Читать книгу Leni Behrendt Classic 59 – Liebesroman - Leni Behrendt - Страница 3

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In dem großen Krankenhaus herrschte die erhabene Ruhe, die sich den meisten Menschen so beklemmend aufs Gemüt legt.

Scheu streifen die Augen die lackierten Türen, die trotz ihrer fleckenlosen Weiße so viel Unheildrohendes ausströmen, welches das Herz zu stürmischen Schlägen veranlaßt und die Knie weich werden läßt. Denn man weiß ja nicht, was hinter diesen Türen lauert – hoffnungsvolles Genesen oder hoffnungsloser Tod.

An einem Vormittag huschte eine blutjunge Schwester den spiegelblank gebohnerten Korridor entlang, die die Empfindungen eben erwähnter angstgepeinigter Menschen nicht teilte, weil ihr all das ringsum vertraut war und sie diese beklemmende Luft geatmet hatte seit ihrem ersten Schrei.

Mit der Sicherheit der Vielgeübten trug sie ein Tablett in den Händen, auf dem eine Karaffe mit funkelndem Wein und ein Glas standen.

Sie wollte gerade zu einer der weißen Türen abbiegen, als aus dem gegenüberliegenden Zimmer der Professor der Anstalt in Begleitung des Oberarztes trat.

Die klaren, durchdringenden Augen des Professors blieben an der Schwester haften, die darob eine solche Unsicherheit befiel, daß das Tablett heftig wankte und die Karaffe in gefährliches Rutschen geriet, während das Glas zu Boden klirrte und vor den Füßen des erstaunten Professors zerschellte.

Und hätte der Oberarzt nicht rasch zugegriffen, so wäre auch die Karaffe dem Weg des Glases unweigerlich gefolgt.

Nun stand die Schwester da – blutübergossen das reizende Gesichtchen und in den Augen so banges Flehen, als wollte sie den Gefürchteten um Verzeihung bitten, daß sie die Vermessenheit habe, auf der Welt zu sein.

Kopfschüttelnd betrachtete der Professor das erschrockene Mädchen, und während er mit dem Oberarzt weiterschritt, zuckte ein Lächeln um den harten Mund.

»Nun sagen Sie mal, mein lieber Doktor, was ist eigentlich mit der Kleinen los?« richtete er das Wort an seinen Begleiter. »Sehe ich denn so furchterregend aus, daß sie mir die mannigfaltigsten Dinge vor die Füße wirft, sobald sie mich nur sieht?«

Der Blick des Arztes streifte den Vorgesetzten, der ihm in seiner imposanten Männlichkeit um eine halbe Haupteslänge überragte.

»Muß doch wohl«, war seine lachende Erwiderung. »Sie sind für dieses Aschenputtel der Anstalt wahrscheinlich der Gott, der über allen Wolken thront, und es zollt Ihnen den Tribut eben auf seine Weise.«

»Sonderbare Ehrenbezeigung«, trat der Professor die Erklärung trocken ab. »Da kann ich mich ja noch auf allerlei gefaßt machen.«

Damit war für die Herren der Zwischenfall erledigt, während er der Hauptbeteiligten so schweren Kummer bereitete.

Wie ein Häuflein Unglück kauerte sie am Boden und sammelte mit zitternden Händen die Scherben auf das Tablett. Nun noch mit dem Taschentuch den Fußboden gerieben, bis auch der kleinste Glassplitter entfernt war. Was kümmerte es sie, daß sie sich dabei die zarte Haut ritzte und ein Tröpfchen Blut floß. Viel wichtiger war, daß von dem Malheur keine Spur zu sehen war.

Dann erst erhob sich die Kleine seufzend und wischte energisch die Tränen fort, die immer noch über das vor Scham erglühte Gesichtchen liefen. Denn um sich ihrem Kummer hinzugeben, dazu hatte die kleine Schwester keine Zeit.

Die Karaffe wurde auf ein Tischchen gestellt, und hurtig huschten die Füßchen davon, um Ersatz für das zerbrochene Glas zu holen.

Diesmal wurde die Tür ohne Zwischenfall erreicht.

Der Finger pochte behutsam an das weißlackierte Holz, und mit einem höflichen Gruß trat das Mädchen über die Schwelle des lichten Krankenzimmers, in dem eine Dame mittleren Alters im Bett lag.

»Guten Tag, Schwester Angelika«, wurde der Gruß freundlich erwidert. »Lieb von Ihnen, daß Sie kommen. Ich habe Sie schon sehnsüchtig erwartet. Und was bringen Sie denn da Gutes? Wieder einmal Wein? Ich soll mich hier bei Ihnen wohl zum Trunkenbold ausbilden!«

Ein liebes Lächeln huschte über das Mädchengesicht, während das Tablett vorschriftsmäßig auf dem Nachttisch landete.

»Sie werden den Wein doch trinken, gnädige Frau?« wurde bang gefragt.

»Nein«, kam es unerwartet energisch zurück. »Das werden Sie für mich tun, Kleine, denn Ihren blassen Wangen ist er nötiger als mir.«

Zwei große erschrockene Augen starrten die Dame an, als wären diese liebenswürdig lächelnden Lippen die bösesten Worte entschlüpft.

»Aber, gnädige Frau – das darf ich doch nicht!« sagte die Schwester kläglich.

»Warum denn nicht?« wurde dagegen gefragt. »Wer wird Ihnen das verbieten, wenn ich das wünsche? Sie müssen doch aus Erfahrung wissen, Sie kleine Schwester, daß Kranke eigensinnig sind und auf ihrem Wunsch bestehen. Und daß sie außerdem nicht geärgert werden dürfen. Das wäre ja auch eine schlechte Empfehlung für Ihre Anstalt. Setzen Sie sich also in den bequemen Sessel da, und trinken Sie artig auf mein Wohl.«

Ja, was blieb der Schwester denn anderes übrig, als zu gehorchen?

Zaghaft nahm sie in dem Korbsessel Platz, der neben dem Bett stand, und sah die Patientin so flehend an, daß diese herzlich lachen mußte.

»Ist es denn so arg, was ich da von Ihnen verlange, meine Kleine?«

»Ja«, kam es aus tiefstem Herzensgrund. »Ich bin an Wein nicht gewöhnt und habe heute noch viel Arbeit zu leisten. Außerdem ist es uns Schwestern streng verboten, von den Kranken während der Behandlungszeit etwas anzunehmen. Und hier handelt es sich noch um den Wein, den Sie unbedingt trinken müssen, gnädige Frau.«

Die Kranke wurde einer Entgegnung enthoben, denn nach kurzem Klopfen betrat die Oberschwester der Anstalt das Zimmer.

Sie war eine wahrhaft junonische Gestalt, mit all der respekteinflößenden Würde, die für einen so verantwortungsvollen Posten notwendig ist.

