Читать книгу Mami 1981 – Familienroman - Leni Behrendt - Страница 3

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Etwa dreißig Kinder saßen an langen Tischen im Schatten der alten Bäume. Sie kannten sich nicht, diese Kinder, und waren deshalb zunächst recht schüchtern. Ihre Mütter, Väter und Tanten waren gebeten worden, im Haus zu bleiben, um die Kleinen nicht zu beeinflussen.

Ohne Ausnahme waren sie dieser Bitte nachgekommen, denn hier ging es um die Auswahl kleiner Stars für Film, Fernsehen, Modebranche und Werbespots. Viele ehrgeizige Eltern waren der Ansicht, daß es das höchste Glück für ihre Kleinen bedeutete, ausgewählt zu werden.

Kaum ein kleiner Junge oder eines der niedlichen Mädchen waren sich darüber klar, was diese Auslese bedeutete, denn Nico Berdons Gäste waren zwischen einem und sechs Jahre alt.

Es war ein ›Casting‹ für Kleinkinder, das er und seine Partnerin Shanice heute durchführten. Dasselbe veranstalteten sie regelmäßig auch für Schulkinder und Teenager, denn die Werbeagenturen hatten einen enormen Bedarf an fotogenen Knirpsen, die sich werbewirksam verhielten.

Schon vor zwei Jahren hatte Nico seine »Kids-Agentur« gegründet. Vor einem Jahr war Shanice dazugekommen. Da sie zuvor als Sekretärin arbeitete, erledigte sie alle kaufmännischen Arbeiten. Sie verstand sich aber auch ausgezeichnet mit den kleinen Leuten und wurde so für Nico zu einer unentbehrlichen Partnerin. Die Kids-Agentur ging gut, und inzwischen hatte Nico fast zweitausend Kinder in seiner Kartei. Bei Bedarf griff er auf diese Daten zurück, je nachdem, welcher Kinder-Typ gerade verlangt wurde.

Bei Kleinkinder-Castings brauchte Nico eine Schar von Hilfskräften zur Betreuung und Bewirtung. Meistens beschäftigte er für diese Jobs Studentinnen, die gern einen Nachmittag opferten, um etwas Geld zu verdienen.

»Du befaßt dich wie immer mit den Kleinen, ich kümmere mich um die größeren Kinder«, raunte Nico seiner Partnerin zu.

»Ich glaube, diesmal sind einige brauchbare Kids dabei.« Stolz ließ Nico den Blick über die Kinder schweifen, die sie auf Grund der zuvor eingereichten Bewerbung eingeladen hatten.

Shanice nickte lächelnd. Sie war neunundzwanzig Jahre alt, wirkte aber wesentlich jünger und fand deshalb rasch Kontakt zu den Kindern. Von ihr ließen sie sich völlig ungezwungen fotografieren, was in diesem Fall sehr wichtig war.

Neben dem Fotoapparat, mit dem Shanice sowohl Filme, als auch Bilder machen konnte, schnappte sie sich einige Handpuppen. Den freundlich wirkenden Teddybär stülpte sie sich über die Finger

und ging zu dem Tisch, um den

fünf hohe Kinderstühle standen, selbstverständlich nach neuestem Sicherheitsstandard. Zwei Mädchen waren darum bemüht, die künftigen Stars bei Laune zu halten. Trotzdem weinten drei der Kleinen, während die beiden anderen mit großen, kugelrunden Augen neugierig das Geschehen beobachteten.

»Hallo, warum weint ihr denn?« ließ Shanice den Teddy fragen. Dabei verstellte sie die Stimme und bewegte zwei Finger, um das Mäulchen des Stofftiers zu öffnen und zu schließen.

Auf die kleinen Schreier machte das keinen Eindruck. Sie brüllten nur noch lauter.

»Das hat keinen Sinn, sie werden jedes Mal weinen, wenn sie in eine fremde Umgebung kommen. Würdest du sie bitte zu ihren Eltern zurückbringen?« wandte sich Shanice an eine Studentin, die sie von früheren Kinderpartys kannte. Gleichzeitig befaßte sie sich mit den restlichen Schnullerknirpsen. Mit Hilfe der Handpuppe brachte Shanice die Kleinen zum Lachen. Sie verzichteten auf ihren Gummitröster und entwickelten jenen Charme, der sie für die Werbung so wertvoll machte.

Die Augen in den pausbäckigen Gesichtchen strahlten, und die Mündchen mit den wenigen Zähnen verzogen sich zu einem fröhlichen Lachen.

Shanice machte einige Aufnahmen und nahm dabei auch das jeweilige Namensschild der Kleinen ins Bild. Die Fotos wurden aufbewahrt und irgendwann auf Anforderung den Agenturen vorgelegt.

Die junge Frau mit den glatten blonden Haaren und den klugen grauen Augen nahm sich Zeit für diese Arbeit, denn die Fotos sollten möglichst viel über den Typ des Kindes, sein Verhalten und seine Belastbarkeit aussagen.

Danach wandte sie sich den 3-5jährigen zu. Inzwischen waren sie nicht mehr schüchtern, sondern tobten bereits unbekümmert durch den Garten, der zu Nicos Elternhaus gehörte. Zwei kleine Buben stritten sich um einen bunten Ball, während ein dritter sie mit einer Wasserpistole bedrohte. Eine Vierjährige stopfte sich einen Schokokuss nach dem anderen in den Mund und war deshalb rundum verschmiert. Zwei Mädchen mit langen Haaren zerlegten einträchtig ein elektronisches Spielzeug in seine Einzelteile.

