Читать книгу Teufelsträne - Zeugen des Untergangs - Leodas Kent - Страница 9

Das Ebenholzkästchen

Оглавление

Irgendwo in einem kleinen Haus mitten in Europa saß eine junge Frau auf einem alten Stuhl. Der Raum, in dem sie saß, war wohl einmal eine Küche gewesen. Alle Garnituren waren voller Schimmel, die Fliesen an den Wänden zur Hälfte abgefallen und der einzige Tisch im Raum morsch und verfallen. Die junge Frau versteckte sich hier. Nicht entdeckt zu werden, war in diesen Tagen allerdings nicht ihre größte Sorge: Mit erschöpftem Blick betrachtete sie das alte Tonbandgerät in ihren Händen. Ihr war nicht klar, ob es noch funktionieren würde, nachdem, was sie in den letzten Tagen alles durchlebt hatte. Sie drückte auf Play.

*

War ja klar, dass das wieder nicht gut laufen würde. Es läuft selten gut für mich. Das ist mein Leben, mein verrücktes, verkorkstes Leben. Mir ist bewusst, dass ich von ganz vorne ausholen muss, um meine Geschichte aus den finsteren Schubladen wieder hervorzuholen, in die ich sie Stück für Stück gepackt habe. Ich habe das getan, um zu vergessen. Aber ich darf nicht vergessen, nicht mehr. Deshalb muss ich damit beginnen, die Ereignisse meines Lebens freizulegen. Nur so kann ich an den Ort zurück, den ich mir mit dem Aufnahmegerät wieder ins Gedächtnis rufen will. Ein letztes Mal allein mit dem Zuhörer, der keine Fragen stellt.

Ich heiße Elli Magoi und ich bin nicht der Mittelpunkt dieser Geschichte. Früher hatte ich ein Zuhause. Ich lebte mit meiner Familie auf einem großen Hof. Mit Familie sind nicht meine Eltern gemeint, sondern einzig und allein mein Bruder und mein Onkel. Der Name meines Bruders ist Finn. Es ist mir das größte Anliegen, sein Leben aufzuzeigen, obgleich dies wohl mit meinem eigenen einhergeht. Finn war nicht gerade das, was man einen normalen Jungen nennt. Es ist allerdings schwer, passende Worte zu finden, um seinem Wesen auch nur annähernd gerecht zu werden. Vielleicht eignet sich hierfür am besten ein Vergleich: Normale Menschen sind mehr Körper als Seele. Sie leben in dieser physischen Welt, ohne jeglichen Kontakt zu dem, was sie in Wahrheit sind. Mein Bruder war zeit seines Lebens mehr Seele als Körper. Viele hielten ihn deshalb für verrückt. Das war er aber nicht. Er kannte sich nur einfach mit Dingen aus, die die meisten Menschen nicht verstehen.

Unsere Eltern sind im Wattenmeer an der Nordsee ertrunken. Jedenfalls hatte mir das Onkel Elmar so erzählt. Finn und ich waren noch zu klein, um uns daran erinnern zu können. Es sollte nur ein Urlaub werden. Vater war Professor am Institut für Altertumswissenschaften in der kleinen Universitätsstadt Gießen, ganz in der Nähe von Frankfurt am Main. Unsere Mutter hatte als Gymnasiallehrerin für Deutsch und Geschichte gearbeitet. Ich war damals drei Jahre alt, Finn erst elf Monate. Wir haben nur deshalb nicht das Schicksal unserer Eltern geteilt, weil sie uns in jenen verhängnisvollen Tagen bei Onkel Elmar gelassen hatten. Ich erinnere mich noch genau an das Warten, das Warten darauf, dass sie uns wieder abholen würden. Das Wattenmeer gab sie jedoch nicht wieder her.

Finn und ich zogen am 21. Juni 1978 offiziell auf den Hof von Onkel Elmar. Auch wenn ich selbst noch zu klein war, um heute noch ein klares Bild von meinen Eltern vor Augen zu haben, so kann ich doch mit Gewissheit sagen, dass Elmar ganz anders war als mein Vater. Wenn ich ihn als Außenseiter bezeichne, dann ist das nicht böse gemeint. Elmar ist ein guter Mensch, der immer alles für seinen Neffen und seine Nichte getan hat. Dennoch ist die Bezeichnung Außenseiter sehr passend. Er heiratete nie. Irgendwie wussten die Frauen nicht so richtig mit ihm umzugehen und auch er wusste nicht, wie er sich gegenüber dem weiblichen Geschlecht verhalten sollte. Ich denke, dass Onkel Elmar aber dennoch glücklich war. Denn er hatte uns, Finn und mich. Zumindest die meiste Zeit in seinem Leben. Überdies hatte er seine Berufung gefunden. Unser Onkel war gelernter Landwirt. Sein Hof am Bodensee war sehr ertragreich. Mein Bruder und ich verbrachten viele wunderschöne Sommer dort, in denen wir durch die Felder tobten, die Kühe fütterten und uns einfach in die Wiese legten und in den Wolken zahlreiche Fabelwesen erkannten. Auch die Winter hatten ihren Reiz. Onkel besaß genug Ackerland, um mit uns große Schneehöhlen zu bauen. Doch egal welche Jahreszeit wir gerade hatten, der Hof bedeutete für ein Kinderherz pure Freiheit.

Onkel Elmar war ein großer und mindestens genauso starker Mann. Die Haare gingen ihm schon mit Anfang dreißig aus. Sein kerniges Gesicht hatte eindeutig einen Wiedererkennungswert. Ein breiter Kiefer, eine spitze Nase und Augenbrauen, die so ausgeprägt waren, dass man Angst haben musste, sie wachsen zusammen, beschreiben sein Gesicht sehr gut. Er konnte ein Sturkopf sein, aber uns Kindern las er so ziemlich jeden Wunsch von den Augen ab. So dauerte es nicht lange, bis der Schmerz über den Verlust der Eltern zu einem Stück Vergangenheit wurde, das weit in die Ferne rückte.

Auch wenn wir sehr abgeschieden wohnten, saßen wir auf Onkels Hof keineswegs fest. Die nächste Stadt war Überlingen. Onkel Elmar verkaufte dort jeden Samstag sein Gemüse und sein Obst. Wir Kinder durften dann immer auf dem ganzen Marktplatz herumtollen. Der Markttag in Überlingen war jedes Mal unser Highlight der Woche. Wir rannten um die vielen verschiedenen Stände herum. Jeder, der dort seine Ware anbot, kannte uns nur zu gut. Ich denke, wir wurden gerne gesehen. Mein Bruder war aber auch ein überaus süßer Junge. Als Kind hatte er strohblondes, lockiges Haar, das wild in alle Richtungen seinen Kopf umgarnte. Eine hohe Stirn ließ die Leute schon damals annehmen, dass aus ihm einmal ein großer Denker werden würde. Und schon damals konnte man sich in seinen braunen Knopfaugen verlieren. Er war eben ein echter Publikumsmagnet. Jeden Samstag war es derselbe Ablauf. Wir schlenderten von Stand zu Stand und die begeisterten Verkäufer gaben uns hier und da eine Scheibe Wurst, Käse oder auch eine Möhre in die Hand.

An einen der Markttage erinnere ich mich ganz genau. Ich war sechs Jahre alt. Finn war gerade erst vier geworden. Während Onkel Elmar fleißig versuchte, seine Waren loszuwerden, hatten mein Bruder und ich uns mal wieder davongeschlichen. Wir schlenderten nicht weit vom Marktstand über die Promenade. Es war Sommer. Die Sonne brachte den Kreislauf auf Hochtouren. Die Menschen schwitzten. Die Cafés waren gefüllt. Soweit ich mich erinnere, muss das im August 1980 gewesen sein. Wir holten uns ein Eis und genossen das Panorama des Sees. Die Sicht war so klar, dass man weit hinter der anderen Seeseite die Alpen sehen konnte. Zahlreiche Segelschiffe fuhren über das blaue Gewässer. Unmengen von Touristen waren in Überlingen unterwegs. Es würde Ärger geben, sobald Onkel Elmar von unserem kleinen Ausflug erfuhr, das wussten wir genau. Das war uns aber egal. Zufrieden saßen wir auf den Stufen des Landungsplatzes, an dem die Schiffe andockten. Eine ganze Weile genossen wir einfach nur die Idylle. Dieser Ort war so voller Leben. Ein paar große Fische schwammen dicht unter der Wasseroberfläche und zahlreiche Möwen flogen über unsere Köpfe hinweg. Hinter uns hörten wir die Stimmen der Touristenmeute, die in der Masse nur einen Gesang von Wirrwarr erzeugten. Deutsche, Schweizer, Engländer und auch ein paar Franzosen waren zu hören. Rechts von uns saß eine alte Dame und spielte auf ihrer Ziehharmonika. Am Geländer auf der linken Seite fütterte ein kleines Mädchen ein paar Enten mit alten Brotkrumen. Die Vögel über uns kreischten. Plötzlich setzte sich eine der vielen Möwen direkt auf Finns Kopf. Ich erschrak und wollte das Tier vertreiben.

Finn hielt mich davon ab. „Nein! Lass das!“, zischte er leise. Es machte beinahe den Eindruck, als hätte er den Vogel herbestellt. Sanft setzte sich die Möwe in sein lockiges Haar, als wäre sein Kopf ihr Nest. Fehlte nur noch, dass sie ihn als Brutstätte nutzen würde. Finn war schon ein komischer Kauz.

„Und was ist, wenn dir das Vieh auf den Kopf kackt?“, fragte ich ihn zweifelnd.

Mein Bruder konnte meine Sorge nicht so recht nachvollziehen. Er hatte eben seine eigene Vorstellung von der Welt. „Möwen erledigen ihr Geschäft im ...“

„... im Sitzen“, unterbrach ich ihn, „wie die meisten anderen Lebewesen auch!“

„Nein!“, widersprach Finn. „Möwen sind Flugscheißer!“

„Und du bist ein Klugscheißer!“

Schon damals begann Finn, merkwürdige Dinge zu erzählen. Ohne die Möwe in seinem Haar weiter zu beachten, wechselte er das Thema.„Elli, kennst du das, wenn du jeden Tag in dasselbe Gesicht siehst, ohne die Person überhaupt zu kennen?“

Die Möwe in seinem Haar machte die Situation irgendwie dubios. Mit zackigen Bewegungen blickte sie auf den See hinaus.

„Was meinst du damit?“, fragte ich ihn.

„Ich spreche von den sieben Wächtern!“

Ich wusste nicht so recht, was ich darauf antworten sollte.

„Ist dir noch nie aufgefallen, dass es Menschen gibt, die du nicht kennst und dennoch laufen sie dir immer wieder über den Weg?“ Finn sah mich fragend an. Dann beugte er sich zu mir vor und flüsterte mir ins Ohr: „Das sind sie!“ Sofort flatterte die Möwe davon, als hätten Finns Worte dem Vogel Angst eingejagt.

„Wen meinst du?“, fragte ich ihn immer noch sichtlich verwirrt.

„Ich sehe immer wieder einen kleinen, dicken Mann mit einer riesengroßen, runden Brille und einem langen, grauen Bart. Ein großer Zylinderhut sitzt auf seinem Kopf. Er stammt aus einer anderen Zeit, glaube ich ...“

Ich sah meinen Bruder mit großen Augen an. „Und dieser Mann ist einer der sieben Wächter?“

Finns Gesicht formte sich zu einem Ausdruck, als wäre ich die Person, die wirres Zeug redete. „Wie kommst du denn auf eine solche Idee? Die sieben Wächter sind ein Seefahrer, ein Schmied, eine Magd, ein Ritter, ein Inselbewohner und ein Römer.“

Ich musste lachen. „Ein Inselbewohner und ein Römer? Alles klar, kleiner Bruder ...“

Finn sah mich verärgert an. Er mochte es nicht, wenn ich mich über ihn lustig machte. Ich versuchte also, ernst zu bleiben. „Du sagtest, es wären sieben ...“ Ich zählte an meinen Fingern ab, wie viele Wächter er erwähnt hatte. „Meiner Meinung nach hast du nur sechs Wächter genannt.“

Finn zuckte mit den Schultern. „Ja, wer der Letzte ist, das weiß ich auch nicht so genau.“

Ich unterdrückte ein Lachen. Ich war selbst noch ein kleines Kind. Meinen Freunden hätte ich vermutlich jedes Wort sofort geglaubt. Bezüglich meines kleinen Bruders war ich allerdings voreingenommen. Ich war seine große Schwester. Ich musste dafür sorgen, dass wir beide auf dem Boden der Tatsachen blieben. „Und dieser dicke Mann mit der runden Brille? Wer ist das?“

Der kleine Lockenkopf musste selbst erst einmal darüber nachdenken. Schließlich sagte er aber: „Ich denke, er leitet die sieben Wächter.“

*

Es hat lange gedauert, bis ich begriff, wer Finn von diesen sieben Wächtern erzählt hatte. Aber die Zahl Sieben spielte in all seinen mysteriösen Handlungen eine wichtige Rolle. Er war geradezu besessen von dieser Zahl. Mathematisch betrachtet ist die Sieben eine Primzahl und ist nur durch sich selbst oder die Eins teilbar. Überall tritt sie in Erscheinung und die Geschichte zeigt, dass nicht nur Finn von ihr besessen war. Die sieben Hügel Roms und die sieben Weltwunder der Antike, diese Zahl war bereits vor Christus mit einer starken Symbolik versehen. Die sieben Zwerge aus dem Schneewittchen-Märchen, die sieben Raben und die sieben Geißlein, die Werke der Gebrüder Grimm zeigen, dass sie auch in der Literatur zuhause ist. Und auch im christlichen Glauben ist diese Zahl fest verankert. So wurde die Welt in sieben Tagen erschaffen. Zudem besteht auch jede Woche aus sieben Tagen. Superbia, Avaritia, Luxuria, Ira, Gula, Invidia und Acedia, die sieben Todsünden. 1267 verfasste der Theologe Bonaventura sein Werk zu den sieben Gaben des Heiligen Geistes. Und warum spricht man in langjährigen Beziehungen vom verflixten siebten Jahr?

Fest steht, Finn erzählte mir damals an der Promenade zum ersten Mal von den sieben Wächtern. Er behauptete immer wieder, einen von ihnen zu sehen. Der dicke Mann aus einer anderen Zeit war angeblich sogar permanent in seiner Nähe.

Ich aber glaubte Finn nicht. Ich hielt die Wächter und ihren Leiter für eine Fiktion, die nur durch kindliche Einbildungskraft ausgelöst wurde. Doch auch, wenn offensichtlich nichts von alldem existieren konnte, sollten diese Dinge in Zukunft nicht nur meinen Bruder beeinflussen. Vielleicht eignet sich ein Erlebnis des folgenden Winters, um zu erläutern, was ich damit meine.