Nun ruhte ihr strenger Blick auf der jungen Schwester, die aus ih­rem bequemen Sessel aufgesprungen war und in ratloser Verlegenheit vor der Gefürchteten stand.

»Hier finde ich Sie also, Schwester Angelika?« fragte sie unwillig. »Haben Sie denn vergessen, welchen Auftrag ich Ihnen vorhin gab?«

»Wie schade!« schaltete sich die Kranke ein, ehe die Schwester etwas sagen konnte. »Ich hätte Schwester Angelika gern noch ein Weilchen hierbehalten, um mir ein wenig vorlesen zu lassen. Ich weiß nämlich aus Langeweile nichts mit mir anzufangen.«

Schon nahm das Antlitz der Oberschwester einen liebenswürdigen Ausdruck an, und ebenso liebenswürdig war die Erwiderung.

»Selbstverständlich steht Ihnen die Schwester zur Verfügung, gnädige Frau. Ich muß nur immer hinter ihr her sein, damit sie in ihrer Verträumtheit nicht ihre Pflichten vergißt.«

Sie wandte sich an die Schwester. »Also, Schwester Angelika, wenn Frau von Steinbach Sie entläßt, dann melden Sie sich bei mir.«

Das klang nun wieder kurz und streng, und der Blick war kein guter, mit dem die würdige Dame das blutübergossene Gesicht ihrer Untergebenen musterte, bevor sie das Zimmer verließ.

»Nun nehmen Sie wieder Platz, Kleines«, redete Frau von Steinbrecht gütlich zu, und mit einem erleichterten Seufzer setzte sich Schwester Angelika wieder in den Sessel. »Sie bleiben doch gern bei mir, mein Kind?«

»Und wie gern«, wurde so inbrüstig beteuert, daß Frau von Steinbrecht ein amüsiertes Lächeln kaum unterdrücken konnte. »Es ist schön bei Ihnen, gnädige Frau.«

»Na, da sind wir aber geteilter Ansicht. Ich kann es beim besten Willen hier nicht schön finden. Und wer weiß, ob die Ihre bestehen bleiben würde, wenn Sie statt meiner hier lägen.«

»Oh, gnädige Frau, ich bin noch nie krank gewesen.«

»Das klingt ja ganz nach Bedauern, Sie Schäfchen. Seien Sie froh, daß Sie das Kranksein nicht kennen. Und nun lesen Sie mir etwas vor, damit wir beide auf andere Gedanken kommen.«

Gehorsam nahm die Schwester das Buch zur Hand, das auf dem Nachttisch lag.

Dann war nur noch die weiche, ungemein melodische Stimme in dem Krankenzimmer, das noch vor kurzer Zeit so viel Schmerzen gesehen.

Aufmerksam hing der Blick Frau Isabell von Stein­brechts an dem jungen süßen Antlitz der Leserin, das unter der steifen, strengen Haube so rührend wirkte, zumal es ein Zug von wehmütiger Trauer überschattete.

Was mochte diesem armen Kind in seinem blutjungen Leben schon alles widerfahren sein, daß es so gar nichts von dem unbekümmerten Frohsinn an sich hatte, der sonst doch der Jugend anhaftete?

Ein warmes Gefühl stieg in der kinderlosen Frau auf, der dieses junge Geschöpf in ihr Herz geschlossen hatte vom ersten Sehen an. Und der Wunsch, Näheres über sein Schicksal zu erfahren, stieg lebhaft in ihr auf.

»Legen Sie das Buch fort, Schwester Angelika«, sagte sie gütig. »Das Zuhören strengt mich doch noch zu sehr an. Erzählen Sie mir lieber etwas von sich. Oder mögen Sie das nicht?«

»Es wird in der Anstalt nicht gern gesehen, wenn wir Schwestern über unser Privatleben plaudern«, entgegnete Schwester Angelika tödlich verlegen.

»Du meine Güte«, rief Frau von Steinbrecht halb bestürzt, halb lachend. »Das Atmen ist den Schwestern hoffentlich nicht auch noch verboten?«

Schwester Angelika lächelte zaghaft. »Natürlich nicht, gnädige Frau. Und so streng sind die Vorschriften ja auch gar nicht. Es muß eben Ordnung herrschen.«

»Ordnung, ja, das ist ungemein wichtig«, stimmte die Kranke ein wenig sarkastisch zu. »Und zu dieser Ordnung gehört in erster Linie das Wohlbefinden des Patienten. Ich sagte es vorhin schon einmal. Also, liebes Kind, nun erzählen Sie mal ein bißchen.«

»Ach, gnädige Frau, ich wüßte gar nicht, was ich da erzählen sollte. Mein Leben ist wirklich sehr uninteressant.«

»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht so ohne weiteres behaupten. Denn irgend etwas ist in jedes Menschen Leben interessant. Wie alt sind Sie eigentlich?«

»Achtzehn Jahre.«

»Um Gott, Kind, in diesem blühenden Alter schon so verantwortungsvolle Pflichten! Haben Sie diese etwa freiwillig auf sich genommen?«

»Nein«, kam es so verlegen über die roten Lippen, als gestehe das Mädchen ein Unrecht ein.

»Und weshalb wurden Sie dann Schwester? Haben Ihre Angehörigen Sie etwa zu diesem schweren Beruf gezwungen?«

Ein unendlich trauriges Lächeln huschte über das zarte Mädchengesicht.

»Ich habe keine Angehörigen, gnädige Frau.«

»So sind Sie Vollwaise?«

»Ja, ich bin in diesem Haus geboren und ohne Unterbrechung geblieben. Mein Vater war hier als Assistenzarzt tätig und starb an einer Infektion kurz vor meiner Geburt, die dann meiner Mutter das Leben kostete. Da ich niemanden hatte, der sich meiner annahm, so wurde ich hier erzogen. Nach meiner Einsegnung wurde ich Lehrschwester und habe seit April das Examen hinter mir.«

Das alles war ganz schlicht, fast sachlich gesagt, und barg doch so viel Tragik in sich, die Frau von Steinbrecht aufs tiefste erschütterte.

Ganz weit öffnete sich das Herz der gütigen Frau.

Fest schlossen sich ihre gepflegten Hände um die des Mädchens, die bereits viele Spuren harter Arbeit aufwiesen.

»Armes Kind«, sagte sie leise. »Nun kann ich mir manches zusammenreimen, das mir bisher unerklärlich war.«

Verwirrt fragend richteten sich die großen Augen des jungen Mädchens auf die Sprecherin, doch diese winkte warm lächelnd ab. »Nicht jetzt, vielleicht später einmal werde ich darüber mit Ihnen sprechen.«

In diesem Moment klopfte es wieder, kurz und sehr ­energisch, und diesmal war es der Professor, der jetzt eintrat.

