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Оглавление1. Beten – ein universelles Phänomen
Zu allen Zeiten haben Menschen gebetet. Beten gehört zur religiösen Praxis der schrift- und geschichtslosen Völker ebenso wie zu den Hochreligionen. Solange wir den Menschen in seinem religiösen Verhalten beobachten können, betet er zu der ihm bekannt gewordenen Gottheit. Wo das Gebet gänzlich verstummt, da ist es um die Religion geschehen. Das persönliche wie das gemeinsame Gebet ist also das Herz jeder Religion. Es kann sich als Dank, Lobpreis, Sündenbekenntnis äußern, ist aber im Grunde immer ein Bitten des bedürftigen Menschen vor dem gebenden Gott.
Beten ist menschlich
Jede und jeder hat sicher schon Menschen beten gesehen, zumindest im Fernsehen. Meistens sind es Muslime, die beim Freitagsgebet in der Moschee gezeigt werden. Christen sind zurückhaltender geworden, wenn es um das Beten in der Öffentlichkeit geht. Zwar läuten morgens, mittags und abends die Glocken, und die eine oder der andere weiß noch, dass sie zum „Angelus“, zum „Engel des Herrn“, einladen; der eine oder die andere wird daheim, im Krankenhaus oder Altersheim der Einladung auch folgen und den Engel des Herrn beten, wie sie und er es von Kind auf gelernt haben. Doch ein öffentliches Gebet, bei dem früher die Arbeit unterbrochen wurde und die Männer den Hut abnahmen, ist es nicht mehr. In der Öffentlichkeit zu beten ist unüblich, ja unschicklich geworden, für manche gar verpönt; es gehört sich nicht. Als ich zur Schule ging, begann der Lehrer den Unterricht mit einem Gebet, in den höheren Klassen ließ er uns Schüler selbst vorbeten, wobei jeder einen Text wählen oder frei formulieren durfte. Am humanistischen Gymnasium in den 1960er Jahren erlebte ich dann, wie der Latein-Lehrer das Vaterunser auf Latein, der Griechisch-Lehrer dasselbe Gebet auf Griechisch mit uns betete, je nachdem, ob Latein oder Griechisch in die ersten zwei Stunden des Tages fiel; später, als wir auch Englisch dazubekamen, lernte ich vom evangelischen Lehrer das Vaterunser auch auf Englisch. Rituale wie das Morgengebet, das Entzünden der Kerzen am Adventskranz, das Basteln von Strohsternen, das Sternsingen, die Osterkerze, das Lernen von Liedern im Lauf des Kirchenjahres und vieles andere mehr gehörte zum Schulprogramm. Heute bin ich dankbar dafür; auch meine Schulkameraden sind es, oder wenn sie sich nicht lobend äußern, so sagen sie doch: „Es hat uns nicht geschadet.“
Was zu meiner Schulzeit noch selbstverständlich war, wurde dann ab der Studentenrevolte 1968 immer mehr in Frage gestellt, kritisiert, abgelehnt – im Namen der Freiheit, der Individualität, der Neutralität des Staates und der Toleranz gegenüber anderen Religionen. Das sind zweifellos hohe Werte. Sie schließen aber ein öffentliches Glaubensbekenntnis nicht aus, solange dieses andere Bekenntnisse neben sich zulässt. Die Religions-, Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit sind von unserem Grundgesetz garantiert. Sie gehören zur Demokratie.
