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Prolog Leningrad 1958

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Ein frohes Hurra, ein lautes Hurra

für jeden Mann, der gut gekämpft,

was immer er im Leben auch wurde,

unser Feind oder unser Freund.

Johan Ludvig Runeberg, den ich oben zitiere, schrieb seinerzeit noch ein anderes Gedicht, das er »Des Fähnrichs Markterinnerung« nannte. Der Fähnrich befindet sich auf dem Markt in Tavastehus und entdeckt unter all den Schaustellern und feilschenden Händlern einen alten einarmigen Soldaten, der von seinem Leben singt und danach mit seinem Hut herumgeht. Er sammelt Geld, um sein elendes Leben noch ein wenig fortsetzen zu können.

Ich möchte auch vom Leben eines Soldaten erzählen, eines Menschen, der nicht wie der Fähnrich aus innerer Überzeugung Soldat wurde, sondern aufgrund der Wehrpflicht. Er repräsentiert sicher viele Soldaten, er kann auch eine Stimme für die Toten sein. Aber er war auf alle Fälle der einzige Soldat, der Nina liebte und schwarze Haare auf der einen Seite des Kopfes und weiße auf der anderen hatte, und eine Narbe über der Nasenwurzel.

Ich traf ihn 1958 in Leningrad. Alles begann auf dem Newski-Prospekt. Zwei Jugendliche kamen mir entgegen, gekleidet in fast knöchellange Wintermäntel, Modell frühe dreißiger Jahre. Heiter und freundlich sprachen sie mich an und fragten, ob ich Kleidung zu verkaufen habe. Das war nicht der Fall, außerdem hatte ich vor kurzem von zwei Mädchen gehört, die alles zu Geld gemacht hatten, was sie auf dem Leib trugen, bis auf Schlüpfer, BH und Mantel. Barfuß kamen sie nach Finnland zurück, doch sie hatten ihren Spaß gehabt. Sie standen auf dem Bahnhof von Helsinki in einer Telefonzelle und riefen im Reisebüro an, um sich das Notwendigste an Kleidung zu organisieren. Auf alle Fälle benötigten sie Strümpfe und Schuhe, denn es war Spätherbst und draußen rieselten schon die Schneeflocken. Während sie darauf warteten, dass Hilfe organisiert wurde, leerten sie im Restaurant alle Wodkareserven.

Ich versuchte, den beiden Jugendlichen zu erklären, dass ich Mitglied einer Delegation war.

»Delegati«, sagte ich.

Da grinsten sie übers ganze Gesicht.

»Ooohh, Towarischtsch.«

»Finski«, versuchte ich zu erklären.

»Finski, ooohh, puukko.« Sie brachen in ein furchtbares Gelächter aus beim Gedanken an das finnische Jagdmesser, obwohl dieses vielen ihrer Landsleute einige Daumen tief ins Fleisch gedrungen war in all den Kriegen, die wir in Jahrhunderten mit Russland geführt hatten. Aber für sie schien Krieg etwas zu sein, womit man sich die Zeit vertrieb. Sie waren jung und der Große Vaterländische Krieg nur etwas, von dem die Eltern erzählten. Sie erkundigten sich, ob ich nicht wenigstens den Mantel verkaufen wolle. Aber ich konnte gerade dieses Kleidungsstück nicht entbehren, denn es war April und es schneite noch frisch über dem Newski-Prospekt.

Ich sagte ihnen, es tue mir leid, in allen Sprachen, in denen ich mich ausdrücken konnte.

Dann lief ich weiter die Straße entlang. Und die Gedanken kamen. Hier war Dostojewski gegangen, hier lief Belinski und lernte, den Zaren im Winterpalais zu hassen. Belinskis Tuberkulose-Husten schallte über die Straße, während er sich fragte, warum Dostojewski seine Begabung an Idioten und Abnormitäten vergeudete, anstatt sie zur Verbesserung der russischen Gesellschaft einzusetzen. Ja, hier waren all die Großen gegangen, außer den Kaisern, die gefahren und in schöner Regelmäßigkeit ermordet worden waren. Was hatte es aber für einen Sinn gehabt, einen Zaren zu ermorden, wenn der nächste schon bereitstand? Hier ging Puschkin, bevor er sich kaputtduellierte, und hier fuhr Lenin, genannt der Totengräber des Kapitalismus, in seinem Panzerwagen. (Er war vorsichtiger als die Zaren und starb erst einige Jahre nach dem Attentat.)

