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1. Kapitel

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Mit zweiundsechzig kam Doktor Markus Schönherr zum ersten Mal im Leben der Verdacht, dass es vielleicht zu spät war, sich zu bessern. Da lag schon eine Karriere als Richter hinter ihm, außerdem zwei Ehen, die Beerdigung seines kleinen Bruders und ein Kampf ums Sorgerecht seiner Nichte Lisa. Von eigenen Kindern hatte Schönherr keine Kenntnis.

»Weißt du, das Wichtigste im Leben ist, dass du nie-nie-nie auf das Wohlwollen anderer Menschen angewiesen bist. Das ist das Allerwichtigste«, sagte Schönherr nach hinten in den Wagen und imitierte jenen feierlichen Schmerz, der letzte Worte und Allgemeinplätze in den Rang einer rätselhaften Wahrheit heben konnte.

Aber die kleine Person auf der Rückbank steckte in tiefer Konzentration. Sie arbeitete gerade an dem filigranen Werk, aus dem Popel zwischen ihren Fingerchen eine perfekte Kugel zu rollen, und machte keinen Mucks. Sie verpasste sogar den komischen Moment, als ihr Onkel im Rückspiegel Grimassen schnitt, um für das bevorstehende Gespräch nach einem Ausdruck zu forschen, den man einsichtig oder wenigstens nicht herablassend nennen konnte. Doch die Jahrzehnte des staatlich verordneten Rechthabens konnte er so natürlich nicht vertuschen, nicht mit ein paar mimischen Last-Minute-Übungen auf dem Weg in die Schlossberg Academy.

Sei es aus Mitleid oder Versehen, Karl-Uwe Hoffmann, der Leiter der Schlossberg Academy, war so freundlich gewesen, ihm einen Termin zu geben. Eine nutzlose Höflichkeit, nachdem man Schönherrs Nichte aufgrund von Score-Problemen die Eignung für die gute Schule abgesprochen hatte. Dass es für Lisa keinen Platz auf der Schlossberg gab, war keine Frage von Abwägung oder Sympathie, sondern wissenschaftliche Tatsache, wie es hieß. Trotzdem hatte Schönherr beschlossen, vor Hoffmann auf die Knie zu gehen.

Als sie mit geradezu unterwürfiger Pünktlichkeit auf den geleckten Campus der Privatschule einbogen, da dachte Schönherr zurück an seine eigene Schulzeit. Er überlegte, ob er jemals zum Direktor zitiert worden war, was ihm - je nach Schwere der Schuld - durchaus Respekt aus den Machtzentren des Schulhofs eingebracht hätte. Aber dem war nicht so. Keine einzige trübe Erinnerung, die im Licht und Schatten der Campusallee vor seinem geistigen Projektor antrat, deutete entfernt auf eine demütigende Erfahrung hin, wie sie ihm jetzt, zwei Generationen überfällig, bevorstand. Abgesehen von einer unnötigen Beziehungssimulation mit einer Querflötistin aus dem Pädagogikleistungskurs und der noch unnötigeren Eselei, ihr zuliebe die vakante Stelle des Paukisten im Schulorchester zu stopfen, hatte er die Schule reibungslos und unsichtbar hinter sich gebracht. Nie waren seine Leistungen oder Vergehen so bemerkenswert gewesen, dass sie zur Chefsache erklärt worden wären.

Selbst als es einmal fast so weit gewesen war, am Ende des Gymnasiums, als er in gehobener Erwartung mit Frauke und Sven, die abgesehen von einem sch am Anfang des Nachnamens nichts verband, das Büro des Schulleiters betrat, stand doch wieder nur der dritte Stellvertreter Soundso bereit, um ihm das Abiturzeugnis mit einem ausgeleierten Glückwunsch und den Worten zu überreichen, dass mit etwas Fleiß mehr drin gewesen wäre. Er hatte sich damals seine Initiation in was-auch-immer festlicher vorgestellt, glanzvoller und größer, weniger alltäglich jedenfalls. Er hatte gedacht, dass es die Aufgabe der Schule sei, seinen Namen in goldene Urkunden zu prägen, Jubelfeste zu veranstalten und - das wäre wohl das Mindeste gewesen - den Direktor zu zwingen, ihm zum Schluss die Hand zu schütteln.

Nichts war's. Einen übertriebenen Hang zum Ritual konnte man seiner ehemaligen Schule wirklich nicht vorwerfen. Aber als ihm Soundso wie nebenbei die Quittung über die letzten dreizehn Jahre seines Lebens zusteckte, da wollte der Lehrer mit seinem schlappen Tadel vielleicht nichts weiter als seine Enttäuschung zum Ausdruck bringen, dass Schönherrs Leistungen - irgendwo in der langweiligen Mitte der Jahrgangsstufe - für eine Prognose, was aus ihm mal werden würde, völlig unbrauchbar waren. Sogar der Berufsberater und sein Computer vom Arbeitsamt fühlten sich von der Konturlosigkeit ihres jungen Klienten so verunsichert, dass sie ihm nur alberne Vorschläge machen konnten: Ob er nicht über den Ausbildungsberuf des Metall- und Glockengießers nachdenken wolle? Oder Hafentaucher? Nein? Dann eben was mit Wirtschaft. Oder Medien. Egal.

Nachdem sich also kein Sachverständiger fürs Leben gefunden hatte, der ihm hätte sagen können, warum er auf der Welt war und zu welchem wertvollen Zweck, da war ihm in seiner Verwirrung nichts Besseres eingefallen, als mit geschlossenen Augen das erstbeste Studium auf dem Immatrikulationsformular anzukreuzen. Ganz ohne Visionen und ohne Next-Level-Coaching, ohne eine ungefähre Skizze in seinem Kopf von einer Karriere, die man später bewundern und als erfolgreich bezeichnen würde. Aber er fand Gefallen am Umgang mit dem Recht. Ja, er war gut und wurde Richter.

Ein halbes Jahrhundert später war der Zufall erledigt, und Schönherr auch.

*****

Die Schlossberg Academy lag im Villenviertel der Stadt, auf einem der sonnigen Hügel, und sie war zweifellos eine besondere Schule. Hier hießen der Schulleiter Präsident und die Lehrer Professoren, sogar die, die nur die Klassen eins bis vier unterrichteten. Ohne dass die Akademie ein Netz aus strengen Regeln über ihre Schüler werfen musste, wie sie sich zu kleiden und zu benehmen hätten, lag eine besondere Ordnung über der Schule. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob der Präsident überhaupt jemals gezwungen gewesen war, einen Verweis auszusprechen. Selbst kleine Sanktionen waren die große Ausnahme.

Persönlichkeit entfalten im Geist einer besonderen Gemeinschaft. So beschwipst klang die Präambel zum pädagogischen Leitbild, das sich die Schule bei ihrer Gründung gegeben hatte.

Und dass ein besonderer Geist seine Finger im Spiel hatte, das sah man bereits daran, dass alle Schüler mehr oder weniger gleich aussahen. Die gepflegten Outfits der Sechs- bis Achtzehnjährigen wären in den internationalen Beratungsfirmen problemlos als Business Casual durchgegangen: dunkle Markenjeans, kombiniert mit gefälligen Hemden oder Shirts - weder weit noch eng, weder lang noch kurz. Die älteren Jungs steckten oft schon im Sakko, im stimmigen Kostüm die Mädchen. Saisonal schattiert. Wie von einer unsichtbaren Macht befohlen dominierten Einheitsstoffe, -farben und -schnitte, denen ohne den Kennerblick eines Typberaters kaum jemand gestattet hätte, ihre - wie heißt es? - nonverbalen Botschaften zu transportieren. Auf den reinlichen Brusttaschen und Kragen aller Lehrer und Schüler strahlte das Schullogo: ein Schloss, ein Berg, eine schwarze Kappe mit Zierquaste, wappenartig arrangiert und eingefasst von einem goldenen Lorbeerkranz. Gut sichtbar unter allen Lichtverhältnissen und Kamerawinkeln. Überhaupt klebte das Schullogo wie ein Kuckuck auf sämtlichen Dingen, die man bewegen konnte: auf Tennisbällen und Rucksäcken, auf Tablets und Sticks. Denn eine makellose Außenwirkung war der Schlossberg enorm wichtig.

So verfügte die Schule auch über sorgfältig isolierte Klassenzimmer, die sogenannten Isozimmer. Diese fensterlosen und drohnensicheren Räume waren mit dicken Wänden und kleinen autarken Netzwerken ausgestattet. Nichts drang hinein, nichts ging nach draußen. Dort, in den muffigen Kammern konnten alle Kinder nach Herzenslust toben und Unsinn machen, ohne dass die Algorithmen der Auskunfteien und Behörden davon Wind bekamen. Nach außen, wo das kollektive Gedächtnis saß, gingen nur erlesene Wahrheiten, solche, die gründlich gefiltert und poliert den optimalen elektronischen Fingerabdruck der jungen Auskunftspersonen nicht gefährdeten.

Erfahrungslernen und Erlebnispädagogik in einer abhörsicheren Umgebung. Dieses Versprechen löste die Schlossberg als eine der ersten Schulen des Landes ein, und damit nahm die Akademie natürlich eine große Last von den Schultern der Eltern, indem sie den Kindern einen Ort gab, an dem sie ohne Sorgen um den Score, heiter und spielerisch das statistisch optimale Verhalten lernen und verinnerlichen konnten: richtig schreiben und richtig sprechen, sich richtig benehmen in der Öffentlichkeit und mäßigen in den sozialen Medien, richtig essen, richtig umgehen mit den elektronischen Zahlungsmitteln, richtig handeln bei seelischen und sozialen Leiden. Richtig leben.

Gerade wegen ihrer konsequenten Einbettung des Scores in ein ganzheitlich verfasstes Bildungs- und Erziehungskonzept (ein weiteres Bonmot aus dem pädagogischen Leitbild) genoss die Schlossberg einen fabelhaften Ruf. Stundenplan, Ernährung und Freizeit, etwa musisch-kreative und sportliche Aktivitäten, folgten stets der aktuellen Mode aus der Forschung. Und so überwiesen die Eltern jedes halbe Jahr irrwitzige Summen an die Akademie, damit ihre kleinen Genies nicht zwischen den Mauern eines winzigen verdreckten Schulhofs spielen mussten, sondern sich entfalten konnten auf einem richtigen Campus, dessen lässiger Umgang mit Luxus ihnen einen Vorgeschmack auf ihr zukünftiges Leben gab.