Seitdem in der Französischen Revolution die Vernunft (ratio) auf den Altar gestellt wurde und die Wissenschaften nur zulassen, was vernünftig ist, was mit der Vernunft begründet und bewiesen werden kann, herrscht ein Rationalismus, der den Glauben an einen personalen Gott ins Hintertreffen geraten lässt. Der Staat übernahm die Führung und drängte die Kirche ins Abseits, in die Sakristei. Gottesdienste durfte sie feiern, aber nicht mehr in Schule und Staat mitmischen. Das führte ab 1803 zur bekannten Säkularisation: Der Staat nahm Grund und Boden von Bistümern, Abteien, Klöstern und Stiften an sich, enteignete die kirchlichen Institutionen, zuerst die reichen, dann auch die armen Klöster. Das hatte durchaus etwas Gutes an sich, indem die Kirche der weltlichen Macht beraubt wurde, aber insgesamt hatte die Allgemeinheit kaum etwas davon. Die Chance einer demokratischen Bodenreform wurde verpasst. Es bildete sich das Sprichwort: „Unter dem Krummstab (des Abtes oder Bischofs) lebt sichs besser als unter des Kaisers Krone.“
Von jener Säkularisation von oben, von der sich die Kirche relativ rasch erholt hat, ist die Säkularisierung zu unterscheiden, die seit den 1980er Jahren immer schneller um sich greift: Christinnen und Christen verabschieden sich von ihrer Kirche, bleiben lautlos weg, lassen ihre Kinder nicht mehr taufen. Wäre es nur eine Kritik an der bestehenden Kirche, dann würde man ja noch protestieren, alternative Formen suchen (die es ja auch gibt) und den Glauben auf neue Weise ausdrücken. Den Umfragen zufolge greift die Säkularisierung tiefer; sie trifft das Glauben an sich und den Glauben an Gott, d.h. immer weniger Menschen glauben an einen Gott und noch weniger an das, was christlicher Glaube beinhaltet: die Dreifaltigkeit, die Schöpfung, Erlösung und Wiederkunft Christi. Hat das Weihnachtsfest im deutschen Gemüt noch einen gewissen Stellenwert, so verflacht Ostern zu einem Frühlingsfest. Dass der Gottesglaube abnimmt, hat wohl durchaus mit dem zu tun, was uns seit Jahrzehnten vor Augen geführt wird: Krieg, Terror im Namen Gottes. Daran sei der Monotheismus schuld, der die eine Religion gegen die andere kämpfen lasse, ja zum Kampf auffordere. Dieser Erklärungsversuch kommt bei der gebildeten Mittelschicht gut an. Wie sonst lassen sich die hohen Verkaufszahlen von Peter Sloterdijks Buch Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen erklären? Nach seiner Auffassung enthalten die Schriften des Judentums, des Christentums und des Islams zu viele Passagen, die Gewalt rechtfertigen und provozieren, weil jede dieser Religionen behauptet, die einzig wahre zu sein. Außerdem präsentieren sie nach seiner Meinung einen Gott mit unerträglichen Eigenschaften wie Zorn, Eifersucht und Grausamkeit. Diese monotheistischen Religionen hätten politisch die Monarchie gestützt und religiöse wie weltliche Hierarchien herangebildet, die hinter uns zu lassen uns erst die Aufklärung gelehrt habe; diese habe den Menschen als Individuum und als autonom entdeckt. Die drei genannten Religionen, selbst wenn sie heute noch zahlenmäßig viele Anhänger hätten, würden sich also auf Dauer nicht halten, ja sie würden schmelzen wie Schnee in der Sonne. Kein Wunder, dass Sloterdijk auf sein Buch Gottes Eifer letztes Jahr ein weiteres folgen ließ mit dem Titel Nach Gott (Berlin 2017). Denn seiner Meinung nach bleibt auch nach dem langsamen Abschied von Gott etwas erhalten: die Religion. Eine Religion, mit oder ohne Gott, stiftet Sinn, erhellt die Existenz, hilft zu leben, bewahrt Kultur und bringt neue hervor. Religion also in der Nähe von Kunst und Fitnesstraining! In diesem Zusammenhang heißt es dann: Bete, wenn es dir guttut.
