich wirklich ganz still, so daß die beiden Emsigen die Gegenwart des Kindes vergaßen. Nur wenn Iris den Kopf zur Seite wandte, fühlte sie Graziellas Blick unentwegt auf sich ruhen.

*

Dann sprach Uhde wieder von geschäftlichen Dingen, bis Oskar Greißner in Begleitung seiner Schwester das Zimmer betrat.

»Wenn mich nicht alles täuscht, ist das Frau Monika?«

»In Lebensgröße«, lachte sie perlend auf und streckte ihm die rechte Hand entgegen, während die Linke einen großen Rosenstrauß umfaßt hielt. »Willkommen in der Heimat, Olaf!«

»Vielen Dank, gnädige Frau.«

»Laß doch den Unsinn, lieber Freund!« unterbrach sie ihn mit lockendem Blick. »Bei unserer Jugendfreundschaft: Ich bin für dich die Monika, und du bist der Olaf – wie einst. Einverstanden?«

»Mit dem größten Vergnügen, Monika. Und die schönen Blumen, sollen die etwa für mich sein?«

»Selbstverständlich! Auf daß du immer auf Rosen wandeln mögest!« scherzte sie, während sie ihm den Strauß übergab. Dann beugte sie sich zu Graziella hin, die an den Vater geschmiegt stand und die fremde Dame gar nicht erfreut musterte.

»Du bist doch sicherlich die kleine Graziella de Avido«, schmeichelte sie. »Schau einmal, was ich dir mitgebracht habe!«

Damit hielt sie der Kleinen ein Päckchen hin; doch das Kind rührte sich nicht.

»Ich darf von Fremden nichts annehmen; das hat mir Papi verboten!« erklärte sie kurz und bündig.

Monika lachte geziert auf. »Ich bin doch keine Fremde, mein Engelchen.«

»Doch, ich habe Sie noch nie gesehen.«

»Die Kleine ist ja köstlich!« lachte Greißner belustigt. »Aber recht hat sie. Verboten ist eben verboten; da gibt es keine Ausnahme.«

Er begrüßte Iris, die inzwischen auf dem kleinen Tisch Ordnung geschaffen hatte und sich jetzt umwandte, mit einer höflichen Verbeugung, die sie mit einem Neigen des Kopfes erwiderte.

»Ich gehe jetzt zu Tisch, Herr Uhde.«

»Bitte sehr, Fräulein Grall! Wann kommen Sie wieder?«

»Um vierzehn Uhr.«

Wieder ein Neigen des Kopfes, das diesmal sogar recht hochmütig ausfiel; dann schritt sie langsam dem Ausgang zu.

»Die ist bestimmt nicht klein zu kriegen«, sagte Greißner halb anerkennend, halb ärgerlich. »Das Schicksal hat sie doch gerade genug gedemütigt; aber die hochmütige Art hat sie beibehalten.«

»Wie du dich nur darüber ärgern kannst«, meinte die Schwester mißbilligend. »Mich läßt es kalt, wie der Rotkopf sich benimmt.«

»Na, erlaube mal, Monika, rot ist das Haar doch bestimmt nicht«, widersprach der Bruder heftiger, als die Äußerung es gerechtfertigt hätte. »Es ist blond mit einem satten Goldton. Eine Schönheit ersten Ranges ist Fräulein Grall schon, das kann selbst deine Mißbilligung nicht abstreiten!«

»Sprechen wir von etwas anderem«, winkte sie mit einem Lächeln ab, das dem Bruder das Blut in die Stirn trieb. »Über Geschmack läßt sich eben nicht streiten. – Ah, wohl deine Frau, Olaf?« wandte sie sich dem Bild über seinem Schreibtisch zu. »Ja, die ist schön! Das wird jeder bestätigen, der etwas von Frauenschönheit versteht.«

Sekundenlang war es sehr still im Zimmer, dann streckte Monika dem Hausherrn die Hand hin: »Ich weiß wohl, wie weh es tut, einen lieben Menschen hergeben zu müssen«, sagte sie leise. »Ich habe meinen Mann auch durch den Tod verloren.«

»Davon weiß ich ja gar nichts, Monika. Oskar hat mir davon nichts geschrieben.«

»So wichtig war das nun auch wieder nicht«, gab Greißner freimütig zurück. »Monika kann froh sein, daß sie den unheilbaren Trinker los ist, mit dem sie sich tagtäglich wie Hund und Katze gezankt hat. Sie lebt jetzt entschieden ruhiger und besser.«

»Pfui, Oskar, was für ein gefühlsroher Mensch bist du nur!« entrüstete sie sich, worüber er jedoch nur ein Achselzucken hatte.