*

Seit Finns erster Erwähnung bezüglich der Wächter waren einige Monate vergangen. Es musste wohl um den 20. Dezember herum gewesen sein. Jedenfalls stand Weihnachten kurz vor der Tür. Es geschah in meinem ersten Schuljahr und im Gegensatz zu meinem Bruder fiel es mir nie sehr schwer, Freunde zu finden. So kam es, dass ich mit meiner Freundin Daiki auf den gefrorenen Feldern umherspazierte. Auch Finn war dabei. Ich musste immer auf ihn aufpassen, wenn Onkel Elmar mit dem Hof beschäftigt war. Damals nervte mich dieser kleine familiäre Job. Daiki und ich wollten eigentlich ungestört darüber reden, welche Jungs in der Klasse die blöden waren und welche wir süß fanden. Gespräche, wie sie kleine Mädchen eben führen. Stattdessen hing uns Finn an der Backe. Er war damals ein kleiner, pausbäckiger Junge. Nie werde ich diese tiefgründigen, dunkelbraunen Augen vergessen. Sie strahlten als Kind dieselbe Weisheit aus, die er auch als junger Mann einmal haben sollte. Daiki Saitoh war ein liebes, japanisches Mädchen mit einer überaus spannenden Herkunftsgeschichte. Sie hatte einen deutschen Pass, war auch in Deutschland geboren worden, genau wie ihre Eltern. Das war keineswegs selbstverständlich. Unter der Herrschaft der Tokugawa, einer Shogun-Dynastie, war es der japanischen Bevölkerung untersagt, das eigene Land zu verlassen. Mehr als 160 Jahre herrschte das Tokugawa-Shogunat über das Land, machte eine Ausreise zwischen 1603 und 1868 nahezu unmöglich. Erst durch den Seeoffizier Matthew Calbraith Perry kam es im Jahre 1853 zu einer Öffnung Japans hin zu Europa und 1865 gründete der Kaufmann Louis Kniffler in Düsseldorf das erste Japangeschäft. Es war eben dieses Geschäft, das den ersten Japanern eine Übersiedlung nach Deutschland ermöglichte, nicht zuletzt deshalb, weil der Kaufmann in Japan die Stellung als preußischer Konsul innehatte und genug Macht besaß, um eine Auswanderung zu fördern. 1905 wurde der erste Japaner in Düsseldorf offiziell registriert. Daikis Aussage nach war dieser erste Japaner ihr Urgroßvater. So kamen auch ihre Eltern ursprünglich aus Düsseldorf, hatten sich aber ein neues Leben am Bodensee aufgebaut. Sie leiteten in Meersburg ein kleines Restaurant.

An jenem Nachmittag beschlossen Daiki und ich, zusammen mit Finn Verstecken zu spielen. Wir rannten am Hof und den Feldern vorbei in den anliegenden Wald hinein. Die Bäume waren kahl, der Boden von Schnee bedeckt. Einzelne Flocken wehten durch den seichten Wind. Es war kalt, aber das störte uns Kinder nicht. Wir waren in unserer eigenen Welt. Im Wechsel musste immer einer von uns seine Augen verdecken und zählen, während die beiden anderen sich versteckten. Nach einer ganzen Weile wurden Daiki und ich vor die Aufgabe gestellt, nicht entdeckt zu werden. Mit seinen nicht einmal fünf Jahren konnte Finn natürlich gerade mal bis zehn zählen. Ich sagte ihm, er solle seine Zählung einfach zehn Mal wiederholen und uns dann suchen kommen. Meine Freundin und ich rannten so tief in den Wald hinein, wie wir nur konnten. Doch kurz nachdem wir uns trennten, um ein sicheres Versteck zu finden, hallte ein Schrei durch die Bäume hindurch. Es war Daikis Stimme. Sofort rannte ich dem Hilferuf entgegen. Meine Freundin lag weinend in einer Senke. Sie war abgerutscht. Der Schnee hatte den Boden so aufgeweicht, dass sich Daiki in einer unüberwindbaren Grube aus feuchtem Schlamm befand. Mehrmals wollte sie hochklettern, doch jeder Versuch war vergebens. Immer wieder rutschte sie ab. Es dauerte nicht lange, bis sie vollends in Panik geriet. „Elli, bitte hole mich hier heraus!“ Ich setzte schon zum Sprint an, um Hilfe zu holen, aber Daiki wollte nicht, dass ich sie alleine ließ. Ich legte mich auf den Boden und versuchte, ihr meine Hand zu reichen. Ich kam einfach nicht tief genug, ohne selbst abzurutschen.

Plötzlich stand Finn hinter mir. Verwundert starrte er die Senke hinunter. „Raphael sagt, dass du deine Jacke ausziehen sollst, um sie als Seil zu verwenden!“

Wieder einmal sah ich Finn mit jenem irritierten Blick an, den ich stets bekam, wenn er damit begann, in Rätseln zu sprechen. „Raphael? Wer soll das sein?“

Finn bestätigte meine Vermutung. „Raphael ist der Leiter der sieben Wächter. Er hat mir seinen Namen verraten.“

Ich mochte es nicht, dass mein Bruder von Dingen sprach, die ganz offensichtlich nicht existierten. Dennoch war seine Idee gut. Ich zog meine Jacke aus und reichte sie hinab in die Senke.

„Keine Angst, Daiki! Halt dich einfach fest und ich hole dich da heraus!“ Das Vorhaben war jedoch leichter gesagt, als getan. Ich war einfach nicht stark genug.

„Bitte! Ich will hier nicht erfrieren!“, jammerte die kleine Japanerin.

„Das wirst du auch nicht!“, beruhigte ich sie, sank jedoch zugleich erschöpft in die Knie.

Finn legte seine Hand auf meine Schulter. Er lächelte mich an. Irgendetwas Fremdes und Unheimliches verbarg sich hinter seinen braunen Augen. Es machte mir Angst. Finn sagte mit einer Ruhe, als wäre er ein alter, weiser Mann: „Hole einmal tief Luft und zähle bis sieben! Dann zieh noch einmal mit aller Kraft, du wirst es schaffen!“

Mein Bruder war wirklich erstaunlich. Er musste nichts weiter machen, als mich anzusehen und mir seine Hand auf die Schulter zu legen. Der kurze Moment, in dem ich mich vor Finn gefürchtet hatte, war verschwunden. Erneut griff ich nach der Jacke, reichte sie zu Daiki hinab. Dann holte ich tief Luft, so wie es mein Bruder gesagt hatte. Ich zählte bis sieben. Irgendetwas bewegte sich in mir. Alle Anstrengung war wie weggeblasen. Ich zog an der Jacke. Mit aller Kraft. Tatsächlich gelang es mir. Ich zog Daiki aus der Schlammgrube. Mit einem großen Schrecken, aber auch einer spannenden Geschichte gingen wir zurück zu Elmars Hof.

Es war bereits Abend, als wir dort ankamen. Daikis Eltern hatten eine halbe Stunde bei uns zu Hause gewartet. Zudem waren unsere Jacken und Hosen voller Schlamm. Es gab richtigen Ärger. Elmar hielt mir eine Predigt darüber, dass ich nicht so unverantwortlich mit Finn umgehen könne. In jenen Tagen verstand ich das noch nicht. Wenn ich jedoch zurückdenke, dann war es damals wie heute mein Bruder, der genug Kraft besaß, Verantwortung zu übernehmen.

Das Weihnachtsfest, das einige Tage nach dem Vorfall im Wald folgte, war eines der schönsten, an das ich mich erinnern kann. Wir machten es uns mit Onkel Elmar gemütlich. Wenn man aus dem Fenster schaute, sah man eine Schneepracht, wie sie angemessener nicht hätte sein können. Bereits am frühen Morgen standen wir alle gemeinsam in der Küche. Zahlreiche leckere Weihnachtsplätzchen sollten aus unseren Mühen hervorgehen. Wir waren glücklich. Ich denke, ich war sogar so glücklich, wie ich es seit dem Tod unserer Eltern nicht mehr gewesen war. Das, was Onkel Elmar für Heiligabend vorbereitet hatte, war kaum in Worte zu fassen. Die Ungeduld von Finn und mir stieg ins Unermessliche. Irgendwie ahnten wir bereits, dass Elmar sich viel Mühe gegeben hatte. Wie Kinder nun mal so sind, begannen wir bereits am Nachmittag damit, unaufhörlich nachzufragen. Wir wollten endlich unsere Geschenke haben.

„Nein, ein bisschen müsst ihr euch noch gedulden“, sagte Onkel darauf. Wir quengelten stundenlang herum, doch er ließ sich nicht überzeugen. „Ich mache euch auch einen schönen, heißen Kakao. Ist das nicht ein Angebot?“

Eine Sekunde später fing er an, uns durchzukitzeln. Zuerst befreite sich Finn aus seinen großen, starken Händen und sprang vergnügt auf seinen breiten Rücken.

Onkel Elmar geriet ins Taumeln. „Ach, Kinder, was macht ihr nur mit mir?“

Mit einem Kampfschrei umklammerte ich sein Bein. Das brachte Elmar endgültig zu Fall. Kichernd landeten wir allesamt auf der Couch.

Nachdem wir unsere Bäuche mit Plätzchen und Kakao gefüllt hatten, ging Elmar vor die Tür. „Ich muss noch schnell etwas erledigen. Ihr wartet hier. Ich bin bald zurück, dann gehen wir an die Geschenke.“

Es gefiel uns überhaupt nicht, dass Onkel Elmar die Bescherung noch weiter hinauszögerte. Im Nachhinein hätte er uns aber keine größere Überraschung machen können. Als er zurückkam, bat er uns darum, unsere Schuhe anzuziehen. Nörgelnd, wann wir denn endlich unsere Geschenke erhalten würden, kamen wir seiner Bitte nach. Er führte uns zur kleinsten Scheune seines Hofes. Als er das Tor öffnete, waren Finn und ich überwältigt. Es war beinahe so, als wäre Onkel mit uns durch die Zeit gereist – bis zur Geburt Jesu Christi.

Im Inneren der Scheune waren überall Kerzen aufgebaut. Hinter einigen gemütlichen Sitzgelegenheiten aus Stroh standen ein Ochse und ein Esel. Es waren die zahmsten Tiere, die Elmar besaß. Niemals hätte er uns Kinder einer Situation ausgesetzt, die hätte gefährlich werden können. Die Tiere fraßen genüsslich aus einer Futterkrippe und ließen sich ohne Probleme streicheln. Einige Geschenke lagen verstreut auf dem Boden. Sie waren aber nebensächlich. Das größte Geschenk, das Onkel uns machte, war der schöne Abend mit ihm in diesem Stall. In der Mitte stand ein großer Schokoladenbrunnen. Elmar hatte Früchte vorbereitet, die wir dort hinein tunken konnten. Zuvor gab es zum Hauptgang Kartoffelsalat und Würstchen. Der ganze Raum war mit Lametta und Glitzerkugeln ausgeschmückt. Es roch nach Weihrauch.

Nach der Bescherung setzten wir uns gemütlich ins Stroh, während Onkel Elmar uns Weihnachtsgeschichten vorlas. Es war angenehm warm. Erst als die beiden Stalltiere ihr Geschäft verrichteten, gingen wir wieder ins Haus, denn der Geruch wurde unerträglich. Den Rest des Abends verbrachten wir am Kaminfeuer. Es dürfte gegen 21 Uhr gewesen sein, als es plötzlich an der Haustür klingelte.

„Wer mag das denn um diese Uhrzeit noch sein?“, fragte Onkel Elmar und wollte sich gerade aus seinem Sessel erheben.

Doch Finn kam ihm zuvor. „Ich gehe schon!“

Onkel und ich blieben sitzen. Wir hörten, wie sich die Tür öffnete. Kalter Wind strömte herein. Dann nahmen wir Finns Stimme wahr. „Alles klar! Ich werde es ihnen ausrichten! Wir wünschen Ihnen auch ein schönes Weihnachtsfest!“ Die Haustür schloss sich wieder. Mein Bruder kam zurückgerannt und sprang auf das Sofa.

„Wer war das?“, fragte Onkel.

„Ach, das war nur Raphael. Er wollte uns ein frohes Fest wünschen.“

„Du musst endlich aufhören, dir ständig diese Geschichten auszudenken!“, fuhr ich Finn wütend an.

Er zuckte zusammen. Er gab jedoch nicht so schnell auf. „Raphael existiert!“, sagte er spitz.

„Nein, es gibt ihn nicht!“

„DOCH!“

„HÖR ENDLICH AUF, DIR SO EINEN SCHWACHSINN EINFALLEN ZU LASSEN!“, schrie ich ihn an.

Der kleine Junge war den Tränen nahe.

Onkel Elmar reagierte behutsamer. „Moment mal, wer ist denn dieser Raphael, Finnchen?“ Mein kleiner Bruder fing an zu weinen. Onkel Elmar wischte ihm zärtlich die Tränen aus dem Gesicht. „Ach, Finn, du brauchst doch nicht zu weinen! Wenn du sagst, dass Raphael existiert, dann glauben wir dir das selbstverständlich.“ Mit den Worten, die dann folgten, sah Elmar mich vorwurfsvoll an. „Auch Elli glaubt dir! Sie hat es nicht so gemeint!“

Ich schmollte noch ein wenig. Dann kuschelte ich mich an Onkel Elmar und Finn.

Eine Frage blieb jedoch offen. Niemand wusste, wer wirklich an diesem Abend an der Haustüre geklingelt hatte. Onkel Elmar versuchte zwar, vorsichtig nachzufragen, ob vielleicht neben Raphael noch jemand anderes an der Tür gestanden hatte, doch Finn blieb bei seiner Aussage.

Mein Bruder erzählte uns an diesem Abend noch mehr über seinen mysteriösen Freund. Er sagte, dass er für alle Menschen da wäre und besonders denen helfe, die in Not geraten. Finn glaubte daran, dass Raphael über uns wachte. Er erschuf sich regelrecht eine eigene Mythologie um ihn herum. So kam er von einer weit entfernten Welt. Er war aber nicht in der Lage, in seine Heimat zurückzukehren. Deshalb lebte er unter den Menschen und beobachtete jeden Einzelnen von ihnen. Wann immer ein Mensch den Mut fasste, etwas Gutes zu tun, war er es, der ihn dazu animierte. Selbst als Finn in die Schule kam, erzählte er noch Geschichten über ihn. Diese Erzählungen waren sein Lebensinhalt. Aber auch die sieben Wächter waren ein Teil seines Kosmos. So fand er in fast jeder Geschichtsstunde einen Grund, die Vergangenheit mit ihnen in Verbindung zu bringen.