Der Freidenker Sloterdijk, der sich zu Jesus nur kühl, distanziert und ironisch äußert, ist ein typischer Vertreter des westlichen Bürgertums. In den Gesellschaften des Südens fände er nicht so viel Anklang; dort würde er mit seiner Religion ohne Gott nur Kopfschütteln hervorrufen. Doch für Nordeuropa scheinen mir seine Bücher symptomatisch: Die Aufklärung wird zu Ende gedacht, der Mensch tritt als Schöpfer kreativ an die Stelle eines vermeintlich machtlosen Gottes; er kann fast alles. Doch diese für die Moderne typische Euphorie hat sich doch längst umgekehrt in eine Skepsis gegenüber den Planern, Machern und Züchtern. Die Erkenntnis macht sich breit, dass der Mensch eben nicht alles darf, was er kann.
In der Folge immer größerer Freiheiten, des Klimawandels und der ökologischen Krise fand eine weitere Säkularisierung statt: von der Autonomie der Wissenschaften zur Autonomie der individuellen Praktiken von der Wiege bis zur Bahre. Wie geboren, geheiratet und gestorben wird, ist nicht mehr eingebettet in zum Teil jahrhundertealte religiöse Bräuche und Riten, sondern hängt vom Wunsch der Einzelnen ab. Hochzeiten im Park, in ehemaligen Klosterräumen, im Museum sind heute ebenso an der Tagesordnung wie Beerdigungen im Friedwald, Verstreuen der Asche unter einem Baum oder die See-Bestattung. Es geht dabei durchaus ernst und religiös zu; ausführende Bedienstete sagen, sie kämen sich wie Pfarrerinnen oder Pfarrer vor. Diese Säkularisierung des privaten Lebens bringt Probleme mit sich, die in der Bioethik diskutiert werden, denken wir nur an die Frage, wann menschliches Leben beginnt und wann es endet. Immer mehr Menschen wollen selber bestimmen, wie und wann sie sterben. Entsprechend wachsen der Zulauf bei Sterbehilfeorganisationen und die Nachfrage nach Sterbekliniken. Die Säkularisierung in Form einer Individualisierung des praktischen Lebens in der Post-Moderne hat so etwas wie eine „horizontale Religion“ entstehen lassen, die nicht mehr vertikal nach oben schaut, sich an ein Du jenseits unserer Vorstellungen richtet, sondern auf unserer Ebene bleibt und das Bestmögliche aus unserem Leben machen will. In dieser Diesseitsreligion finden wir erstaunlich viele Angebote zur Selbstfindung, zum Glücklichwerden, zum Umgang mit Leid, zur Annahme des Todes. Innerhalb dieses postmodernen Areopags stehen auch die Suche nach Innerlichkeit, die Meditation und das Gebet hoch im Kurs. Beten setzt hier nicht unbedingt den Glauben an Gott voraus, ist hier nicht immer ein Hören auf und ein Sprechen zu Gott.
Beten ist eine Praxis in allen Religionen, weil es menschlich ist. Weil der Mensch über sich hinaus fragt, kann er an Gott glauben und beten. Und selbst wenn er nicht (mehr) an Gott glaubt, interessiert ihn das Beten, und er möchte es vielleicht lernen. Es gibt im Menschen so etwas wie einen Instinkt zum Beten. Der Philosoph und Dichter Novalis aus der Zeit der Romantik wagt sogar den Vergleich: „Das Beten ist in der Religion was in der Philosophie das Denken ist.“1 Heruntergeschraubt auf unsere Situation, in der Religionen sich treffen oder aufeinanderstoßen, ist Beten als nahezu universelle Erfahrung ein großes Annäherungspotenzial über Kulturgrenzen hinweg. Wer betet, wird meistens respektiert, unabhängig davon, was und wie er betet.2
Beten ist christlich
In der jüdisch-christlichen Tradition setzt Beten den Gottesglauben voraus, den Glauben an ein Du, das mich hört und das mich anspricht, wenn auch auf andere Weise, als Menschen miteinander sprechen. Gott als JHWE, als der Ich-bin-da, hat schon gesprochen durch seine Schöpfung, durch seine Geschichte mit dem auserwählten Volk Israel, durch die Propheten und zuletzt und endgültig – wie wir Christinnen und Christen glauben – durch seinen Sohn Jesus Christus, geboren von der Jungfrau Maria, gekreuzigt unter Pontius Pilatus, auferstanden von den Toten und heimgekehrt zum Vater.