*****

Als Schönherr das Gelände der Schlossberg betrat, lag ein üppiger Park vor ihm, möbliert mit beschrifteten Themengärtchen und alten Eichen, deren Kronen reißverschlussartig ineinandergriffen. Das komplizierte Knäuel aus Wegen machte es ihm unmöglich, das Schulgebäude auf einer geraden Linie zu erreichen. Dem Richter a.D. folgte in halben, schnellen Schritten seine kleine Nichte, für die er seit dem Tod des Bruders sorgte.

Damals, als Lisa plötzlich ohne Vater und ohne erziehungstaugliche Mutter dastand, hatte Schönherr allen als idealer Vormund gegolten, soweit man von ideal nach dem, was ihr zugestoßen war, überhaupt noch reden konnte. »Was Lisa von nun an mehr als alles andere braucht«, so hatte die Familienrichterin ihre Entscheidung für Schönherr und gegen einen Amtsvormund von der Stange begründet, »ist Stabilität, Zuneigung und Bildung.« Bedenken gegen den ehemaligen Richter gab es jedenfalls nicht in der Familie und auch nicht bei den Behörden, zumal Lisa sowieso schon die meiste Zeit bei ihrem Onkel gelebt hatte. Lediglich eine gewisse Frau Schmidt-Nobel - früher Empörungsjournalistin, doch nach ihrer Haftstrafe wegen Steuerhinterziehung nur noch Bloggerin -, nur sie hatte schüchtern die Frage gestellt, ob das Gericht nicht besser daran getan hätte, »vor seiner Entscheidung eine Persönlichkeitsauskunft bei der Score Holding AG über den Herrn Doktor Schönherr einzuholen?« Aber das war damals bei den Gerichten noch unüblich gewesen. Der Score hatte ja mit Computern zu tun, weshalb gerade ältere Richter die Hilfe der Auskunfteien bei der Wahrheitsfindung ablehnten. Und so blieben die Risiken, die Lisas Wohl gefährdeten, lange verborgen.

Zur Orientierung trug Schönherr sein Telefon wie einen Kompass vor sich her, dahinter Lisa, so näherten sie sich dem Gebäude, das die CampusApp als Haupthaus auswies.

Der zentrale schlossähnliche Neubau oben auf dem Hügel war schon von weitem zu sehen und hätte gut und gerne auch in einem Freizeitpark stehen können. Oder auf einem großen Felsen, erbaut von einem schwulen König zum Beispiel. Das Schloss war mit zahllosen pittoresken Türmchen unterschiedlicher Höhe ausgestattet, wovon eines eine segmentartige Kuppel aufhatte, eine Art Glosche, wie man sie zum Abdecken von Riesenteleskopen und Atomkraftwerken benutzt. Zwei kneifzangenartig-geschwungene Auffahrten stoppten vor einem gewaltigen Holztor, das unter einem Spitzbogen und mit dekorativen Beschlägen versehen so groß und schwer war, dass man unten in die Ecke eine kleine Tür hatte aussägen müssen, um ins Haus zu kommen.

Dass Lisa ohne etwas zu sagen bei Schönherr blieb, lag sicher auch daran, dass weit und breit keine Menschenseele zu sehen war. Die Schule verschnaufte. Ob der kühle Park allerdings, die gewaltigen Gebäude mit den Mosaikfenstern, ob das ganze Tamtam außerhalb der großen Ferien weniger Ängste bei ihr hervorgerufen hätte? Ob tausend Kinder ausreichten, um den fingierten Ernst dieser bizarren Wehrattrappe aus leichten Verbundwerkstoffen einzureißen und den Protz niederzutoben? Das war schwer zu sagen. Denn auf der Überholspur blieb wenig Zeit, um sich danebenzubenehmen.

Oder welche andere Erklärung käme in Betracht, das manchmal sonderbare Verhalten der Schlossbergianer zu entschuldigen? Wenn beispielsweise die kleine Clara-Lisette kurz nach ihrer Einschulung auf die Frage eines Reporters, warum sie auf die Schlossberg Academy gehe, empört antwortet: »Na um zu lernen, das ist doch logisch!«; »Und was lernst du so?«; »Weiß nicht, das kann ich nur in Englisch und Chinesisch.« Oder wenn Jan-Torben aus der Oberstufe in der Sitzungspause des Schulparlaments vor die Kameras tritt, im Maßanzug, die Hände zur Kanzlerraute gefaltet und bedeutungsvoll erklärt: »Nach meiner Graduierung werde ich auf konkreten Handlungsfeldern intensiv arbeiten und Dialogprozesse anstoßen, denn - und das sage ich ganz unmissverständlich - die Gestaltungsspielräume auf den schiefen ... ähm verschiedenen Ebenen dürfen in unsicheren Zeiten wie den unseren nicht ungenutzt bleiben.« Kurz: Wenn das Gehabe dem Verstand vorauseilt.

Der kleinen Lisa jedenfalls schien die Schule nicht ganz geheuer zu sein. Nicht nach alledem, was sie über Luxusschlösser und deren zwielichtige Bewohner schon alles hören musste. Erst gestern vor dem Einschlafen hatte ihr Tante Lena von einer bösen Königin vorgelesen, die einmal in so einem Schloss gewohnt haben soll. Aber weil die Königin fand, dass ihr Land zu klein war und weil sie chronisch sauer war, ging sie auf den Balkon und schickte wüste Beschimpfungen und allerlei Unwetter auf die andere Seite der Berge, wo es vorher ganz friedlich gewesen war. Zum Schluss schaffte es die Wahnsinnige zum Glück nicht, das andere Land zu erobern, hilfsweise zu zerstören, aber angeblich nur wegen der Schönheit einer winzigen Blume, versteckt hoch oben in den Bergen - das einzige Ding im ganzen Universum, das nicht richtig zaubern konnte -, was in Lisas Ohren ziemlich unglaubwürdig klang. Aber nachdem ihre Tante die Schlussformel aufgesagt hatte (»Und wenn sie nicht gestorben sind ...«), meinte Lisa, dass die Sarah aus der Kita den Hals auch nie vollkriegen würde.

*****

Die Absage der Schlossberg hatte Schönherr vor wenigen Tagen im Pepofa (Abkürzung für Personalpostfach) erreicht, diesem elektronischen Briefkasten, der im Grunde nur eine E-mail-Adresse war, jedoch zugewiesen, eingerichtet und verwaltet von einer Behörde mit einem noch frischen, semantisch unverbrauchten Namen. Jede Mitteilung, jeder behördliche Bescheid, alle Dokumente und Briefe - das nur nebenbei -, die ein Korrespondent in wichtigen Angelegenheiten an das Pepofa schickte, galten zwei Tage nach Eingang als zugestellt, ohne dass Originale oder Unterschriften auf Papier nötig gewesen wären. Dort also hatte Schönherr mit der Vorfreude auf neue Rechnungen und Supermarktreklame das elektronische Einschreiben der Schlossberg entdeckt, und auch wenn er fest von einer Zusage ausgegangen war - wer konnte denn ernsthaft etwas gegen Lisa haben? - hatte er in dem Moment, als er ein mit drei kurzen Absätzen generiertes Dokument vorfand, gespürt, dass seine Erwartung in dieser Sache nur das Resultat einer enormen Selbsttäuschung gewesen sein konnte. Freilich hatte die Schlossberg in ihrem Schreiben viel Wert darauf gelegt, dass ihrer höchst schmerzhaften Entscheidung sorgfältige Überlegungen vorausgegangen waren. Schönherr konnte förmlich nachempfinden, wie die Verantwortlichen in nächtlichen Meetings quälend lange über das Für und Wider debattiert hatten, nur um schließlich unter Tränen der Wahrheit ins Auge zu sehen, dass Lisa und die Schule auf eine seltene, unbestimmte Weise nicht zusammenpassten. So zumindest der beleidigende Ton, dessen sich der Textbaustein bediente:

... möchten wir die inkurable Betroffenheit über unser untröstliches Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass die Schlossberg Academy leider nicht den Fähigkeiten Ihrer Tochter gerecht wird. Bitte fassen Sie unsere Entscheidung nicht als eine Wertung Ihrer Person und/oder Ihrer Tochter auf ...

»Die haben sich nicht mal die Mühe gemacht, Tochter in Nichte zu ändern«, hatte Schönherr sich hinterher bei seiner Schwester beschwert, und mit der Kraft aus einer Flasche Barolo war es ihm endlich gelungen, aus allen Wolken zu fallen und mit der festen Stimme des ehemaligen Richters zu erklären, dass er diese Frechheit von dieser dämlichen Schule keinesfalls akzeptieren werde. Auch wenn er in Lenas Wohnzimmer diesbezüglich auf keinerlei Widerspruch gestoßen war, haute er trotzdem mit der Faust auf den Tisch, um seiner Entscheidung auch gestisch die nötige Entschlossenheit zu geben, und sagte: »Lisa geht auf diese Schule. Ende der Diskussion.«

Das Problem war nur, dass ihm am nächsten Morgen, als er wegen der lächerlichen Absage in der Schlossberg anrief, nichts weiter einfiel, als solange um ein Gespräch mit dem Schulleiter zu betteln, bis ihn die reizende Stimme am anderen Ende der Leitung bat, einen Moment zu warten. Kurz darauf meldete sich Präsident Hoffmann höchstpersönlich: Die Bitte sei eher ungewöhnlich, sagte er, aber er wolle in seinem speziellen Fall eine Ausnahme machen, weil es eine Ehre für ihn und das ganze Team der Schlossberg Academy sei, wenn ein so berühmter Richter um eine Stelle für seine Tochter nachsuche. Gerade seien Ferien und er habe deshalb ein paar Minuten übrig. Obwohl Schönherr wusste, dass Hoffmann ihm kaum mehr als vielfältige Floskeln des Bedauerns anbieten würde, bedankte er sich mehrmals vielmals, bevor er auflegte.