*

Zuerst einmal möchte ich aber fokussieren, wie sich Finns Besessenheit nach der Zahl Sieben immer weiter zuspitzte. Ungelogen, Finn kam am 07.07.1977 um Punkt sieben Uhr morgens zur Welt. Wahrscheinlich stammte daher sein Wahn. Als der Junge begann, zur Schule zu gehen, mussten in seinem Mäppchen immer exakt sieben Stifte liegen und in seiner Tasche ebenso viele Hefte, nicht mehr und nicht weniger. Gegessen werden durfte nur alle sieben Stunden. Das war dramatischer, als es sich zunächst anhörte. Die Schule begann immer um 07:55 Uhr. Zum Glück war der Schulweg nicht weit. Er ging auf die Dorfschule in Hödingen. Da er allerdings bereits um 07:30 Uhr sein Frühstück zu sich nahm, musste er, seiner Ansicht nach, um Punkt 14:30 Uhr zu Mittag essen. Anfangs konnte Onkel Elmar seinem Wunsch nachkommen. Um Punkt 14:30 Uhr stand das Essen auf dem Tisch. Bereits in der zweiten Klasse hatte Finn aber Nachmittagsunterricht. Der Unterricht ging um 14:30 Uhr weiter. Mein Bruder verzichtete lieber auf die Mahlzeit, als sie eine Stunde früher zu sich zu nehmen. Es dauerte nicht lange, bis er sich zum absoluten Außenseiter entwickelte. Die Schulkameraden fingen an, ihn zu hänseln. Sie konnten nicht verstehen, dass es nicht einen Tag gab, an dem er mit ihnen gemeinsam zu Mittag aß. Mein Onkel ließ Finn aufgrund seiner Eigenarten auf Asperger testen. Das Ergebnis war negativ. Finn war kein Autist. Er war einfach anders.

*

17. März 1983 – dieses Datum hat sich in meinem Gehirn fest eingebrannt. Wenn ich so darüber nachdenke, war es der Tag, an dem alles anfing.

Ein schrecklicher Sturm drang über die Alpen zu uns herüber. Wie immer brachte Onkel Elmar meinen Bruder und mich um 21:30 Uhr ins Bett. Finns Zimmer lag direkt neben dem meinen. Wir schliefen im ersten Stock, Onkel Elmar im Erdgeschoss. Die Etage, die sich über meinem Bett befand, war nicht ausgebaut. Sie wurde nur als Dachboden genutzt. Manchmal vor dem Einschlafen, wenn nichts zu hören war, glaubte ich, über mir Schritte wahrzunehmen, als würde jemand auf dem Dachboden herumlaufen. Es machte mir Angst, aber Onkel Elmar hatte gesagt, dass das nur der Wind sei. Ich versuchte, seinen Worten zu glauben, aber in jener Nacht vom 17. März überschlugen sich die Ereignisse. Onkel hatte mir noch einen Kuss auf die Stirn gegeben. Dann knipste er das Licht aus und verließ mein Zimmer. Mit dem Schließen der Tür war es dunkel. Draußen regnete es. Die Wassertropfen prasselten so laut gegen mein Fenster, dass man nichts anderes mehr hören konnte. Das Haus knarrte und quietschte unter den Mächten des Sturms so sehr, dass man das Gefühl bekam, der Bau würde gleich in alle Einzelteile zerrissen werden. In der Ferne hörte ich einige Donnerschläge. Sie waren das Einzige, dass das Prasseln des Regens übertönte. Dennoch schien das Gewitter noch weit weg zu sein. Es fühlte sich so an, als wäre das Grollen in den Wolken der Herzschlag einer Bestie, die langsam aber sicher näher kam. Wenigstens war der Sturm in seinem ganzen Umfang so laut, dass ich keine Schritte auf dem Dachboden hören konnte. Mit unruhigem Herzen schlief ich schließlich ein.

Ich hatte einen sehr intensiven Traum. Ich stand auf einer endlos langen Wiese. Bis an den Horizont konnte man keinen Baum, kein Haus und keinen Berg erblicken. Es gab nur diese endlose Weite und mich. Ein Gefühl von Einsamkeit bildete sich in mir, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Doch plötzlich war etwas am Himmel zu sehen. Langsam kroch es am Firmament empor, als wäre es die Sonne selbst. Aber das war keine Dämmerung. Denn es war Tag und die Sonne stand bereits im Zenit. Es war etwas Bedrohliches, das am Horizont auftauchte. Aus der Erinnerung heraus ist es schwer zu definieren, was genau es war. Es bestand aus einer unglaublich gigantischen, metallenen Masse, die den gesamten Planeten in Schatten hüllte. Das Metallobjekt schob sich vor die Sonne, sodass sie kein Licht mehr spendete. In diesem Moment war die Verzweiflung am größten. Ich versuchte, zu schreien. Meine Stimmbänder schenkten mir nicht einen Ton. Ich schloss die Augen.

„Wach auf, Elli! Wach auf!“

Es gelang mir nicht. Dieser Ort ließ mich nicht los.

Als ich die Augen endlich wieder öffnete, war ich nicht mehr allein. Die endlose Wiese war nun von Menschenmassen besetzt. So viele an der Zahl, dass man glauben mochte, alle Bewohner der Erde hätten sich an diesem Ort versammelt. Das Objekt am Himmel war jetzt deutlicher zu erkennen. Es war eine metallisch glänzende Kugel. Sie schwebte wohl Hunderte von Kilometern über der Erde und dennoch war sie so groß, dass sie den ganzen Himmel bedeckte. Ich richtete mich auf. Schnell musste ich feststellen, dass die vielen Menschen auf der Wiese mich nicht sehen konnten. Aber das Objekt am Himmel, das konnten sie sehen. Es war, als würde mir jemand ins Ohr flüstern, dass die metallene Kugel die Menschen unterdrücken würde. Sie zwang sie, etwas zu suchen. Die Gier, die von diesem fremden Himmelskörper ausging, war förmlich zu spüren.

Plötzlich stach ein Mann aus der Reihe. Er konnte mich sehen. Als er mich entdeckte, schritt er langsam auf mich zu. Er war ein älterer Herr, vielleicht Mitte sechzig. Allerdings war das schwer einzuschätzen. Der Mann war sehr klein, kaum größer als ich mit meinen acht Jahren. Auffällig waren seine massiven Körpermaße. Er war kugelrund wie ein Luftballon, der gleich zu platzen drohte. Eine große, runde Brille mit starken, optischen Gläsern ließ seine Augen hinter der Nase vergrößert emporschießen. Ein langer, grauer Bart bedeckte sein halbes Gesicht. Ich bekam Angst. Dieser Mann ähnelte verblüffend einer Beschreibung, der ich bisher kein Gewicht gegeben hatte. Sogar der Zylinder saß auf dem Kopf des merkwürdigen Mannes. Es gab keinen Zweifel. Er war Raphael, der Mann, von dem Finn immerzu sprach. Ich wollte wegrennen, doch das gelang mir nicht. Mein Körper war auf einmal unglaublich schwer. Ich kam keinen Zentimeter mehr vom Fleck. Kraftlos brach ich zusammen. Der fremde Mann griff mit seiner Hand nach mir. Ich wollte schreien, doch in diesem Moment erwachte ich. Schweißgebadet saß ich aufrecht im Bett meines Kinderzimmers. Mein Herz pumpte so laut, dass es noch im Kopf zu hören war. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Es war schließlich nur ein Traum gewesen. Der Regen prasselte immer noch mit aller Wucht gegen das Glas der Fensterscheiben. In meiner kindlichen Fantasie bildeten sich grauenhafte Fratzen in den schwemmenden Tropfen, die sich am Glas entlangzogen. Das Gewitter musste sich nun direkt über uns befinden. Ein gleißender Blitz erhellte für einen kleinen Augenblick das Zimmer. Anschließend donnerte es so laut, dass ich glaubte, der Himmel selbst würde über mir zusammenstürzen. Die Balken des alten Hauses knarrten. Der Boden vibrierte. Der Wind bohrte sich mit solcher Kraft in die Ritzen und Spalten der Fassade, dass ein unheimlicher Pfeifton entstand. Die Welt hatte sich verändert in dieser Nacht – oder zumindest für diese Nacht. Krampfhaft versuchte ich, meinen Traum abzuschütteln, um mich auf die Realität zu konzentrieren. Ich sah auf meinen Wecker: Es war 23:56 Uhr. Fast zweieinhalb Stunden waren vergangen, seitdem Onkel Elmar mich ins Bett gebracht hatte. Tief durchatmend rückte ich mir mein Kissen zurecht und legte mich wieder schlafen.

Ich schloss die Augen. Doch bereits nach kurzer Zeit hörte ich seltsame Schritte. Sie kamen nicht vom Dachboden. Jemand ging an meiner Tür vorbei. Zuerst dachte ich, dass es Finn wäre. Die Toilette befand sich am Ende des Gangs. Er musste an meinem Zimmer vorbeigehen, um sie zu erreichen. Allerdings hörte ich weder die WC-Tür knarren noch kamen die Schritte zurück.

Nach ein paar Minuten machte ich mir Gedanken. „Vielleicht ist der prasselnde Regen zu laut gewesen“, dachte ich mir. „Vielleicht habe ich Finn deshalb nicht in sein Zimmer zurückkehren hören.“

Ein weiterer Blitz durchbrach die Wolkendecke. Ein erneuter Knall erschütterte die Wände des Hauses. Ich zuckte zusammen. Mein Herz beschleunigte wieder. Vielleicht war es nur meine Angst, die mir einen Streich spielte. Schließlich war ich momentan umgeben von Geräuschen, die dieses schreckliche Unwetter hervorbrachte. Vielleicht brachte der Sturm aber auch noch etwas ganz anderes hervor.

Erneut hörte ich das Knarren der Dielen, als ob Füße umherwandern würden. Dieses Mal klang es so, als würde jemand in das zweite Obergeschoss wollen. Als es erneut knackte, war ich mir sicher: Jemand ging leisen Schrittes die Treppe zum Dachboden hinauf. Mit zitternden Beinen stieg ich aus meinem Bett. Ich wollte das Licht anknipsen. Doch es tat sich nichts. Mein digitaler Wecker war die einzige Lichtquelle. Es war genau Mitternacht. Was auch immer da in unserem Flur war, es erklomm eine weitere Stufe. Dieses Knarren der Dielen ließ mich zusammenfahren. Jedes Haar auf meinem Körper bäumte sich auf und sträubte sich dagegen, die Tür meines Zimmers zu öffnen. Aber was sollte schon passieren? Ich nahm all meinen Mut zusammen und ergriff die Türklinke. Direkt dahinter lag der Aufgang zum Dachboden. Ich würde mich also nicht einmal wegbewegen müssen. Nur einen winzigen Spalt öffnete ich.

Es war schwierig, in dieser Dunkelheit etwas zu erkennen. Eine kleine Gestalt stand direkt vor den Treppenstufen. Es war Finn. Seine Konturen waren mir vertraut genug, um das zu erkennen.

„Verschwinde!“, sagte er bloß, ohne sich zu mir umzudrehen.

„Hallo? Was machst du denn da, bitte?“, fragte ich ihn schroff. Was dann geschah, erschütterte mich bis ins tiefste Mark. Denn Finns Worte galten nicht mir.

„Verschwinde!“, wiederholte er mit mehr Nachdruck.

Ich blickte die Treppenstufen hinauf. Für eine Sekunde glaubte ich, die Reflexion zweier gelber Augen wahrzunehmen. Ich schnappte nach Luft. Eigentlich wusste ich nicht, was ich gesehen hatte. Mein Kopf kämpfte sofort dagegen an. Es konnte sich niemand auf den Treppen befinden. Doch dann durchbrach ein weiterer Blitz die Wolkendecke über unserem Dach. Gleißendes, weißes Licht flutete für einen Herzschlag das ganze Haus. Ich hatte mich nicht geirrt. Auf der Treppe saß ein Schatten mit großen, gelben Augen. Völlig in Schwärze getaucht, bot dieser eigenartige Körper dennoch Konturen. Er war massiv, kräftig. Das Ding kauerte auf allen vieren, bog das Kreuz jedoch so unnatürlich durch, dass es eigentlich aufrecht gehen musste. Das Schlimmste an der Erscheinung aber waren diese Augen. Sie waren kalt, wenn auch nicht leblos. Sie stierten mich bedrohlich an mit ihren katzenartigen Pupillen. Mir kullerten Tränen über das Gesicht, und als das Licht des Blitzes uns wieder verließ, damit die Dunkelheit ihr Recht einfordern konnte, verlor ich jegliche Kontrolle. Ich fing an zu kreischen. Beinahe zeitgleich versuchte Finn, noch einmal an den fremden Schatten zu appellieren: „VERSCHWINDE!“

Ich weiß nicht, ob es nur meine Angst war, die meinem Kopf dann einen akustischen Streich spielte. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, dass die Stimme meines Bruders mit einer weiteren verschmolz. Eine tiefe Männerstimme schien seinen Ausruf zeitgleich auszusprechen.

„VERSCHWINDE!“

Die Stimmen verbanden sich mit meinem eigenen Gekreische. Mein Kopf war einer völligen und panischen Reizüberflutung ausgesetzt.

Jemand polterte die Treppen nach oben. Er hatte eine Taschenlampe in der Hand. „Was ist hier los?“ Es war Onkel Elmar. Mit seinem Auftreten schien der Spuk vorüber zu sein. Weinend hatte ich mich auf den Boden gekauert. Finn stand immer noch wie angewurzelt da.

„Habt keine Angst, Kinder! Der Strom ist ausgefallen. Der Sturm muss die Leitungen gekappt haben.“ Elmar wandte sich mir zu. Seine Stimme war so beruhigend. „Elli, wovor hast du denn Angst?“

Finn hatte sich nicht vom Fleck bewegt. Gebannt starrte er die Treppe hinauf. Ein Blitz erhellte das Haus. Der Schatten auf den Stufen war verschwunden.

Onkel Elmar fing an, mich zu schütteln. Meine Angst hatte mich in einen tranceähnlichen Zustand versetzt. „Mein Gott, Elli, was ist denn nur passiert?“

„Irgendetwas wollte auf den Dachboden! Es stand direkt auf den Stufen!“, stammelte ich vor mich hin.

Mit entsetztem Blick fokussierte Onkel nun Finn. „Stimmt das? Hast du gesehen, was deiner Schwester solche Angst gemacht hat?“

Die Antwort dieses kleinen Jungen ließ meine Furcht weiter wachsen.„Es wollte nicht auf den Dachboden, es wollte hinaus!“ In seiner Stimme lag Angst.

Onkel Elmar nahm uns beide in den Arm. „Meine Lieben, eure Augen haben euch einen Streich gespielt! Ihr seid hier sicher!“

Panisch versuchte ich, Elmar zu widersprechen. „Nein, auf der Treppe saß etwas! Es hatte große, gelbe Augen!“

Onkel reagierte auf meine Antwort amüsiert. „Große Augen sagst du?“ Jetzt fing er sogar an zu lachen. Ich war irritiert. Ich fand das alles gar nicht witzig. Elmar sah meinen Bruder und mich fordernd an. Sein Blick offenbarte, dass er alles tun würde, um uns zu beschützen.

„Ach, meine beiden Kleinen, ... große Augen ... Das erklärt doch so einiges. Ihr wisst doch, dass wir Katzen auf unserem Hof haben. Es ist schon öfter vorgekommen, dass sich eine von ihnen ins Haus geschlichen hat. Auf den Treppenstufen saß mit Sicherheit nur eine Katze.“ Das war Onkel Elmars Erklärung für die angsteinflößende Erscheinung. Aber der Schatten war zu groß gewesen. Das war keine Katze.

„Die Augen waren nicht nur groß, sondern auch gelb!“, widersprach ich ihm.