Schwester Angelika sprang auf, wollte in ihrer Verlegenheit das Weinglas erfassen und davoneilen, doch der Arzt hinderte sie daran.

»Erbarmen Sie sich, Schwester Angelika, und bleiben Sie da, wo Sie sind«, verlangte er lachend. »Sonst schütten Sie mir bestimmt den Wein über den Kittel. Geben Sie lieber her.«

Damit nahm er ihr das Glas aus der Hand, stellte es auf den Nachttisch zurück und war so der Gefahr enthoben, die fleckenlose Weiße seines tadellosen Kittels einzubüßen.

Aber ganz ohne ein Malheur ging es doch nicht ab. Denn die an ihm vorüberstrebende Schwester trat ihm noch gar herzhaft auf die Füße, bevor sie flüchtend davoneilte.

»Na, sagte ich’s nicht?« seufzte der Professor nun ganz gottergeben und sah seine Patientin vorwurfsvoll an.

Frau von Steinbrecht lachte herzlich. »Sie haben es ja förmlich heraufbeschworen.«

»Nun werde ich auch noch ausgelacht«, beklagte er sich.

»Na, na, Professor, Sie wissen doch: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen«, meinte die Patientin reichlich vergnügt. »Aber nun verraten Sie mir bloß, warum Sie der kleinen Schwester so ängstlich wehrten, als sie das Glas zur Hand nahm?«

»Einfach gesagt, weil sie mir immer etwas vor die Füße wirft, so oft sie mir nur begegnet. Wenn sie das etwa auch bei den Patienten so machen sollte, dann kann es ja gut werden. Ich wundere mich, daß noch keine Klagen über sie eingelaufen sind.«

Nun wurde Frau von Steinbrecht ernst.

»So wird sie wahrscheinlich auch keinen Anlaß zur Klage geben. Ich habe jedenfalls noch nie die Beobachtung machen können, daß sie sich ungeschickt benimmt. Es ist, im Gegenteil, ihre ruhige, linde Art, die sie mir während meiner Schmerztage so lieb gemacht hat, daß ich sie mir zur persönlichen Pflege ausgebeten habe.«

»Ja, dann stehe ich vor einem Rätsel«, meinte er, erstaunt, wie sehr sie sich für die junge Schwester einsetzte.

»Das schnell gelöst sein dürfte, lieber Freund«, erklärte sie dem Mann, den sie schon lange kannte und schätzte und der, solange er der Krankenanstalt vorstand, in ihrem Hause verkehrte. »Es ist die Angst vor dem gestrengen Herrn und Gebieter, die das ohnehin schon verschüchterte Dingelchen so unsicher werden läßt.«

»Wollen Sie mich als eine Art Schreckgespenst bezeichnen, verehrte Freundin? Das ist nicht gerade ein behaglicher Gedanke.«

»Nicht doch, Professor, ich versuche nur eine Erklärung für das Verhalten der Schwester zu geben.«

»Nun ja, Sie mögen recht haben. Aber ich bin ja nicht hergekommen, um mich mit Ihnen über Schwester Angelika zu unterhalten, sondern um mich nach dem Ergehen meiner sehr verehrten und leider oftmals ein bißchen unartigen Patientin zu erkundigen.«

»Ach, mein lieber Gernot, es ist nicht einfach, immer artig zu sein, wenn man sich bereits gesund fühlt und trotzdem im Bett bleiben muß«, seufzte sie. »Wann darf ich nun endlich aufstehen?«

»Das wird die Untersuchung ergeben, die ich im Laufe des Tages in aller Gründlichkeit vornehmen werde«, antwortete Professor Gernot Nordershoff.

»Sie haben gar nicht richtig zugehört. Ich habe gesagt, daß ich mich bereits ganz gesund fühle.«

»Es freut mich, das zu hören, aber Sie dürfen nicht vergessen, daß die Operation nicht einfach war und Sie mit dem Sensenmann bald allernächste Bekanntschaft gemacht hätten. Hauptsächlich unsere Schwester Maria hat sich unendliche Mühe gegeben, Sie in den Kreis der Genesenden zu schieben.«

»Schwester Maria? So?« meinte Frau von Steinbrecht mit einem merkwürdigen Lächeln, das den Professor stutzig werden ließ. »Der Schwester Maria natürlich den gebührenden Dank. Aber vergessen Sie sich vor allen Dingen nicht, Professor – und auch nicht Schwester Angelika.«

Schwester Angelika – immer wieder mußte Professor Nordershoff im Laufe des Tages daran denken. Hatte er selbst sie bisher nicht mit den rechten Augen betrachtet?

Dann aber wurde er von so viel Arbeit bedrängt, daß er keine Zeit mehr hatte, über Schwester Angelika nachzudenken.

*

Die Tage gingen dahin, ausgefüllt für alle, die das große Krankenhaus beschäftigte, mit strenger Pflichterfüllung.

Zu denjenigen, die am meisten eingespannt waren, gehörte Schwester Angelika, die, wie der Oberarzt ganz richtig bemerkt hatte, das Aschenputtel unter den Schwestern war.

Gar zu gern bürdeten ihre Kolleginnen ihr so manche Arbeit auf, die sie selbst verrichten sollten, zu denen sie aber keine Lust verspürten. Und die Jüngste unter ihnen nahm sie stets freundlich und willig auf sich.

Was hätte sie auch anders tun sollen? Sich etwa bei der Oberschwester beschweren?

Da wäre sie schön angekommen!

Daß diese der Schwester Angelika nicht freundlich gegenüberstand, das war den meisten im Hause nicht unbekannt.

Nur warum es so war, das allerdings wußte man nicht. Am wenigsten Schwester Angelika.

Diese wußte nur, daß sie hier nur Pflichten hatte und keinerlei Rechte. Sie war ein sogenanntes »Um-Gottes-willen-Kind« und mußte daher dem Hause dankbar sein, in dem sie ernährt, gekleidet und erzogen worden war.

Man hatte ihr sogar den Besuch einer guten Schule ermöglicht, und nun mußte sie die empfangenen Wohltaten abarbeiten – ein Leben lang.

Ihr diese Wohltaten immer wieder vor Augen zu führen, hielt die Oberschwester für angebracht, und es fanden sich auch noch andere genug, die sich das gleiche Recht anmaßten.

Das geschah nicht immer aus Bosheit, sondern oft aus Gedankenlosigkeit heraus. Man folgte eben dem Beispiel der Oberschwester, weil man es sich ja ungestraft leisten konnte.

Nicht einen Gedanken verschwendete man daran, wieviel Arbeit das junge Menschenkind zu leisten hatte, um allein schon seinen eigenen Pflichten nachzukommen, und daß es eine Überbürdung ohnegleichen war, wenn es auch noch die Arbeiten anderer miterledigte, ohne sich zu beklagen.