Es wurde gerufen, gekreischt und lauthals geschrien. Blechtrompeten tuteten, Trillerpfeifen übertönten die Laute anderer Musikinstrumente. Das alles war normal, denn die Kinder sollten ja nicht zurückhaltend brav, sondern in spielerischer Aktion gezeigt werden. Deshalb gab es bei diesen Kinderpartys nicht nur klebrige Bonbonlutscher, sondern auch Spielzeug für jeden Geschmack. Am Ende dieser Feten wirkte der Garten oft wie ein Schlachtfeld, und Nico war froh, daß seine Eltern die mutwillige Zerstörung nicht sahen. Sie hatten es vorgezogen, den Ruhestand im sonnigen Spanien zu verbringen.

Während sich einige Kinder bereits mit ihren Altersgenossen angefreundet hatten und die anderen sich mit Süßigkeiten oder Spielzeug vergnügten, saß ein kleiner Junge teilnahmslos am Tisch. Er beteiligte sich weder an der Kuchenschlacht noch interessierten ihn die Spielsachen. Ruhig, scheinbar interesselos beobachtete er das Geschehen.

Dieses Kind war Shanice Sternberg sofort aufgefallen. Jetzt konnte sie gar nicht anders, als sich um den kleinen Außenseiter zu kümmern. Eigentlich wäre es ihre Aufgabe gewesen, die fröhlich spielenden Kinder zu filmen, doch das stellte sie zurück.

»Na, du, gefällt es dir nicht?« erkundigte sie sich mit liebvoll klingender Stimme. Dabei schaute sie auf das Namenskärtchen, das der Kleine, wie auch alle anderen Kinder, um den Hals trug. Nach diesen Angaben war er vier Jahre alt.

Der Junge mit dem lieblos kurzgeschorenen blonden Haar gab keine Antwort. Mißtrauisch musterte er Shanice. Dabei spiegelte sich Furcht in seinen dunklen Augen. Er schien mit Fremden schlechte Erfahrungen gemacht zu haben.

Shanice tat, als bemerke sie das nicht. »Wie heißt du denn?« fragte sie lächelnd. Sie hatte den Namen längst auf dem Kärtchen gelesen, doch sie wollte gern mit dem kleinen Kerl ins Gespräch kommen.

Wieder schwieg er.

»Ich bin Shanice, und du kannst dich bei mir beschweren. Mir kannst du alles sagen, was dir nicht gefällt«, ermunterte sie das Kind. »Bist du mit der Mami hier oder mit dem Papi?«

»Ich… ich hab’ keine Mami. Und der Papi is weg, ganz weit weg.«

Shanice ließ sich ihr Erschrecken nicht anmerken. Dieses Kind hatte keine Eltern. Deshalb benahm es sich so anders. Sofort hatte sie Mitleid, denn ihr Schicksal war ähnlich. Ihr Vater verunglückte, noch bevor sie zur Welt kam. Ihre Mutter heiratete schon bald wieder, weshalb sie bei den Großeltern aufwuchs. Trotz aller Fürsorge hatte sie stets die Kameraden beneidet, die Eltern hatten.

»Und wer hat dich gebracht?« forschte Shanice vorsichtig.

»Tante Anita.«

»Magst du sie? Ist sie lieb?« Shanice versuchte, sich ein Bild von der Umwelt des Kleinen zu machen.

Der Junge schüttelte den Kopf. »Sie sagt, ich bin bockig wie meine Mami. Nur wenn der Papi kommt, is sie lieb zu mir. Dann sagt sie Jaki und sonst immer Jakob.« Der Kleine schnupfte ein bißchen.

»Du bist wohl nicht gern hierher gekommen?« Zärtlich legte Shanice den Arm um ihren kleinen Schützling.

»Tante Anita hat gesagt, wenn ich brav bin, bekommt sie ganz viel Geld… Und dann… dann kauft sie mir einen Roller. So einen wie der Erik hat. Der Erik ist mein Freund im Kindergarten.« Jakob nickte ernsthaft.

Shanice zog die Augenbrauen hoch. Die Tante hatte wohl etwas falsch verstanden, denn nicht fürs Bravsein zahlten die Agenturen, sondern für kindliche Ungezwungenheit.

Nico kam vorbei und blieb am Tisch sitzen. »Shanice, was ist los mit dir? Du verpaßt die beste Gelegenheit zu einmaligen Aufnahmen.« Mit einer leichten Handbewegung wies Nico Berdon auf einige Jungs, die sich ein erbittertes Gefecht mit den Wasserpistolen lieferten.

»Übernimm du das bitte. Ich möchte mich noch ein wenig mit Jakob unterhalten.«

Nico beugte sich tiefer und besah sich den Jungen eingehend. Ein wenig zu blaß und viel zu still erschien er ihm. »Das bringt doch nichts«, meinte er und hob die Hand, um Jakob tröstend übers blonde Stoppelhaar zu streichen.

Der Junge wich blitzschnell aus. Doch dabei stieß er an den Becher mit Kakao, der noch unberührt vor ihm stand. Die hohe Tasse fiel um, ihr Inhalt floß über Nicos helle Hosen und hinterließ häßliche braune Flecken.

»Oh«, piepste Jakob erschrocken. Er preßte die Lippen aufeinander, und in seinen großen dunklen Augen spiegelte sich wieder die Angst.

Shanice nahm die Kamera hoch und hielt Jakobs reizvolles Gesichtchen in Großaufnahme fest. Um dem Jungen die Angst zu nehmen, zeigte sie ihm die Ausschnitte auf dem kleinen Monitor des Apparats. »Willst du auch mal knipsen?« Es war Shanice viel daran gelegen, das Vertrauen des verängstigten Kindes zu erlangen.

Jakob schielte nach Nico, den die verdorbene Hose nicht zu interessieren schien. Er war weitergegangen, um ein Geschwisterpaar zu filmen, das schwitzend einen knallroten Spielzeugtraktor über den Rasen zerrte.

»Du brauchst nur auf dieses Knöpfchen drücken«, erklärte Shanice und legte ihren Apparat in Jakobs kleine Händchen.