Ein scharfer Wind fegte über den Newski-Prospekt. Die nassen Schneeflocken legten sich auf mein Gesicht. Ich ließ die Zunge um meinen Mund kreisen und merkte, dass ich schlecht rasiert war. Als ich das Wasser schmeckte, musste ich daran denken, dass in Leningrad vor nicht allzu langer Zeit sogar Trinkwasser knapp gewesen war. Die Einwohner hatten Hunde und Katzen, Ratten und Menschenleichen gegessen. Aber nun ging es ihnen besser; vor mehr als zehn Jahren hatte die Hölle von Leningrad ihr Ende gefunden. Jetzt aß man hier richtige Speisen, aß und aß, lustvoll und hemmungslos; die Leute konnten gar nicht genug bekommen. Jeder Zweite war zu dick.

Gedankenlos stieg ich eine Treppe hinunter. Sie war schmierig und schmutzig von den vielen Schuhen, die an diesem Tag auf ihr herumgetrampelt hatten, und endete an einer Kellertür. Viele Menschen gingen hinein, und ich beschloss, ihnen zu folgen und nachzusehen, um welche Art von Geschäft es sich handelte. Ein Schild gab es nämlich nicht; die Russen sind nicht für so etwas. Lediglich ein vergilbter Zettel war an die Tür geheftet, auf dem die Zahl 12 stand. Das war alles, und ich glaubte aus irgendwelchen Gründen, dass hier Schlittschuhe und Stiefel verkauft würden. Doch in dem Raum, den ich betrat, stand lediglich ein Schanktisch voll mit Gläsern von dem Typ, den wir in Finnland Milchbecher nennen. Eigentlich ist es falsch zu sagen, der Tisch wäre voller Gläser gewesen. Er war übervoll, die Trinkgläser stapelten sich sogar auf dem Fußboden davor. Eine müde Kellnerin stand hinter der Theke und goss Wodka und Kognak ein. Die Gläser holte sie aus einem Spülbecken. Das Wasser darin war genauso braun wie der Kognak und hätte wohl einen relativ starken Drink ergeben. Vermutlich war dasselbe Wasser am ganzen Tag benutzt worden, und nun war es recht spät am Abend.

Müde Arbeiter standen gegen die Wände gelehnt; der Raum war voller Schneematsch, Zigarettenkippen und Tabakrauch. Es roch säuerlich nach feuchten Kleidern – und dort traf ich Leo Nilheim.

Das geschah so: Ich drängte mich zum Schanktisch vor und bestellte ein Glas Wodka. Das Wort ist leicht auszusprechen – es bedeutet übrigens »Wässerchen« –, doch schwieriger war es, nach dem Preis zu fragen. Die Kellnerin begriff auf alle Fälle, was ich wissen wollte, und antwortete, doch leider verstand ich kein Wort.

Da hörte ich eine Stimme neben mir. In klarem, deutlichem, etwas schleppendem Schwedisch sagte sie:

»Der Wodka kostet vier Rubel und zehn Kopeken.«

Es war noch vor der Währungsreform in der Sowjetunion, bevor man den Wert des Rubels verzehnfachte. Inzwischen hat ja auch die Kopeke eine gewisse Kaufkraft wiedergewonnen.

Aber zu dieser Zeit hatten wir die Taschen noch voller mit Grünspan überzogener Kupfermünzen, wenn wir Russland bereisten. Ich reichte der genervten Kellnerin einen Geldschein, der so groß war wie eine halbe Zeitungsseite, und bekam ein halbes Pfund Kupfer zurück, das ich samt einigen feuchten Zigaretten in der Tasche verstaute. Dann schaute ich auf.

Neben mir stand ein großer, etwa fünfzig Jahre alter Mann. Später erfuhr ich, dass er noch keine vierzig war. Er war sicher Sowjetbürger, denn er trug eine typisch russische Kleidung, einen abgetragenen langen Wintermantel, eine Sportmütze und derbe Lederstiefel. Er ließ eine halb gerauchte Zigarette zu den tausend anderen in den Schneematsch auf dem Boden fallen und machte sich sogar die sinnlose Mühe, darauf zu treten.

»Danke«, sagte ich verwirrt. »Mein Name ist Ågren, Leo Ågren.«

»Ich heiße ebenfalls Leo«, antwortete er. »Leo Nilheim.«

Ich bemerkte einen leichten Akzent in seiner Sprache.