*****

Das Zentrum des Haupthauses war ein beeindruckender Raum aus hängendem Beton und Glas, der die Stockwerke wie eine Arena durchbrach. Eine tolle Aula, die es dem Präsidenten erlaubte, mit großer Geste von einer der Galerien zu seinen Schäfchen zu sprechen, und die außerdem hoch genug war, dass alle Abiturienten am Ende des Schuljahres ihre schwarzen Kappen fröhlich in die Luft werfen konnten, wenn es draußen regnete. In der Mitte hing ein Videowürfel, im Schweben gehalten von vier mächtigen Ketten, darunter bunte leergefegte Sitzgruppen und rundherum ansteigende Stuhlreihen, die wie zu groß geratene Fußleisten an den Wänden lehnten. Außer einer fahrenden Untertasse, die mit der Systematik einer Flipperkugel den Boden wischte, war nichts in Bewegung.

Das galt auch für den sichtbaren Teil eines Jungen, höchstens vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, der uniformiert und in Servicestellung erstarrt hinter einer halbhohen Wand aus Glasbausteinen mit der Langeweile zu ringen schien. Die funktionalen Facetten des Gebäudes hatte man virtuos in das Design einfließen lassen, wodurch Schönherr wie ein blinder Trottel herumlief, als er sich nach Hinweisen auf das Büro des Schulleiters umsah. Derweil sprang Lisa vor den Wischroboter, und wenn der nach kurzer Denkpause umkehrte, überholte sie das Gerät und versperrte erneut den Weg. So ging es hin und her, bis der Junge nach einer Weile höflich fragte, was er für sie tun könne.

»Guten Morgen, lieber Herr -«, dann schon hing er das erste Mal, schob seine Brille vor und zurück, eine Geste, die unbemerkt dem Wischen und Zoomen auf harten Oberflächen beigetreten war, obwohl ja jeder wusste, dass sie genauso nutzlos ist wie das Reiben einer Münze am Automaten. »Guten Morgen, sehr geehrter Herr ... und Lisa. Mein Name ist Edward, es wäre mir eine g-g-große Freude, Ihnen im Namen der Schlossberg Academy behilflich zu seien dürfen.«

Sofort färbten sich die Pausbäckchen des Jungen ganz rot, wahrscheinlich weil es gelogen war und er befürchtete, man könne ihm ansehen, dass ihn das stundenlange Rumgestehe in den Ferien keineswegs freute.

Schönherr fragte nach dem Büro des Schulleiters.

»In welch für einem Anliegen darf ich Sie ... im Namen des Pö-Pö-Präsidenten Hoffmann ... der Schlossberg Academy ... begrüßen zu dürfen?« stotterte Edward.

Sein Ton war freundlich, doch benutzte er müde Erwachsenenworte und setzte sie außerdem in eine so unbeholfene Reihenfolge, dass seine Freundlichkeit nur das Resultat eines harten, aber längst nicht abgeschlossenen Trainings sein konnte. Als würde man einem schwer dressierbaren Tier ein Kunststück beibringen, dachte Schönherr. Edwards Pupillen turnten hinter den bläulich schimmernden Brillengläsern merkwürdig hin und her, und doch schienen sie seine Augen nie zu treffen. Auch mit dem Mund des Jungen stimmte etwas nicht. Er verzog ihn mechanisch, so wie eine Eiskunstläuferin, der man gesagt hat, sie solle freundlich gucken, am besten lachen, bevor sie zum dreifachen Axel abhebt, obwohl sie ja auf etwas ganz anderes achten muss, ihre Gesundheit nämlich.

Es waren diese Blessuren in Edwards Verhalten, die Schönherr fast dazu gebracht hätten, den Jungen in den Arm zu nehmen und zu fragen, ob alles in Ordnung wäre. Aber natürlich wusste er, was hier vor sich ging, man sah es ja inzwischen überall: in den Restaurants und Hotels, Flughäfen und Arztpraxen. Also schaute Schönherr recht freundlich in die winzige Kamera am Bügel der High-Tech-Brille des Jungen - vielleicht erkannte der Server am Polarkreis ihn so schneller -, wartete geduldig, bis Edward die Informationen vom Head-Up-Display abgelesen hatte und tat überrascht, als die ersten Züge von Erleichterung in die junge Dienstleistungsmaske fuhren.

»Herr Doktor Schööönherr«, rief Edward endlich. »Die Schlossberg Academy freut sich herzlich, Sie, Herr Doktor Schönherr, und Ihre Toch ... ähm, Nichte Lisa im Namen der Schlossberg Academy herzlich zu begrüßen dürfen ... zu begrüßen, ähm, zu bedürfen.«

Es war natürlich einiges an Übung nötig, interessiert zu wirken, während man die Daten von der Brille ablas oder der Computerstimme im Ohr lauschte.

»Na, dann grüß mir mal die Schlossberg Academy herzlich zurück«, sagte Schönherr.

Wieder ein Ruckeln im Verhalten des Jungen, dann fragte er seine Gäste, ob sie gut hergefunden hätten.

»Wir wohnen ganz in der Nähe. Dritte Zeile links, gleich unter meinem Alter.«

»Jaja«, rief Edward begeistert und tippte mit dem Finger an die Brille, wodurch es aussah, als zeigte er sich selbst einen Vogel. Dann fragte er: »Haben Sie eine angenehme Anreise gehabt?«

Schönherr stöhnte.

Dass es in Mode gekommen war, das Prekariat auf den kaum bezahlten Schleudersitzen nur noch entlang vorformulierter, nach Gesichtspunkten moderner Kommunikationsforschung optimierter Baumstrukturen reden zu lassen, hatte Schönherr zum ersten Mal in einem texanischen Supermarkt erlebt. Dort war er mit seinem Namen und »hoher Richter« angesprochen worden, obwohl die Frau hinter der Kasse ihn nie zuvor gesehen haben konnte. Das fand er damals so verblüffend, dass er fast nicht mitbekommen hatte, wie sie durch die verfaulten Zähne genuschelt seine glänzende Produktauswahl lobte, ihm einen ausgezeichneten Geschmack in Lebensmittelsachen attestierte und anschließend die Frage leierte, wie sie seinen Tag noch schöner machen könne?

»Hä?«

Ob er das Shopping-Erlebnis bei Jacke-wie-Hose-Mart geliebt habe?

Schönherr hatte daraufhin eine hochanständige Antwort gegeben, aus Versehen natürlich, wie es einem manchmal passiert, wenn man nicht ganz bei der Sache ist, er hatte so etwas gesagt wie: dass es an sich schon ein toller Supermarkt und überhaupt alles total super sei, aber dass er beim Besorgen von Bier und Chips oft nicht zuallererst an Liebe denke.

Das war natürlich ein großer Fehler gewesen.

Alarmiert durch das achtlos hingeworfene Wörtchen aber traten der armen Kassiererin plötzlich Tränen in die Augen, sie bat tausendmal um Entschuldigung, während sie ängstlich nach ihrem Vorgesetzten Ausschau hielt. Derweil kam von der Nachbarkasse einer von den Neuen herbeigehumpelt, ein gutgelaunter Praktikant, so um die achtzig.

»I’m sorry for the inconvenience that you have faced«, sagte der, und obwohl er dabei streng den Firmensprech zitierte, der sich mit der Erstberuhigung wutschäumender Kunden befasste, winkte Schönherr ab. Er hatte nur noch schnell raus aus dem Laden gewollt, da er nun tatsächlich die ersten Anzeichen von Kummer spürte. Er schämte sich auch, dass er inmitten all der fröhlichen Fremden als einziger so schwer zu begeistern gewesen war.

Leider hatte jemand in der Konzernzentrale die Idee gehabt, dass es in Fällen wie diesem das Beste wäre, wenn man sich über die Intelligenz des Miesepeters lustig machte. Denn die beiden Freelancer, die sich so rührend um ihren schwierigen Kunden kümmerten, setzten sich plötzlich lustige Jacke-wie-Hose-Hüte auf, die sie unauffällig aus einem Fach unter der Kasse hervorgeholt hatten. Es begann zu dunkeln, jemand stülpte einen Lichtkegel über den armen Glückspilz, Musik lief vom Band, und dann begannen die zwei im Duett zu singen: »Wir bei Jacke-wie-Hose - (und alle) H.O.S.E - empfinden es als unseren göttlichen Auftrag - A.U.F.T.R.A.G - Sie, lieber Herr Schönherr - S.C.H.Ö.N.H.E.R.R -, täglich neu zu begeistern, Ihnen mit Frische - F.R.I.S.C.H.E - und Qualität - T.Ä.T - kleine Glücksmomente für Ihr Wohlgefühl zu schenken.«

Die Leute kannten das Schauspiel schon, offensichtlich liebten sie es auch, sie strömten von den Nachbar- und Automatikkassen herbei, freuten sich und klatschten fröhlich in die Hände.

Dem sonderbaren Richter aus Deutschland aber blieb nichts anderes übrig, als beschämt den Führerschein zum doppelten Nachweis seiner Volljährigkeit durch ein Lesegerät zu ziehen und zuzuschauen, wie man sein frisches Qualitätsbier in einen nach dem Zwiebelprinzip aufgebauten Sichtschutz aus Plastik steckte. Dann sagte die Kassiererin noch, dass es ihr unter diesen Umständen die allergrößte Freude wäre, wenn sie persönlich für seinen Einkauf aufkommen dürfte. Ob sie mit einem Hundert-Dollar-Gutschein wenigstens einen Teil ihrer Schuld wieder gutmachen könnte?

*****

Keine Frage, auch wenn der junge Edward auf einem guten Weg war, am Ende der Sommerferien genauso viel Leidenschaft für seinen Posten hinter den Glasbausteinen empfinden zu können wie die Kassiererin aus dem texanischen Supermarkt, so sehnte sich Schönherr manchmal ein bisschen nach der Zeit, als die Launen der anderen noch ungefähr mit seinen eigenen übereingestimmt hatten.

Während Edward nun Punkt für Punkt seiner Neubesucher-Begrüßungscheckliste durchging, alles in allem fehlerfrei, suchte Schönherr nach Lisa. Sie war dem Wischroboter unter einen Tisch gefolgt. Gleichzeitig gab er Edward Antworten, von denen er hoffte, dass sie dem Jungen anschließend beim Performance Assessment keine Schwierigkeiten machten.