Na was, Schwester Angelika war eben ein so unbedeutendes kleines Nichts, das froh sein konnte, wenn man es einigermaßen gelten ließ. Und daß die Kleine sich stets freundlich und hilfsbereit zeigte, das war nun wahrhaftig selbstverständlich!

Hauptsächlich Schwester Maria, der Liebling der Oberschwester und Günstling des Professors, machte sich kein Gewissen daraus, ihrer Kollegin Angelika ihre Arbeiten zuzuschieben, die ihr selbst zuwider waren.

Natürlich tat sie das ganz heimlich; denn ihren Ruf, die intelligenteste und tüchtigste unter den Schwestern zu sein, mußte unter allen Umständen gewahrt bleiben.

Schwester Maria erhielt auch stets die Pflege der besten und zahlungsfähigsten Patienten, und darum war sie auch Frau von Steinbrecht zugeteilt worden, die ja sogar noch mit dem Professor befreundet war.

Mit der an ihr so berühmten Duldsamkeit und Sanftmut betreute sie die Kranke, die sonderbarerweise für die Schwester mit dem Madonnengesicht und den sanften Augen nicht die Vorliebe aufbringen konnte, die sie allgemein genoß.

Frau von Steinbrecht machte so ihre Beobachtungen. Also auch die, daß die vielgelobte Schwester Maria die stets im Schatten stehende Schwester Angelika mit dem frommsten Augenaufschlag ganz unfromm schikanierte.

Nun, die menschenkundige Frau dachte sich ihren Teil. Sie verstand es so einzurichten, daß sie Schwester Angelika immer mehr zu ihrer Pflege heranzog, ohne daß es besonders aufgefallen wäre.

Hauptsächlich vor Schwester Maria nahm sie sich in acht, denn sie traute es dieser Effekthascherin schon zu, daß sie sich an Angelika rächen würde.

Nun sollte Schwester Maria wieder einmal an eine Arbeit gehen, die ihr aber auch gar nicht paßte. Auf der chirurgischen Station lag ein Patient, der aus ärmlichen Verhältnissen kam und um den sich kein Angehöriger kümmerte. Er wurde mit Nachthemden aus dem Krankenhaus versorgt, und es kam schon einmal vor, daß ein notwendiger Wechsel versäumt wurde. Besonders Schwester Maria war diejenige, die nicht darüber nachdachte, wie traurig es um diesen armen alten Mann bestellt war, sondern viel lieber drückte sie sich davor, ihn zu versorgen.

Das Madonnengesicht, von dem so viele Patienten schwärmten, hatte er noch nie gesehen, sondern meistens nur ein mürrisches Gesicht.

An diesem Tag also ging sie mit einem besonders miß­mutigen Gesicht, das sie sich ja leisten konnte, weil niemand es sah, den langen Korridor entlang, eine Schüssel mit heißem Wasser vorsichtig vor sich her tragend, als ihr Schwester Angelika in den Weg lief.

»Ach, liebe Schwester Angelika, wie gut, daß ich Sie treffe«, wurde diese gnädig begrüßt, die in bescheidener Haltung vor Schwester Maria stand. »Ich muß nämlich sofort zum Chef, und Sie könnten mich daher vertreten. Der Patient auf Zimmer fünfzehn muß noch gewaschen werden. Die Nachtschwester kam nicht dazu.«

»Wie leid mir das für ihn tut«, sagte Schwester Angelika mitfühlend. Meine Güte, es ging auf Mittag zu, und der arme alte Mann war nicht einmal erfrischt?

»So wichtig war es ja wohl nicht«, tat Schwester Maria die Bemerkung gefühllos ab. Dann hielt sie es jedoch für angebracht, zu sondieren, ob Schwester Angelika gerade einen anderen Auftrag hatte, da sie ja wußte, daß keine Schwester von einer dringenden Arbeit abgehalten werden durfte. Dadurch konnte nämlich nie wiedergutzumachendes Unheil heraufbeschworen werden, weil es in diesem Hause ja Tag für Tag um Menschenleben ging.

Also fragte sie noch: »Oder haben Sie etwa etwas Unaufschiebbares vor?«

»Ich wollte jetzt nur mein Frühstück einnehmen, weil ich bisher noch nicht dazu gekommen bin«, wagte Schwester Angelika zu antworten.

Das jedoch erschütterte Schwester Maria, die ihr Frühstück natürlich schon längst hinter sich hatte, überhaupt nicht.

Sanft lächelnd wurde der Kleinen die Schüssel in die Hände gedrückt.

»Dann essen Sie eben etwas später«, wurde ihr mit einer Stimme bedeutet, die gar nicht sanft klang. »Die Arbeit geht vor, das müßten Sie doch endlich begriffen haben. Ich jedenfalls muß zum Professor, und eine andere Schwester ist momentan nicht frei.«

Mit einer Sicherheit, die der kleinen Schwester imponierte, erhielt sie die nötigen Anweisungen, wurde ermahnt, ja alles gewissenhaft zu erledigen – und dann durfte sie sich trollen, während sich die schlaue Schwester Maria ins Fäustchen lachte.

Es war ihr wieder einmal geglückt, sich eine Freizeit zu verschaffen, die sie so recht nach eigenem Willen auskosten wollte.

Daß dieses Gespräch mit Schwester Angelika einen Zeugen hatte, nämlich Frau von Steinbrecht, das ahnten beide nicht.

Schwester Angelika machte sich niedergeschlagen, mit knurrendem Magen, auf den Weg zu dem Patienten. Die gefüllte Schüssel mit heißem Wasser trug sie behutsam wie eine Kostbarkeit vor sich her.

Und siehe da, schon waren wieder einmal tausend Teufelchen am Werk, um der geplagten kleinen Schwester einen argen Streich zu spielen.

Denn just in diesem Moment kamen ihr der Professor mit seinem Ärztestab und der Oberschwester entgegen, alle weiß gekleidet von Kopf bis Fuß.

Diesmal war es aber der Gestrenge selbst, der das Unheil heraufbeschwor.

Mit abgewandtem Kopf zu den Herren sprechend, sah er die Schwe­ster nicht, die verzweifelte Anstrengungen machte, ihm auszuweichen, was bei der gefüllten Schüssel nicht ganz einfach war.

Im Zickzack hin und her balancierend, ging es hin und her – und der Professor, als hätte sie magnetische Kräfte in sich, immer getreulich mit ihr.

Und ehe noch jemand ihn warnen konnte, war es schon geschehen.

Schon lag ihm die Schüssel vor den Füßen, und er fühlte das Wasser durch Hosenbeine und Schuhe gar lieblich warm an seinem Körper herniederrinnen.