»Darf ich?« flüsterte er und hob das leichte Gerät ans Auge, so wie er das bei Shanice gesehen hatte. Es klickte, und Jakob lachte schelmisch. »Jetzt bist du drauf«, verriet er. Dabei sah er Shanice bewundernd an. Sie gefiel ihm, und er war unheimlich stolz darauf, daß sie mit ihm redete. Richtig glücklich machte ihn diese Bevorzugung.

*

Das Zusammenräumen der Tische und das Einsammeln des zurückgelassenen Schutts überließ Nico seinen Helfern. Sie hatten noch lange zu tun, um die vielen Bonbonpapierchen, Kuchenreste und die zerbrochenen Spielsachen aufzulesen. Was unbrauchbar geworden war, flog in den bereitstehenden Container.

»Die Schaukel ist auch zu Bruch gegangen, weil ein besonders wilder Knabe das Brett als Hebel mißbraucht hat«, meldete Shanice, als sie ins Fotolabor kam, wo Nico die Ergebnisse seiner Arbeit am Bildschirm betrachtete.

»Das habe ich sogar im Bild festgehalten. Der kleine Rotschopf hat erstaunliche Kraft. Aber schließlich hat es ihn doch auf den Hosenboden gesetzt. Das war ihm sichtlich peinlich. Schau dir mal das Foto an. Aussagestark, was?« Nico ließ die Aufnahmen durchlaufen. »Was bei diesen Feten kaputtgeht, ist doch leicht zu ersetzen. Im Gegensatz zu dem, was für uns dabei herausspringt, ist das Pipifax. Die Schaukel und all den anderen Kram kaufen wir einfach neu. Die Unkosten brauchen wir für die Steuer.«

Nico trat neben Shanice und legte besitzergreifend den Arm um ihre Taille. Er war nur wenig größer als sie, aber wesentlich kräftiger. Mit dem dunklen Dreitagebart und den verschmutzten Hosen wirkte er wie ein Globetrotter nach der Durchquerung eines Wüstengebiets.

»Ich finde es klasse, mein Schatz, daß du auf die Kosten achtest. Doch inzwischen läuft unser Geschäft so gut, daß wir uns über solche Kleinigkeiten keine Gedanken mehr zu machen brauchen. Seit wir zusammenarbeiten, geht es ständig aufwärts. Du hast mir Glück gebracht, Shanice.« Nico drückte seiner Partnerin einen schmatzenden Kuß auf die Wange. Daß sie nicht nur geschäftlich, sondern auch privat liiert waren, wußte kaum jemand.

Stolz knipste Nico seine Fotos weiter durch. Immer wieder andere Kinder erschienen auf dem Bildschirm. Sämtliche Aufnahmen waren scharf und brillant.

»Sehr gut«, lobte Shanice. »Man merkt sofort, daß du aus der Fotobranche kommst.« Gelöst schmiegte sie sich an Nico und legte den Kopf an seine Schulter. Wenn es auch für keinen von ihnen die große Liebe war, so verstanden sie sich doch gut. Sie hatten eine gemeinsame Aufgabe, ein gemeinsames Ziel.

»Für dieses Zwillingspaar habe ich bereits einen Job. Die Hamburger Modeagentur ›Peter und Petra‹ hat nach zwei Sechsjährigen gefragt. Die hier sind zwar erst fünf, aber das spielt keine Rolle.« Nico war schon wieder im Geschäft. Er wollte möglichst schnell reich werden und war deshalb ständig darum bemüht, seinen Gewinn zu vergrößern.

»Ich habe auch ein paar gute Aufnahmen.« Shanice stöpselte ihr Gerät ein und konnte so die Fotos direkt auf den Bildschirm übertragen.

Nico betrachtete die Aufnahmen fachmännisch. »Die Babys sind goldrichtig. Genau die richtige Mischung zwischen Windeln und Pausbäckchen. Mit ihnen werden wir gutes Geld verdienen, denn die Schnullerpüppchen sind gefragt. Weißt du ja selbst. Und was soll dieser Kleine mit dem Bürstenschnitt?« Nico schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Das ist Jakob. Ist er nicht süß?« Shanice betrachtete verzückt das ernste Kindergesichtchen mit den furchtsamen dunklen Augen.

»Mann, das ist der Pechvogel, der mir den Kakao über die Hosen gekippt hat. Dem kann ich nun wirklich nichts abgewinnen.«

»Er braucht ein bißchen Zeit, aber er hat Talent, das habe ich gleich erkannt.«

»Nein, Shanice. Diesen Jungen kannst du vergessen. Mit ihm kann kein Regisseur etwas anfangen. Er taugt nicht einmal zu Modeaufnahmen. Für die Leute bedeuten Kinder Frohsinn, Gesundheit, Fortschritt, Ungeduld, lauter positive Gefühle. Dieser Knabe aber strahlt genau das Gegenteil aus und deshalb ist er völlig ungeeignet.«

»Das scheint nur so. Ich werde ihn aus der Reserve locken.«

»Die Mühe kannst du dir sparen, Shanice. Bisher konnte ich mich auf dein Urteil hundertprozentig verlassen. Aber in diesem Fall liegst du daneben, glaub’ mir!«

»Jakob ist Halbwaise und deshalb etwas schüchtern. Wenn er Vertrauen zu uns hat, ändert er sich.«

Nico winkte ab. »Nur kein falsches Mitleid. Das kann man sich in unserer Branche nicht erlauben, sonst ist man ganz schnell weg vom Fenster. Wir brauchen Kinder, die offen auf andere zugehen und bereit sind, die Erwachsenen mit tausend Fragen zu löchern. Keine Leisetreter mit Schleierblick. Ein bißchen frech, sehr verschmitzt und sehr kindlich, das sind die Boys und Girls, die ankommen. Dieser Jakob hat nichts von allem.«

»Da täuschst du dich. Er hat alles, aber es ist unter scheuer Zurückhaltung verborgen. Wenn es uns gelingt, ihn aus der Reserve zu locken, wird er unser bestes Model.«