„Das war die Reflexion, die durch den Blitz ausgelöst wurde.“

Stundenlang versuchte ich, Elmar klarzumachen, dass wir mit Sicherheit keine Katze gesehen hatten. Er hörte nicht auf mich. Für ihn war die Sache klar.

Irgendwann legte sich der Sturm. Da im ganzen Haus kein Licht brannte, erlaubte Onkel Elmar uns, den Rest der Nacht bei ihm zu schlafen. In seinen Armen fühlten wir uns sicher.

Bis zum nächsten Morgengrauen geschah nichts Ungewöhnliches mehr. Das Erlebte war jedoch nicht vom Tisch. Bedrückt verließen Finn und ich Elmars Bett. Dann machten wir uns für die Schule fertig. Ich putzte mir die Zähne und ging in mein Zimmer, um mich passend zu kleiden. Meine Tür stand offen, während ich mich anzog. Der Aufgang zum Dachboden lag in einem guten Sichtbereich. Eine Bedrohung ging von ihm aus. Das hatte ich schon vor dieser stürmischen Nacht gespürt. Nun war es anders. Es war klarer. Der Dachboden verbarg ein dunkles Geheimnis, etwas, das ich niemals hätte aufdecken wollen. Aber manchmal hatte man keine Wahl. Ich konnte einfach nicht vergessen, was ich auf den Stufen gesehen hatte, obwohl ich eigentlich ja nicht einmal sagen konnte, was ich gesehen hatte.

Elmar befand sich bereits im Hof und wartete darauf, Finn und mich zur Schule zu fahren.

Mein Bruder wollte schweigend an mir vorbeigehen, doch ich hatte eine Frage. „Halt, warte mal kurz! Was war das für eine Stimme? Sie hat zeitgleich mit dir gesprochen ...“

Finn war die Situation unangenehm und ihm war deutlich anzusehen, dass ihn die letzte Nacht mitgenommen hatte. Seinen Mund wollte er allerdings nicht öffnen.

„Hey, Finn! Ich hab mir das nicht eingebildet!“

Auf mein Flehen hin war mein kleiner Bruder bereit, auf das Gespräch einzugehen. „Ich denke, du weißt genau, wessen Stimme das war ... Aber du magst es ja nicht, wenn ich von ihm rede. Ich denke, er hat uns letzte Nacht beschützt.“ Traurig und enttäuscht wandte sich Finn von mir ab. Ich hielt ihn an der Schulter fest. Mir kam der seltsame Traum in den Sinn. Auch ich hatte Raphael gesehen. Träumte ich vielleicht nur von ihm, weil Finn ihn mir beschrieben hatte? Ich wusste es nicht. Die Geschehnisse der letzten Nacht ließen mich zweifeln.

„Finn, es tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt habe.“ Der Lockenkopf befreite sich trotzig aus meinem Griff und ging. „Ich habe Raphael womöglich auch gesehen!“, sagte ich hastig hinterher.

Mein Bruder drehte sich zu mir um und wirkte irritiert. „Das kann nicht sein! Nur ich kann ihn sehen!“

Als ich Finn daraufhin von meinem merkwürdigen Traum erzählte, hatte ich das Gefühl, ihm damit irgendein Puzzleteil zuzuspielen. Er verstand jetzt etwas Grundlegendes, etwas, dass ich noch lange nicht begreifen würde. Schweigend setzten wir uns in die Mercedes E-Klasse von Onkel Elmar. Der grüne Lack des alten Pkw blätterte bereits ab. Wie jeden Tag fuhr Elmar uns zur Schule.

Das folgende Wochenende verlief ruhig, abgesehen davon, dass zwischen Finn und mir dicke Luft herrschte. Am Sonntagmorgen fuhren wir in die Kirche. Wir gehörten zur katholischen Münstergemeinde St. Nikolaus. Eine Viertelstunde musste für die Fahrt eingeplant werden, nicht mehr. Elmar fand, dass das Überlinger Münster die prächtigste Kirche in unserer Region war.

„Nach dem Gottesdienst werde ich mir mal die Leitungen ansehen. Auch wenn der Elektriker keinen Schaden feststellen konnte, gehe ich lieber noch einmal auf Nummer sicher“, sagte Onkel Elmar, während er sich auf die Straße konzentrierte. Finn und ich gingen nicht auf den Gesprächseinstieg ein. Wir schwiegen und blickten aus dem Fenster des Autos. „Na hört mal: Diese Nacht macht euch immer noch zu schaffen, oder?“, fragte Elmar in den Rückspiegel guckend.

„Auf der Treppe zum Dachboden saß keine Katze! Es war etwas anderes“, erwiderte ich schmollend.

Elmar schüttelte den Kopf. „Was soll es denn bitte gewesen sein? Ich habe euch schon oft gesagt, es gibt keine Geister oder Monster. Wenn da also etwas war, dann kommt nicht allzu vieles dafür infrage.“

Den Rest der Fahrt schwiegen wir.

Das Münster St. Nikolaus von Überlingen war ein prächtiges Gebäude. Die fünfschiffige Basilika wurde wohl im 14. Jahrhundert erbaut. Der spätgotische Stil der Kirche beeindruckte jedes Jahr von neuem die Touristen. Vor allem der Innenraum mit Blick Richtung Hochaltar, der vom Bildhauer Jörg Zürn errichtet wurde, vermochte einen durch seine hohen und verzierten Decken zu begeistern. Der Altar selbst entstand Anfang des 17. Jahrhunderts und galt als ein bedeutendes Werk der Spätrenaissance. Der Leiter dieser wundervollen Kirche war Pastor Sampson, ein gutmütiger Mann. Sein kurzes, katholisch gesittetes Haar war der Deckel zu einem kugelrunden Gesicht. Seine enorme Körperfülle verdankte er seinem ungezügelten Appetit. Jedes Restaurant in Überlingen kannte ihn nur zu gut. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er alle Speisekarten der Stadt auswendig kennen würde. So wie er aber als Feinschmecker einen offenen Mund für alles Essbare hatte, besaß er ein offenes Ohr für alle Mitglieder seiner Gemeinde. Ich mochte Pastor Sampson.

Im Gegensatz zu mir ging Finn nicht gerne in den Gottesdienst. Ich glaube sogar, dass er sich regelrecht vor der Kirche fürchtete. Jedes Mal saß er mit gesenktem Kopf auf der harten Beichtbank. Bei keinem Lied sang er mit und während die anderen das Vaterunser sprachen, schwieg er.

Pfarrer Sampson hielt an diesem Sonntag eine Predigt über David und Goliath. Er wollte anhand dieses biblischen Beispiels aufzeigen, dass man alles schaffen kann, auch wenn es noch so schlecht für einen aussah. An jenem Tag standen Finn und ich erst ganz am Anfang der schwierigen Aufgaben, die uns noch bevorstehen würden. Dennoch hatten die letzten Ereignisse meiner Psyche schwer zugesetzt. Deshalb blieb ich nach dem Gottesdienst noch etwas in der Kirche. Ich suchte den Rat von Pfarrer Sampson. Finn und Elmar warteten draußen. Zumindest Onkel hatte Verständnis dafür, dass ich mich der Kirche öffnete.

Der dicke Mann stand vor dem prächtigen Altar. Er lächelte mich an. „Was hast du auf dem Herzen, mein Kind?“ Seine auffällig hohe Stimme klang fürsorglich.

„Was bedeutet die Zahl Sieben für das Christentum?“

Pfarrer Sampson kratzte sich stirnrunzelnd den Kopf. Er hatte wohl erwartet, dass ich ihm mein Herz ausschütten würde. Dennoch gab er mir eine ausführliche Antwort. „Nun, Elisabeth, die Sieben setzt sich zusammen aus der Drei und der Vier. Die Drei steht gleichwohl für Gott, Jesus Christus und den Heiligen Geist. Die Vier spiegelt hingegen die vier Elemente wieder. Wasser, Feuer, Wind und Erde – ohne diese Naturgewalten gäbe es für uns Menschen kein Morgen und kein Gestern. Was also bedeutet die Sieben für dich?“

Ich brauchte einen Moment, um auf die Frage des Pastors richtig eingehen zu können. „Wenn diese Zahl die vier Elemente und die Dreieinigkeit verbindet, dann steht sie für das Leben an sich. Sie scheint beinahe das Leben selbst zu verkörpern.“

Als der Pastor sah, wie sehr mich diese Antwort schockierte, kniete er sich nieder, um auf gleicher Augenhöhe mit mir zu sein. „Dein Onkel hat mir von Finns Verhalten erzählt. Aber dein Bruder ist noch ein kleiner Junge. Gib ihm etwas Zeit. Ich bin mir sicher, dass er sich prächtig entwickeln wird.“

Ursprünglich hatte ich vorgehabt, Sampson auch von unserem Dachboden zu erzählen. Doch mich überkam das Gefühl, er würde mir nicht helfen können.

In den folgenden Wochen wurde das Verhältnis zu meinem Bruder zusehends schlechter. Er vertraute mir nicht mehr. Meine ständigen negativen Reaktionen auf seine Beobachtungen und Entdeckungen hatten seine Kinderseele schwer getroffen. Doch das Band zwischen Finn und mir war zu stark, als das es sich durch eine schwere Phase hätte zerreißen lassen können. Ich erinnere mich genau an den Tag, als die Verhärtung unserer Fronten ihren Höhepunkt erreichte. Meine Freundin Daiki war nach der Schule mit zu mir gekommen. Finn besuchte inzwischen die erste Klasse. Als wir mit dem Schulbus nach Hause fuhren, setzte er sich so weit weg von mir, wie er konnte.

Meine Freundin saß neben mir. Sie bemerkte sofort, dass zwischen mir und meinem Bruder etwas nicht stimmte. „Bist du irgendwie sauer auf Finn?“, tastete sie sich heran. Daiki war schon damals eine echte Freundin. Mein Wohlergehen lag ihr am Herzen.

„Ach ... er erzählt immer dummes Zeug und er ist jetzt sauer, weil ich ihm nicht jedes Wort glaube!“ Im Folgenden erzählte ich Daiki im Bus lauthals von Finns sieben Wächtern und von Raphael. Nur den Dachboden erwähnte ich nicht, dafür war ich zu feige.

Als wir am Hof meines Onkels ankamen, warteten wir wie gewohnt bis 14:30 Uhr auf das Mittagessen. Daiki kam oft nach der Schule mit zu mir, weil ihre Eltern durch ihr Restaurant so eingebunden waren, dass sie kaum Zeit für sie hatten.

An diesem Tag bekam Finn keinen Bissen runter. Er war sichtlich bedrückt.

„Was ist denn los, Finn? Haben sie dich in der Schule wieder geärgert?“, fragte Onkel Elmar besorgt.

Mein Bruder schüttelte bloß den Kopf. Nach einer Weile sprach er über ein Thema, dass ich am liebsten verdrängt hätte. „Onkel, was befindet sich eigentlich auf dem Dachboden?“

Ich hasste dieses Thema. Es war schlimm genug, dass mein Zimmer direkt am Aufgang zu dieser unheimlichen Etage lag. Onkel Elmar wirkte erstaunt. Doch bevor er etwas sagen konnte, giftete ich meinen Bruder an. „Warum fragst du nicht deinen Freund Raphael? Ich dachte, der weiß alles ...“ Ich konnte es in Finns Augen sehen. Er hielt es kaum noch aus, dass ich nicht auf seiner Seite stand.

Onkels Blicke wanderten zu mir. Ein Vorwurf lag in seinem Gesichtsausdruck. „Elli, du könntest wirklich netter zu deinem Bruder sein!“, sagte er. Dann wandte er sich liebevoll Finn zu. „Nun ... auf dem Dachboden ist eigentlich nichts Besonderes.“ Doch kaum hatte er seinen Satz beendet, fiel ihm etwas ein. Es war ein Gedanke, der schwere Erinnerungen mit sich brachte. Er kam so plötzlich in ihm auf, dass man fast glauben mochte, er wäre ihm erst in diesem Augenblick eingeflößt worden. „Eigentlich wollte ich euch das erst später sagen, wenn ihr alt genug seid für dieses Thema. Auf dem Dachboden befinden sich Kisten, Hinterlassenschaften eurer Eltern. Die meisten Sachen sind nach ihrem Tod allerdings weggekommen. Das, was sich auf dem Dachboden befindet, sind nur ein paar Reste.“

Nie zuvor war ich so sauer auf Onkel Elmar gewesen. Ich konnte nicht verstehen, wie er uns so etwas vorenthalten konnte. „Wieso hast du uns nichts von diesen Sachen erzählt?“

„Elli, bitte glaube mir“, sagte Onkel Elmar, „ich wollte nicht, dass ihr an den Verlust erinnert werdet. Meiner Meinung nach war die Zeit dafür einfach noch nicht reif. Wenn ihr alt genug seid, dann dürft ihr die Sachen haben. Das meiste sind wahrscheinlich Klamotten ... Ich weiß nicht, ob ihr dort etwas findet, was von Wert ist.“

Finn blieb während der gesamten Auseinandersetzung ruhig. Ich hingegen war am Explodieren. „Was von Wert ist? ALLES VON UNSEREN ELTERN IST VON WERT!“, schrie ich ihn an. Dann sprang ich auf und rannte hoch in mein Zimmer.

Ich saß auf meinem Bett. Tränen flossen über meine Wangen. Das Trauma meiner Kindheit war wieder präsent. Meine Eltern waren im Wattenmeer ertrunken, das hatte ich schon erwähnt. Aber unter welchen Umständen das Ganze geschehen war, das habe ich noch nicht erzählt. Genau genommen stammt auch alles, was ich weiß, aus Erzählungen. Finn und ich waren zu diesem Zeitpunkt ja bei Onkel Elmar. So viel mir bekannt ist, sollte es ein normaler Urlaub auf der Insel Föhr werden. Mama und Papa hatten in ein Hotel der Gemeinde Nieblum eingecheckt. Die beiden nahmen an einer Wattwanderung von Föhr nach Amrum teil. Sie gehörten zu einer Gruppe von Touristen, die einen Leiter hatte, der sich im Watt gut auskannte. Wie konnten sie also ertrinken? Der Leiter sagte nach dem tragischen Vorfall, dass meine Eltern plötzlich nicht mehr bei der Gruppe waren. Sie suchten sie, solange sie konnten, aber die beiden waren wie vom Erdboden verschluckt. Als das Wasser wieder stieg, war die Gruppe gezwungen, ihren Marsch fortzusetzen. Wie konnte so etwas nur geschehen? Ihre Leichen wurden nie gefunden.

Und auf einmal erfuhr ich davon, dass es Dinge gab, die sie hinterlassen hatten. Ich war sauer auf Onkel Elmar, dass er mir das vorenthalten hatte.