Nun, ein Mann ist ja in den meisten Fällen kein Lamm, und der Professor einer so großen Anstalt darf es schon gar nicht sein.

Daher war es kein Wunder, daß ihm der Geduldsfaden riß und er die Übeltäterin mit einem Blick ansah, der in ihr das brennende Verlangen nach dem bewußten Mauseloch hervorrief.

»Ja, zum Kuckuck, Sie, Fräulein Tolpatsch, sind Sie denn ganz und gar von Gott verlassen?« schalt er aufgebracht. »Daß Sie mir so allerlei vor die Füße werfen, daran bin ich allmählich gewöhnt, und es macht mir schon fast gar nichts mehr aus. Aber es geht ja wohl ein bißchen zu weit, mir ein Bad aufzuzwingen, während ich Visite machen will!«

Schwester Angelika war vor Schreck wie benommen. Sein harter Ton, der ganz bestimmt berechtigt war, trieb ihr wieder einmal die Tränen in die Augen.

Und dann sah sie die amüsierten Gesichter der Ärzte, was ihre Verwirrung begreiflicherweise noch vermehrte.

Unfähig, sich zu rühren, stand sie mit hängendem

Kopf und hängenden Armen da – absolut ein Bild des Jammers!

Und dieses mußte den unwilligen Professor Nordershoff dann ja auch wohl besänftigt haben, denn es klang fast begütigend, als er sagte.

»Nun sehen Sie sich in Zukunft endlich vor, Fräulein Tolpatsch, und beehren Sie mich nicht mehr mit Ihren sonderbaren Aufmerksamkeiten.«

Und dann wandte er sich zu den Ärzten, mit jener vornehmen Gelassenheit, die ihn auch in kritischeren Situationen als dieser auszeichneten:

»Gehen Sie nur immer voraus, meine Herren. Ich muß mich jetzt erst umziehen.«

Rasch eilte er den Weg zurück, während die Ärzte weiterschritten.

Und als nun der Gestrenge außer Hörweite war, brachen sie in das Lachen aus, das sie bisher mühsam unterdrückt hatten.

Die Bezeichnung »Fräulein Tolpatsch« ging von dieser Minute an von Mund zu Mund.

Und niemand nahm davon Kenntnis, daß genau eben dieses Fräulein Tolpatsch mit weiten Augen hinter dem Professor her sah, daß sich ihre junge Brust in heftigen Atemzügen hob – daß sie wie verzaubert schien.

Aber sehr realistisch wurde sie aus der Verzauberung, deren sie sich selbst kaum bewußt war, herausgerissen.

Die Oberschwester nämlich war zurückgeblieben, und die Worte, die nunmehr auf das Mädchen niederprasselten, konnte man schon mit Schmähungen bezeichnen, deren eine so würdige Dame eigentlich sich nicht hätte bedienen dürfen.

Es hatte so den Anschein, als könne sie sich gar nicht genug tun, dieses kleine Jammerbündel vor sich in krassester Weise abzukanzeln.

»Man muß sich ja schämen, daß man einen so unglaublichen Tolpatsch im Haus beschäftigt!« schalt sie mit gefährlich unterdrückter Stimme. Die Patienten durften nicht gestört werden, aber Nachdruck war nun einmal notwendig. »Zu nichts sind Sie nütze! Auf der Station haben Sie sich nach diesem skandalösen Vorfall unmöglich gemacht. In der Küche kann ich Sie auch nicht beschäftigen, da Sie mir das ganze Geschirr zerschlagen würden. Was wollen Sie denn eigentlich noch hier? Wollen Sie etwa das gnädige Fräulein spielen und uns immer weiter auf der Tasche liegen? Sie – Sie – Taugenichts – Sie!«

In ihrer übereifrigen Erregung merkte sie nicht, daß unweit der Professor stand und alles mit anhörte.

Auf dem Weg in sein Zimmer hatten ihm die schroffen Worte, mit denen er den kleinen Tolpatsch bedacht hatte, bereits leid getan.

Er machte kehrt, um der Kleinen etwas Freundliches zu sagen, und dann ertappte er die Oberschwester bei ihrer Strafpredigt, die auch beherztere Leute als dieses scheue Dingelchen hätte in Grund und Boden schmettern müssen.

Aufs höchste befremdet sah er auf die Dame, die er ganz gewiß noch nicht so kannte – so aller Würde bar.

Und dieses Befremden stand auch in seinem harten Antlitz und lag auch in seiner Stimme, als er auf die Oberschwester zutrat, die erschrocken zusammenzuckte.

»Na, so schlimm war das Vergehen der Kleinen nun auch wieder nicht, daß Sie sie hier so unerhört abkanzeln, Frau Oberin. Schließlich kann es jedem einmal passieren, daß er eine Schüssel fallenläßt.«

»Das finde ich auch«, ließ sich eine lachende Stimme vernehmen, und herumfahrend, erblickte Professor Nordershoff Frau von Stein­brecht, die langsam näher kam.

»Nanu, gnädige Frau, was machen Sie denn hier?« fragte er über­rascht.

»Ich höre, sehe und staune«, antwortete sie gelassen.

»Waren Sie etwa Zeuge des kleinen Intermezzos vorhin?«

»Allerdings. Das – und noch mehr.«

»Soso. Aber soviel ich weiß, sollten Sie jetzt im Park liegen und ruhen.«

»Und vor Langeweile umkommen«, ergänzte sie trocken. »Um untätig den ganzen Tag herumzuliegen, dazu bin ich schon viel zu gesund.«

»Das darf ich natürlich nicht dulden. So mag Ihnen Schwester Maria Gesellschaft leisten. Wir wollen sie gleich mit dem Ehrenamt betreuen.«

»Bemühen Sie sich nur nicht, lieber Professor. Schwester Maria hat jetzt nämlich keine Zeit.«

»Jede Schwester hat für die Patienten Zeit, wenn ich es bestimme«, sagte er etwas ungehalten.

Frau von Steinbrecht lächelte nur.

»Leider irren Sie sich diesmal. Schwester Maria ist in der Tat stark beschäftigt. Sie sitzt in einem lauschigen Eckchen des Parkes, liest ein anscheinend sehr interessantes Buch und nascht Konfekt. Die kleine Genießerin versteht es vorzüglich, sich ihre Freizeit so behaglich wie nur irgend möglich zu gestalten.«

»Freizeit? Am Vormittag? Da müssen Sie sich geirrt haben, gnädige Frau.«

»O nein, Herr Professor. Das Madonnengesicht ist hier so einmalig, daß man sich gar nicht irren kann. Aber lassen Sie doch der guten Schwester Maria ihr Vergnügen. Geben Sie mir als Ersatz die Kleine hier mit, dann bin ich mehr als zufrieden.«

Der durchdringende Blick des Professors, der im ganzen Haus so gefürchtet war, weil er den Menschen bis auf den Grund der Seele zu dringen schien, ruhte auf dem vornehmen Antlitz der Dame, die ihm mit liebenswürdigstem Lä­cheln standhielt.