»Entschuldige, aber dem kann ich absolut nicht beipflichten. Damit wollen wir die nutzlose Unterhaltung beenden. Wen hast du sonst noch auf dem Film?«

»Niemand«, gestand Shanice, die das überhaupt nicht verwunderlich fand. »Ich habe mich die ganze Zeit mit Jakob unterhalten. Er hat mir von seiner Tante erzählt und von seinem Vater.«

Nico trat einen Schritt zur Seite und sah seine Freundin ungläubig an. »Das darf doch wohl nicht wahr sein. Diese Castings kosten uns eine Menge Geld, und du verplemperst die kostbare Zeit mit einem Trauerkloß.«

»Wie kannst du so etwas sagen?« empörte sich die junge Frau. »Kinder sind keine Ware, die man aus dem Regal nimmt und bei Nichtgefallen wieder zurückstellt. Kinder brauchen Zuwendung.«

»Dafür sind die Eltern da. Unsere Aufgabe ist es, sie auf ihre Tauglichkeit zu prüfen, nichts weiter.« Nicos Ton war geschäftsmäßig. So, als verhandle er mit einem ihm völlig fremden Leiter einer Agentur.

»Jakob hat keine Eltern. Wie schlimm das für ein Kind ist, weiß ich nur zu gut.«

Ungeduldig trat Nico von einem Bein aufs andere. »Hör mal, Shanice, das hat doch mit unserem Job nichts zu tun.«

»Hat es doch«, beharrte sie eigensinnig. Dabei schaute sie immerzu das Foto des kleinen Jakob an. Je länger sie es betrachtete, um so besser gefiel ihr der Kleine. Längst stand für sie fest, daß sie versuchen würde, dieses Kind ins Show-Geschäft zu bringen. Denn nur so hatte sie die Möglichkeit, den kleinen Jungen wiederzusehen.

»Ich möchte nicht länger darüber reden«, meinte Nico verärgert. Ohne Shanice weiter zu beachten, schaltete er das Gerät ab. »Alles in allem haben wir heute unsere Kartei um einige gute Angebote erweitert. Das rechtfertigt eine kleine Feier. Kommst du mit zum Italiener? Nur wir beide?« Versöhnlich streckte Nico der hübschen Shanice beide Hände entgegen. Er ging gern mit ihr aus, denn ihre schlanke Figur und ihr reizvolles Gesicht fielen auf. Man bewunderte den Mann, der sie begleitete, und in diesem Glanz sonnte sich Nico gerne.

Shanice war überzeugt davon, daß sie Nico dazu überreden konnte, Jakob in die Kartei zu übernehmen. Das war die Hürde, die viele Kinder nicht schafften, die aber die Voraussetzung für weitere Erfolge war.

Deshalb ließ sie es gegen ihre innere Überzeugung zu, daß Nico nach ihren Händen griff und sie kräftig drückte. Eigentlich war sie enttäuscht über seine Einstellung. Aber es hatte keinen Sinn, ihm Vorhaltungen darüber zu machen. Klüger war es, so zu tun, als gäbe es keine Meinungsverschiedenheiten.

»Ich komme gern mit«, murmelte sie zerstreut. Sie hatte schon immer gewußt, daß Nico nur ans Geschäft dachte, und daß er nicht fähig war, Mitgefühl für andere aufzubringen. Als verwöhntes Einzelkind aufgewachsen, war er zum Egoisten geworden, stumpf gegen fremde Schicksale. Das war etwas, das Shanice an ihm störte. Alle darüber geführten Diskussionen hatten in einer Mißstimmung geendet, und das war für Shanice nun wirklich nicht erstrebenswert. Denn sie mochte Nico und kam normalerweise auch gut mit ihm aus. Ob diese Beziehung lebenslang Bestand haben würde, darüber machte sie sich wenig Gedanken. Klar aber war beiden, daß es wirtschaftliche Gründe waren, die für den Zusammenhalt sorgten. Manchmal ließ sich das überspielen, manchmal auch nicht.

*

»Hier wartest du, bis ich zurück bin. Es wird nicht lange dauern. Du kannst inzwischen das Bilderbuch anschauen.« Anita Stahnke drückte ihrem Neffen ein kleines Büchlein in die Hand. Sie hatte ihn im Kindersitz festgeschnallt und verschloß nun zusätzlich auch noch das Auto, damit der Kleine nicht aussteigen konnte.

Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, ging sie zum Haus von Nico Berdon zurück. Ihr Gang war der einer Frau, die es darauf anlegte, aufzufallen. Sich in den Hüften wiegend stolzierte sie durch den Vorgarten.

Sie hatte sich für den Besuch

in der Kids-Agentur besonders hübsch gemacht und war nun enttäuscht darüber, daß sie den Chef gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Das wollte sie nicht hinnehmen. Schließlich hielt sie sich für eine begehrenswerte Schönheit. Bei jeder Gelegenheit suchte sie nach der Bestätigung für diese Übersetzung.

So auch jetzt. Sie hatte mit den anderen Begleitpersonen im Haus gewartet und durch die Fenster beobachtet, was sich draußen im Garten abspielte. Dabei hatte sie festgestellt, daß Nico Berdon, der junge Chef der Kids-Agentur, ein bemerkenswerter Mann war. Mit seinen dunklen Locken, den fast schwarzen Augen und dem gepflegten Dreitagebart war er genau ihr Typ. Auch das Alter mochte stimmen. Anita war dreiunddreißig, und sie schätzte, daß Berdon ihr Jahrgang war.

Entschlossen verlangte sie Nico zu sprechen. Diesmal mußte sie in der Diele warten. Die Zeit wurde ihr nicht lang, denn hier gab es eine Menge Spiegel und Anita betrachtete sich gern von allen Seiten.