Daiki kam nach oben und nahm mich in den Arm. Sie war verständnisvoll. Das war ihre größte Gabe, wenn man ihr damaliges Alter in Betracht zieht. „Ich denke, dein Onkel wollte dich mit Sicherheit nicht verletzen. Er dachte, es wäre besser so, und beschloss deshalb, dich vorerst nicht mit der Vergangenheit zu konfrontieren.“

Eine Weile saß Daiki neben mir und tröstete mich. Irgendwann hatte ich mich beruhigt. Schließlich war ich sogar bereit, mich mit Onkel Elmar auszusprechen. Wir setzten uns alle gemeinsam ins Wohnzimmer, Daiki, Finn, Onkel und ich. Das Resultat des Gesprächs war, dass wir alle gemeinsam auf den Dachboden gehen wollten, um nachzusehen, was unsere Eltern Finn und mir hinterlassen hatten. Onkel Elmar sah ein, dass die Zeit dafür reif war.

Natürlich fürchtete ich mich noch immer vor dem Dachboden. Dennoch wollte ich es. Vielleicht würde ich endlich meine Ängste ablegen können.

Es war später Nachmittag. Dämmriges Licht fiel durch die Fenster. Das Holz knarrte, als wir langsam die Stufen hinaufstiegen. Onkel Elmar ging voran. Er öffnete die Tür zum Dachboden. Ein modriger Geruch drang uns entgegen. Lange Zeit war niemand hier oben gewesen. Nun, wo ich den Dachboden sah, wirkte er überhaupt nicht mehr bedrohlich. Die Etage stand beinahe komplett leer. In einer Ecke befand sich ein altes Sofa, das mit einem rot karierten Stoff überzogen war. Daneben waren viele Kartons. Alles war verstaubt und überall hingen Spinnennetze von der Decke.

„Dann sehen wir mal nach, was wir hier so haben ...“, sagte Onkel Elmar. Sofort stürmten Daiki und ich zu den Kisten hinüber. Finn war viel zaghafter. Ihn schien dieser Ort immer noch zu beunruhigen. Als wären es Weihnachtsgeschenke, kramten meine Freundin und ich in den Kartons herum. Wir waren begeistert. Kleider waren darin.

„Die meisten Möbel eurer Eltern bin ich losgeworden, aber ihre Klamotten liegen seit ihrem tragischen Unfall immer noch hier oben herum.“ Elmar klang zufrieden, glücklich darüber, dass der Streit vom Nachmittag vergessen war. Als er sah, wie vergnügt wir waren, wollte er uns alleine lassen.

Doch Finn hielt plötzlich seine Hand fest. „Darf ich mitkommen? Ich mag es hier oben nicht!“

Onkel Elmar beugte sich daraufhin zu ihm herunter. „Ach, Finnchen, ich muss doch noch mal auf den Hof. Es steht heute noch Arbeit an. Wenn du nicht bei deiner Schwester und Daiki bleiben willst, musst du in dein Zimmer gehen.“ Die Stimme von Onkel Elmar klang sanft und gutmütig.

„Dann gehe ich in mein Zimmer ...“, sagte Finn.

„Du bist ein Angsthase!“, rief ich ihm nach.

Daiki und ich hatten eine Menge Spaß. Wir verkleideten uns. Die Kleider meiner Mutter waren mir natürlich viel zu groß, aber das störte mich nicht. Der Größe nach zu urteilen, musste sie eine schlanke Frau gewesen sein. Daiki zog einen alten Anzug an, in den sie wahrscheinlich zehnmal hineingepasst hätte. Wir spielten Ehemann und Ehefrau, tollten herum und sprangen vom Sofa aus in leere Kartons hinein.

Nach einer Weile entdeckte ich etwas Merkwürdiges. Unter den vielen Kartons lag ein kleines Schmuckkästchen aus dunklem Holz. Das Behältnis sah sehr kostbar aus. Als ich es öffnete, lag ein Schreiben darin. Das vergilbte Papier war durch ein Wachssiegel verschlossen. Ich brach es auf. Es waren offenbar Anweisungen, handschriftlich verfasst.

Schützenstraße 84, 35396 Gießen

den 27.05.1978

Geehrter Kreis, aufgrund aktueller Nachforschungen kann festgehalten werden, dass unsere Identitäten noch immer sicher sind. Ein Wechsel ist demnach nicht erforderlich. Wir werden vorerst in Deutschland bleiben. Was die erwähnten Personen betrifft, leite ich im Auftrag eures Großmeisters folgende Order weiter:

Eckhard Dogmann – Er ist gefährlich. Er wird nicht nachgeben, ehe er nicht seine Rache bekommen hat. Die Befehle lauten vorerst, ihn zu beobachten. Er ist ein Dummkopf. Es sollte nicht schwer sein, sich vor ihm zu verstecken.

Prof. Dr. Leonard Grakus – Er ist ein Freund. Dennoch möchte ich, dass er einmal gründlich unter die Lupe genommen wird. Diskret, versteht sich.

Schattenschwarz – Helena ist diesem Wesen begegnet, als es sich einen Weg in unsere Welt gebahnt hat. Wir dachten, es sei gefährlich. Aber ehrlich gesagt, haben wir überhaupt nichts mehr von diesem in Leinen gehüllten Schatten gehört. Er ist untergetaucht. Solltet ihr Hinweise erhalten, die auf den Verbleib von Schattenschwarz hindeuten könnten, versteht es sich von selbst, Helena oder mir diese Informationen auf dem schnellsten Wege mitzuteilen.

Raphael – Er ist definitiv wieder da. Aber wo?

Ich verbleibe mit den besten Grüßen und zum Wohl des Widerstands,

Christoph Magoi.

Der Brief verwirrte mich. Er enthielt Befehle. Mein Vater war ein stinknormaler Geschichtsprofessor gewesen. Wer war dieser Kreis, der diese ominösen Befehle angeblich entgegennahm? Ein Widerstand? Gegen wen – oder was? Die Information, die mich am meisten aufstoßen ließ, war der Name, der an letzter Stelle stand: Raphael. Es jagte mir eine Heidenangst ein, dass ich schon wieder über diesen Namen stolperte. Bisher hatte ich noch versucht, mir einzureden, dass dieser Mann nur eine Kindheitsfantasie war. Jetzt war das nicht mehr möglich. Es konnte eine logische Erklärung dafür geben. Vielleicht hatte Finn den Namen bereits als Baby unterbewusst aufgeschnappt und jetzt war er wieder an die Oberfläche gekommen. Vielleicht war das seine Art, die Familientragödie, die uns ereilt hatte, zu bewältigen. Möglicherweise bekam er bereits als Baby genug von dem Drama mit.

Das Schreiben fest in meinen Händen rannte ich die Treppe des Dachbodens hinunter. „Ich bin gleich wieder da!“

Als ich Finns Zimmer betrat, saß er zusammengerollt in der Ecke. Er zitterte am ganzen Leib. Besorgt beugte ich mich zu ihm herunter. „Finn, was ist denn los?“

Er war völlig apathisch. „Du hast sie geöffnet! Du hättest sie nicht öffnen dürfen!“, stammelte er vor sich hin.

Ich verstand Finn einfach nicht. Aber anstatt ihn, wie ich es sonst immer tat, abzuweisen, nahm ich dieses Mal seine Hand. Ich wollte ihn trösten. Doch im selben Moment hörte ich einen lauten Knall. Die Tür zum Dachboden war mit enormer Wucht zugefallen.

Ich sprang auf und rannte die Treppe zum Dachboden hinauf. Die Tür war fest verschlossen. Man konnte nicht einen Zentimeter an ihr rütteln. Panisch hämmerte Daiki von der Innenseite gegen das massive Holz. Sie war noch da drinnen.

Jetzt kehrten die Gedanken zurück. Die dunkle Vorahnung, dass mit diesem Dachboden etwas nicht stimmte, war wieder allgegenwärtig.

Daiki schrie aus Leibeskräften. „Hol mich hier heraus!“ Sie hatte panische Angst.

Ich versuchte alles, um sie zu beruhigen. „Nur einen kurzen Augenblick! Ich habe es gleich!“ Mit aller Kraft drückte ich gegen die verdammte Tür. Es war, als würde sie jemand von innen festhalten.

„Nein! Lass mich in Ruhe! Wer bist du?“, drang es gedämpft hinter der Tür hervor. Mein Herz schlug so schnell wie nie zuvor. Wer war noch da oben? „Finn, du musst sofort Onkel Elmar holen!“, rief ich die Stufen zum Flur hinunter.

Finn erschreckte mich beinahe zu Tode. Er befand sich direkt hinter mir. Anstatt meiner Bitte nachzukommen, schob er sich an mir vorbei. Er hatte Angst. Das sah ich in seinen Augen. Doch irgendjemand musste ihm Mut zugesprochen haben. Mit ruhiger Stimme trat er an die verschlossene Tür heran. „Daiki, hörst du mich?“

„Ja, ich höre dich!“, jammerte sie.

Finn richtete seinen Blick nach oben, so als würde links neben ihm eine erwachsene Person stehen, die ihm etwas zu sagen hatte. Die Situation war unheimlich. Dann konzentrierte er sich auf Daiki. „Du musst das Kästchen schließen! Vorher wird sich die Tür nicht öffnen lassen!“

Woher wusste Finn von dem Holzkästchen?

„Ich kann nicht!“, stammelte Daiki.

„Doch, du kannst! Vertraue mir! Es wird dir nichts passieren! Zähle bis sieben, dann nimm all deinen Mut zusammen und mach es!“ Wir konnten Daikis Stimme dumpf durch die Tür wahrnehmen. Sie zählte. Danach rannte sie, den Geräuschen zu urteilen. Sekunden später öffnete sich die Tür von selbst.

Finn und ich stürmten den Dachboden, der wirkte jedoch unauffällig. Nur Daiki war anzusehen, dass etwas vorgefallen war. Sie saß verstört und weinend auf dem Boden. Neben ihr lag das Kästchen. Sie hatte es, genau wie Finn es von ihr verlangt hatte, geschlossen.

Ich legte meine Arme um Daiki. Sie zitterte am ganzen Körper. „Was ist passiert?“ Auch mir schlotterten die Knie. Daiki konnte auf meine Frage nicht antworten. Unaussprechlich war das, was sie gesehen hatte.

Finn holte schließlich Onkel Elmar hinzu. Doch auch er kam nicht an Daiki heran. Er rief ihre Eltern an und sie wurde abgeholt.

Am Abend sprach ich meinen Bruder auf die Ereignisse des Tages an. Wir saßen auf seinem Bett. Von unten klangen Geräusche des Fernsehers nach oben.

„Woher wusstest du, dass Daiki das Kästchen schließen muss, damit der Spuk ein Ende hat? Woher wusstest du überhaupt von diesem Kästchen? Ich hatte dir noch nichts von dieser Entdeckung erzählt ...“

Finn dachte kurz darüber nach, was er mir sagen wollte. „Es war Raphael, der mir alles erzählte. Du darfst das Kästchen nie wieder öffnen! Etwas Böses lauert darin!“

Ein unangenehmes Kribbeln wanderte durch meinen Körper. Der Brief, den ich in diesem Behältnis gefunden hatte, befand sich nun auf dem Schreibtisch in meinem Zimmer. Ich betete, dass der Spuk nicht auch dort haftete.

Das Erstaunliche war, dass ich meine Gedanken nicht aussprechen musste. Es war, als würde Finn in meinen Gedanken lesen. „Du musst dir keine Sorgen machen. Es war nicht Papas Schreiben, das diese merkwürdigen Ereignisse ausgelöst hat. Es befand sich noch etwas anderes in dem Kästchen.“

„Finn, darin war nichts anderes. Also wenn es nicht an diesem Stück Papier lag, was soll es dann ausgelöst haben?“

„Es ist versteckt ...“, erwiderte Finn. „Aber es befindet sich definitiv in dem Kästchen. Lassen wir es dort, dann sind wir sicher!“

Im Laufe unseres Gesprächs zeigte ich Finn das Schreiben von unserem Vater. Genau wie ich hatte er nicht die geringste Ahnung, was dieser sogenannte Kreis sein sollte, an den die merkwürdigen Befehle gerichtet waren. Auch die Befehle selbst waren für ihn nicht aufschlussreich. Er verwies auf den Namen Raphael. Er freute sich darüber, dass er auch schon unseren Eltern geholfen haben musste. Schließlich hätte Vater ihn sonst nicht kennen können. Finn fragte mich überdies, ob ich ihm nun endlich glauben würde. Seiner Meinung nach bewies das Schreiben schwarz auf weiß, dass Raphael keine Kindheitsfantasie sein konnte.

Ich sagte ihm, dass ich ihm glaubte.

Nach unserem Gespräch setzten Finn und ich uns zu unserem Onkel vor den Fernseher. Die ARD brachte außergewöhnliche Nachrichten. Zum ersten Mal war unsere Heimat in der Tagesschau zu sehen. Prof. Dr. Wolfgang Alldorf von der Universität Konstanz und sein Team hatten mithilfe eines U-Boots namens Bukefalos-77 in den Tiefen des Bodensees eine atemberaubende Entdeckung gemacht. Unter einer dicken Schicht von Schlamm und Algen fanden die Forscher die römische Rüstung eines Legionärs. Daneben lagen die Reste einer Eisenkette, die an einer schweren Schatztruhe befestigt war. Die massive Truhe war gefüllt mit goldenen Solidus-Münzen, anhand derer der Fund genauer datiert werden konnte. Er stammte aus der Zeit des Kaisers Augustus, der 31 vor Christus bis 14 nach Christus über das Imperium Romanum regierte. Das wertvollste Objekt des Fundes war ein Diamant von 150 Karat. Der Edelstein war damit wertvoller als der Koh-i-Noor, einem Diamanten von knapp 110 Karat, der über die britische Ostindien-Kompanie zu den britischen Kronjuwelen wanderte.

Der Diamant aus dem Bodensee besaß die Form einer Träne. Der Name Seeträne lag daher nicht fern. Als genauer Fundort wurde der Teufelstisch angegeben. Dieser ungewöhnliche und bedrohliche Name kam nicht von irgendwoher: Der Teufelstisch war eine unter Wasser liegende Felsformation des Bodensees. Viele Taucher waren dort ertrunken. Die steilen Felswände sorgten für eine gefährliche Orientierungslosigkeit. Zwischen der Marienschlucht und Wallhausen bildete ein gigantischer Gesteinszacken ein Plateau, von dem aus man den Teufelstisch sehen konnte.

Zu dem Zeitpunkt, als ich von der Seeträne erfuhr, befand sie sich noch in wissenschaftlicher Inspektion. Wochen später sollte der Diamant im Archäologischen Landesmuseum Konstanz ausgestellt werden.

*

Bereits einige Nächte nach den aufwühlenden Ereignissen auf dem Dachboden hatte ich wieder diesen Traum. Ich stand auf einer endlosen Wiese. Um mich herum waren Menschen, die für das riesige, metallische Objekt am Himmel etwas suchten. Wieder stach plötzlich dieser fremde Mann aus der Masse hervor. Die altmodische Kleidung, der graue Bart, die große Brille und der Zylinder kennzeichneten ihn eindeutig als Raphael. Er ging auf mich zu. Ich nahm all meinen Mut zusammen. Finn sagte mir, dass er uns immer nur geholfen hatte. Wenn mein Bruder diesem Geschöpf vertraute, dann wollte ich das auch tun. Raphael ergriff meine Hand. Die Menschenmassen um uns herum bemerkten uns nicht. „Das nicht von ihm entdeckt werden, hat höchste Priorität!“

Ich wusste sehr gut, wen oder was Raphael meinte. Die Rede war von der großen Metallkugel am Himmel, die ihre feinen Sensoren über das ganze Land ausstreckte. Es war schwierig, dieser finsteren Macht zu entgehen. Doch mein geheimnisvoller Helfer wusste einen Ausweg. Er führte mich durch die emotionslos wirkende Menschenmenge hindurch, bis wir vor einer Höhle standen, die wie aus dem Nichts aus der Wiese hervorstach. Hatte Raphael den Eingang entstehen lassen? Wir gingen hinein.