Als Edward schließlich sagte, »bitte mir zu folgen«, nahm Schönherr Lisa an die Hand, und dann folgten sie dem Jungen durch einen hellen modernen Flur.

We develop leaders, las Schönherr auf den elektronischen Wandzeitungen, außerdem, Begabung entfalten, Gemeinschaft gestalten und weitere Sinnsprüche aus der Glückskekskiste.

Er konnte dieses dümmliche Getue noch nie leiden, aber nachdem Lisa in sein Leben getreten war und von ihm verlangen durfte, dass er sich in Zukunft um mehr als nur seine eigenen Angelegenheiten kümmerte, hatte er in seiner Funktion als Pflegevater einsehen müssen, dass es inzwischen sogar in den Kitas und Grundschulen unmöglich war, sein Wissen zu bereichern und das Denken zu üben, ohne sich zu einer Marke, einer Farbauswahl, einem lustigen Maskottchen und einer Parole zu bekennen. Unter den Schulen in der Nähe war keine einzige, die ohne sphärisches Wortgebimmel oder ein Sprüchlein auskam, das sie Philosophie nannte. Sogar in den staatlichen Bildungsruinen wurde neuerdings nach Exzellenz gestrebt und am laufenden Band Persönlichkeit entfaltet, obwohl die in Selbstverteidigung geübten Lehrer abseits des Strebens und Entfaltens alle Hände voll zu tun hatten, das Drogenbesteck zu konfiszieren und Kopfverletzungen zu behandeln.

*****

»Ach, Doktor Schönherr, warten Sie schon lange? Kommen Sie doch bitte herein. Darf ich Ihnen ... Oh, und du musst Lisa sein!«

Michelle Schäfer war die attraktive und besonders von den Jungs der Oberstufe gern besuchte Assistentin des Schulleiters. Wenn sie einen mochte, dann konnte es passieren, dass sie ihn einen Moment in der Tür warten ließ, sich tief über den Schreibtisch lehnte, für einen letzten intensiven Blick in die E-Mail, und die Messerspitzen ihrer feuerroten Acrylnägel rhythmisch gegen das Brillengestell tippte. Dann klickte sie mit dem langestreckten Zeigefinger der anderen Hand auf Senden, und dabei sah sie immer ein bisschen wie die dekorative Vertretung für jemanden aus. Meistens trug sie wunderbar hohe Schuhe und einen knielangen engen Rock, wodurch ihre Bewegungen wie von einem inneren Metronom betont waren. Eine weiße Bluse und schwarze Haare, beides stets streng nach hinten gebunden, unterstützten noch den delikat verdorbenen Eindruck, der, ohne dass sie etwas Konkretes versprechen musste, eine spezielle Form von Vorfreude auslösen konnte.

Sie erkundigte sich, ob sie Schönherr eine Tasse Kaffee bringen dürfe. »Oder vielleicht etwas anderes?«

»Ja, danke, Kaffee hätte ich gern, das wäre sehr nett, vielen lieben Dank«, sagte er unbeabsichtigt devot.

»Mein Gott, wie hübsch du bist, zum Anbeißen!« Frau Schäfer schien ganz hingerissen von Lisa, während sie sich mit durchgestreckten Knien zu ihr hinunterbeugte, wie um einen winzigen Hund aus der Nähe zu betrachten.

Etwa gleichzeitig öffnete sich eine Tür auf der anderen Seite des Flurs. Ein Mädchen, vielleicht eine Schülerin aus der Mittelstufe, kam herüber und wartete höflich, bis Frau Schäfer ihr Entzücken über Lisa angemessen zum Ausdruck gebracht hatte und vorschlug, dass Selina die liebe Nichte für die Zeit der Besprechung ein bisschen herumführen könnte.

»Herr Hoffmann hat heute leider nicht so viel Zeit. Jemand vom Ministerium hat kurzfristig ... Naja, Sie wissen ja, wie das ist. Tut mir schrecklich leid«, sagte sie, und für eine Sekunde sprang die Mimik der exquisiten Vorzimmerlady in einen Ausdruck des Bedauerns, der nicht völlig ausschloss, dass tatsächlich eine flüchtige Form von Mitgefühl durch ihr Innerstes geweht war.

»Ich bin gleich wieder da, mein Schatz«, rief Schönherr seiner Lisa hinterher, die mit Selina losgestürmt war.

Frau Schäfer schloss die Tür und bat ihren Gast, auf einem Besuchersessel am Fenster Platz zu nehmen. Als sie nach einem wohldosierten Moment sichergehen konnte, dass ihr auch die nötige Beachtung geschenkt wurde, stöckelte sie zur Küchenzeile gegenüber. Im nächsten Moment zischte und fauchte eine Kaffeemaschine, die, tiefrotlackiert und verchromt, Schönherr daran erinnerte, den E-Type vor dem Regen in die Garage zu fahren. Als Frau Schäfer den Kaffee brachte, sich dabei tief nach unten beugte, hatte er das Glück, dass das Sommerlicht vom Fenster seinen Blick tief in ihr Dekolleté lenkte, zwischen wunderbar harmonischen Brüsten hindurch bis hinab zum Bauchnabel. Er deutete ein Kopfnicken an, und zum Beweis, dass sein stummer Dank allein dem Kaffee galt, schloss er für einen Moment die Augen.

Dass Schönherr es nicht fertigbrachte, für einen angenehmen Zeitvertreib mit Frau Schäfer mehr zu tun, als würdevoll zu schweigen, war ihm ein bisschen unangenehm. Immerhin kümmerte sie sich ganz fürsorglich um ihn. Außerdem gehörte sie zweifellos zu jenen Frauen, die es gewohnt waren, dass die Männer jeden Alters in ihrer Gegenwart munter und interessiert wirkten. Schönherr tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie wahrscheinlich über seine Akte Bescheid wusste, und für den Fall, dass sie über eine feurige Fantasie verfügte, die es ihr erlaubte, ihn sich außerhalb der Schule geistreich und angenehm vorzustellen, würde sie das Gegenteil sowieso nie erfahren.

Wie also bekommt er Lisa auf diese Schule?

Bei allem, was man gegen die Schlossberg Academy vorbringen konnte - elitär, teuer, hip -, er traute der Schule zu, dass sie seine Nichte mit jener zertifikatgetriebenen Bildung und Score-Kompetenz aufladen würde, die jedem Recruiting Manager die Tränen in die Augen treibt.

Es war natürlich möglich, dass die Schule erst durch ihre Absage solche Gedanken in ihm ausgelöst hatte. Doch als er mit dem erstklassigen Kaffee in der Nase tief in Gedanken Frau Schäfer dabei zusah, wie sie ihre langen roten Fingernägel gegen das Brillengestell tickerte und tackte, während sie mit der anderen Hand den Telefonhörer ans Ohr legte, um im Nachbarzimmer anzurufen und zu sagen, dass der Herr Doktor Schönherr jetzt da sei, da war er sich plötzlich sicher, dass es keine bessere Schule für Lisa geben konnte.

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LS Consulting Group - Infomaterial an unsere Mandanten. Glossar. Stichwort: 'Score'

Als Score wird die personenbezogene Auskunft bezeichnet, die über die Score Holding AG bezogen werden kann. Das Unternehmen ist aus einem Zusammenschluss verschiedener Ratingagenturen und Auskunfteien, darunter der SCHUFA Holding AG, hervorgegangen. Der moderne Score über Privatpersonen ist eine Weiterentwicklung der SCHUFA-Auskunft, insofern neben den herkömmlichen Angaben zur Bonität weitere Informationen über die Auskunftsperson abgefragt werden können, so etwa Krankheitsrisiken, Lebenserwartung, psychologische und soziale Kenngrößen, Lenkbarkeit, Stabilität, Grundvertrauen in die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen, Intelligenz, kriminelle und andere Risikofaktoren. Die Score Holding AG versteht sich als Dienstleister für verantwortungsbewusste Unternehmen, Schulen und Universitäten, Behörden und Institutionen aller Art, die ihre Entscheidungsprozesse auf statistische Prognosetools und moderne Big-Data-Algorithmen stützen, um ein Höchstmaß an Vertrauen zu schaffen. Die Score Holding AG stellt auf dem Markt die gegenwärtig umfangreichsten Informationsdienstleistungen zur Verfügung und nimmt insofern eine gehobene Stellung unter den Auskunfteien ein.

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»Unsere Einrichtung ist leider gezwungen, alle Begleitumstände jeder einzelnen Bewerberin und jedes einzelnen Bewerbers genauestens unter die Lupe zu nehmen«, sagte Hoffmann. Dabei sprach er wie ein TV-Botschafter des Herrn, der glaubt, die Klarheit seines Vortrages müsse durch eine enorme Theatralik im Gesicht und an den Gliedmaßen verbessert werden.

Mit lebhaften Händen fuhr Hoffmann fort: »Mir sind da leider die Hände gebunden. Ich darf Ihnen aber versichern, dass unsere Akademie seit ihrer Gründung stets bemüht war, bemüht ist und auch weiterhin darum bemüht sein wird, die notwendigen und - ja, das kann und darf nicht verschwiegen werden - manchmal schmerzhaften Entscheidungen mit Augenmaß zu treffen. Seien Sie versichert, Doktor Schönherr, wir nehmen unsere Verantwortung nicht auf die leichte Schulter. Wir bemühen uns um ein faires und transparentes Auswahlverfahren. Aber bei allem Verständnis für Ihre Lage und bei aller Sympathie für Ihre Tochter, Sie müssen auch unsere Sichtperspektive sehen, Sie müssen berücksichtigen, dass wir bei jährlich vielen tausend Bewerbungen allein für unsere Unterstufe, die uns jedes Jahr erreichen, dass wir unter diesen Umständen gezwungen sind, eine Auswahl entlang verantwortungsbewusster Bahnen zu treffen. Eine Auswahl, die wir uns nicht leicht machen, die leider aber in ihrer Notwendigkeit unumgänglich ...«

Hoffmann war in erster Ehe verheiratet und Vater von zwei Töchtern, wie man auf der Schulwebsite lesen konnte. Aber die Sprache des Schulleiters war eher von regierungssprecherischer Beliebigkeit. Sein Auftreten bewarb jene spröde Korrektheit, die Männer häufig aller Chancen auf unbezahlten Sex beraubt. Wenige dünne graue Kopfhaare waren ihm treu geblieben, sie hockten auf einer Sichel zusammen, großzügig umgeben von fettfleckiger Haut, darunter ein schmatzendes Gesicht, lose verspannte Lappen zwischen Kinn und Hals, und seine Bewegungen waren die eines Zweitakters, der bei holprigem Leerlauf immer auf der Grenze zum Absaufen balancierte. Wenn er den Kopf drehte, musste er den ganzen Oberkörper mitbewegen. Wenn er sich setzte, ging es nicht ohne leises Stöhnen ab. Hoffmann war ein Mann, der eine Hand auf den Rücken legte, wenn er die andere zur Begrüßung nach vorn streckte, und in Lobliedlänge klagte, wie kostbar seine Zeit sei.