Sie hatte reichlich Übergewicht, fand das aber nicht tragisch, denn dadurch hatte ihr Körper beachtliche Rundungen. So etwas mochten die Männer. Diese Erfahrung machte Anita immer wieder, und das stärkte ihr Selbstbewußtsein.

Zufrieden schüttelte sie den Kopf mit den schulterlangen blonden Locken. Sie nahm den Lippenstift aus der Tasche und zog die Konturen nach. Auch die Lidstriche unter den wasserblauen Augen korrigierte sie und fand, daß sie in ihrem kurzen Rock und der engen Bluse fabelhaft aussah.

Sie stellte sich so, daß das Licht ihre gefärbten Haare noch heller wirken ließ. Es war gar nicht einfach, zehn Minuten lang in der günstigsten Position zu verharren, doch Anita hielt aus, denn sie wußte ja nicht, wann Nico Berdon auftauchte.

Als er endlich eilig in die Diele kam, war er im ersten Moment tatsächlich verblüfft. Doch schon im nächsten Augenblick war ihm klar, daß diese Besucherin zu jener Kategorie von Frauen gehörte, die er nicht besonders schätzte. Für Vamps mit gierigen Blicken hatte er nichts übrig. Er liebte Natürlichkeit, wie sie Shanice eigen war. Grell geschminkte Lippen und Augen, die mit dicken schwarzen Strichen umrandet waren, stießen ihn ab.

Anita ahnte nichts davon. Sie lächelte verführerisch.

»Ich bin zurückgekommen, um mich bei Ihnen zu entschuldigen«, zwitscherte sie mit honigsüßer Stimme. »Es tut mir furchtbar leid, daß sich mein Neffe so ungeschickt verhalten hat.« Anita schaute bekümmert auf Nicos verdorbene Hose.

Nico, der keine Ahnung hatte, von welchem Neffen und welchem Malheur die Rede war, hatte nur den einen Wunsch, diese Dame rasch wieder loszuwerden.

»Schon gut. Bei diesen Kinderpartys gibt es immer Schäden. Das ist nicht tragisch«, antwortete er höflich. Es kamen häufig eitle Mütter zu ihm, die ihre Kleinen unbedingt auf der Titelseite einer Illustrierten sehen wollten. Sie erreichten bei ihm gewöhnlich eher das Gegenteil. Noch weniger mochte er jene Eltern, die auf das Geld scharf waren, das ihre Kinder verdienten. Diese Besucherin schien weder zu der einen noch zu der anderen Kategorie zu gehören. Nach ihren aufdringlichen Blicken zu schließen, hatte sie ganz persönliche Interessen. Doch davon hielt Nico auch nichts.

»Ich bezahle selbstverständlich die Reinigung. Wenn es Ihnen recht ist, nehme ich die Hose gleich mit und bringe sie übermorgen wieder.« Anita kam mit tänzelnden Schritten näher. Mit voller Absicht bewegte sie sich so, daß ihr kurzer Rock noch etwas höher rutschte. Dadurch war noch mehr von ihren kräftigen, aber hübsch geformten Beinen zu sehen.

»Ach, um die Kakaoflecke geht es!« Nico sah flüchtig an sich hinunter. Dieser Hose half auch keine Reinigung mehr, das sah er erst jetzt. »Vergessen Sie es, ich habe noch mehr solcher Hosen. Kein Problem.« Er nickte der Besucherin zu, was bedeuten sollte, daß er die Unterredung als beendet betrachtete.

Anita sah das anders. »Mein Neffe ist ein intelligentes Kind, aufgeweckt und durchaus fotogen. Das beweisen die Amateurfilme, die seine Eltern von ihm gemacht haben. Leider ist meine Schwester vor etwa einem Jahr durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen. Mein Schwager ging ins Ausland, und ich sorge seither für den Kleinen.«

Nico interessierte das alles überhaupt nicht. »Entschuldigen Sie, aber ich habe nur wenig Zeit«, versuchte er die Unterhaltung zu beenden.

»Das ist mir völlig klar«, behauptete Anita mit strahlendem Lächeln. »Deshalb fasse ich mich so kurz wie möglich. Wenn Sie meinen Neffen für Film- oder Fernsehaufnahmen vermitteln, haben Sie meine volle Unterstützung, und das sollten Sie wissen.«

»Eigentlich ist das die Voraussetzung, wenn jemand ein Kind zu uns bringt«, wunderte sich Nico.

»Freilich. Doch bei mir geht das noch einen Schritt weiter. Ich denke da an eine Arbeitsgemeinschaft, die uns beiden persönliche Vorteile bringt.«

Es war völlig klar, wie Anita Stahnke das meinte, doch Nico stellte sich dumm. »Ich glaube nicht, daß wir den Jungen vermitteln können. Er ist zu schüchtern. Was wir brauchen, sind Kinder mit Selbstbewußtsein, unerschrocken und belastbar. Ich will Sie nicht kränken, aber ich habe den Eindruck, daß Ihr Neffe diese Voraussetzungen nicht erfüllt. Das sage ich Ihnen, um keine falschen Hoffnungen zu wecken. Sie haben ja selbst gesehen, wie groß das Angebot an niedlichen Knirpsen ist.« Nicos Stimme klang freundlich, aber bestimmt.

Trotzdem ließ sich Anita nicht abschrecken. »Sie werden nicht leugnen können, daß Jakob einer der niedlichsten war«, meinte sie, unbeeindruckt von Nicos ablehnender Haltung.

»Wenn wir ihn vermitteln können, rufen wir Sie an.« Nico streckte der aufdringlichen Anita Stahnke die Hand hin, um sich zu verabschieden.