Christinnen und Christen haben ihren Namen von diesem Jesus, dem Christus, dem Gesalbten Gottes. Dieser stand mit Gott in so inniger Beziehung, dass er ihn Abba, Papa, Vater nannte. Die Freunde, die um Jesus waren, spürten, wie innig diese Beziehung Jesu zum Vater war; sie merkten, dass sie ihm Kraft gab und Vertrauen. Daran wollten sie teilhaben. Darum baten sie Jesus: „Herr, lehre uns beten“ (Lk 11,1). Darauf lehrte er sie das Vaterunser. Es ist das Gebet der Kirche geworden. Fast bei jeder Liturgie kehrt es wieder: Es gehört zum Morgengebet (Laudes) wie zum Abendgebet (Vesper), seit Cyrillus von Jerusalem (315–387) auch zur Eucharistiefeier vor dem Empfang der Kommunion, zur Feier des Abendmahls, zur Taufe, zur Hochzeit, zum Trauergottesdienst. Selbst wer nur selten aus diesem oder jenem Anlass an einem Gottesdienst teilnimmt, trifft auf dieses Gebet. Es begleitet das Leben vieler Christinnen und Christen, besonders jener Frauen und Männer, die regelmäßig am Stundengebet der Kirche teilnehmen, sei es in Pfarrgemeinden oder in klösterlichen Gemeinschaften. Darum gibt es seit den Kirchenvätern bis heute viele Kommentare zu diesem Gebet des Herrn. Es bildet die Mitte der Bergpredigt und ist das einzige Gebet, das Jesus seine Jünger gelehrt hat. Er zeigte ihnen damit positiv, wie vertrauensvoll sie beten sollen, wie kurz das Gebet sein darf und wie nüchtern. In diesem Zusammenhang warnte er sie auch vor den Fehlformen des Betens: „Wenn ihr betet, so macht nicht viele Worte, plappert nicht wie die Heiden, bietet keine öffentliche Schau, sondern zieht euch in eure Kammer zurück und betet im Verborgenen zu eurem Vater, der ins Verborgene sieht“ (Mt 6,5–7). Es gibt das persönliche, das gemeinschaftliche und das öffentliche Beten, das Beten allein, in der Familie oder Gruppe und das Beten mit dem Volk Gottes in den öffentlich angezeigten Räumen und Zeiten, besonders am Sonntag. Dann ist es auch mit Gesängen, Gebärden, Gesten und mit einem rituellen Ablauf verbunden, der verschiedene Rollen für Männer, Frauen und Kinder einschließt. Wir sprechen dann von Liturgie. Je nach Jahreszeit ist sie verschieden geprägt. Da in ihr die Ereignisse des Alten und vor allem des Neuen Testamentes, das Leben Jesu von der Geburt über sein öffentliches Wirken und Leiden, seine Auferstehung bis hin zu seiner Himmelfahrt und erwarteten Wiederkehr gefeiert werden, kennt der liturgische Kalender die ganze Skala von Farben und Tönen.