»Darf ich dich auf ein Glas einladen?«, fragte ich.

»Gern«, antwortete er. »Aber ich habe mich nicht deshalb eingemischt. Ich wollte dir nur helfen, ich bin nicht pleite.« Er schwieg einen Moment, dann murmelte er »pleite, blank, pankki«, als wollte er sich etwas in Erinnerung rufen.

»Können Sie … sprichst du auch Finnisch?«

»Ja, ein wenig«, antwortete er kurz.

»Wodka?«, fragte ich.

»Lieber Kognak. Wenn man in Russland lebt, hat man Wodka und Kaviar manchmal satt.«

Ich fragte nicht weiter nach, sondern bestellte Kognak, und wir stießen an.

»Nostorodnja«, sagte ich, denn ich glaubte, das wäre das russische Wort, um sich zuzuprosten.

»Hej«, antwortete er auf Finnisch. Er hatte eine tiefe Narbe an der Nasenwurzel und Stahlplomben im Unterkiefer. Am auffälligsten aber waren seine Haare: weiß auf der einen und schwarz auf der anderen Seite des Kopfes. Für einen Moment herrschte Stille.

Ich versuchte, eine Unterhaltung in Gang zu bringen.

»Ich weiß nicht so viel über Russland, kaum mehr als das, was ich bei Dostojewski, Tolstoi und Gorki und vielleicht einigen antikommunistischen Propagandisten gelesen habe«, erklärte ich.

»Und vielleicht einigen kommunistischen«, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu und bekannte dann plötzlich: »Ich weiß auch nicht so viel über Russland.«

»Aber du bist doch Russe?«, wunderte ich mich.

»Gewiss, ich bin Russe, Weißrusse sogar. Das siehst du ja an meiner Kleidung. Ich weiß, dass sie auf euch Westeuropäer plump wirkt. Mich kümmert es nicht, wie ich aussehe. Hauptsache, ich friere nicht und habe keine nassen Füße. Ich habe nie versucht, Sachen von Touristen zu kaufen … Ich achte die Gesetze«, fügte er hinzu, und das schiefe Lächeln kehrte zurück.

»Ja, das ist wohl verboten«, sagte ich.

»Natürlich, wir brauchen hier keinen kapitalistischen Modekram. Die sozialistischen Kleider wärmen gut, auch wenn sie nicht so raffiniert geschneidert sind … Und man fährt wohl in allen Ländern am besten, wenn man die Gesetze und Bestimmungen befolgt, obwohl sie natürlich manchmal etwas seltsam wirken können.«

»Ich weiß nicht viel über eure russischen Gesetze«, bekannte ich.

Er nickte.

»Du weißt vielleicht auch nicht allzu viel über eure finnischen Gesetze, denn du bekommst sie nicht in dem Maße zu spüren wie wir unsere sozialistischen Bestimmungen.«

Ich sah mich zu einem Hinweis veranlasst: »In unserer Delegation gibt es zwei Kommunisten. Ich bin einer davon.«

Wir standen im Schneematsch. Rundum unterhielt man sich, es wurde geraucht und getrunken. Er nickte:

»Alle Russen hinweisen gern darauf (hier ertappte ich ihn zum ersten Mal bei einem Fehler), dass sie Kommunisten sind, aber wenn man die zwei Ikonen nimmt, Marx und Stalin, so würden sie mit Marx ihre Hämorrhoiden kratzen und Stalin küssen.«

»Du willst damit sagen, dass du kein Kommunist bist?«, fragte ich verwundert.

Zum dritten Mal zeigte sich das schiefe Lächeln.

»Weil ich Russe bin«, erklärte er, »bin ich natürlich auch Kommunist. Ich wurde es in Finnland während des Krieges, als einige schwarz uniformierte SS-Offiziere im Gefangenenlager herumgingen und nach russischen Juden suchten. Ich glaube, an diesem Tag wurde ich Kommunist. Ich bin aber nicht sicher, ob ich nicht beide Ikonen dazu benutzen würde, mir den Hintern zu kratzen.«

»Bist du denn Jude?«

»Wie soll ich das wissen? Was bist du denn? Vielleicht Zigeuner oder vom fahrenden Volk, wie ihr sagt. Du hast schließlich schwarze Haare.«

Ich strich mir verwirrt über den Kopf.