Forschend sah er die Oberschwester an, die ein Gesicht machte, als stände sie nur zufällig hier.

Zuletzt wandte er sich Angelika zu, und es wurde ihm nur ganz vage bewußt, daß ihm plötzlich ganz warm ums Herz wurde.

Schwester Angelika – dieses kleine Fräulein Tolpatsch –, war sie nicht ein ganz liebenswertes Mädchen?

Und während er dieses mit großer Sympathie dachte, fand seine aus spontaner Verärgerung dahingeworfene Äußerung bereits nahrhaften Boden.

Wie ein Lauffeuer eilte es durch die Anstalt, in der es fortan inoffiziell keine Schwester Angelika mehr geben würde, sondern nur noch das, was der Professor gesagt hatte:

»Ein Fräulein Tolpatsch!«

Erbarmungswürdig sah das Mädchen aus, als es immer noch mit hängenden Gliedern verharrte, wie eine Büßerin, die eine Todsünde begangen hatte.

»Nun seien Sie wieder vergnügt, Schwester Angelika«, sagte Professor Nordershoff zu ihr, die den Blick jetzt langsam zu ihm erhob.

So viel Jammer und Not, so viel stumm getragenes Leid sprach aus groß aufgeschlagenen Augen, daß der Arzt betroffen schwieg.

»Stehen Sie hier nicht herum wie das Leiden Christi, sondern sehen Sie zu, daß der Fußboden wieder in Ordnung kommt«, sprach die strenge Stimme der Oberschwester in die Stille hinein. »Was wollten Sie überhaupt mit der Schüssel? Soviel ich weiß, sollten Sie den Lernschwestern die gebrauchte Wäsche zum Waschen herausgeben.«

»Das habe ich bereits getan, Frau Oberin«, kam die Antwort fast demütig.

»Und was wollten Sie dann mit der Schüssel, deren Inhalt Sie ausgerechnet dem Herrn Professor auf die Füße gießen mußten?«

Schwester Angelika schwieg in tödlicher Verlegenheit und erweckte so den Anschein des bösen Gewissens.

Und die Oberschwester, froh, sie eines solchen überführen zu können und somit ihre krasse Strafpredigt von vorhin vor dem Professor rechtfertigen zu können, ließ sich diese Chance nicht nehmen.

»Es ist schon ein Elend mit diesem Mädchen«, sagte sie kummervoll. »Sie ist unwahrhaftig und verstockt, träge und ungeschickt.«

»Nun, Frau Oberin, den Eindruck macht Schwester Angelika nun doch wirklich nicht«, schnitt er ihr recht unwillig das Wort ab. »Ich höre im Gegenteil von den Patienten immer nur Gutes. Frau von Steinbrecht scheint sie ganz besonders ins Herz geschlossen zu haben, und meine jahrelange Bekanntschaft mit der gnädigen Frau hat mich immer wieder feststellen lassen, daß man sich auf ihre Menschenkenntnis verlassen kann. Ist es nicht so, gnädige Frau?«

»Es stimmt auffallend, mein Freund«, bestätigte Frau von Steinbrecht. »Deshalb muß an der kleinen Schwester schon etwas Besonderes sein, weil sie mir so angenehm werden konnte.

Und nun werde ich auch verraten, warum sie jetzt schweigt. Nicht etwa aus Verstocktheit oder bösem Gewissen heraus, Frau Oberin, sondern um Schwester Maria nicht anzugeben.«

Sie ließ sich nicht durch Schwester Angelikas verängstigten, beschwörenden Blick beirren, sondern fuhr fort: »Mit der Ausrede, zum Herrn Professor befohlen zu sein, drückte Schwester Maria ihrer Kollegin Angelika die Schüssel in die Hände, was dieses kleine gutmütige Schäfchen auch geduldig geschehen ließ, obgleich es zum Frühstück gehen wollte, das einzunehmen es noch keine Zeit gefunden hatte. Schwester Angelika nahm also zu ihrer eigenen Arbeitsfülle auch noch die Arbeit Schwester Marias auf sich, die es sich unterdessen im Park bei spannender Lektüre und Konfitüren gut sein läßt. Ich habe es selbst beobachtet.«

Mit heimlichem Vergnügen sah die Sprecherin, wie die Oberschwester nach Luft schnappte, während der Professor den Kopf schüttelte, als könne er das alles nicht begreifen.

»Haben Sie denn tatsächlich jetzt –«, er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, »– jetzt um halb zwölf Uhr noch immer kein Frühstück gegessen, Schwester Angelika?«

»Nein.« Die arme Schwester Angelika wußte vor grenzenloser Verlegenheit nicht mehr, wohin sie schauen sollte, aber wie von einer heimlichen Macht gezwungen sah sie die Oberin an, deren Miene nichts Gutes verhieß, und hastig setzte sie hinzu: »Aber das schadet doch wirklich nichts.«

Wieder traf sie der durchdringende Blick des Professors, der sie von neuem erzittern ließ, was dem Gestrengen nicht entging.

»Schwester Angelika, warum haben Sie bloß so große Angst vor mir?« fragte er gütig. »Habe ich Ihnen denn schon etwas getan, das dieses rechtfertigen könnte?«

»Nein, Herr Professor«, preßte sie scheu hervor.

»Na also. Und nun ziehen Sie sich erst einmal um, denn wie ich sehe, haben Sie von dem nassen Segen auch gehörig etwas abgekriegt. Und dann frühstücken Sie endlich.«

»Und dann, lieber Professor, sind Sie hoffentlich damit einverstanden, daß Schwester Angelika mir für den Rest des Tages zur Verfügung steht«, mischte sich Frau von Steinbrecht wieder ein.

»Selbstverständlich, gnädige Frau«, stimmte er sofort zu.

»Zuerst muß ich aber noch den Boden säubern«, wagte das Aschenputtelchen mit einem ängstlichen Blick auf die Oberschwester einzuwenden.

Doch der Professor winkte ungeduldig ab.

»Das kann eine der Putzfrauen erledigen. Bitte, Frau Oberin, geben Sie den Auftrag.«

Diese verneigte sich mit einer Steifheit, die wahrhaftig Bände sprach.

Schwester Angelika war somit entlassen und suchte ihr Heil in der Flucht. Dabei passierte es, daß sie über ihre eigenen Füße stolperte, sie konnte aber gerade noch verhindern, daß sie der Länge nach hinpurzelte.

Während Frau von Steinbrecht und Professor Nordershoff der Enteilenden mit lachenden Augen nachschauten, strömten die der Oberschwester, die sich unbeobachtet glaubte, so viel Haß aus, daß die beiden sich betroffen ansahen.