*

»Oh, là, là, welche Amazone kommt denn da zu uns?« begrüßte Herr Julius Korsel mit seinem dröhnenden Baß die Reiterin, die vor dem erleuchteten Herrenhaus des Gutes Traun hielt.

Iris lachte und reichte von ihrem Gaul herab dem Hünen die Hand. »Entschuldige bitte meinen späten Besuch, Onkel Korsel! Aber –«

»Je später der Abend, um so schöner die Gäste!« Onkel Korsel verneigte sich galant, wobei er die leichte Gestalt mühelos aus dem Sattel hob. Wie hergezaubert stand da auch schon ein Stallbursche da, der das Pferd in Empfang nahm, während der Gutsherr sich mit seinem Gast in das Haus begab.

»Lowise, Lowischen, die Iris ist da!« rief er mit ganzer Stimmenkraft und schmunzelte behaglich, als sich fast augenblicklich eine Seitentür öffnete und eine weibliche Gestalt die Halle des Gutshauses betrat.

»Bei allen Gästen hat sie es nicht so eilig«, erklärte er dem jungen Mädchen. »Nur der Name Iris wirkt jedesmal auf sie wie eine geheime Zauberformel.«

»Erleichtere nur dein Herz!« entgegnete das Fräulein trocken und faßte mit ihren großen, derben Händen behutsam nach den feinen des jungen Gastes.

»Schön willkommen, Kindchen!« sagte sie dabei voll Herzlichkeit. »Hast du schon zu Abend gegessen?«

»Danke, ja, Tante Lowischen. Es ist ja auch schon recht spät für einen Besuch. Weil ich tagsüber jedoch keine Zeit habe –«

»Ach was, du willst dich doch nicht etwa entschuldigen –«, winkte Fräulein Luise ab. »Zu uns kommst du nie zu spät, welche Zeit du auch zu deinen viel zu seltenen Besuchen auswählen mögest. Komm nur in mein Wohnzimmer, da ist es mollig warm.«

Iris mußte in ihrem großen Lehnsessel Platz nehmen und sah nun lächelnd auf die Näschereien, die das alte Fräulein vor ihr aufbaute.

»Greif nur zu, Herzchen!« ermunterte sie dabei. »Wenn man so jung ist wie du, kann man eine Unmenge von dem Zeug verdrücken; das weiß ich aus meiner Jugendzeit.«

»Na, Lowischen –«, zweifelte der Bruder. »Das ist doch schon so lange her, daß du dich unmöglich darauf besinnen kannst. Wie alt bist du eigentlich, Schwesterherz?«

»Genauso alt wie du«, kam die Antwort kurz und trocken.

»Nicht zwanzig Minuten älter?« neckte der Zwillingsbruder. »Du hebst doch sonst bei jeder unpassenden Gelegenheit hervor, daß du die Ältere von uns beiden bist.«

Iris sah lächelnd auf die Geschwister, die sich so sehr ähnlich sahen. Gemeinsam waren ihnen die hünenhafte Gestalt, das flachsblonde Haar und die derben blauroten Gesichter. Auch im Charakter waren sie einander sehr ähnlich, und sie vertrugen sich deshalb so glänzend, weil sie größtenteils einer Meinung waren und der eine Zwilling nie ohne des andern Wissen und Einverständnis etwas tat.