Einen kurzen Augenblick umhüllte mich tiefste Dunkelheit, doch bevor sich ein Gefühl von Angst in meinem Herzen ausbreiten konnte, stand ich an einem neuen Ort. Es war helllichter Tag und doch sah man einen so klaren und schwarzen Sternenhimmel, wie man ihn wohl nur an den Küsten des Meeres oder in den Bergen sehen konnte. Ein Mond, tausend Mal größer als der unsere, kam hinter dem Firmament hervor. Dieser Ort besaß offenbar keine Atmosphäre. Vor mir breitete sich ein weites Tal aus. Doch anstatt Wiesen, Flüsse, Berge oder Wälder sah ich eine karge Gesteinslandschaft. Sie wirkte wie die Oberfläche eines Asteroiden. Jedenfalls stellte ich mir so die Struktur eines solchen Himmelskörpers vor.

Vor mir spielte sich ein schreckliches Schauspiel ab. Es herrschte Krieg. Merkwürdige Schattengestalten stürmten aufeinander los. Sie besaßen keine erkennbare Form. Ihr Äußeres bestand nur aus einem tiefschwarzen Umriss. Es ertönten keine Geräusche. Das Schauspiel war nur ein Echo aus einer längst vergangenen Zeit. Hinter dem Schlachtfeld zeichnete sich die Skyline einer Stadt ab. Die Wolkenkratzer dieser Metropole schienen aus purem Kristall zu bestehen. Das Sonnenlicht spiegelte sich blendend in ihnen wider. Nie hatte ich etwas Vergleichbares gesehen. Raphael beobachtete, wie ich diese fremde Welt bestaunte, bis ich mich ihm zuwendete. Doch gerade als er mir etwas Wichtiges mitteilen wollte, blickte ich in das Gesicht meines Bruders.

Finn stand weinend vor mir. Er hatte mich aus dem Schlaf gerüttelt.„Du darfst dich nicht mit Raphael befassen! Er will dich nur einweihen, damit ich ihm gehorche!“ Finns Worte verstörten mich. Bisher hatte Raphael uns doch immer geholfen. Woher wusste Finn überhaupt, dass ich soeben von ihm geträumt hatte? Was auch immer hier in unser Leben eingedrungen war, zum ersten Mal war ich dazu bereit, mich nicht vor meinem Bruder zu verschließen. Ohne seine rätselhaften Worte noch weiter auf die Probe zu stellen, nahm ich Finn in den Arm und tröstete ihn.

*

Finn hatte eine Lieblingsgeschichte. Onkel Elmar musste sie ihm immer und immer wieder erzählen. Ich spreche von der Siebenschläfer-Legende. Die Erzählung besitzt im Christentum wie auch im Islam Tradition. So trug es sich angeblich zu, dass im Jahre 251 nach Christus der römische Kaiser Gaius Decius nach Ephesos kam, um der Christenverfolgung nachzugehen. Dieser Anhänger alter Traditionen sah die Herrschaft seiner heidnischen Götter bedroht und ließ jeden Menschen hinrichten, der dem neuen Gott nicht abschwor. Es war ein Massaker. Es heißt, dass Decius die vielen Toten auf den Stadtmauern stapeln ließ, bis selbst der massive Stein nachzugeben drohte. Doch sieben Christen, die als Palastdiener bei Decius angestellt waren, überlebten diesen Massenmord. Decius zwang sie, vor seinen Augen den heidnischen Göttern ein Opfer darzubringen. Als die sieben Palastdiener sich weigerten, wurden sie aufgrund ihres jugendlichen Alters nicht sofort hingerichtet. Der Kaiser gab ihnen Bedenkzeit. Die sieben nutzten die Gelegenheit und versteckten sich in einer Höhle des Berges Anchilus. Dort wollten sie, abgeschieden von der Zivilisation, zu Gott beten.

Als Kaiser Decius feststellte, dass seine Palastdiener geflohen waren, ließ er nach ihnen suchen. Erst durch ihre Eltern, denen er die schlimmste Folter androhte, erfuhr er den Aufenthaltsort der Christen. Er ließ daraufhin den Eingang der Höhle zumauern, auf dass die Christen in diesem Gefängnis verhungern sollten. Doch 197 Jahre später, nachdem sich das Christentum voll etabliert hatte, nahm das Wunder seinen Lauf. Beim Bau eines Viehstalls verwendeten einige Arbeiter das Gestein, das den Höhleneingang versperrte und die sieben Christen gefangen hielt. Gott ließ seine Schutzsuchenden daraufhin aus dem ewigen Schlaf erwachen. Keiner der sieben erkannte, dass er fast zweihundert Jahre geschlafen hatte.

So machte sich der Jüngste unter ihnen auf den Weg in die Stadt, um etwas Essbares zu kaufen. Schnell wurde ihm bewusst, dass dies nicht seine Zeit war. Denn in dieser Welt hatten die Menschen endlich zum christlichen Glauben gefunden. Vor den Stadttoren von Ephesus waren Kreuze zu erkennen und überall beteten die Menschen Christus an. Durch seine alte Tracht, auf der sogar noch der Name des Kaisers Decius erkennbar war, fiel der Jüngling schnell auf. Schließlich wurde er gefesselt vor den Bischof geführt. Die Geschichte kam ans Tageslicht. Durch die sechs anderen Christen, die in der Höhle warteten, ließ sie sich bestätigen. Als der Bischof ihnen gegenüberstand, ließ Gott ihr Antlitz erstrahlen, sodass auch die letzten Zweifler jeden Argwohn ablegen mussten. Angeblich wurde über der Höhle eine Kirche errichtet.

Mich erinnert diese Geschichte nicht nur an meinen Bruder, weil er sie so gerne hörte. Manchmal erscheint es mir, als würde auch er aus einer anderen Zeit stammen, vielleicht sogar aus einer gänzlich anderen Welt. Ich glaube, dass auch Finn irgendwo geschlafen hat, bis er irgendwann zum Leben erweckt wurde. Er passte einfach nicht in diese Welt.

*

Am 07. 07. 1984 war es so weit. Mein Bruder wurde sieben Jahre alt. Er war so besessen von der Zahl Sieben, dass mir eigentlich schon im Vornherein klar war, dass an diesem Tag irgendetwas passieren musste. Onkel hatte seine berühmte Bananen-Schokotorte gebacken. Viele bunte Knöpfe aus Lebensmittelfarbe waren darauf. Elmar stellte sie im Wohnzimmer auf den Tisch. Finn hatte Glück. Denn sein Geburtstag fiel in diesem Jahr auf einen Samstag. Er und ich schliefen also erst einmal gemütlich aus, beziehungsweise ich stand etwas früher auf, um Onkel Elmar bei den Vorbereitungen zu helfen. Wir hingen eine große Happy Birthday-Girlande an der Decke auf. Auch an Geschenken geizte Elmar nicht. Er hatte für seinen kleinen Neffen eine wirklich edle Taschenuhr besorgt. Sie war aus Silber. Der feine Glasverschluss auf der Vorderseite wies die Gravur eines Engels auf. Elmar hatte an diesem Tag allerdings noch weitaus persönlichere Geschenke für Finn. Neben dem Tisch mit der Torte lehnte ein großes Holzschwert. Das Holz war mit Mühe bearbeitet worden. Das größte Geschenk wartete allerdings nicht im Haus.

Finn stapfte leicht verschlafen die Treppe hinunter. Elmar und ich begannen, zugegeben nicht sehr synchron, ein Geburtstagsständchen für ihn zu singen. Kaum hatten wir unsere melodische Folter beendet, stürzte ich mich auf ihn. „Alles Gute für dein neues Lebensjahr, kleiner Bruder!“

Auch Elmar nahm seinen Neffen herzlich in die Arme. Finns Augen wurden größer, als sein Blick auf das Holzschwert neben der Torte fiel. Euphorisch fasste er nach dem Griff. „Ich bin der Erzengel Michael! Hüter des Gesetzes, Retter der Armen, die rechte Hand des Himmels und ...“ Weiter konnte Finn seine Spinnereien nicht mehr ausbauen.

Ich unterbrach ihn. „... und allem voran dem Windelalter frisch entwachsen!“ Ich denke, ich weiß, was er eigentlich sagen wollte, hätte ich ihn nicht unterbrochen:

„Ich bin ein Zeuge des Untergangs.“

Finn blieb keine Zeit, sich über mich zu ärgern. Denn Onkel Elmar wollte ihm unbedingt das Geschenk zeigen, in das er so viel Mühen gesteckt hatte. Wochenlang arbeitete er heimlich daran, während wir in der Schule waren. Trotz seiner kräfteraubenden Berufung als Landwirt hatte er Finn am Rande des Waldes ein stabiles und meisterlich ausgearbeitetes Baumhaus errichtet. Unglaublich, wenn ich im Nachhinein daran zurückdenke, wie er uns all die Wochen davon abhielt, in Richtung des Waldes zu gehen, nur damit wir das Baumhaus nicht entdeckten. Er hatte uns erzählt, dass ein tollwütiger Wolf dort herumspaziere und wir erst wieder in den Wald gehen dürften, sobald er diesen erlegt hätte. Elmar erfand diese Geschichte natürlich nur. Aber die Mühen hatten sich gelohnt. Nachdem Onkel uns über seine kleine Notlüge aufgeklärt hatte und wir nun endlich vor dem prächtigen Baumhaus standen, strahlten Finns Augen, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Die einzelnen Stufen der Leiter standen weit auseinander, sodass es wirklich anstrengend war, den schönen Holzbau zu erklimmen. Onkel Elmar hatte den Zugang allerdings mit Absicht so beschwerlich angelegt. Er kannte seinen Neffen einfach zu gut. So waren es genau sieben Stufen, die einen ins Baumhaus führten, nicht mehr und nicht weniger.

Auch von innen hatte Onkel Elmar es liebevoll eingerichtet. In der Mitte stand ein kleiner Tisch. An der Wand befand sich ein Regal, das mit ein paar Plastiktellern und Tassen ausgestattet war. Mit einem Flaschenzug, an dem ein Eimer befestigt war, konnte man kleinere Gegenstände rauf- und runterziehen. Sogar an eine Truhe hatte Elmar gedacht, in der wir Kinder unsere geheimsten Gegenstände verstauen konnten. Das solide Eichenholz, aus dem das Baumhaus angefertigt war, führte dazu, dass man sich sicher fühlte.

Nachdem wir das Werk unseres Onkels genaustens inspiziert hatten, aßen wir im Haus Elmars Torte. Wir aßen alle zu viel. Jedenfalls war nicht mehr viel von der Torte übrig, als wir fertig waren. Ich weiß nicht, ob mir jemals zuvor so schlecht gewesen war. Elmar hatte sich voll und ganz Zeit für uns genommen. Er spielte mit uns Verstecken, gab seinen Rücken für ganze Huckepack-Rundgänge her und er erlaubte uns sogar, das halbe Mobiliar im Haus umzustellen, damit sich eine Couch besser als Insel und so mancher Schreibtischstuhl besser als Boot eignete.

Gegen Mittag musste Onkel aber noch einigen Verpflichtungen bezüglich des Hofs nachgehen, weshalb er uns für mehrere Stunden alleine ließ. Wir saßen ungeduldig und leicht erschöpft vom Vormittag am Tisch. Mein Bruder war dabei, seine neue Taschenuhr hin und her zu pendeln. In seinen Augen lag eine verborgene Trauer. Sie kämpfte mit dem Glück, das der schöne Tag bisher hervorgebracht hatte.

„Was ist los?“, fragte ich Finn schließlich.

Er blickte zu mir auf. Seine großen, braunen Augen hatten noch nicht entschieden, ob sie mir vertrauen wollten.

„Finn, bitte, ich bin deine große Schwester. Ich würde sehr gerne erfahren, was dich bedrückt.“

Auf den Lippen meines Bruders zeichnete sich ein Lächeln ab. Er war froh, dass ich endlich darum bemüht war, meinen Platz in seinem Leben einzunehmen. „Ach, Elli, ich habe dir so vieles noch nicht erzählt!“

Ich nahm seine Hand. „Was auch immer du für eine Bürde trägst, lass mich dir etwas davon abnehmen!“

„Raphael ist gegangen!“ Diese Worte kamen meinem Bruder nur schwer über die Lippen.

Aus irgendeinem Grund schockierte auch mich seine Aussage. „Wie meinst du das: Er ist gegangen?“

„Raphael hatte es mir immer wieder gesagt ...“, antwortete Finn. „Er würde nur bis zu meinem siebten Lebensjahr in der Lage sein, mir zu helfen. Und jetzt ist er tatsächlich weg. In keinem Element vermag ich ihn noch zu erblicken ...“

Ich nahm meinen Bruder in den Arm. „Wobei wollte er dir denn helfen?“, fragte ich Finn.

Sein Blick wanderte verträumt zu jenem Fenster, das die Sicht auf unser Grundstück preisgab. Es war stürmisch draußen. Der Wind bog die Äste der Bäume durch und die Schaukel in unserem Garten wippte hin und her. Dahinter war Onkel Elmar zusammen mit zwei Aushilfskräften zu sehen. Sie beackerten eines der Felder.

„Wobei wollte Raphael dir helfen?“, fragte ich noch einmal.

Etwas lastete schwer auf der Seele meines Bruders. Er sah mich mit seinen verträumten Augen an. Nein, er sah mich nicht nur an. Er blickte bis in mein Innerstes hinein. Doch dieses Mal blieb ich stark. „Ich denke, es ist das Beste, wenn ich es dir zeige!“ Kaum hatte er dies gesagt, ging er entschlossen die Treppen hinauf. Ich folgte ihm. Wir blieben vor dem Dachboden stehen.

„Ich dachte die ganze Zeit über, dass Raphael uns beschützen wollte. In Wahrheit gibt es dort oben eine Aufgabe, die erfüllt werden muss.“ Finn hielt kurz inne und schluckte. Dann blickte er mich flehend an. „Alleine bringe ich nicht den Mut auf, nach dem zu suchen, was Raphael mir aufgetragen hat.“ Finn streckte mir seine Hand entgegen. „Hilfst du mir?“ Seine Stimme zitterte vor Furcht.