»Ich kann doch nichts dafür, dass meine Haare schwarz sind.«

Er lachte laut auf: »Ich bin Arier auf der einen Seite des Kopfes und Zigeuner oder Jude auf der anderen. Jetzt trinken wir noch einen Kognak. Die Runde geht auf mich. Du hast es doch nicht eilig?«

»Nein, wir reisen erst nächste Woche ab.«

Er drängelte sich zur Theke durch und holte Kognak für uns.

»Skål«, sagte ich und bewunderte seine Geschicklichkeit, Münzen über den Tisch zu werfen.

Der Flüssigkeitspegel in unseren Gläsern sank, und Wärme stieg auf in meiner Brust.

»Ich wohne ganz in der Nähe«, sagte er und saugte den letzten Kognak durch die Barthaare. »Komm mit, ich lade dich auf ein paar Gläser Tee ein.«

Ehe ich mich besinnen konnte, antwortete mein Mund:

»Danke, gern.«

Es stürmte und schneite noch immer, aber nun spürte ich die Flocken wie Flaumfedern auf dem Gesicht. Ich weiß nicht, wie weit wir liefen; es dauert wohl ein Leben, um eine fremde Großstadt zu verstehen. Ich glaube aber, es war etwa ein Kilometer. Schließlich standen wir vor einem dunklen alten Haus aus karelischen Stämmen, das inmitten all der Steinkolosse unzeitgemäß wirkte.

»Komm rein, Leo«, sagte er und öffnete die schwarze, rissige Kieferntür. Eine matte Glühlampe beleuchtete das Treppenhaus; kein Mensch war zu sehen. Vorsichtig stiegen wir die Stufen hinauf, die von Generationen abgetreten waren und unter unseren Sohlen knarrten. Er warnte mich vor einem wackeligen Brett.

»Warum nagelt es keiner wieder an?«

Er lachte:

»Wenn man Bescheid weiß, ist es keine Gefahr. Du vergisst wohl, dass du jetzt in Russland bist!«

Ich schwieg, und wir stiegen weiter hinauf, bis unters Dach. Dort griff er hinter einen Balken, holte einen großen Schlüssel hervor und schloss auf.

»Bitte, hereinspaziert«, forderte er mich auf. »Willkommen in meinem Heim. Fühl dich wie zu Hause – sagt man nicht so bei euch?«

»Ja, so sagt man.«

Ich wartete einen Moment auf der Schwelle, während er im Dunkeln vorantappte. Dann leuchtete eine Wandlampe auf und warf einen rötlichen Schein in das Zimmer.

Ich trat ein, zwinkerte gegen das Licht, fummelte eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an.

»Ja, so wohne ich«, sagte er. »Leg ab.«

Ich zog meinen feuchten Mantel aus und sank in einen großen, weichen Ledersessel. Der Raum war bequem und zugleich spartanisch möbliert. Es gab keine Gardinen; acht dunkle Fenster schauten mich schweigend an. Doch vor den Scheiben waren Töpfe mit üppig wuchernden Grünpflanzen aufgereiht, die im Schein der Lampe glänzten. Mitten im Zimmer stand ein großer Tisch, umgeben von Sesseln. In einer Ecke sah ich ein hohes eisernes Bettgestell, in einer anderen einen gewaltigen Kleiderschrank.

Ich saß schweigend und rauchte, während er den Tee zubereitete. Nicht im Samowar, den verwenden die Russen heutzutage nur noch selten; die Apparate werden von Touristen aus dem Westen aufgekauft. Stattdessen wärmte er das Wasser auf einem Spirituskocher und goss den Tee in einer ganz gewöhnlichen Kanne auf. Dann stellte er zwei Teegläser in echtsilbernen Haltern sowie eine große Schale mit Zuckerstücken auf den Tisch. Aus dem Kleiderschrank holte er eine Flasche Wodka und zwei Gläser. Er goss ein und setzte sich auf einen rot und blau gemusterten Sessel mir gegenüber.

»Bitte«, forderte er mich auf.

»Danke.«

Eine Weile schwiegen wir und pusteten auf den heißen Tee.

Ich bot ihm eine Zigarette an.

Es war ganz still im Zimmer. Das Haus stand auf einem Hof; kein Verkehrslärm drang bis hierher.