Julius Korsel hatte seine Frau, die eine Verwandte Herrn Gralls gewesen war, nach kurzer, sehr glücklicher Ehe verloren. Er hatte den Mut gehabt, sich seine Liebste aus dem Rotbuchener Herrenhause, wo sie eine Aschenputtelrolle spielte, zu holen. Selbstverständlich hatte Herr Grall es nicht gern gesehen, daß seine junge Verwandte diesen Mann, der seiner Meinung nach tief unter ihr stand, heiratete.

Das hatte er wohl auch Herrn Korsel zu verstehen gegeben und eine Antwort darauf erhalten, die zum Bruch zwischen Rotbuchen und Traun führte. Aber das hinderte Grall nicht, Korsel um Geld zu bitten, als der Zusammenbruch Rotbuchens näher kam. Er hatte aber kein Glück; Korsel wies ihn hohnlachend ab, und so kam eben alles, wie es kommen mußte. Der Kinder nahm Korsel sich jedoch sofort an, als sie nach dem Zusammenbruch schutzlos dastanden. Er bildete sich ein, daß sie seinen Vorschlag, zu ihm nach Traun zu kommen, hochbeglückt annehmen würden.

Allein darin hatte er sich geirrt. Er stieß hauptsächlich bei Iris auf eine unbändigen Stolz. Alles, was er erreichte, war, daß ihm vom Gericht die Vormundschaft über die Geschwister zugesprochen wurde – sehr zum Verdruß Iris’. Sie verhehlte ihm auch ihre Abneigung keineswegs. Erst allmählich lernte sie den biederen Mann schätzen.

Herr Korsel hatte nicht wieder geheiratet, und seine Schwester war überhaupt unverehelicht geblieben.

»Die Männer haben Angst vor ihr«, pflegte der Bruder immer zu behaupten. »Sie hat nämlich Kräfte wie zwei Mannsleut’ zusammen und würde ihren Eheliebsten ohne Erbarmen verkloppen, wenn er ihr dummdreist käme.«

Fräulein Luise wiederum behauptete, daß sie es nirgends so gut haben könnte wie bei ihrem Bruder, daß sie sich nirgends so wohl fühlen könnte wie in ihrem Vaterhaus. Daher wäre es ihr auch nicht schwergefallen, auf ein Eheglück zu verzichten. Außerdem könnte sie den Bruder nicht allein lassen, er wäre so unselbständig wie ein kleines Kind. Und da er keine Frau hätte, die ihn bemuttern könnte, wäre sie dann verurteilt, zeitlebens bei ihm auszuhalten.

Daß der Besuch des Mädchens, das nur dann nach Traun zu kommen pflegte, wenn es ein Anliegen an den Vormund seines Bruders hatte, auch heute wieder einen schwerwiegenden Grund haben mußte, war wohl mit Bestimmtheit anzunehmen. Die Geschwister stellten jedoch keine Fragen, sondern warteten taktvoll, bis der junge Gast sein Anliegen vorbringen würde.

»Hoffentlich ist Uhde sein jetziger Reichtum nicht in den Kopf gestiegen und er ist der prachtvolle Kerl geblieben, der er als Inspektor von Rotbuchen war«, meinte Korsel. »Aufgeblasene Herren können wir hier in unserer Ecke nicht gebrauchen. Man erzählt sich von seinem Reichtum ja wahre Wunderdinge. Ist es wirklich so schlimm damit?«

»Das kann ich nicht beurteilen, Onkel Korsel«, kam die Antwort sehr zurückhaltend. »Er hat sein Haus kostbar und gediegen einrichten lassen – mehr weiß ich nicht.«

»Soso – na ja –! Schade, daß Härtner verkaufen mußte. Er war zwar nicht ein Musterlandwirt, aber ein famoser und verträglicher Nachbar. Und was macht die Frau Mutter und unser feinstreifiger Heino?«

»Die Mama fühlt sich seit Tagen wieder nicht recht wohl – und der Heino –«

Iris legte den kleinen Kuchen, von dem sie gerade essen wollte, hastig wieder auf den Teller zurück und straffte ihre Gestalt, als wolle sie sich in einen Kampf begeben, vorher aber noch ihre Kräfte sammeln.