Es war erstaunlich, welchen Mut mein kleiner Bruder bereits mit seinen sieben Jahren aufbringen konnte. Er hatte wohl so vieles mehr gesehen als wir anderen. Er nahm Dinge wahr, die niemand sonst sehen konnte. Teilweise waren es Dinge, bei deren Anblick selbst der mutigste Erwachsene den Verstand verloren hätte. Ich ahnte irgendwie schon damals, was auf mich zukommen würde. Dennoch ergriff ich an diesem Tag die Hand meines Bruders. Er sollte seine schwere Bürde nicht alleine tragen müssen. Das hatte er nicht verdient. So kam es, dass wir tatsächlich noch einmal diese Treppenstufen hinaufgingen. Die furchtbaren Erinnerungen kamen wieder hoch. Jeglicher Kontakt zu Daiki wurde mir seit dem Vorfall, als sie auf diesem verfluchten Dachboden mit etwas Unaussprechlichem konfrontiert worden war, von ihren Eltern verweigert. Was hauste hier oben, das so schlimm sein konnte?

Die Tür knarrte, als ich sie öffnete. Finns Hände umklammerten die meinen mit festem Druck. Es wirkte alles ruhig. Das kleine Kästchen lag noch immer an der Stelle, wo Daiki es zurückgelassen hatte. Langsamen Schrittes gingen wir auf das Behältnis zu, als wäre es ein schlafendes Raubtier, das wir unter keinen Umständen wecken sollten.

Vorsichtig nahm Finn das Kästchen in die Hand. „Es ist aus Ebenholz“, sagte er verblüfft. „Weißt du, welche Wirkung man diesem edlen Material nachsagt?“ Ich schüttelte den Kopf. In flüsternder Stimme, so als würde er ein Geheimnis ausplaudern, das niemand erfahren durfte, klärte Finn mich auf. „Es gibt eine Welt, hinter der unseren. Die beiden Welten verfließen miteinander. Nur Ebenholz hat einen festen Stand. Es verhält sich wie eine Mauer, welche die Welten nicht überwinden können.“

Ich musste nicht nachfragen, welche andere Welt Finn meinte. Obgleich ich nichts über sie wusste, glaubte ich, sie auch selbst schon gesehen zu haben. „Wer sind sie? Was für ein Wesen ist das, welches nur von Ebenholz in Schach gehalten werden kann?“

Finn sah mich konzentriert an. Dann wanderte sein Blick auf das Kästchen in seinen Händen. Mit nur einem Wort beantwortete er meine Frage. Doch dieses eine Wort besaß eine unglaubliche Kraft.

Wenn man die Wahrheit hinter diesem Begriff zu verstehen beginnt, lässt es sich fast nicht mehr aussprechen. Denn sie sind überall und es ist gefährlich, ihren Namen zu nennen.

„Dämonen ...“

Zuerst zögerte ich, doch dann bat ich Finn, mir das Ebenholzkästchen zu reichen. Allen Mut zusammennehmend, öffnete ich das Behältnis. Beinahe enttäuscht musste ich feststellen, dass es leer war. Es war mit einem roten Samtstoff ausgekleidet. „Wie ich schon gesagt habe: Nur der Brief von Papa befand sich darin.“

Finn nahm mir das Kästchen aus der Hand. Als hätte er es gewusst, entfernte er den roten Boden. Tatsächlich verbarg sich dahinter etwas. Es war so gut versteckt, dass unsere Eltern wohl nicht gewollt hatten, dass es gefunden wird.

Finn als auch ich konnten unsere Augen nicht mehr davon nehmen. Es glänzte und funkelte. Mein Bruder hielt einen Diamanten in der Hand. Er hatte die Form einer flachen Scheibe, auf der sich reliefartig ein Sechsstern abhob. Das wertvolle Mineral war von hellblauer Farbe, durchscheinend, als wäre der Himmel darin gefangen. Die Form war für einen Edelstein jedoch sonderbar. Beinahe konnte man glauben, dass er die Funktion eines Amulettes übernahm. Selbst der Great Star of Africa, der sich im Krönungszepter des britischen Königshauses befindet, konnte nicht schöner aussehen. Dieser Diamant konnte einfach keine Fälschung sein.

Ich entflammte in bedingungsloser Euphorie. „Wir müssen diesen Stein Onkel Elmar zeigen!“, sagte ich. „Wir sind reich!“ Ich riss Finn den Diamanten aus der Hand, sprang auf und wollte den Dachboden verlassen.

Doch Finn hinderte mich daran. Er hielt mich am Handgelenk fest. „Nein, Onkel Elmar darf nichts von alledem erfahren und dieser Edelstein wird uns auch nicht reich machen!“ In der Stimme meines Bruders lag ein energischer Nachdruck. Er sah mich entschlossen an. „Dieser Diamant ist böse! Er darf unter keinen Umständen mit den Menschen in Berührung kommen!“

Ich wusste nicht genau, was Finn damit meinte, aber seine Einstellung passte mir ganz und gar nicht. „Onkel Elmar hat ein Recht darauf, von diesem Stein zu erfahren! Wir können ja dann sehen, was er damit vorhat!“ Ohne weiter auf meinen Bruder einzugehen, rannte ich die Treppen hinunter.

Er lief mir schreiend hinterher. „Elli, du bringst uns alle in Gefahr!“ Mehr konnte Finn nicht mehr von sich geben. Denn Onkel Elmar stand bereits im Flur und es brauchte keine Sekunde, bis er den wertvollen Gegenstand in meiner Hand entdeckte.

„Was ist das?“, fragte er erstaunt.

Ich legte Elmar den Diamanten in seine großen Hände. Irgendwie glaubte ich, dass der wunderschöne Edelstein dort nicht mehr von Finn geheim gehalten werden konnte. „Das ist ein Diamant, Onkelchen, ein waschechter Diamant! Finn fand ihn in einer Truhe, die unseren Eltern gehört haben muss.“ Eigentlich war es völlig irrational, dass ich bereit war, Elmar alles über diesen Gegenstand zu verraten, ihm aber nicht von dem Schreiben erzählte, das ich zuvor in dem Ebenholzkästchen gefunden hatte.

Finn tobte vor Wut. Wieder einmal hatte ich ihn enttäuscht. Onkel Elmar versuchte, ihn aufzumuntern. Es gelang ihm nicht. Onkel wollte den Edelstein gleich Anfang der nächsten Woche schätzen lassen. Leider war es nicht bloß eine natürliche Neugier, die ihn dazu veranlasste, herauszufinden, ob es sich bei dem Objekt wirklich um einen Diamanten handelte. Finn konnte nichts machen. Der bisher so schöne Tag hatte jetzt sein jähes Ende gefunden. Finn redete nicht ein Wort mehr mit mir, während wir alle mit bedrückter Stimmung am Mittagstisch saßen. Elmar versuchte, mehrmals darauf einzugehen, dass der Diamant einige finanzielle Probleme für uns alle lösen könne, doch mein Bruder wollte davon nichts hören. Immer wieder appellierte er an uns, ihm den Stein zu geben.

Am Nachmittag musste Elmar noch einmal in den Stall. Im Nachhinein war sein Verhalten schon zu diesem Zeitpunkt merkwürdig. Er drängte uns geradezu, die Zeit ohne ihn im neuen Baumhaus zu verbringen. Es hatte den Anschein, als wollte er uns für einige Stunden loswerden.

Schweigend kletterte ich Finn hinterher, als er die sieben Stufen erklomm. In meinem Inneren breitete sich ein merkwürdiges Gefühl aus. Denn als Onkel Elmar uns alleine ließ, spürte ich ein unendliches Verlangen, lieber mit ihm mitzugehen, anstatt mich den Rest des Tages mit meinem Bruder und seinem Geburtstag auseinanderzusetzen. Der Grund für mein Verlangen war gleichwohl banal wie erschreckend. Ich wollte einfach nur in der Nähe dieses Diamanten sein. Zudem entwickelte sich in meinem Herzen sogar die Angst, Elmar könne mir den Stein wegnehmen.

Finn und ich lehnten uns aus dem Fenster. Vor uns erhob sich die Kulisse eines dichten Waldes. Der Gesang von Vögeln war zu hören. Die Welt schien friedlich. Doch das, was ich heraufbeschworen hatte, überdeckte diesen Trugschluss.

„Bist du gar nicht sauer?“

Das Gesicht meines Bruders wurde ernst, so als hätte ich ihn aus einer fernen und heilen Welt zurückgeholt. „Nein, ich bin nicht sauer ...“, sagte er. „Es ist nämlich nicht deine Schuld, dass du so gehandelt hast. Der Stein hat dich beeinflusst.“ Finns Stimme klang ruhig, aber durchaus besorgt. Ich schüttelte nur den Kopf. Doch er gab nicht auf. Er fixierte mich, wandte seinen Blick nicht eine Sekunde von mir ab. „Glaubst du etwa, dass Mama und Papa den Edelstein aus Spaß versteckt haben?“

Ich wollte nicht auf diese Frage eingehen, aber Finn ließ einfach nicht locker. „Er steckte in einem doppelten Boden eines Ebenholzkästchens. Es wehrt Kräfte ab, die ein Mensch nur im Ansatz begreifen kann. Unsere Eltern wussten das. Dieser Diamant ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.“

Ein Teil in mir reagierte auf Finn. Dennoch blieb ich stur. Ich wollte diesen Diamanten um jeden Preis behalten. „Du kannst nicht wissen, weshalb unsere Eltern den Stein versteckt haben ...“, entgegnete ich Finn.

Er hingegen wehrte jeden Ansatz eines Widerwortes ab. Traurigkeit zeichnete sein Gesicht. Unsere Augen trafen sich. Zu einer Einigung kamen sie jedoch nicht. Mein Bruder fasste in diesem Augenblick einen Entschluss, der Konsequenzen nach sich zog, die mich noch lange verfolgen würden. „Ich habe mir so gewünscht, dass ich meinen Weg nicht alleine beschreiten brauche“, flüsterte Finn. „Aber scheinbar ist das mein Schicksal.“ Langsamen Schrittes ging mein Bruder auf mich zu. Dann legte er seine Hände auf meine Schultern und sah mich auf eine Art und Weise an, der ich kaum standhalten konnte. „Ich bin dir nicht böse. Du bist meine Schwester und das wirst du auch immer sein. Aber von nun an werde ich dich nicht mehr an meinem Schicksal teilhaben lassen.“

Ich denke, dass Finns Worte mich ein Stück weit aus meinem Wahn befreiten. Jedenfalls versetzten sie mir einen gehörigen Schlag und ich spürte, dass ich einen riesigen Fehler begangen hatte. Doch bevor Traurigkeit mein Herz ausfüllte, kroch wieder die Gier empor, die Gier nach diesem wundervollen Edelstein. Er erinnerte mich an die Seeträne, den Diamanten, der im Bodensee gefunden wurde. Die Gier in mir konnte auch durch das Folgende meines Bruders nicht bekämpft werden.

„Das Verrückte ist, dass ich anfangs meine Bürde sowieso alleine tragen wollte. Doch nachdem Raphael dich in deinen Träumen aufsuchte, fing mir der Gedanke an zu gefallen, wir könnten diesen Weg gemeinsam gehen. Aber vielleicht ist es besser so, wie es ist.“

Ich wollte einfach nur noch weg. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stieg ich die siebenstufige Leiter des Baumhauses hinab.

Mein Bruder und ich sprachen an diesem Tag kein Wort mehr miteinander. Gewissensbisse hatte ich keine. Meine Gedanken umkreisten einzig und allein den Diamanten. Onkel Elmar hatte ihn in den Nachttisch neben seinem Bett gelegt. Das hatte ich mitbekommen. Gleich nach dem Wochenende wollte er den Wert des Edelsteins schätzen lassen. Doch erst einmal stand der Sonntag vor der Tür. Ihm blieb also keine andere Möglichkeit, als zu warten. Auch er war von der hellblauen Scheibe fasziniert. An Finns Geburtstag hatte Onkel Elmar sich den ganzen Nachmittag nicht mehr mit uns beschäftigt. Es war, als wäre er ein anderer, einer, der nicht fähig gewesen wäre, seinem Neffen ein Baumhaus zu bauen. Dieser Diamant war schuld. Er kam in unser Leben, ein Gegenstand, in den ich all meine Hoffnungen setzte, obwohl ich eigentlich überhaupt nicht wusste, warum. In Wirklichkeit brachte er nur Zerstörung in einem Ausmaß, das ich nicht einmal ansatzweise begreifen konnte.

*

Als ich unter der Plage all dieser Gedanken einschlief, hatte ich erneut diesen sonderbaren Traum. Wieder stand ich auf einer endlosen Wiese. Massen von Menschen wandelten um mich herum. Sie bemerkten mich nicht. Am Himmel befand sich diese gigantische Metallkugel. Raphael tauchte aus der Menschenmasse hervor. Er wirkte wie ein Adliger aus dem 16. oder 17. Jahrhundert.

Raphael ging auf mich zu und ergriff meine Hand. Der Traum hatte sich nicht verändert. „Unentdeckt bleiben, steht für uns im Fokus!“

Die Metallkugel am Himmel schien nach uns zu suchen. Ich spürte, dass es so war. Man konnte dieser finsteren Macht kaum entgehen. Doch Raphael wusste, was wir tun mussten. Er führte mich durch die Menschenmassen hindurch, bis wir vor einer Höhle standen. Nachdem wir die Höhle betreten hatten, befand ich mich auf dieser fremden Welt, von der ich auch das letzte Mal geträumt hatte. Tag und Nacht existierten gemeinsam. Ein Mond mit extremen Ausmaßen bedeckte den halben Himmel. Vor meinen Augen befand sich ein weites Tal aus karger Gesteinslandschaft. Ich hatte keinen Zweifel mehr: Ich befand mich auf einem Asteroiden. Wieder spielte sich ein schreckliches Schauspiel ab. Gestalten ohne Struktur, leblose Silhouetten, stürmten aufeinander los. Die tiefschwarzen Umrisse befanden sich in einem heftigen Kampf. Im Hintergrund befand sich diese eigenartige, fremde Stadt. Wolkenkratzer aus purem Kristall leuchteten unter dem Licht der Sonne.

Raphael befand sich dicht neben mir. „Die von ihm hier gelebte Zeit dauerte recht lang“, sagte er fast beiläufig.

Ich blickte Raphael in die Augen. Was besaß dieser Mann bloß für eine eigenartige Formulierung. „Wen meinst du? Wer will an diesem Ort leben? Doch nicht Finn, oder?“

Raphael schüttelte nachdenklich den Kopf. „Der Umstand des noch niemals hier Seins deines Bruders ist die Antwort auf deine Frage.“ Kaum hatte Raphael seinen Satz beendet, ergriff er meine Hand. Noch im selben Moment befanden wir uns an einem anderen Ort.

Um mich herum formten sich in den Himmel ragende Mauern aus purem Kristall. Gebäudeartige Strukturen untermalten das Bild. Auch sie bestanden aus leicht transparentem und strahlendem Erz. Mir war bewusst, dass ich mich in jener fremdartigen Stadt befand, die ich eine Sekunde zuvor noch aus der Ferne gesehen hatte. Doch diese Metropole aus Edelstein war leer. Kein Leben war in ihr zu erkennen. Niemand befand sich auf den Straßen – außer Raphael und mir. Er führte mich durch die Gassen, bis wir vor den Stufen eines gewaltigen Tempels standen. Über den Treppen, die auf das Podium des Prachtbaus führten, ragten gigantische Säulen empor, die ein Gebälk und ein Satteldach trugen. Die gesamte Konstruktion schien aus purem Glas zu sein, ähnelte aber in ihrer Architektur den Göttertempeln der römischen Antike. Raphael führte mich die Treppenstufen hinauf. In der Cella des Gebäudes befanden sich Statuen von Engeln.