Noch zwischen Tür und Angel hatte er die Schule in einen Leuchtturm verwandelt, der hell in den Himmel strahlte. Er hatte anschließend einen Bogen bis weit hinaus aufs Meer geschlagen, indem er Wissen als Garn für gesellschaftliche Teilhabe, Bildung als Kompass für die Zukunft, die Schlossberg als wichtigen Lotsen durch unruhige Gewässer, Schlüssel, Perspektiven, Wind und Segel, sowie immer wieder Verantwortung von diverser Seite auf eine unentwirrbare Weise miteinander verknotete.

»Die Begleitumstände, sagen Sie«, fuhr Schönherr mit unbeabsichtigter Schärfe in eine dieser altmaierischen Wortschlangen. »Soso, was meinen Sie? Sagen Sie mir endlich, was Sie damit meinen.«

Schönherr war nicht mit der Absicht gekommen, Hoffmann zu provozieren, aber das blöde Geschwätz, das nun schon die ganze Zeit anhielt und völlig ohne Impuls von außen auskam, hatte in ihm alte berufliche Gewohnheiten freigelegt. Es bestand nun die Gefahr, dass sie wie bissige Belehrungen einschlugen, wenn Hoffmann noch länger von irgendwelchen Begleitumständen und verantwortungsbewussten Bahnen sprach.

»Ich weiß Ihr Engagement zu schätzen«, schob Schönherr versöhnlich hinterher. »Ich bin davon überzeugt, dass Sie und Ihre -«, mühsam würgte er das Wort »Mannschaft« hervor, »hervorragende Arbeit leisten. Der Campus und die Referenzen der Schule, das alles ist sehr beeindruckend. Umso mehr interessiert mich, wie Sie bei der Auswahl vorgehen, welche Kriterien Sie anlegen und ob es eine Möglichkeit gibt, Lisa vielleicht doch noch für das kommende Schuljahr ... Es spricht ja für die Schlossberg, dass die Bewerbungen die freien Plätze übersteigen. Vielleicht können Sie mir helfen, besser zu verstehen, worauf es Ihnen ankommt?«

Schönherr und Hoffmann besetzten vor einem der bodentiefen Fenster mit Blick in den Schlosspark zwei Sessel von dreien, mit einem kleinen ovalen Knabbertisch im Zentrum. Das Arrangement verkümmerte im Schatten eines wuchtigen Schreibtischs aus dunklen Hölzern, eingefasst von raumhohen Bücherregalen, die es erforderlich machten, dass man eine Leiter auf Rollen heranzog, um an die zuneigungsbedürftigen Brockhaus-Bände ganz oben heranzukommen. Es schien dem Schulleiter wichtig zu sein, alles was Schönherr sagte, in einer munteren aufrechten Sitzhaltung zu ertragen, obwohl ein erschöpftes Einsinken sicher besser zu ihm gepasst hätte. Als Schönherr den Blick auf Hoffmanns feuchte Lippen nicht länger aushalten konnte, wie sie unermüdlich schlappe Wort- und Speichelfäden zogen, schaute er sich im Zimmer um. Da fiel sein Blick auf einen Flatscreen, der im Unterschied zu den riesigen Wandtafeln überall im Haus auf einem polierten Metallfuß stand und retroartig gecurved war, wie um an eine Zeit zu erinnern, als man die Dinger noch als Fernseher benutzt hatte.

»Worauf kommt es uns an? Worauf achten wir? Was ist unsere Mission?«

Hoffmann schien die Antwort auf dem Bildschirm zu suchen, während er zwei, drei Anläufe brauchte, bevor ihn die Wahl seiner Worte zufriedenstellte.

»Wenn Sie erlauben, Doktor Schönherr, ich würde gern, lassen Sie mich beginnen mit ... wenn ich vielleicht zuerst auf unsere challenging Claims zu sprechen kommen darf, was den individuellen Rahmen und auch den gesellschaftlichen Sektor anbetrifft. Building Character ist das Stichwort - Sie haben sicher davon gehört -, es umreißt den herausgehobenen pädagogischen Anspruch hier bei uns auf Schlossberg. Damit will ich sagen, unser Leitbild setzt sich im Wesentlichen aus den Zielvorstellungen zusammen, die sich aus den Round Square-IDEALS ergeben ...«

»Den was?«

»Round Square-IDEALS? International understanding, Democratic governance and justice, Environmental stewardship, Adventure, Leadership, Service to others.«

Schönherr verdrehte die Augen.

»Wir bemühen uns, wertebewusste und anspruchsvolle Rahmenbedingungen für die umfassende Persönlichkeitsentwicklung aller Schlossbergianerinnen und Schlossbergianer zu setzen. Nun, was machen wir besser als andere Schulen?«

Hoffmann räusperte sich, doch dann endlich schien er den Einstieg in eine oft gehaltene Rede gefunden zu haben.

»Ich spreche nicht allein von einer exzellenten Ausbildung in den klassischen Formaten. Alle unabhängigen Studien bescheinigen unseren Studierenden weit überdurchschnittliche Kenntnisse auf sämtlichen Gebieten, in den Sprachen und Naturwissenschaften, den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften, auch im Hinblick auf die nicht minder wichtigen weichen Skills. Darüber hinaus steht bei uns die Vermittlung der Score-Kompetenz ganz oben auf der Agenda. Wir vermitteln fundierte Kenntnisse über die Arbeitsweise der Big-Data-Algorithmen, um unsere Schülerinnen und Schüler frühzeitig in die Lage zu versetzen, alle Informationssysteme routiniert und verantwortlich zu nutzen. Die Platzierung der Schlossberg in den einschlägigen Rankings, ist sie Ihnen bekannt?«

Schönherr nickte müde.

»Und das ist auch ein wichtiger Claim, den wir an uns selbst stellen. Denn eine umfassende Wissensvermittlung ist das A und O, die solide Grundlagenbasisvoraussetzung, damit unsere Schülerinnen und Schüler, damit jeder Einzelne und jede Einzelne die Chance erhält, den Weg und die Karriere einzuschlagen und das Ziel zu erreichen, den oder die oder das er oder sie oder es anstrebt. Mir ist kein einziger Absolvent unserer ... und keine Absolventin, pardon, unserer Einrichtung bekannt, die oder der nicht Außergewöhnliches auf seinem oder auf ihrem Gebiet leistet oder geleistet hat. Hinzu kommt, dass das Bildungs- und Erziehungskonzept der Schlossberg ganzheitlich gefasst ist. Dementsprechend werden nicht nur die kognitiven und intellektuellen Skills gefördert, sondern unsere Professorinnen und Professoren sorgen beständig auch für soziale, künstlerisch-kreative und sportliche Herausforderungen. Aber ich will noch auf einen dritten Punkt hinaus - ich habe Ihre Frage nicht vergessen, Doktor Schönherr -, einen dritten Punkt, der mir sehr wichtig ist. Die Gemeinschaft hier bei uns leistet nämlich auch auf einem anderen Gebiet Herausragendes. Ich rede von einem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Führungsanspruch. Spiegel dieser Zielvorstellungen ist unsere Leitlinie, dass alle Schlossbergianerinnen und Schlossbergianer schon früh angehalten werden, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung für sich selbst, Verantwortung für die engagierte Entwicklung der eigenen Kompetenzen und Interessen, aber auch Verantwortung für die Belange der Schulgemeinschaft und Verantwortung für die Aufgaben und Herausforderungen der Zukunft.«

»Aha, der Zukunft sogar«, murmelte Schönherr, der keine Ahnung hatte, wovon Hoffmann redete. »Das ist beachtlich, aber könnten wir zurückkommen auf ...«

»Vielleicht - oh, verzeihen Sie, nur diesen einen Gedanken noch - vielleicht ist Ihnen bekannt, dass wir praktisch keine Durchfaller haben? Wer zu uns kommt, macht ein Spitzenabitur. Die besten Universitäten im In- und Ausland bemühen sich um unsere Absolventinnen und Absolventen. Und hier komme ich zurück auf Ihre Frage. Worauf legen wir bei unseren Bewerberinnen und Bewerbern besonderen Wert? Ich will es Ihnen sagen -«

Der Schulleiter zog eine Spannungspause auf, die Schönherr beinahe ruiniert hätte, indem er die Augen verdrehte und leise stöhnte: »Bitte nicht.« Eine blöde, schwer zu kontrollierende Angewohnheit, seit er einmal als Jugendlicher von einem Zirkusclown (Humortyp: ADHS) aus den Zuschauerrängen geholt und gebeten worden war, auf einem Bein zu hüpfen und lustig in die Hände zu klatschen.

»Mit unserem exzeptionellen Anspruch an eine umfassende Persönlichkeitsentwicklung, die individuelle Leistung eng mit sozialer Verantwortung verzahnt, sind wir mehr als andere Bildungseinrichtungen darauf angewiesen, dass die ... tja, die Mischung stimmt, wenn ich das einmal so salopp sagen darf.«

»Es tut mir leid, aber worauf wollen Sie eigentlich hinaus?« sagte Schönherr, auch wenn er das Gefühl hatte, dass ihm Hoffmann durch die Blume mitzuteilen versuchte, dass Lisa wohl nicht in die okkulte Mischung der Schlossberg passte.