»Heinos wegen bin ich hier«, bekannte sie leise und wagte es nicht, die Geschwister Korsel dabei anzusehen. »Er ist von seiner Lehrstelle fort – Herr Mollgeit hat ihn – beleidigt.«

Korsel streifte mit einer Umständlichkeit die Asche von seiner Zigarre, als hinge wer weiß was davon ab.

»Sieh einer einmal das feine Herrchen an«, meinte er dann in seiner ironischen Art, die nicht nur Iris, sondern auch Heino an ihm fürchtete. »Da ist das Jungchen sicherlich wieder einmal empfindlich gewesen wie eine alte Jungfer.«

»Nein, diesmal ist meinem Bruder wirklich Unrecht geschehen«, widersprach Iris fest und bestimmt. »Man hat ihn eines ganz gemeinen Diebstahls beschuldigt, ohne vorher den Fall auch zu untersuchen.«

»Nun, so schlimm wird es nicht gewesen sein, um darüber große Worte zu machen«, unterbrach Korsel sie mit dem gefürchteten Lächeln, das nur zu gut zeigte, wie wenig ernst er es nahm, was Heino und auch seine Schwester so tief beleidigte und empörte. »Herr Mollgeit ist ein vernünftiger Mensch, der gewiß keinem seiner Angestellten unrecht tut. Er wird erregt gewesen sein. Und in der Erregung ist bekanntlich bald etwas hingesagt, was gewiß nicht so böse gemeint war. Du müßtest einmal sehen, wie ich meine Bengels, meine Eleven, manchmal herunterputze! Wenn die gleich alles so tragisch nehmen wollten, dann könnte ich mich jeden Monat nach anderen Lehrlingen umsehen.«

»Ich glaube aber nicht, daß du einen deiner Eleven des Diebstahls beschuldigst, bevor dieser noch nicht klar erwiesen ist«, entgegnete Iris zwar immer noch ruhig, doch schon mit einem drohenden Unterton. »Oder traust du etwa Heino eine ehrenrührige Handlung zu?«

»Nein, ganz bestimmt nicht!« beschwichtigte er nun rasch. »Da hat der gute Mollgeit eben einmal vorbeigehauen. Aber zuerst erzähle einmal ausführlicher, Kindchen, wie sich das alles eigentlich zugetragen hat.«

Iris kam seinem Wunsche nach und schilderte das Geschehnis mit kurzen, knappen Worten. Verschwieg auch nicht, daß sie mit Mollgeit bereits gesprochen hätte. Auch daß sie es Heino nicht verdenken könne, wenn er nicht mehr in Mollgeits Betrieb zurückkehren wolle, zumal er darauf bestehe, daß der Junge sich bei ihm für etwas entschuldigen müsse, was er gar nicht verbrochen hätte.

»Hat das Geld sich denn schon gefunden?« fragte Korsel nun sachlich.

»Frau Mollgeit hatte das Geld der Kasse entnommen, ohne Bescheid zu sagen.«

»Das ist selbstverständlich eine Liederlichkeit, die nicht geduldet werden kann«, bestätigte er nun. »Darüber werde ich dem guten Mollgeit gehörig meine Meinung sagen. Im übrigen ist die ganze Sache nicht halb so wichtig, Marjellchen. Heino wird auf seine Lehrstelle zurückkehren, und damit basta!«

»Das gestatte ich aber nicht«, sagte Iris nun in einem Ton, der ihn verblüfft aufhorchen ließ.

»Soso – soso –«, meinte Korsel bedächtig, wobei er die Augen zusammenkniff und das junge Mädchen prüfend ansah. »Tja, wenn du den Jungen in Schutz nimmst, dann kann ich ja die Waffen strecken. Und was soll der Jüngling denn nun wieder beginnen?«

»Er soll jetzt endlich die Landwirtschaft erlernen, wie es schon immer sein sehnlichster Wunsch ist«, entgegnete sie fest.

Korsel lachte erheitert auf. »Aha, da will’s hinaus! Und wenn dem Jüngling auch der Beruf nicht passen, dann kommt er eines Tages mit dem Wunsch, Seiltänzer werden zu wollen, wie?«

»Julius sollte –«, mahnte die Schwester leise.