Der Chef des Hauses räusperte sich und rief dann die Oberschwester in die Wirklichkeit zurück: »Das wäre nun wohl auch überstanden. Jetzt werde ich mich wohl endlich ohne Zwischenfall umkleiden können.

Und, was ich noch sagen wollte, Frau Oberin: Schicken Sie mir doch bitte nach dem Mittagessen Schwester Maria in mein Arbeitszimmer, denn ich halte es an der Zeit, ihr einmal ihr reizendes Köpfchen zu waschen.«

»Aber, Herr Professor, mit solcher Lappalie brauchen Sie doch nicht Ihre kostbare Zeit zu vergeuden«, sagte die Oberschwester hastig. Ihr Liebling Schwester Maria sollte keine Strafpredigt von dem Professor bekommen. »Ich werde mit allem Nachdruck mit ihr sprechen.«

»Ich möchte es selber tun«, entgegnete er betont und wandte sich fast gleichmütig von der Oberschwester ab, um Frau von Steinbrecht zuzulächeln. »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag, gnädige Frau. Gegen Abend schaue ich wieder bei Ihnen herein.«

*

Kurz vor zwei Uhr erschien Schwester Maria, wie be­fohlen, bei dem Professor. Bescheiden verharrte sie an der Tür.

»Die Frau Oberin hat mir gesagt, daß Sie mich haben rufen lassen, weil ich mich für etwas rechtfertigen soll, was wie eine Missetat aussieht«, sagte sie mit sanfter Stimme. Ihre Augen waren groß auf ihn gerichtet, und ihr Madonnengesicht drückte so viel Unschuld aus, als ob sie wirklich kein Wässerchen würde trüben können. Mit kluger Berechnung hatte sie ein paar Löckchen unter der steifen Schwesternhaube hervorgezupft, und der Spiegel hatte ihr verraten, daß ihr Anblick erfreulich war, ganz besonders für einen Mann.

Es mußte gesagt werden, daß Professor Nordershoff sie unwillkürlich mit Wohlwollen betrachtete. Sie wirkte so reizend, daß sie eigentlich für jeden Patienten eine Art Medizin sein mußte. Aber er erinnerte sich daran, warum er sie hatte rufen lassen.

»Treten Sie ruhig ein bißchen näher, Schwester Maria«, forderte er sie auf, »und dann erklären Sie mir bitte, weshalb Sie heute morgen eigenmächtig Schwester Angelika einen Auftrag gegeben haben, der eigentlich Ihnen zustand.«

Sie machte ein paar graziöse Schritte vorwärts, blieb in angemessener Entfernung vor seinem Schreibtisch stehen.

»Eigenmächtig? Wie entsetzlich, daß Sie es so sehen«, antwortete sie scheinbar völlig niedergedrückt. »Ich habe mich bereits selber geprüft und erkannt, daß dieser Eindruck durchaus erweckt werden könnte, besonders, wenn er von jemandem beurteilt wird, der die Hintergründe nicht kennt.«

»Frau von Steinbrecht hat mir eine rein sachliche Beobachtung mitgeteilt, Schwester Maria. Vielleicht könnten Sie mir Ihre Hintergründe verraten?«

»Ach, Herr Professor, es handelt sich doch um den Patienten auf Zimmer fünfzehn. Er scheint keine Angehörigen zu haben, denn ich habe noch nie bemerkt, daß er Besuch bekam. Die Nachtschwester war nicht dazu gekommen, ihn zu versorgen. Ich gebe zu, daß ich weiß, wie sehr dieser Patient unsere liebe kleine Schwester Angelika förmlich vergöttert. Da brachte ich es nicht übers Herz, zumal er ja schon ein bißchen vernachlässigt war, ihn zu enttäuschen, und nur deshalb bat ich Schwester Angelika, mir die Aufgabe abzunehmen.«

Das war mit sanfter Stimme und so überzeugend gesagt, daß es dem Professor glaubwürdig klingen mußte. Aber so ganz deckte es sich nicht mit dem, was Frau von Steinbrecht ihm berichtet hatte.

»Schön«, sagte er, »nehmen wir einmal an, daß es den Tatsachen entspricht. Aber wie kamen Sie danach dazu, sich in den Park zu setzen, in einem Buch zu lesen, soviel ich weiß, und Konfekt zu naschen? Schwester Angelika gegenüber hatten Sie behauptet, zu mir befohlen worden zu sein.«

Überzeugende Überraschung malte sich auf Schwester Marias hübschem Gesicht. »Aber, Herr Professor, ich wollte unsere Angelika nicht in Verlegenheit bringen. Deshalb benutzte ich diese Ausrede. Und im Park? Ja, es stimmt, daß ich dort gewesen bin. Es waren für mich ja einige Minuten freie Zeit herausgekommen, die ich selber gar nicht angestrebt habe. Ich habe sie dazu genutzt, mich in ein Fachbuch zu vertiefen. Sie sagen doch auch immer, daß man nie genug dazulernen kann.«

Wie gut sie sich aus der Affäre zu ziehen wußte!

Professor Nordershoff konnte sie nach dieser Darstellung nicht einmal mehr tadeln. Er sagte nur noch gelassen: »Wie angenehm, daß Sie Konfekt bei diesem Studium naschen konnten.«

Schwester Maria lächelte bestrickend liebenswürdig. »Der Sohn einer unserer Patientinnen, übrigens ein Rechtsanwalt, hat mir das Konfekt geschenkt, weil seine Mutter sehr zufrieden mit mir ist. Ich hoffe, daß ich diese Gabe annehmen durfte. Er ist auch immer sehr nett zu mir.« Verschämt senkte sie die Augenlider. »Mein Herz ist natürlich noch frei, Herr Professor.« Und dann, als ob es ihr gerade in diesem Moment einfiel: »Wenn Sie mich strafen wollen, bitte, ich fühle mich zwar nicht schuldig, aber ich würde niemals aufbegehren.«

Instinktiv fühlte er, daß sie ihn einfach überfahren wollte, aber wie hätte er es widerlegen können?

So blieb ihm nichts weiter übrig, als zu sagen: »Lassen wir die Sache auf sich beruhen, Schwester Maria. Aber in Zukunft würde ich es doch gutheißen, wenn Sie keine eigenmächtigen Entscheidungen treffen.«

Sie machte einen grazilen Knicks. »Selbstverständlich, Herr Professor. Ich kenne meine Pflichten, und ich werde nicht versäumen, sie nach bestem Können zu erfüllen.«

Damit war sie entlassen. Und während sie sich zum Gehen wandte, spielte ein triumphierendes Lächeln um ihren schön geschwungenen Mund.

Diese Prüfung hatte sie bestanden, und wahrscheinlich hatte sie auch viel gewonnen. Oh, ihr würde es schon noch gelingen, den Professor zu erobern.