»Wir sollten uns auf jeden Fall wiedersehen. Deshalb wollte ich Sie auf ein Glas Wein einladen. Sozusagen als Wiedergutmachung für die verdorbene Hose.« Anita zog alle Register ihrer Verführungskunst. »Bei dieser Gelegenheit können Sie Jakob unauffällig beobachten, und Sie werden feststellen, daß er ganz anders ist, als er sich heute gab.«

»Das habe ich gleich bemerkt«, mischte sich jetzt Shanice ein, die vorbeigekommen war und den Namen ihres kleinen Favoriten hörte. Sie blieb stehen und betrachtete Anita Stahnke nachdenklich.

Man brauchte nur geringe Menschenkenntnis, um festzustellen, daß diese Tante in erster Linie ihre eigenen Interessen verfolgte. Wie hatte Jakobs Vater das Kind dieser Frau anvertrauen können? Lag ihm so wenig daran, wie sein kleiner Junge aufwuchs?

Shanice hatte schon zuvor den Entschluß gefaßt, sich um Jakob zu kümmern. Nachdem sie seine Betreuerin kennengelernt hatte, hielt sie ihren Vorsatz für noch viel wichtiger. »Wenn es Ihnen recht ist, komme ich gleich morgen vorbei, denn es ist sehr nützlich, wenn wir möglichst viel über die Eigenheiten unserer kleinen Kandidaten wissen.«

Anita schluckte verblüfft. Es war ihr überhaupt nicht recht, denn sie war daran interessiert, eine Beziehung zu Nico Berdon aufzubauen. Seine Geschäftspartnerin interessierte sie nicht. Andererseits erkannte sie, daß sie über diese Frau vielleicht doch noch ans Ziel ihrer Wünsche kam. Deshalb verzog sie den grell geschminkten Mund zu einem säuerlichen Lächeln. »Sie werden sehen, die Mühe lohnt sich in jeder Beziehung.«

Diese Aussage war an Nico gerichtet, doch er entfernte sich bereits, froh darüber, der aufdringlichen Dame entkommen zu sein.

*

Als Shanice wenig später ins obere Stockwerk des Einfamilienhauses kam, war Nico bereits umgezogen. Die Räume hier oben waren der privaten Nutzung vorbehalten und mit schönen alten Möbeln aus dem Bestand von Nicos Eltern ausgestattet, während im Erdgeschoß der nüchterne Bürostil vorherrschte.

Um Kosten einzusparen, bat Nico seine Partnerin immer wieder, ihre eigene Wohnung in der Innenstadt aufzugeben, doch dazu konnte sich Shanice nicht entschließen.

»Ist sie endlich weg?« Nico ging auf Shanice zu und zog sie zärtlich an sich. »Glaubt diese geile Tante doch tatsächlich, ich würde auf sie abfahren.« Nico schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich bin froh, daß du zufällig vorbeikamst, sonst hätte die Tussi noch länger auf mich eingeredet.«

Shanice reagierte auf die Anspielung nur halbherzig, denn ihre Gedanken beschäftigen sich mit dem kleinen Jakob, dessen Schicksal ihr nicht gleichgültig war. »Du hast da eine Eroberung gemacht und müßtest eigentlich stolz darauf sein«, antwortete sie zerstreut.

»Ich bin aber nicht an irgendwelchen Flirts interessiert. Ich habe doch dich.« Nico drückte Shanice kräftig und sah ihr dabei in die Augen.

Sie wich seinem Blick nicht aus, doch ihr Herz schlug ruhig.

»Wir beide ergänzen uns so fabelhaft, daß ich gar nicht daran denke, diese harmonische Beziehung für irgendwelche Abenteuer aufs Spiel zu setzen. Ich mag dich, Shanice.« Nico sagte das immer wieder, und es entsprach auch seinen Empfindungen. Er mochte Shanices liebevolles Wesen, ihren Fleiß und ihr untrügliches Gespür für lohnende Geschäfte.

Shanice lehnte sich in Nicos Armen zurück und schaute ihm forschend ins Gesicht. »Ich weiß, du bist dagegen, aber ich werde mich trotzdem um den kleinen Jakob kümmern.«

»Warum? Der Junge ist doch uninteressant.«

»Nicht für mich. Er ist gehemmt und eingeschüchtert, aber welches Kind, das die Mutter verloren hat, wäre das nicht?«

»Es ist vergebliche Liebesmüh, laß dir das sagen«, warnte Nico, leicht verärgert. »Dem Jungen fehlt der Pep, das habe ich schon in den ersten zwei Minuten erkannt. Auch durch noch so gutes Zureden läßt sich das nicht ändern.«

»Du beurteilst jedes Kind nur nach seiner Tauglichkeit fürs Showbusineß. Es gibt aber noch andere Kriterien.«

»Das ist unser Job, Shanice. Wie kannst du das vergessen? Für jeden kleinen Schreihals, den wir vermitteln, kassieren wir eine schöne Stange Geld. Das ist es doch, was zählt. In ein paar Jahren haben wir genug, um uns in der Karibik zur Ruhe zu setzen. Wir kaufen uns ein großes Haus mit Pool und eigenem Strand und…«

»Noch ist das ein weiter Weg«, unterbrach Shanice ihren Partner, der schwärmerisch in die Ferne schaute, als wäre dort schon sein kleines Paradies zu sehen.

»Je mehr Schnullerwichte aus unserer Agentur größere Aufträge bekommen, desto rascher sind wir am Ziel. Wir dürfen uns deshalb nicht verzetteln. Wir können uns auch keine Mißgriffe erlauben, weil sonst das Vertrauen in unser Unternehmen schwindet. Aber das weißt du doch alles selbst.«

»Du vergißt, daß es auch noch Dinge außerhalb unseres Jobs gibt. Wenn ich mich um Jakob kümmere, dann nur aus menschlichen Gründen und ohne Hintergedanken.«

»Ein teures Hobby«, kritisierte Nico mißvergnügt. Seine Arme rutschten ab, er ließ Shanice los. »Außerdem erwartet die Tante, daß du ihren Neffen vermarktest. Nur, wenn das klappt, läßt sie dich in seine Nähe.«

»Ich weiß«, gab Shanice bekümmert zu.