Am Ende des Raumes stand eine große, sechseckige Tafel. Auch sie bestand aus purem Diamant. Darauf lag ein altes, in Leder gebundenes Buch. Es war riesengroß, nicht viel kleiner als mein Kinderkörper, den ich damals noch besaß. Der Einband wurde durch sieben massive, rostige Schlösser zusammengehalten. Raphael verlangte von mir, das Buch zu betrachten. Sieben Einkerbungen waren auf den Schlössern zu sehen. Bis auf die siebte waren sie alle rund. Irgendetwas musste sich in ihnen befunden haben. Vielleicht waren es Schlüssellöcher. Die Schlüssel fehlten jedoch.

„Dieses als Kodex bezeichnete Buch“, sagte Raphael mit ruhiger Stimme, „ist durch das Fehlen der sich einst in den Öffnungen befundenen Diamanten fest verschlossen.“

Mein Begleiter musste nichts weiter sagen. Ich stahl ihm die weiteren Worte. „Der Diamant aus dem Ebenholzkästchen, er ist einer von ihnen.“

„Korrektheit!“, antwortete Raphael.

Diese Information löste Panik in mir aus. Finn hatte mich vor diesem Stein gewarnt und ich konnte nun erahnen, dass er mit allem recht gehabt hatte.

„Durch den sich auf alle wie eine Pest übertragenden Neid innerhalb des Steines“, fuhr Raphael fort, „ist es ein verseuchtes und überaus gefährliches Artefakt.“

Nun verstand ich es. Es war der Diamant, der aus mir gesprochen hatte. Finn wusste, dass es nicht meine Schuld gewesen war. Mir wurde aber auch klar, in welche Gefahr ich meine Familie gebracht hatte. Onkel Elmar war nun im Besitz des Steines. Sein Verstand musste bereits manipuliert worden sein, genau wie es bei mir der Fall gewesen war. Wir brauchten Hilfe in dieser Sache, und als ich diese von Raphael erbitten wollte, fiel mir wieder ein, was Finn zu mir gesagt hatte. „Warum hast du meinen Bruder verlassen? Er braucht deine Hilfe.“

Raphael reagierte mit ruhiger Bestürzung auf meinen Vorwurf. Doch in seinem traurigen Blick war zu erkennen, dass er keine Wahl hatte. „Die Regel der Begleitung eines Zeugen bis einschließlich des siebten Lebensjahrs kann auch ich nicht umgehen. Passive Hilfen in Situationen der Not sind alles, was ich noch aufbringen kann. Die durch mein in den Hintergrund Treten herbeigeführte Leere, muss durch dich wieder gefüllt werden.“ Raphael war gerade dabei, mir eine Bürde aufzuerlegen, die ich unmöglich tragen konnte. Denn all dies entzog sich meinem Verstand.

„Ich kann ihm nicht helfen!“, erwiderte ich. „Ich habe ihn bisher immer nur ...“ Ich kam nicht mehr dazu, meinen Satz zu beenden. Raphael ging einen Schritt auf mich zu. Dann drückte er mir seine offene Handfläche auf die Stirn. Ich erwachte aus dem Traum. Ich war schweißgebadet und mein Herz pulsierte wie ein Presslufthammer. So war es stets, wenn dieser Traum in mein Leben kam. Er war wie ein Buch, das mir immer mehr Seiten offenbarte. Erschöpft schloss ich die Augen. Ich ließ mich in mein Bett zurückfallen.

*

Am nächsten Tag erwachte ich durch lautes hysterisches Geschrei und die Geräusche zerbrechender Möbel. Glas zerschellte durch heftige Wucht. Es war mein Onkel. Ich sah auf meinen Wecker. 08:54 Uhr war es. Normalerweise weckte Elmar meinen Bruder und mich immer rechtzeitig, damit wir um Punkt 09:00 Uhr im Gottesdienst sein konnten. Noch nie zuvor hatte mein Onkel das vergessen. Mir war bewusst, dass hier irgendwas gewaltig nicht stimmte. Ich zuckte zusammen, als das hysterische Brüllen von Elmar erneut ertönte.

„WO IST DIESER VERDAMMTE STEIN?“

Auf der Suche nach dem Diamanten stellte er die Wohnung auf den Kopf und zerlegte sämtliches Mobiliar. Ich wusste sofort, was geschehen war. Finn hatte versucht, die Situation geradezubiegen, in die ich uns alle überhaupt erst gebracht hatte. Ich lief sofort in sein Zimmer, wo sich meine Vermutung bestätigte. Er saß mit dem Ebenholzkästchen auf dem Bett. Er versuchte, es vor mir zu verstecken.

„Nein, es ist okay“, beschwichtigte ich ihn. „Ich weiß jetzt, dass du recht gehabt hast! Dieser Diamant ist gefährlich ...“

Mein Bruder sah mich verwirrt an. Seine dunkelbraunen Augen verstanden nicht, wie ich von meiner Besessenheit geheilt werden konnte.

„Es war Raphael. Es tut mir so unendlich leid, Finn ...“ Ich versuchte, auf meinen Bruder zuzugehen, doch er wies mich ab mit einer Geste, die keinen Zweifel zuließ.

„Das Letzte, was Raphael mir sagte, bevor er mich verließ, war, dass ich dich einweihen solle. Er sagte, dass du mich in meiner Aufgabe unterstützen wirst. Dann habe ich dir den Stein gezeigt und er hat sofort Besitz von dir ergriffen.“ Finn schüttelte bloß den Kopf. Dieses einschneidende Erlebnis hatte ihn verändert. „Es tut mir leid, Elli! Ich muss diese Bürde alleine tragen!“

Tatsächlich glaubte ich, dass er recht hatte. Ich war seiner Aufgabe nicht würdig.

Durch den Boden drang noch immer das wütende Geheul von Onkel Elmar. Innerhalb von 24 Stunden hatte dieser Stein seine Persönlichkeit komplett verändert. Er wurde indoktriniert. Nachdem er den Diamanten in der unteren Etage nicht finden konnte, stapfte er wütend die Treppe hinauf. Hastig wendete ich mich an Finn. „Weg mit dem Stein und dem Kästchen, sofort!“

Finns Blick wanderte durch das Zimmer. Es gab kein gutes Versteck für einen solch gefährlichen Gegenstand. Als Onkel Elmar nur noch wenige Schritte entfernt war, schleuderte Finn das Kästchen, ohne weiter darüber nachzudenken, aus dem Fenster. Ein großer Dornenbusch und allerlei anderes Gestrüpp befanden sich unter seinem Zimmer. Die Idee war also gar nicht dumm. Elmar würde den Stein nicht sofort finden.

Als er im Türrahmen stand, lief mir ein grausiger Schauer über den Rücken. Sein sonst so freundliches Gesicht war von Wut durchzogen. Mein Bruder und ich rührten uns keinen Zentimeter. Elmar analysierte die Lage. Dann wanderte sein Blick zu mir. „Was habt ihr hier gemacht?“, fragte er mich in einem Ton, der drohender nicht hätte sein können.

„Wir haben uns nur gewundert, dass du uns nicht geweckt hast“, antwortete ich mit einem Puls, der meine Stimme zittern ließ.

Es war nicht schwer, zu erkennen, dass ich gelogen hatte. Elmar setzte zwei weitere Schritte in das Zimmer. „Der Diamant ist weg! Er ist weg!“ Er klang so wütend. Sein Blick wanderte jetzt langsam zu Finn herüber.„Du glaubtest gestern noch, dass der Edelstein dunkle Kräfte besitzt. Konntest du dich von deinen Kindheitsfantasien losreißen!“ In Onkel Elmars Stimme lag ein drohender Unterton.

Eingeschüchtert nickte Finn.

„Bist du sicher?“, fragte Elmar und ging dabei einen weiteren Schritt auf ihn zu. „Denn wenn du dich nicht von deinen Hirngespinsten losgerissen hast, du womöglich den Diamanten geklaut hast, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, dies zu gestehen!“

Stotternd antwortete Finn: „Ich habe nichts getan!“

Elmar dachte offenbar einen Moment darüber nach, ob er seinem Neffen glauben konnte. Doch schließlich stapfte er wütenden Schrittes aus dem Zimmer und die Treppe wieder hinunter. Wir hörten nur noch die Haustür knallen. Finn und ich atmeten erleichtert auf. Ich erkannte nun die Gefahr, die von diesem Diamanten ausging. Ich hoffte nur, dass der Einfluss nachlassen würde, sobald wir den Stein aus Elmars Reichweite gebracht hätten. „Was sollen wir jetzt machen?“, fragte ich Finn verzweifelt.

Schnell bildete sich in seinen Augen ein Ausdruck von Entschlossenheit. „Komm mit!“ Er ging zu seinem Schrank und holte einen kleinen Rucksack hervor. Dann nahm er meine Hand und führte mich schweigend aus dem Zimmer und die Treppen hinunter.

„Wir müssen aufpassen, dass Elmar uns nicht sieht“, sagte ich, während wir unsere Schuhe anzogen.

„Wir bringen den Stein an einen sicheren Ort!“ Mein Bruder öffnete die Tür vorerst nur einen kleinen Spalt, hielt seinen Kopf hinaus und sondierte die Lage. „Die Luft ist rein. Onkel Elmar scheint im Stall zu sein.“ Finn nutzte die Gelegenheit und rannte um unser Haus herum. Wir hatten Glück. Wir waren nicht aufgeflogen. Das Ebenholzkästchen lag im Dornenbusch unterhalb von Finns Zimmer. Mein Bruder nahm das Kästchen und versteckte es hastig in seinem Rucksack.

„Und was jetzt? Wo soll dieser sichere Ort sein?“

„Folge mir einfach!“

Wir rannten am Maisacker vorbei bis an den Waldrand. Erst vor seinem Baumhaus blieb Finn stehen. Ich zweifelte. „Glaubst du wirklich, dass der Stein hier in Sicherheit ist?“

Mein Bruder teilte meinen Zweifel keineswegs. „Hast du mal die starken Äste gezählt, auf die sich das Baumhaus stützt?“

Ich sah auf Finns Frage hin den Baum hinauf. Eigentlich hätte ich es mir damals schon denken können: Das Baumhaus stand auf sieben starken Ästen. Der Gedanke, dass Finn sich scheinbar wieder einmal ausschließlich auf diese banale Zahl verlassen wollte, setzte mir etwas zu. Ich wollte gerade den Mund aufmachen und protestieren, als mir plötzlich in den Sinn kam, dass es immer ein Fehler gewesen war, Finn zu widersprechen. Ich setzte alles daran, um ihm endlich zu vertrauen.

Wir gingen die sieben Stufen der Leiter hinauf. Als wir oben ankamen, sah ich sofort, dass eine der Dielen herausgesprungen war. Eigentlich war Elmar ein äußerst fähiger Handwerker und das Baumhaus war gerade erst fertiggestellt worden. Es verwunderte mich ein wenig, dass die Holzlatte wie herausgerissen dalag. Vor allem, da die Latten festgeschraubt waren. „Warst du das, Finn?“

Mein Bruder lächelte mich an. „Nein“, erwiderte er. „Aber das ist das perfekte Versteck für das Kästchen!“

Finn hatte recht. Das Baumhaus besaß einen doppelten Boden. Onkel Elmar wollte damit eigentlich nur die Sicherheit verbessern. Doch wir nutzten diesen doppelten Boden als Versteck. Der Platz war ideal. Ohne weiter darüber nachzudenken, legte Finn das Kästchen behutsam in die Öffnung hinein. Dann deckte er die Holzlatte darüber.

„Wir müssen in den nächsten Tagen auf jeden Fall noch einmal wiederkommen und die Latte festschrauben“, bemerkte ich beiläufig.

Finn stimmte mir schweigend zu.

„Wird Onkel Elmar wieder normal werden?“ Ich fing an zu schluchzen. Die Frage war einfach so aus mir herausgekommen.

Finn nahm mich in den Arm. „Onkel Elmar besitzt ein großes Herz ... Wenn sich jemand von diesem Fluch losreißen kann, dann er!“

Wir beschlossen, nicht lange am Baumhaus zu verweilen. Kaum hatten wir aber die siebte Leiterstufe verlassen, hörten wir plötzlich einen Mann schreien.

„Barghest! Bleib stehen!“ Die Laute kamen direkt aus dem Wald. „Barghest! Bleibst du wohl hier!“

Ein paar Sekunden später tauchte hinter den vielen Baumstämmen ein Hund auf – eine Deutsche Dogge. Das Tier war gewaltig, ein Ungetüm, und es hastete auf uns zu. Im Hintergrund tauchte plötzlich auch das Herrchen auf, ein riesengroßer und ausgesprochen hässlicher Mann. Als er uns aus der Ferne sah, gab es nur noch eins, was er uns zu sagen hatte. „Lauft! Der Hund ist bissig!“

Ich wollte mir die Worte des Fremden nicht zweimal sagen lassen und rannte los. Doch nach ein paar Metern bemerkte ich, dass Finn mir nicht gefolgt war. Er war einfach wie angewurzelt stehen geblieben.

Voller Panik rannte ich zurück. „Finn, los! Komm jetzt!“

Auch der fremde Mann versuchte es noch einmal. „Los! Der Hund wird euch zerreißen!“

Es war zu spät. Die große Dogge hatte uns erreicht, doch anstatt uns zu zerfleischen, wedelte sie plötzlich mit dem Schwanz und ließ sich von meinem Bruder streicheln.

Mein Puls beruhigte sich. Keuchend kam nun auch der hässliche Mann bei uns an. Ich traute mich nicht richtig, ihn anzusehen. Er war sicherlich über zwei Meter groß. Ich hätte mir vermutlich den Hals verrenken müssen, um ihm richtig ins Gesicht zu sehen. Er hatte eine Glatze – das konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt behalten. Das, was ihn auf den ersten Blick so entstellte, war eine große Brandnarbe über dem linken Auge.

„Das gibt es doch nicht!“, sagte er. „Der Hund war bis jetzt eigentlich immer bissig.“ Der Mann nahm seinen Hund trotz der Zutraulichkeit sofort wieder an die Leine. Er entschuldigte sich inständig bei uns. Dann verschwand er wieder.

Als ich Finn fragte, ob er nicht befürchtet hatte, von dem riesigen Tier zerfleischt zu werden, antwortete er, er habe irgendwie gewusst, dass der Hund ihm nichts antun würde.

Es war schon komisch: Wäre es ein schwarzer Hund gewesen, hätte er fast ein dunkles Omen für das sein können, was an diesem Tag noch passieren sollte.

Teufelsträne - Zeugen des Untergangs

Подняться наверх