»Ich will offen mit Ihnen reden. Ein Großteil unserer Schülerinnen und Schüler kommt aus der gehobenen Mittelschicht.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Charakter-Building in dem umfassenden Anforderungsspektrum, wie wir es anstreben, braucht eine kräftige Basis -«

Der Schulleiter erhob sich von seinem Platz und ging zum Schreibtisch, wo eine Karaffe Wasser und ein leeres Glas standen. Während Hoffmann sich eingoss, redete er weiter: »Wir verlangen viel und müssen von Anfang an sichergehen, dass wir die richtige Umgebung für unsere Bewerberinnen und Bewerber sind. Viel genauer als andere Schulen haben wir darum ein Auge auf die weichen, die sozialen, die psychischen Kompetenzen. Zum Beispiel ist es für alle Schülerinnen und Schüler der Oberstufe obligatorisch, dass sie wenigstens zwei Jahre auf dem Campus wohnen und arbeiten. Zusammenleben auf begrenztem Raum, so lernen sie Höflichkeit, Rücksichtnahme, Toleranz und gegenseitigen Respekt. Sie lernen früh, Verantwortung zu übernehmen, um zu führen. Aber nicht jede Anwärterin und nicht jeder Anwärter ist geeignet, diesen steinigen und anspruchsvollen Weg zu gehen. Wahre Verantwortungselite, wahre Verantwortungskompetenz setzt eine charakterliche Eignung voraus, die belastbar sein muss, eine gewisse Robustheit und Stabilität im Bereich der Persönlichkeitsstruktur.«

»Sie meinen, Lisa wäre auf der Schlossberg überfordert?« fragte Schönherr skeptisch.

»Nicht, was die rein kognitiven und intellektuellen Kompetenzen anbetrifft. Die B-Reihe ihres Scores ist tadellos. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass wir ein besonderes Augenmerk auf die Frage legen, ob wir überhaupt das richtige Umfeld für die Bewerberin oder den Bewerber bieten können.«

Es fiel Schönherr schwer, den vagen Andeutungen des Schulleiters nachvollziehbare Gründe für die merkwürdigen Bedenken der Schule zu entnehmen. Woher will Hoffmann wissen, was das richtige Umfeld für Lisa ist?

»Die Angaben auf der Schulwebsite über das Auswahlverfahren sind sehr allgemein gehalten. Sie scheinen sich diesbezüglich einzig und allein auf die Score Holding zu verlassen?«

»Ja, das stimmt«, sagte Hoffmann, und als er bemerkte, wie sein Gast bedrohlich tief einatmete, wie um genug Sauerstoff für eine Explosion anzureichern, beeilte er sich festzustellen, dass nur auf diese Weise eine gerechte Auswahl aus der Vielzahl der Bewerbungen möglich sei.

»Keine Bewerbungsgespräche? Keine Tests?«

»Um Gottes willen!« rief Hoffmann und riss vor Schreck die Arme hoch. »Schriftliche und mündliche Prüfungen? Können Sie sich vorstellen, was hier los wäre? So viele Anwälte können wir gar nicht bezahlen. Nein, das geht nicht. Abgesehen davon, dass derartige Auswahlverfahren unseren eigenen Ansprüchen an Fairness und Objektivität keinesfalls gerecht würden, sind sie auch aus wissenschaftlicher Sicht längst überholt. Was würden wir denn damit in Erfahrung bringen? Was würden uns Tests oder Interviews über die Bewerberin oder den Bewerber sagen, was der Score nicht viel genauer und zuverlässiger misst?«

Schönherr schüttelte den Kopf, aber außer dem schwachen Wunsch, dass er jetzt gern über Lisa reden würde, hatte er nichts zu entgegnen.

»Richtig, Ihre Tochter Lisa«, sagte Hoffmann, als handelte es sich um eine Nebensache, die ihm kurz entfallen war.

»Ihr Schreiben vom -«, Schönherr zog das ausgedruckte Einschreiben der Schule aus der Innentasche seines Sakkos und tat, als müsse er den Brief kurz überfliegen, um sich seinen Inhalt ins Gedächtnis zu rufen. Dann legte er das entfaltete Blatt Papier wie ein Beweisstück auf den Tisch und sagte: »Das Schreiben enthält keinerlei Gründe für Ihre Entscheidung. Vielleicht können Sie mir helfen, das besser zu verstehen?«

Der Schulleiter bedankte sich für die Frage und verzog gleichzeitig das Gesicht, als habe er große Bauchschmerzen.

»Wir können und wollen die Gewichtung der einzelnen Score-Kapitel nicht öffentlich machen. Ich gebe Ihnen recht, dass das im Einzelfall unbefriedigend sein kann, aber wir arbeiten intensiv daran, unsere administrativen Stellen in die Lage zu versetzen, Veränderungspfade einzuschlagen, damit unser Auswahlverfahren noch transparenter ausgestaltet werden kann. Der Vorstand und die entsprechenden Panels haben sich einstimmig dazu verpflichtet, dem Leitgedanken Fairness und Gleichbehandlung für alle Bewerberinnen und Bewerber oberste Priorität einzuräumen. Aber wie wir die Auskunft der Score Holding im Detail bewerten, das können wir nicht veröffentlichen. Im Übrigen, mir ist kein einziges Unternehmen bekannt, Schulen und Universitäten eingeschlossen, das sich zu einem derartigen Schritt entschlossen hätte.«

Hoffmann suchte nach Zustimmung in Schönherrs Augen.

»Ich werde mit dem, was Sie mir sagen, nicht an die Öffentlichkeit gehen«, sagte Schönherr. »Das können wir gerne auch schriftlich ...«

»Oh nein«, erwiderte der Schulleiter schnell und wedelte auf eine Weise mit den Armen, die wohl zum Ausdruck bringen sollte, dass er längst das allergrößte Vertrauen in die Verschwiegenheit seines Gastes gewonnen hatte. »Das wird sicher nicht nötig sein.«

Schönherr war bei Hoffmann auf jene professionelle Freundlichkeit gestoßen, die ihn besonders dann reizte, wenn sie nur Fassade war, nur der plüschige Mantel um einen unverrückbaren egoistischen Kern. Nachdem er eine Weile stumm auf die geschlossene Tür zum Vorzimmer gestarrt und überlegt hatte, ob er die restliche Zeit nicht angenehmer bei Frau Schäfer verbringen sollte, sagte er: »Wissen Sie, ich habe keine Ahnung, welche Bedenken Sie bei Lisa quälen. Ich verstehe, dass Sie mir nicht sagen wollen, worum es wirklich geht. Vielleicht ist es Lisas häusliches Umfeld, das sie stört, ihre familiären Verhältnisse, vielleicht bezahlen Ihnen die Eltern viel Geld, damit man unter sich bleibt und keine Gefahr besteht für den zügigen Aufstieg des Juniors in den Konzernvorstand ...«

»Sie wissen, dass wir nicht so eindimensional aufgestellt sind.«

»Sicher, nur frage ich mich, ob zu der besonderen Verantwortung, von der Sie sprechen, ob nicht auch dazu gehört, Kindern eine Chance zu geben, die nicht perfekt in Ihre Mischung - wie Sie so schön sagen - passen?«

Der Schulleiter atmete hörbar schwer, im Kampf mit den Richtlinien der Schule oder seinem Gewissen.

»Was ich Ihnen sagen kann, ist, dass wir großen Wert auf die F-Reihe des Scores legen. Psychische Stabilität, Teamgeist und moderne Intelligenzformen der zweiten und dritten Ordnung für einen optimalen Lernerfolg. Wir suchen dauerhaft leistungsstarke und motivierte Schülerinnen und Schüler, das ist uns sehr wichtig. Eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig fördert und fordert, indem sie eine Atmosphäre starken Zusammenhalts schafft. Können Sie mir folgen?«

»Überhaupt nicht. Was hat das alles mit Lisa zu tun?«

Dem Schulleiter entfuhr ein schwerer Seufzer. »Nach Durchsicht ihres Score sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass - ich rede vor allem von der F-Reihe, den psychischen ... also dass ihre Kompetenz auf diesen Gebieten nicht ganz unseren Vorstellungen entspricht.«

»Lisa ist fünf, was reden Sie denn da bloß?« rief Schönherr. Ärger köchelte in ihm, der die leidenschaftlichen, gewinnenden Sätze, die er sich fest vorgenommen hatte, ganz und gar außer Reichweite rückte.

Der Selbstmord des Vaters, die Probleme der Mutter, das Gerichtsverfahren um die Vormundschaft - was Lisa in so jungen Jahren schon alles zugestoßen war, konnte nach statistischen Maßstäben nicht folgenlos bleiben. Das wusste Schönherr, und er wusste auch, dass er selbst nicht ganz schuldlos an ihrem desolaten Score war. Er hatte noch immer keinen Termin für eine psychologische Grunduntersuchung für sie gemacht. Und so blieb ihm vorerst nichts anderes übrig, als den demütigen Bittsteller zu mimen, so gut er eben konnte, tapfer auf ein Talent bauend, das zu entwickeln er in seinem Leben kaum Gelegenheit gehabt hatte.

Nach einem kurzen Moment, den Hoffmann brauchte, um ein feierliches Hoch und Tief in seine Stimme zu legen, sagte er: »Lieber Doktor Schönherr, ich mache Ihnen einen Vorschlag zur Güte. Ich möchte gern Herrn Thiel zu uns bitten. Samuel Thiel ist Sozialinformatiker an unserer Akademie und Leiter der Score-Abteilung. Er wird Ihnen viel besser als ich erklären können, warum wir glauben, dass die Schlossberg nicht die richtige Schule für Lisa ist. Sie können davon ausgehen, dass wir uns die Entscheidung nicht leicht gemacht haben, denn Lisa ist ja ein ganz fabelhaf-tes-Mäd-chen.«

Während Hoffmann wie ein alter Mann aus dem Sessel wippte, bekam seine Stimme jene gepresste Färbung, die gewöhnlich mit einer körperlichen Anstrengung einhergeht. Dann steckte er den Kopf durch die Tür zum Vorzimmer, um Frau Schäfer Anweisungen zu geben, doch nachdem er sich wieder zu Schönherr gesetzt hatte, wusste keiner von beiden, wie sie die Wartezeit bis zum Eintreffen Thiels überbrücken sollten.