Wiederholt mahnt Jesus seine Jünger, wachsam zu sein und zu beten (vgl. Lk 6,28; 11,9–13; 22,46). Auch die Briefe des Apostels Paulus und die Pastoralbriefe sind voll mit Weisungen wie „Betet ohne Unterlass!“ (1 Thess 5,17; Röm 15,30; Eph 5,19–20; Kol 4,2–4; 1 Tim 2,1). Demnach ist Beten das Wichtigste im Leben der Christinnen und Christen. Dahinter steht die Erfahrung: Aus den Augen, aus dem Sinn! Wie sonst hätten die Jünger nach der Himmelfahrt Jesu den Glauben an ihn lebendig halten können, wenn sie nicht seine Worte und Taten in Erinnerung gerufen, nicht die Eucharistie zu seinem Gedächtnis gefeiert hätten, wie er es selbst im Abendmahlsaal gewünscht hatte? In jenem Abschiedsmahl hat er selbst sein bevorstehendes Leiden und seinen Tod als „für euch und für alle“ – wie es im Einsetzungsbericht der Eucharistiefeier heißt – gedeutet und seine Freunde gebeten: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22,19), d.h., feiert dieses Mahl im Gedenken an mich, zur Erinnerung an mich. Ihr seid dann nicht nur in Gedanken mit mir verbunden, sondern leibhaftig, wie eine Rebe mit dem Weinstock, denn das Brot, das ihr brecht und teilt, „ist mein Leib“, der Wein, den ihr trinkt, „ist mein Blut“ (Lk 22,19; 1 Kor 11,24). In diesen Zeichen „bin ich bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20).
Das Christentum hat auf Grund seines Glaubens, dass Gott seinen Sohn in die Welt gesandt hat und dieser zur Erlösung des Menschengeschlechts Mensch geworden ist, gearbeitet und gelitten hat, am Kreuz gestorben und am dritten Tag wieder auferstanden ist, ein sakramentales Verständnis von der Liturgie. Diese bringt nicht nur eine Idee zur Kenntnis, informiert über das, was Jesus gelehrt und getan hat, sondern feiert ihn mitten unter uns hier und heute. Wir lesen bzw. hören seine Worte aus der Heiligen Schrift und antworten mit Psalmen und Gesängen, die zum großen Teil auch wieder aus der nämlichen Schrift stammen bzw. aus der Tradition. So verbinden sich Wort und Antwort, Vergangenheit und Gegenwart. Zu den Worten kommen die Zeichen, die anschaulich machen, was im Wort geschieht: das Wasser bei der Taufe, das Chrisam bei der Firmung, Brot und Wein bei der Eucharistie, das Öl bei der Krankensalbung. Über diese Elemente spricht der Priester jeweils entsprechende Worte: Ohne diese Worte entsteht kein Sakrament (Augustinus: „Accedit Verbum ad elementum et fit Sacramentum“).
In der Didache, der ältesten der überlieferten Kirchenordnungen, heißt es: „Ohne die Eucharistiefeier am Sonntag können wir nicht leben.“ Damit meint sie dreierlei: Erstens, wie wichtig die regelmäßige Zusammenkunft ist, um sich im Glauben zu stärken; zweitens, dass die Gläubigen im Sinne Jesu erkannt haben, dass sie am innigsten mit ihm verbunden sind, wenn sie miteinander das Brot brechen und die Communio, die Gemeinschaft mit ihm und untereinander, feiern; drittens, dass diese Feier für sie Leben bedeutet, entsprechend dem Wort Jesu Christi: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer von diesem Brot isst, wird leben in Ewigkeit“ (Joh 6,48.51). Dass es nicht immer die Eucharistiefeier sein muss und nicht auf hohe Zahlen ankommt, zeigt eine andere Zusage Jesu: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Das heißt doch: Wo auch nur wenige Christinnen und Christen miteinander beten, die Bibel lesen, darüber sprechen oder einfach überlegen, was in besonderen Situationen (z.B. Unfall, Krankheit, Familienfest, Jubiläum) im Sinne Jesu zu tun ist, da ist er mit seinem Geist präsent. Es hängt nicht alles von uns ab, von unseren tollen Ideen, langen Planungen und schwindenden Kräften. Er wird das Seine dazutun.
Es gibt viele Formen und Anlässe des gemeinsamen Betens. Daneben ist das private Gebet wichtig. Es nährt das gemeinsame Beten. Wer nie allein betet, den zieht es auch nicht zur Gemeinschaft, in der man betet. Da das private Gebet sehr persönlich ist, ist es so vielfältig wie die Menschen. Drei Formen möchte ich nennen.