»Dann laß die Finger davon. Die Sache bringt uns nur Ärger ein. Ich warne dich, mein Schatz. Und jetzt mach dich schön, wir gehen zum Italiener. Bei neapolitanischen Canneloni und einem Vino rosso kommst du auf andere Gedanken.« Gönnerhaft klopfte Nico seiner Partnerin auf die Schultern.

Er sollte sich täuschen. Weder das ausgezeichnete Essen, noch der gute Wein konnten Shanice von ihren Gedanken an Jakob ablenken. Das Schicksal des Kindes beschäftigte sie so stark, daß sie auf Nicos Fragen nur einsilbige Antworten gab. Immerzu sah sie das kleine, erschrockene Gesichtchen mit den traurigen Augen vor sich. Jakob war so hübsch, wenn er lachte, doch er schien wenig Gelegenheit dazu zu haben.

»Einen Roller wünscht er sich«, murmelte Shanice gedankenverloren.

Nico setzte das Rotweinglas ab und schaute seine Partnerin aufmerksam an.

»Wer bitte?« fragte er aggressiv, obwohl er genau wußte, wer gemeint war.

»Der kleine Jakob. Ich vermute, daß ihm die Tante den Wunsch nicht erfüllt, und sein Vater ist für ihn nicht erreichbar.«

»Sehr interessant.« Nico verdrehte die dunklen Augen. Um seinen Mund war ein spöttisches Lächeln. »Ich kapiere nicht, was in dir vorgeht, Shanice. Wir verbringen einen gemütlichen Abend miteinander, und du träumst von einem völlig fremden Kind. Ich will mit dir über unsere gemeinsame Zukunft reden, doch du hörst mir überhaupt nicht zu. Auf meine Fragen bekomme ich unpassende Antworten, weil du mit deinen Gedanken ganz woanders bist. Findest du das in Ordnung?«

»Entschuldige, Nico. Der kleine Jakob hat großen Eindruck auf mich gemacht, weil er eine ähnliche Kindheit hat, wie ich sie verbracht habe. Ich kenne seine Probleme und weiß, wie sehr man sich danach sehnt, von der Mami in die Arme genommen zu werden.«

»Mir kommen die Tränen«, spottete Nico grinsend. Doch dann wurde er schlagartig ernst. »Shanice, du bist so hübsch, daß es einfach schade ist, wenn du dich mit solchen Dingen befaßt. Gib mir lieber einen Kuß und sage mir, daß du es ebensowenig abwarten kannst, bis wir alleine sind, wie ich.« Nico sah seine Freundin an wie einen Besitz, über dessen Erwerb er völlig zufrieden war. »Raffiniert, deine neue Frisur…«

Die junge Frau hatte ihre blonden Haare einfach am Hinterkopf festgesteckt. Die hellen Spitzen fielen strahlenförmig um ihren Kopf, was jung, reizvoll und völlig unkompliziert wirkte.

Nico zupfte vergnügt daran. Er wartete nicht darauf, daß Shanice ihn küßte, sondern rückte näher, legte den Arm um ihre Schultern und berührte mit seinem Mund verspielt ihre Lippen.

Ihm war viel daran gelegen, daß alle anderen Gäste und besonders Angelo, der Wirt, sahen, daß sie ein verliebtes Paar waren.

Angelo schaute nämlich immer wieder bewundernd auf Shanice und schien es darauf anzulegen, wenigstens einen Blick mit ihr zu tauschen.

Doch Shanice bemerkte das ebenso wenig wie die verliebte Stimmung ihres Freundes Nico. Bei ihm hatte das stets etwas mit den Finanzen zu tun, weshalb Shanice solche Anwandlungen nicht ernst nahm.

»Wollen wir gehen?« fragte Nico, obwohl die Weinflasche auf ihrem Tisch noch lange nicht leer war.

»Wenn du magst.« Shanice zuckte gleichgültig die Schultern. »Ich würde noch gern in der Hardbergstraße vorbeifahren. Es ist nur ein kleiner Umweg.«

»Warum denn das?« Ab und zu gab Shanice ihrem Partner Rätsel auf. Doch gewöhnlich waren ihre Wünsche im Interesse der Agentur, und das akzeptierte er.

»Dort lebt Jakob mit seiner Tante. Es interessiert mich, wie die beiden wohnen. Das Umfeld prägt ein Kind mehr als alles andere.«

Nico hob hektisch die Hände und ließ sie polternd auf den Tisch zurückfallen. »Ich höre immer nur Jakob. Langsam ärgert mich das. Dabei gebe ich mir alle Mühe, dich aus der Reserve zu locken und dafür zu sorgen, daß dies ein schöner Abend für uns wird, und du beschränkst dich darauf, ständig diesen fremden Jungen zu erwähnen. Er interessiert mich nicht, denn

für unsere Zwecke ist er unbrauchbar.«

»Das wird sich ändern«, widersprach Shanice leidenschaftlich. Dabei blitzten ihre großen grauen Augen so lebhaft, wie das normalerweise nie vorkam.

»Ausgeschlossen. Aus einem grauen Entchen wird kein Schwan, das weißt du ganz genau. Wenn Jakob vor einer Kamera steht, bringt er keinen Ton heraus. Die ›Hoppla-hier-komm-ich-Masche‹, die erwartet wird, kriegt er nie hin!«

»Was wetten wir?« Shanice amüsierte sich darüber, daß sich ihr Freund so ereiferte. Sie war sich ihrer Sache sicher.

»Ein Essen bei Angelo«, hielt Nico dagegen. »Und in der Hardbergstraße fahren wir auch vorbei. Du siehst daraus, daß ich bereit bin, auf dich einzugehen.«

Shanice sprang fröhlich auf.