Anzeichen von Nervosität bei Hoffmann erinnerten Schönherr an ein Phänomen, das er besonders ausgeprägt bei seinen Richterkollegen beobachtet hatte, wenn er sie zum Beispiel in kurzen Hosen und viel zu engen T-Shirts auf dem Tenniscourt erleben musste. Wie sie dort zu kleinen wütenden Jungs werden konnten, ihre Schläger am Netzpfosten zertrümmerten ... Der Robe, diesem feierlichen, alles kaschierenden Umhang, war plötzlich ein praktischer Nutzen zugekommen, für die würdevollen Momente im Gerichtssaal, für das Urteil im Namen des Volkes. Dabei waren ihre krummen käsigen Körper und ihre gewöhnliche Reizbarkeit in den unwichtigen Dingen viel besser geeignet, eine gewisse Volksnähe zu betonen.

Und Schönherr? Nach dem Studium hatte er nach und nach gelernt, zuerst in der Staatsanwaltschaft, dann am Gericht, wie man sich kompliziert verhielt, das Anschauliche aus einem Vortrag entfernte und dadurch zu einer Autorität wuchs, der man nicht widersprach. Er hatte nie Probleme gehabt, wie ein gequälter Intellektueller zu tun, den die zusammengeschnürte Krawatte daran zu hindern schien, einfache Hauptsätze auszuspucken. Aber während Leute wie Hoffmann zweifellos schon immer wie ihre Eltern ausgesehen und geredet haben, war Schönherr sein Leben lang überzeugt gewesen, nur so zu tun. Um nicht aufzufliegen. Wenn er wollte, konnte er jene Schmidt'sche Ernsthaftigkeit vortäuschen, die gewöhnlich kaum Widerworte zuließ und ihn vor allzu intimen Offenbarungen Fremder schützte. Er konnte schwer ausatmen, mit und ohne Zigarettenqualm, eine bedeutungsvolle Pause machen und die Antwort auf eine beliebige Frage geben: »Einstweilen, im Prinzip, ja/nein.«

Bis er eines Tages so sehr an seiner frostigen Verkleidung hing, dass sogar Micha, die er zweimal geheiratet hatte, darauf hereinfiel und ihn verließ. Erst einmal, dann noch einmal.

*****

»Herr Thiel, ich möchte Ihnen Doktor Schönherr vorstellen«, sagte Hoffmann. »Doktor Schönherr hat uns besucht, um mehr darüber zu erfahren, wie seine Tochter Lisa ...«

»Nichte«, fiel ihm Schönherr ins Wort.

»Bitte?«

»Meine Nichte Lisa.«

»Ach so?«

Thiel gab Schönherr die Hand und warf sein Tablet wie einen Bierdeckel auf den Knabbertisch. Auf Schönherr wirkte der Score-Experte vom ersten Augenblick an wie eines dieser genormten McKinsey-Kids, die sogar in unserer freundlichen Nahdystopie ihre Alukoffer über die Spiegelböden der Flughäfen rollen und mit fünfundzwanzig das Doppelte ihrer Altersgenossen verdienen dürfen. Thiel folgte den Weisungen des Schulleiters mit jener aufreizenden Gelassenheit, die sich leistet, wer in Gedanken schon die nächste Karrierestufe erklommen hat.

»Was wollen Sie wissen«, sagte Thiel, fiel in den Sessel, in dem zuvor Hoffmann gesessen hatte, und fingerte auf seinem Tablet herum, während er mit halbem Ohr darauf zu warten schien, dass man ihm den Grund für die Belästigung erklärte.

Weil Schönherr fest entschlossen war schweigend durchzuhalten, bis Thiel ihm auch die andere Hälfte seiner Aufmerksamkeit schenkte, kam ihm der Schulleiter zuvor: »Doktor Schönherr und seine Nichte Lisa haben sich um einen Platz für das kommende Schuljahr beworben. Leider waren wir gezwungen, eine schmerzhafte Entscheidung zu treffen, weil uns aus gegebenem Anlass die Hände gebunden sind. Herr Thiel, vielleicht können Sie uns kurz die Begleitumstände schildern, die uns gewissermaßen -«

»Klar, kein Thema«, sagte Thiel und klang dabei so euphorisch, wie jemand, der seinen Schwiegereltern verspricht, irgendwann in ferner Zukunft den Keller zu entrümpeln.

Thiel tat noch einen Moment beschäftigt, während Schönherr und Hoffmann etwas ratlos um den Knabbertisch standen.

»Wie war nochmal der Name der Tochter?«

»Bitte nicht«, murmelte Schönherr und setzte sich. »Ihr Name war Lisa Schönherr. Meines Wissens ist er es noch immer.«

»Wie?« Thiel schaute irritiert in die Runde, während er den Zeigefinger zur Markierung einer Textstelle auf dem Tablet behielt.

»Lisa Schönherr, so heißt sie.«

Der Schulleiter beugte sich zu seinem Gast herunter, hielt die Hand wie eine Lärmschutzwand neben den Mund und flüsterte: »Haben Sie nicht gesagt, Lisa sei Ihre Nichte?«

»Ja, genau«, erwiderte Schönherr für alle hörbar. »Aber unser Junior scheint mir nicht ganz bei der Sache zu sein.«

»Ich kann auch wieder gehen«, sagte Thiel trocken.

»Nein, nein, schon gut«, beeilte sich Hoffmann zu deeskalieren. »Beginnen Sie bitte einfach, sobald Sie -«

In diesem Moment erschien ein Foto Lisas auf dem Schirm, außerdem Name, Alter und Herkunft.

»Okay«, sagte Thiel. »Ich habe hier Lisas Profil. Was ich sehe, ist, dass die F-Reihe insgesamt einige krasse PRs offenbart.«

»Persönlichkeitsrisiken«, flüsterte Hoffmann und setzte sich.

Der Zeigefinger des Sozialinformatikers flog derweil über das Tablet, als wollte er ein Rad zum Drehen bringen, dann sprach er wie zu sich selbst: »Die statistische Validität von F2 und F4 bis F12 ist völlig in Ordnung, Signifikanz deutet auf ordentliche Impacts hin.« Plötzlich schaute Thiel von seinem Tablet auf. »Hat Lisa etwa nie eine PGU bekommen?«

»Sie meinen, eine psychologische Grunduntersuchung? Nein, noch nicht.«

»Keine regelmäßige Vorsorge? RPV?«

Schönherr schüttelte den Kopf.

»Sie besucht die Kita am Shillerpark?«

Nicken.

»Vater Suizid, Mutter Psychiatrie?«

Nicken.

»Mhm, das ist natürlich so eine Sache.« Fast schwang etwas Mitleid in Thiels Stimme mit, zumindest aber ehrliche Verblüffung.

»Wie meinen Sie das?« fragte Schönherr.

»Naja, das ist doch schon etwas ... ungewöhnlich«, sagte Thiel. Er scrollte weiter, schüttelte ab und zu den Kopf, dann wieder schien er konzentriert zu lesen, und dabei sah er wie ein junger Arzt aus, der sich aus langen Zahlenkolonnen vom Labor einen Reim zu machen versuchte. Nach einer Weile ließ er das Tablet auf seine Knie sinken, auf eine Weise, die keine gute Diagnose versprach.

»Also, wenn Sie mich fragen, da sollten mal Spezialisten drüber schauen.«

»Was soll das heißen?«

»Lisas Score. Ich meine, ich kann hier so nebenbei logischerweise keine richtige Analyse machen, aber da gibt's ein paar Sachen, die statistisch reinhauen.«

»Was denn für Sachen?«

»Na, zum Beispiel die medizinische und soziale Vorgeschichte der Eltern.«

»Dafür kann Lisa ja wohl nichts!«

»Klar, aber umso wichtiger wäre ja eine regelmäßige psychologische Vorsorge gewesen, nur als Beispiel. Wenn Sie eine Agentur zur Score-Optimierung aufsuchen würden - LS Consulting, Norm & Rich und wie sie alle heißen -, da könnte man schon was machen, denke ich.«

»Zeigen Sie mir bitte Lisas Score«, flüsterte Schönherr.

*****

LS Consulting Group - Infomaterial an unsere Mandanten. Glossar. Stichwort: 'Mathematische Form des Scores'

Der Score ist als Matrix definiert, die zahllose, nach einer komplizierten Systematik gegliederte Kapitel umfasst, auch wenn in der Presse oft vom Score-Wert die Rede ist. Zwar kann man aus der Score-Matrix durch eine mathematische Operation - intern als dope ( d egree o f pe rfection) bezeichnet - ein Persönlichkeitsskalar, also eine Art Gesamtnote berechnen, allerdings wurde den Auskunfteien letztinstanzlich vom Bundesverfassungsgericht untersagt, einen solchen Zahlenwert an ihre Kunden weiterzugeben. Die eindimensionale Bewertung einer Person käme einer Wertung des Menschen an sich gleich und verletze in mehrerer Hinsicht die im Grundgesetz verankerten Persönlichkeitsrechte.

*****

Thiel wischte über das Tablet, löschte das Licht, verdunkelte die Fenster, und im nächsten Moment wurde Lisas Portrait auf dem Bildschirm durch unübersichtliche Linien ersetzt: steigende, fallende und schwankende Kurven, die wie die Gewinnerwartung eines Unternehmens oder die Populationsdynamik einer Art aussahen.

»Was Sie hier sehen«, begann Thiel, »ist ein Ausschnitt aus Lisas Sozialprognose für die nächsten fünf Jahre. Beispielhaft aufgegliedert in die Kategorien Resilienz, Belastbarkeit in schulischen Angelegenheiten - oben gestrichelt, sehen Sie? - Frustrationstoleranz, Kompromissfähigkeit, soziale Interaktion, Empathie, Soziabilität, praktische und akademische Intelligenz, prognostizierter Lernfortschritt und verschiedene Aggressionsformen, in braun dargestellt. Ganz links sind die aktuellen Skalare aufgetragen.«

»Quasi-aktuell«, ergänzte der Schulleiter. »Das dürfte aus der Sammelauskunft vom letzten Monat stammen?«

Thiel nickte. »Aber ich kann das auch eben aktualisieren?«

Schönherr winkte ab.