Ich suchte verzweifelt nach einem Gesprächsthema, mir fiel aber nichts ein. So saßen wir weiter, schwiegen, rauchten, bliesen in den Tee und nippten am Wodka.

Neben dem Schrank entdeckte ich ein Radiogrammophon und wollte ihn fast bitten, es spielen zu lassen.

Er saß nur da und starrte durch die schwarzen Fensterscheiben. Plötzlich, ich zuckte fast zusammen, sagte er laut:

»Dieses Haus wurde im neunzehnten Jahrhundert von österbottnischen Zimmerleuten gebaut.«

Ich schwieg; durch seine unverhoffte Ansprache hätte ich beinahe das Teeglas fallen lassen.

»Ich war in Österbotten«, fuhr er fort.

»Ach, wirklich?«, war der einzige Kommentar, der mir einfiel.

Danach schwiegen wir wieder eine ganze Weile und schauten durch die Scheiben ins Nichts. Einzelne Schneeflocken setzten sich auf das Glas und schmolzen langsam dahin. Dünne Rinnsale bildeten sich und strebten dem Fensterrahmen zu.

Ich wusste nicht, was ich von seinem heftigen Ausbruch bezüglich Österbottens halten sollte. Schließlich wagte ich zu sagen:

»Ich stamme aus Österbotten.«

»Ich hörte es an deiner Stimme.«

»Ja, das hört man vielleicht.«

»Wirklich, wenn man diese Sprache ein Mal gehört hat, erkennt man sie auf der ganzen Welt wieder. Selbst wenn du russisch gesprochen hättest, wäre mir nicht entgangen, dass du aus Österbotten stammst.«

»Wann warst du dort?«

»1944.«

Ich stutzte und schaute in sein versehrtes Gesicht.

»Dann warst du dort als … als …«

»Ja, ich war dort während des Großen Vaterländischen Krieges.«

Der Rauch unserer Zigaretten ringelte sich empor, die Teekanne dampfte leicht, die Wodkagläser waren beschlagen.

Ein kurzes Lächeln entspannte sein Gesicht:

»Auf der ganzen Welt gibt es jedenfalls keine Sprache außer dem Österbottnischen, die ein Wort für jöutas1 hat.«

Und plötzlich war das Eis endgültig gebrochen.

»Ja, ich weiß, es jöutade, 1944 Kriegsgefangener in Österbotten zu sein.«

»Natürlich jöutade es«, bestätigte er, »aber es gab andere Dinge während des Krieges, die noch entsetzlicher waren. Einen Großen Vaterländischen Krieg gewinnt man nicht, ohne einen hohen Preis für den Sieg zu zahlen. Die Gewalt hat viele Dimensionen, und ich – wie sagt man – schmeichle mir damit, einige dieser Dimensionen gesehen zu haben. Und Österbotten war nicht die schlimmste davon.«

Er ließ die Zigarette auf den Fußboden fallen und trat darauf. Die Russen haben bekanntlich einen Teil ihrer Kultur von den Franzosen übernommen, darunter auch den französischen Aschenbecher. Ich folgte seinem Beispiel und tötete meine Kippe sorgfältig mit dem Absatz.

»Man sollte um ein paar Reparaturen bitten. Obwohl das Haus bald abgerissen wird. Na ja, es kann sich vielleicht lohnen, ein bisschen Dampf zu machen. Hier wackelt, verrottet und zerfällt ein wenig zu viel.«

Er zog tief an seiner Zigarette.

»Jetzt will ich dir ein bisschen von meinem schlimmen und elenden Leben erzählen. Ich hörte, dass du Schriftsteller bist. Ich gehöre nicht zu denen, die immer sagen, ihr Leben sei ein ausgezeichneter Stoff für einen Schriftsteller. Wenn ich erzähle, dann tue ich es für mich. Sonst muss ich zu viel für mich behalten. Meine Landsleute könnten nämlich einen Teil dessen, was ich zu sagen habe, missverstehen. Deshalb halte ich sonst den Mund. Aber dir kann ich alles anvertrauen – das meiste jedenfalls.«

Und nun lasse ich Leo Nilheim erzählen. Es ist vielleicht nicht immer seine Stimme und sein Ausdruck – wenn er erregt war, sprach er mit einem Akzent –, aber es ist inhaltlich das, was er berichtete. Ich will und muss es in meiner Sprache wiedergeben.

Leo Nilheims Geschichte

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