Hatte er sie nicht ganz eigentümlich angesehen?

Als sich die Tür hinter ihr schloß, machte sie ein paar übermütige Sprünge.

Ihre Phantasie lief kühn in die Zukunft. Großartig muß es sein, Frau Professor Nordershoff zu sein!

*

Bereits am nächsten Tag schien es so, als ob Schwester Marias Rechnung aufgehen würde. Dabei war es nichts als reiner Zufall, daß Professor Nordershoff ausgerechnet ihr den Auftrag gab, Schwester Angelika zu ihm zu beordern.

»Schwester Angelika, Sie möchten sofort zum Herrn Professor kommen – in sein Arbeitszimmer«, meldete Schwester Maria mit schadenfrohem Lächeln.

Hach, jetzt würde Schwester Angelika abgekanzelt werden, und die war bestimmt nicht so schlau, sich zu verteidigen.

Denn außer der Zeit ins »Allerheiligste« befohlen zu werden, bedeutete allemal nichts Gutes. Und seit gestern, da Maria die schwierige Sitzung bei dem Chef hatte durchstehen müssen, die sie – ihrer Meinung nach – der Petzerei des Tolpatsches verdankte, fühlte sie mehr als zuvor heißen Groll auf die Kollegin.

Es hatte übrigens an diesem Tag auch für die anderen noch ein heiliges Donnerwetter gegeben.

Mit der herrischen Stimme, die einem vor Angst die Gebeine klappern machte, wie eine Schwester sich auszudrücken pflegte, hatte Professor Nordershoff angekündigt, daß diejenigen, die ihre Arbeiten nicht selbst verrichteten, sondern sie gutmütigen Kolleginnen aufbürdeten, sofort entlassen würden.

So böse hatte man den vergötterten Chef noch nie gesehen, und da seine Konsequenzen nur zu gut bekannt waren, so nahm man seine Worte so ernst, wie sie gesagt waren.

Natürlich war ihnen bekannt, wer der Anlaß zu diesem Unwetter gewesen war, wer sie da mit ihrer Petzerei so in die Enge getrieben hatte.

Und da der Mensch ja nur zu leicht geneigt ist, seine Schuld nie bei sich, sondern immer nur bei anderen zu suchen, so häufte sich der Groll auf die arme Schwester Angelika, die doch so schuldlos an dem allen war.

»Schau mal einer dieses scheinheilige Fräulein Tolpatsch an! Tat immer so, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte und hat dabei im geheimen mit den gemeinsten Waffen gekämpft. Na, warte nur, du Tolpatsch, da soll dir nichts geschenkt werden.«

So wurde hinter ihrem Rücken geredet.

Es gab allerdings auch solche unter den Schwestern, die Angelika in Schutz nahmen.

Diese wurden jedoch empört überstimmt.

Unter den Einsichtigen befand sich auch Schwester Maria, die ihre Kolleginnen bat, der kleinen Angelika doch nichts nachzutragen. Was sie getan, war doch menschlich verständlich.

Sie hätte sich bei dem Professor doch nur so ein wenig Liebkind machen wollen.

Ja, das war wieder einmal ganz die liebe Schwester Maria! Und mit Stolz sahen alle auf dieses edle Wesen, das doch die Beste unter ihnen war und so blieb.

Niemand ahnte, was Maria wirklich dachte. Sie dachte:

Warte, du Tolpatsch, ich werde schon Mittel und Wege finden, um dir diese Stunde, in der ich wie ein begossener Pudel vor dem Professor stehen mußte, mit Zinseszins heimzuzahlen.

Nun also sah dieses edle Wesen mit heimlicher Freude, wie sehr Angelika über die Nachricht, so ganz außer der Zeit zum Professor befohlen zu sein, erschrak.

Mit zitternden Händen rückte Angelika die Haube zurecht, strich die Schürze glatt und machte sich dann auf den schweren Weg.

»Das geschieht dir ganz recht, du Tolpatsch«, murmelte Schwester Maria befriedigt vor sich hin, indem sie vor einem der schmalen langen Spiegel des Korridors trat und mit eitler Wohlgefälligkeit ihr schmuckes Bild betrachtete.

Erst dann ging sie mit tänzelnden Schritten weiter, eine lustige Melodie vor sich hin summend.

Der kleinen Angelika jedoch klopfte das Herz wie rasend.

Blitzschnell überlegte sie, was sie wohl verbrochen haben könnte, es wollte ihr keine Unterlassungssünde einfallen.

Auf ihr zaghaftes Klopfen vernahm sie die herrische Stimme des Gefürchteten durch die Tür: »Herein!«

Mit zitternden Beinen trat sie ein und sah drei Augenpaare auf sich gerichtet, was sie vollkommen verwirrte.

Und wie sollte es auch bei Fräulein Tolpatsch anders sein: sie machte ihrem Namen wieder einmal alle Ehre.

Schon stolperte sie über den schweren Teppich und lag dem Professor zu Füßen.

»Guten Tag, Fräulein Tolpatsch«, sagte er lachend, ergriff das zitternde Mädchen und half ihr, sich wieder aufzurichten. »Diese Ehrenbezeigung ist mir natürlich lieber als die feuchte vor ein paar Tagen. Aber nun setzen Sie sich, um Himmels willen, erst in den Sessel, sonst garantiere ich für nichts.«

Er führte sie zu einem Klubsessel, drückte sie hinein und wandte sich dann Frau von Steinbrecht zu, die herzlich lachte, während die Oberschwester mit gar mißbilligenden Blicken auf das verstörte Mädchen sah.

»Nun, verehrte gnädige Frau, da haben Sie Ihr Schäfchen einigermaßen wohlbehalten«, sagte er ebenfalls lachend.

Frau von Steinbrecht trat nun zu Schwester Angelika und strich zärtlich über den blonden Scheitel, den die starre weiße Haube zum Teil freiließ.

»Ich wollte nicht von hier gehen, ohne mich von Ihnen verabschiedet zu haben, mein liebes Kind«, sagte sie gütig. »Denn ich schulde Ihnen viel Dank für Ihre treue, aufopfernde Pflege.«

»Gnädige Frau, ich – ich habe doch nur meine Pflicht getan«, stammelte das junge Mädchen.

»Es war oftmals mehr, liebe Schwester Angelika. Denn ich weiß ganz genau, daß ich nicht immer eine geduldige Patientin gewesen bin und Ihnen daher so manches Mal zu schaffen machte. Also seien Sie nicht zu bescheiden.«

Damit überreichte sie dem Mädchen ein Medaillon aus schwerem Gold und lächelte versteckt über den fassungslosen Blick der kleinen Schwester.

Leni Behrendt Classic 59 – Liebesroman

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