Thiel schaute fragend in die Runde. Da sich keiner rührte, fuhr er fort: »Nach rechts aufgetragen ist die prognostizierte Entwicklung einiger F-Felder.«

Sechs Augen schimmerten in den Farben der Score-Kurven. Thiel tippte, der Schulleiter nickte stumm vor sich hin, nur Schönherr suchte noch nach Orientierung. Zwar waren ihm die Diagramme, mit denen man verschiedene Aspekte des Scores graphisch darstellen konnte, nicht unbekannt, aber er hatte sich nie so intensiv damit beschäftigt, dass er eine Art intuitives Verständnis entwickelt hätte.

»Lisa ist den Anforderungen der Schule, was den reinen Lernstoff betrifft, gewachsen, da gibt es kein Problem. Aber, und das können Sie hier sehen -«, Thiel wackelte mit dem Schullogo als Zeiger auf einer roten Kurve, die wie ein Börsenkurs erst unentschlossen seitwärts kroch, bevor sie zweieinhalb Jahre in der prognostizierten Zukunft plötzlich ins Bodenlose stürzte. »Man muss leider davon ausgehen, dass Lisa sich auf Schlossberg mehr und mehr von der Gemeinschaft isolieren würde, was mit einer Verzögerung von einigen Monaten massive Auswirkungen auch auf ihre schulischen Leistungen hätte.«

»Ich möchte hinzufügen«, sagte der Schulleiter, »dass die Kurven bereits auf das Score-Spektrum der Schlossberg normiert sind. Was ich damit sagen will, ist, dass Lisas Separationstendenzen und ihre emotionale Empfindlichkeit in einer anderen sozialen Umgebung möglicherweise weniger stark hervortreten würden, beziehungsweise besser aufgefangen werden könnten. Ich möchte aber noch auf einen weiteren wichtigen Umstand hinweisen, den wir bei Lisa besonders unter die Lupe genommen haben: Herr Thiel, können Sie bitte F11 und F12 vergrößern und uns vielleicht Lisas Borderline-Index ausrechnen?«

Sofort änderte sich der Bildschirm, es erschienen neue Kurven mit bedrohlichen Ausschlägen. Thiel sagte, dass Lisas Aggressionsrisiko gegen sich und andere, prognostiziert für die Pubertät, erheblich sei und von der Schlossberg nicht toleriert werden könne.

»Herr Thiel, Sie können das Licht jetzt wieder einschalten.«

Bevor Hoffmann weiterredete, rutschte er ganz nach vorn auf die Sesselkante, als sei eine unbequeme Sitzhaltung das mindeste, was er seinem Gast schuldete.

»Glauben Sie mir, Doktor Schönherr, es tut mir in der Seele weh, weil Lisa ja ein ganz außergewöhnliches Mädchen ist. Aber bedenken Sie meine Lage: Das Handeln des Präsidenten der Schlossberg Academy ist an das Wohl der Studierenden und an den Erfolg der Akademie geknüpft.«

»Und jetzt denken Sie, Lisa ist der Teufel und würde das Ende der Schule bedeuten?« giftete Schönherr, der längst begriffen hatte, dass hier und heute nichts zu holen war.

Hoffmann schüttelte den Kopf und verneinte. »Wir kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass die Schlossberg den besonderen Begabungen ihrer Nichte nicht gerecht wird.«

Hoffmann fand weitere Floskeln, Lisas statistische Defizite in Fähigkeiten zu verwandeln und die Schuld rhetorisch auf die Kappe der Schule zu nehmen. Dann sah er Schönherr verständnisvoll an. Die Generation, der sie beide angehörten, war ganz ohne den Score ausgekommen, und neben seiner Verantwortung als Schulleiter schien er auch den Wunsch zu verspüren, sich mit Schönherr gegen diese selbstgerechten Thiels zu verbünden. Nachdem er erneut in die Herstellung seiner Wortschlangen eingetaucht war, vielleicht auf der Suche nach einem freundlichen, verständigen, weniger tadelnden Blick seines Gastes, redete und redete, erhob sich im Hintergrund Thiel.

»Ich müsste dann mal«, sagte er und winkte ungeduldig.

Hoffmann schien bemüht, seinen halben Gedanken nicht aus dem Kopf zu verlieren, nickte kurz, tippte sich ans Handgelenk und raunte: »Nach dem Mittagessen, vierzehn Uhr, wegen der Fördersache?«

Als Hoffmann mit seinem Gast allein war und auf immer neue Art die Zwänge beschrieb, die ihn an der Durchsetzung seines an sich ja guten Willens hinderten, musste Schönherr an eine Frau in Lila denken, die im Fernsehen neulich vor den Ansteckungsgefahren des Scores gewarnt hatte. Sie war als Leiterin eines Institutes mit einem sehr langen Namen vorgestellt worden. Er hatte das Interview mit der Aufmerksamkeit desjenigen verfolgt, der den Fernseher als Schlaftablette benutzt, dennoch war ihm in Erinnerung geblieben, dass die Forscherin medizinisches Vokabular benutzt hatte. Von Infizierten hatte sie gesprochen, Seuche und Scorebut. Der Score reagiere empfindlich auf das soziale Umfeld. Ob Hoffmann in Wirklichkeit fürchtete, dass Lisa ihre Mitschüler anstecken könnte? Vielleich lag das Problem bei den Eltern, die viel Geld bezahlten und dafür einen makellosen Score ihrer Liebsten erwarteten?

Während Schönherr überlegte, ob es klug sei, das Thema Ansteckung anzusprechen, steckte plötzlich Frau Schäfer den Kopf durch die Tür, um den Schulleiter an seinen nächsten Termin zu erinnern.

Hoffmann wirkte erleichtert und war sofort bereit, zum Ende zu kommen. Er schnaufte und stöhnte, dass man soweit alles besprochen habe. Dann blieb ihm nur der nochmalige Hinweis auf seine gebundenen Hände.

*****

Als Schönherr das Vorzimmer betrat, wartete Frau Schäfer mit Lisa an der Seite. Sie hatte die letzten Worte, die in Hoffmanns Büro gesprochen worden waren, bei angelehnter Tür mitgehört und wusste, dass es für Lisa nicht gut ausgegangen war. Ihr Angebot, sie beide nach unten zu begleiten, lehnte Schönherr schroff ab. Er hatte es nie vermocht, eine sonnige Fassade überzustreifen, wenn sich seine Gedanken zu Fäusten ballten. Mit finsterer Miene zog er Lisa durch die Gänge. Er wollte schnell hinaus, musste aber noch an Edward vorbei, und der Gedanke, ihm einen schönen Tag zu wünschen, obwohl ihm der Tag des Jungen scheißegal war, der Gedanke, auch nur ein einziges Wort zu reden, bevor er zu Hause die Tür hinter sich zuziehen konnte, und der Gedanke, Lisa versprechen zu müssen, dass er eine viel bessere Schule für sie finden werde, ließen ihn immer zorniger werden.

Lisa musste rennen, um hinterherzukommen. Sie schien eine schöne Zeit mit Selina gehabt zu haben, denn sie sang ausgelassen vor sich hin.

»Wer zuerst da ist -«, rief sie und rannte los.

Schönherr deutete lustlos ein paar Laufschritte an, ließ sie gewinnen und während sie am Ende des Flurs wie eine richtige Siegerin die Arme in die Luft riss, da kamen ihm Thiels Kurven und der ganze Score falsch und lächerlich vor. Alberne, naive, blöde Computerprogramme, die keinen anderen Zweck hatten, als ihm das Leben schwer zu machen.

Um zu vermeiden, dass er sich den Rest des Tages ungerecht und launisch benahm, beschloss er, gleich raus in die Südstadt zu fahren, wo Lisa mit den Jungs spielen und er bei einem Bier mit seiner Schwester überlegen konnte, was als nächstes zu tun sei.

»Schönen Tag noch«, grunzte er, als er wie ein Schatten an Edward vorbeiwischte, in der Hoffnung, dem fröhlichen Abschiedsprotokoll der Schlossberg Academy zu entkommen. Doch bevor er die Tür zur frischen Luft erreichte, rief ihm Edward hinterher: »Doktor Schönherr, Doktor Schönherr, bitte Sie zu warten, Doktor Schönherr!« Der Junge winkte mit einem Telefonhörer in der Hand.

Frau Schäfer war am anderen Ende und bat Schönherr, nochmal kurz nach oben zu kommen, sofern es seine Zeit erlaubte.

Schönherr bat Lisa kurz bei Edward zu warten. Im Vorzimmer angekommen schickte Frau Schäfer ihn gleich in Hoffmanns Büro, wo der Schulleiter, bemantelt und offenbar im Gehen begriffen, einen dieser breitkrempigen Schwarzweißhüte vom Anfang des letzten Jahrhunderts in der Hand hielt.

»Vielen Dank, dass Sie nochmal ... Es geht um Folgendes«, sagte Hoffmann und schloss vorsichtshalber die Tür zum Vorzimmer. »Erfahrungsgemäß ist es so, dass jedes Jahr zwei oder drei Bewerber beziehungsweise Bewerberinnen nachrücken. Manchmal muss eine Familie kurzfristig umziehen oder aus anderen Gründen. Ich kann Lisa - sofern Ihnen das recht ist - ganz oben auf die Warteliste setzen. Ob jemand nachrückt und wie viele, das entscheidet sich leider immer erst kurz vor Beginn des Schuljahres. Ich kann also nichts hundertprozentig versprechen. Was für uns wirklich wichtig wäre, ist, dass sich ihr Score bis dahin normalisiert hat. Ich weiß, was sie alles durchmachen musste, ich kenne Lisas besondere Umstände. Die Schlossberg ist aus diesem Grund bereit, Ihnen und Ihrer Nichte entgegenzukommen. Wir verlangen keinen Spitzenscore, aber eine deutliche Verbesserung. Lassen Sie es mich klipp und klar sagen: Lisas F-Reihe muss medizinisch unbedenklich sein. Dann, denke ich, finden wir eine Lösung.«

Der Score

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