Da schwieg er und griff wieder nach der Zigarre, die er vorhin in die Aschenschale geworfen hatte.

»Wie mir scheint, wird uns das Herrensöhnchen noch allerlei zu schaffen machen«, brummte er nach einigen Zügen ingrimmig. »Ich glaube, der Bursche will immer das Gegenteil von dem, was andere für richtig halten.«

»Heino ist ganz gewiß nicht schwer zu lenken«, verteidigte Iris den Angegriffenen ruhig. »Er ist nur unzufrieden mit sich und seinem Geschick, weil er einem Beruf nachgehen soll, der ihm nicht liegt. Daher möchte ich dich bitten, Onkel Korsel, die Erlaubnis zu geben, daß er als Landwirtschaftslehrling auf ein Gut geht.«

»Hat er dich etwa hergeschickt, um bei mir diese Erlaubnis zu erwirken?«

»Weil Heino jetzt nicht in der Verfassung ist, deine Vorwürfe ruhig hinzunehmen«, gestand sie furchtlos ein.

»Ach so, ich bin ja auch solch ein bissiger Wau-Wau, vor dem zarte Jungchen sich fürchten müssen!« polterte er nun los. »Und wenn ich nun wirklich meine Einwilligung gäbe, möchtest du mir dann nicht verraten, wo wir das Söhnchen unterbringen sollen? Hier in der Umgegend nimmt ihn keiner, weil jeder erfahrene Landwirt sich sagen muß, daß das zarte Jungchen sich zum Landwirt eignet wie ein Igel zur Zahnbürste.«

»Ich würde meinem Bruder eine Lehrstelle besorgen«, erwiderte Iris mit einer Ruhe, die den Hünen immer mehr ergrimmte.

»Aha – vielleicht bei Herrn Uhde – oder noch besser bei Herrn Arwed Almrudt, der ja jetzt unser Nachbar ist, seitdem er das Erbe seines Onkels angetreten hat. Der verflossene Herr Bräutigam würde dir sicherlich gern den Gefallen tun –«

»Julius!« rief Fräulein Luise nun unwillig und sah erschrocken zu dem jungen Mädchen hin, das in beängstigender Weise erblaßt war. Langsam stand Iris auf, verabschiedete sich mit leisem Gruß von den Geschwistern und verließ das Zimmer.

*

»Das ist aber nett von Ihnen, Herr Uhde, daß Sie mich besuchen!« Mit diesen Worten begrüßte Frau Grall erfreut den Gutsherrn, der sich höflich über ihre Hand neigte. »Und das ist wohl das Töchterchen Graziella? Sei auch du mir willkommen, mein Kind! Tante Mienchen hat mir schon viel von dir erzählt. Nun freue ich mich, dich kennenzulernen.«

Graziella musterte die Dame eingehend, wie es so ihre Art war, wenn sie einem Fremden gegenüberstand. Ihre Meinung zu äußern, wie sie es ebenfalls zu tun pflegte, wagte sie dieser würdigen Dame gegenüber jedoch nicht. Im Gegenteil, sie begrüßte sie artig und nahm schweigend den Platz ein, den Frau Grall ihr bot.

»Sie haben sich in den sechs Jahren, in denen Sie der Heimat fern waren, sehr verändert, Herr Uhde«, plauderte die alte Dame in ihrer liebenswürdigen, herzgewinnenden Art.

»Das ist ja auch kein Wunder, da Sie Schweres durchgemacht haben; einen lieben Menschen hergeben zu müssen, schneidet immer ins Lebensmark.«

»Das war es nicht allein, gnädige Frau«, entgegnete er höflich. »In den ersten Jahren wurde es mir nicht leicht gemacht, mich durchzusetzen. Ich kam wohl in das Haus meines Onkels, mußte jedoch genauso arbeiten wie ein Fremder – vielleicht noch mehr. Später wurde ich allerdings für die schwere Zeit entschädigt, da ging es mir beneidenswert gut.«