Nico erhob sich viel behäbiger, denn ihm behagte der Umweg überhaupt nicht. Er willigte nur ein, um seine Freundin bei Laune zu halten. Schließlich versprach er sich von diesem Abend noch einiges.

Vor dem Anwesen Nummer 12 in der Hardbergstraße bat Shanice ihren Freund, kurz anzuhalten. Es wurde gerade dunkel, und einige Fenster des Hauses waren hell erleuchtet.

»Na, zufrieden? Sieht doch gar nicht schlecht aus, das Zuhause deines Schützlings. Keine armselige Hütte, sondern ein ganz moderner Neubau mit allem Schnickschnack. Es gibt also keinerlei Grund, die Samariterin zu spielen. Ich hoffe, daß damit das Thema vom Tisch ist.«

Shanice ging auf die provozierende Äußerung nicht ein. »Dieses Haus haben seine Eltern gebaut und kurz vor dem Tod seiner Mutter bezogen. Nach dem Unglück ging der Vater ins Ausland und Jakobs Tante zog ein.«

»Woher weißt du denn das?« Ungeduld schwang in Nicos Stimme mit, denn er war der Ansicht, daß all diese Dinge völlig uninteressant für sie waren.

»Der Junge hat es mir erzählt. Er ist erstaunlich vernünftig für sein Alter. Ich freue mich schon darauf, ihn morgen wiederzusehen.«

»Muß das sein?« fragte Nico mit finsterem Gesicht.

*

Anita Stahnke war erstaunt, als es an diesem Abend klingelte, denn sie erwartete niemand. Sie meldete sich über die Gegensprechanlage und wunderte sich noch mehr, als sie die Stimme ihres Schwagers erkannte. »Manfred, du?« fragte sie und eilte zur Tür.

Erfreut öffnete sie und fiel dem großen, breitschultrigen Mann mit einem Freudenschrei um den Hals.

Viel heftiger, als es ihm lieb war, klammerte sie sich an ihm fest. Ihm war diese herzliche Begrüßung etwas peinlich, denn so gut, wie dies demonstriert wurde, war die Beziehung zwischen ihnen auch wieder nicht. Das hing mit dem früheren gespannten Verhältnis der Schwestern zusammen. Nach dem Tod seiner Frau hatte ihm Anita angeboten, für den kleinen Jakob zu sorgen. Ihm war das recht, denn er hätte das Kind in ein Heim geben müssen, weil er es selbst nicht betreuen konnte. Daran hatte sich bis heute nichts geändert. Auch nicht an seiner Trauer. Er konnte den Verlust seiner Frau nicht überwinden. Das war auch der Grund dafür, daß er als Ingenieur für seine Firma in die Vereinigten Arabischen Emirate ging, um dort Meerwasser-Entsalzungsanlagen zu bauen.

»Super, daß du hier bist«, jauchzte Anita. »Hoffentlich bleibst du ein paar Wochen.«

»Da muß ich dich enttäuschen.« Manfred kam nicht gern in das Haus, in dem ihn alles an seine Frau erinnerte. Er hätte es nie mehr betreten, wenn Jakob, sein kleiner Sohn, nicht hier lebte. Nur um das Kind zu sehen, kam er. »Ich fliege noch heute Nacht wieder zurück.« Manfred Kaiser schob seine Schwägerin sanft von sich. Dabei fiel ihm auf, daß sie verblüffend zurecht gemacht war. »Willst du weggehen?« fragte er verwundert.

»Nein, ich habe geahnt, daß du kommst«, schwindelte Anita. Ihre wässrig blauen Augen strahlten Manfred an. Niemals hätte sie zugegeben, daß sie mit einer Freundin verabredet war, um mit ihr zu einem Sommerfest zu gehen. »Wieso hast du nur Zeit für einen Blitzbesuch?« Anita tänzelte vor Manfred her und lotste ihn in den großen Wohnraum. Sie hatte hier vieles verändert, doch Manfred war das ganz recht.

»Ich bin am frühen Morgen aus Abu Dhabi eingetroffen und gleich ins Werk gefahren. Es gibt Probleme mit den Filtern. Sie sind einfach zu schwach. Dadurch kommt es zu Engpässen beim Durchlauf, zu Rückstauungen und letzten Endes zum Stillstand der Anlagen. Die Schweizer, mit denen wir eng

zusammenarbeiten, sind ganz schön sauer. Es müssen also neue Filter entwickelt werden, um das Problem in den Griff zu bekommen.«

Diese Ausführungen interessierten Anita überhaupt nicht. Sie war vor Manfred stehengeblieben, der wie ein Fremder im Eingangsbereich verharrte. »Braun bist du und es steht dir fabelhaft. Siehst aus wie ein Tennis-Champion, der aus Australien zurückkehrt. Imponierend!« Anita mußte hochschauen, denn der Schwager war gut einen Kopf größer als sie. Manfred hatte ihr schon immer gefallen, und sie war wahnsinnig eifersüchtig gewesen, als er ihre Schwester heiratete. Zumindest jetzt mußte es ihr einfach gelingen, diesen tollen Mann für sich zu gewinnen. Anita verschenkte ihr allerschönstes Lächeln.

Manfred erwiderte es nicht. Er hatte in Anita noch nie etwas anderes gesehen als die um ein Jahr ältere Schwester seiner Frau.

»Du stellst dir nicht vor, wieviel Wasser eine Stadt wie Abu Dhabi benötigt. Noch vor dreißig Jahren war dort nichts als staubtrockene Wüste. Und heute gibt es nicht nur jede Menge moderner Hochhäuser und Hotels mit riesigen Pools, sondern auch viele grüne Parks mit Bäumen, Blumen und Wasserspielen. Die Entsalzungsanlagen laufen Tag und Nacht auf Hochtouren, denn ohne sie wäre all dieser Luxus nicht möglich. Schon geringe Ausfälle sind eine Katastrophe.

Mami 1981 – Familienroman

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