»Und doch zog die Heimat, Herr Uhde?«

»Ja! Besonders stark, nachdem ich meine Frau nicht mehr an meiner Seite hatte.«

»Wird das Töchterchen unser rauhes Klima vertragen?«

»Ich hoffe doch, gnädige Frau. Sonst müßte ich mich von dem Kinde trennen, was mir natürlich bitter schwerfallen würde. Aber darüber darf ich nicht einmal sprechen. Dann wird mein Mädel traurig. Stimmt’s, Kleines?«

»Ja«, bestätigte sie. »Ich gehe nicht mehr von meinem Papi fort. Auch nicht, wenn es hier so kalt ist, daß man schrecklich friert.«

»Es ist vereinbart, daß Graziella den Frühling und Sommer bei mir in Deutschland, die andere Zeit des Jahres in Brasilien verbringen soll«, erklärte Uhde. »Dagegen beginnt sie aber jetzt schon Einspruch zu erheben, jeden Tag aufs neue.«

»Das kann man dem Kind ja auch nicht verdenken, Herr Uhde; Sie sind ihm ja ein zärtlicher Vater, wie Fräulein Mienchen erzählte. Wenn es irgend geht, behalten Sie nur das Mädelchen bei sich. Kinder können den Eltern zum Segen werden; das habe ich an den meinen so recht erfahren. Es hat sich nämlich in den sechs Jahren Ihrer Abwesenheit viel Trauriges für uns ereignet«, setzte sie leise hinzu, während ihre Augen sich mit Tränen füllten. »Die ersten Jahre glaubte ich nicht überleben zu können – aber der Mensch gibt sich mit der Zeit eben zufrieden. Allein eines weiß ich: Hätte ich meine Kinder nicht gehabt, wäre ich zugrunde gegangen.«

Uhde sah die alte Dame teilnahmsvoll an. Er glaubte schon, daß es für diese Frau bittere Kämpfe gegeben hatte. Davon zeugten das schneeweiße Haar und das feine Antlitz, in dem Leid und Gram deutlich ihre Runen hinterlassen hatten.

»Aber jetzt habe ich mich mit allem abgefunden«, erzählte sie weiter. »Ich werde mit viel Liebe umgeben, und das ist für einen Menschen in meiner Lage die Hauptsache. Wenn es so bleibt, wie es jetzt ist, dann will ich gewiß nicht klagen.«

»Haben Sie denn alles versucht, um Ihr Leiden zu beheben, gnädige Frau?«

»Es ist alles getan worden, was nur getan werden konnte, Herr Uhde. Das ganze Geld, das wir nach dem Zusammenbruch durch Verkauf von Wertgegenständen erhielten, hat meine Tochter für mich geopfert. Aber was einmal tot ist, das kann nicht mehr zum Leben erweckt werden. Das wußte ich von Anfang an. Ich habe daher nicht zulassen wollen, daß die Kinder das Geld, das sie so nötig für sich gebraucht hätten, immer nur für mich ausgaben. Aber sie hörten ja nicht; sie wollten eben nichts unversucht lassen.«

»Ist es Ihrem Fräulein Tochter nicht schwergefallen, sich in den veränderten Verhältnissen zurechtzufinden, Frau Grall?«

»Das habe ich nie zu spüren bekommen, Herr Uhde. Mein Mädel hat nie geklagt. Der Junge allerdings, der hat noch oft und lange gemurrt. Dann aber hat auch er sich allmählich zufriedengegeben. Er wäre nämlich so gern Landwirt geworden. Allein Herr Korsel, sein Vormund, hält den Kaufmannsberuf als geeigneter für ihn. Da muß man sich schon seiner besseren Erfahrung beugen. – Mein Sohn hat jetzt gerade Urlaub«, erzählte sie weiter. »Schade, daß das Wetter bisher so wenig schön war. Heute ist es ja besser, da haben die Kinder gleich einen langen Spaziergang unternommen.«

Uhde hörte dem Geplauder schweigend zu. Demnach schien die Dame ahnungslos von dem zu sein, was sich zwischen ihrem Sohn und Mollgeit zugetragen hatte. Wahrscheinlich erzählten ihre Kinder ihr nur das, was sie nicht erregen konnte. Und das ließ sich ja auch sehr leicht durchführen, weil die Kranke abgeschieden lebte.

»Da kommen die Kinder ja schon –«, sie zeigte mit einer Kopfbewegung aus dem Fenster, an dem sie saß und von dem aus sie einen Teil des Gutshofes übersehen konnte. Die Geschwister kamen Arm in Arm. Sie schienen sich gut zu unterhalten, denn sie lachten vergnügt.

Nun hatten sie die Mutter an dem Fenster entdeckt und winkten mit den Schneeglöckchen, die sie in der Hand hielten, fröhlich grüßend zu ihr hinüber.

Als sie das Zimmer betraten und die unerwarteten Gäste erblickten, wurden die frohen Mienen sofort auffallend abweisend. Iris begrüßte ihren Chef mit dem hochmütigen Kopfneigen, das ihn stets so reizte; Heino verbeugte sich stumm, während er das Kind, das ihm mit großen Augen entgegensah, feindselig musterte.

»Schau nur, Papi, ist das nicht der Junge, den wir damals auf der Landstraße sahen?«

Augenblicklich herrschte eine solche beklemmende Stille im Zimmer, daß die Atemzüge der Menschen hörbar wurden.

Bis dann Uhde sprach, ganz ruhig und sicher: »Du irrst dich, Graziella. Dieser junge Herr ist Fräulein Gralls Bruder. Ich wüßte nicht, daß er auf der Landstraße gewesen ist, als wir kamen.«

Graziella schien jedoch anderer Ansicht zu sein, denn in ihren Augen, die groß und verwundert in dem unbeweglichen Antlitz des Vaters forschte, las man deutlich: Du lügst ja!

Frau Grall, die nicht ahnen konnte, welche Erregung ihr Uhdes Geistesgegenwart erspart hatte, lachte harmlos auf.

»Da hast du dich wohl getäuscht, kleine Graziella? – Ich danke dir, mein Kind«, wandte sie sich dann an Iris, die ihr mit einer hastigen Gebärde die Schneeglöckchen hinhielt. »Es sind die ersten in diesem Jahr. Nun wird auch endlich der Frühling kommen. Zeit dazu ist es ja längst.«

»Was für Blumen sind das?« fragte Graziella neugierig. »Die habe ich noch nie gesehen.«

»Das glaube ich dir gern, mein Kind«, lächelte Frau Grall. »Die wachsen nicht in deiner Heimat. Gefallen sie dir?«

»Sehr!«

»Dann mag der Heino dir die seinen geben, mein Mädelchen. Hörst du, Junge?«

Heino hörte es wohl; er schien aber nicht gewillt zu sein, dem Wunsch der Mutter nachzukommen, und hielt die Blüten sogar fest umfaßt, als das kleine Mädchen bereits die Hand danach ausstreckte.

»Magst du mir die Blumen nicht geben?« fragte es verwundert.

»Graziella, du darfst Herrn Grall nicht duzen«, mahnte der Vater.

Doch da lachte sie hellauf. »Warum denn nicht, Papi? Er ist doch noch ein Junge!«

»Du hast ganz recht«, bestätigte Frau Grall erheitert; allein Heino schien anderer Meinung zu sein. Der Blick war nicht freundlich, mit dem er die Kleine musterte. Und noch weniger freundlich war die Gebärde, mit der er ihr die Schnee­glöckchen reichte.

*

»Tante Mienchen, nun müssen wir endlich daran denken, das Fest zu geben, das wir unseren Nachbarn schuldig sind und auf das man allgemein wartet«, sagte eine Woche später Uhde zu dem alten Fräulein, das ihn daraufhin ganz entsetzt ansah. »Sechs Wochen bin ich nun schon hier, da wird es mit dem sogenannten Einzugsschmaus langsam Zeit.«

»Ja, wie soll ich das bewerkstelligen, Olaf?« jammerte Mienchen. »Das Fest wird doch sicherlich so glänzend werden wie selten eins?«

Leni Behrendt Classic 54 – Liebesroman

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