Das gesprochene Gebet
Das Gebet ist sprechender Glaube. Der Glaube kommt vom Hören und drückt sich im Gebet aus, ist Antwort auf Gottes Wort. Das Gebet ist Rückruf auf Gottes Anruf. Die meisten von uns kennen fest formulierte Gebete, die sie entweder auswendig können oder die in einem Gebetbuch stehen. Sie greifen darauf zurück, wenn es darum geht, den Tag zu heiligen. Es macht durchaus Sinn, morgens, mittags und abends immer die gleichen Gebete zu sprechen, wiewohl Abwechslung je nach Jahreszeit guttut. Auch sollte der Sonntag gegenüber den Werktagen hervorgehoben werden, z.B. durch eine Kerze auf dem Tisch. Es ist hilfreich, sich einen kleinen Schatz persönlicher Gebete oder Gebetsworte anzueignen, damit man in Zeiten geistlicher Trockenheit, bei Müdigkeit und Krankheit davon zehren kann. Als ich Kaplan in Oberhausen-Sterkrade war, brachte ich monatlich am ersten Freitag zu etwa ein Dutzend Kranken die heilige Kommunion. Bei den ersten Touren meinte ich, am Ende der kleinen Feier selber ein Dankgebet formulieren zu müssen, doch merkte ich bald, wie gern die meisten Kranken von sich aus das Gebet sprachen: „Seele Christi, heilige mich! Leib Christi, mache selig mich …“ Es war ihnen vertraut.
Nicht jede und jeder findet sich in formulierten Texten wieder, die zum Teil sehr alt sind. Jede Zeit hat ihre Sprache, und auch jeder Mensch spricht auf seine Art. Darum ist es gut, aus der augenblicklichen Lage heraus frei zu Gott zu sprechen, ihm zu danken, ihn zu bitten; es mögen stammelnde Worte sein, unvollkommene Sätze, Hauptsache, das Herz ist darin. Auch der Zöllner in der Gleichnisrede Jesu stand nur ganz hinten im Tempel, „schlug sich an die Brust und betete: Gott, sei mir Sünder gnädig“ (Lk 18,13).
Das leibhafte Gebet
Seit 2010 besteht in Deutschland auch eine Orthodoxe Bischofskonferenz. Durch Zuwanderer aus dem Osten und durch Flüchtlinge aus dem Süden „ist die Orthodoxie in relativ kurzer Zeit zur drittgrößten Konfession in dem Land geworden, das bisher geradezu klassisch durch das Neben- und Miteinander katholischer und reformierter Kirchen geprägt wurde“3. Wer an einer Liturgie orthodoxer Christinnen und Christen teilnimmt, kann beobachten, wie die Gläubigen Ikonen küssen, sich bekreuzigen, sich mehrmals tief verbeugen, ja manchmal sich auf dem Boden ausstrecken (Prostration), also mit dem Leib beten. Das in fast allen Religionen übliche Pilgern wird oft als „Beten mit den Füßen“ bezeichnet. Wenn wir beten, wenden wir uns Gott zu, auch mit unserem Leib. Das innere, geistige Geschehen sucht nach sichtbaren, körperlichen Ausdrucksformen. Wir kennen die Bilder, die uns die Sprache schenkt: vor Gott stehen, auf Gott schauen, die Hände zu Gott erheben, vor Gott das Herz ausschütten, sich vor Gott verneigen, vor ihm niederknien, niederfallen. Solche Gesten, bewusst und andächtig vollzogen, sind Gebet. Sie bringen Ehrfurcht, Anbetung zum Ausdruck, ohne dass ein Wort gesprochen wird; sie sind aus sich heraus verständlich. Solches Beten mit Gebärden ohne Worte führt uns zum Gebet der Stille.
Gebet der Stille
Stille ist eigentlich bei jedem Gebet erforderlich. Ich nehme Abstand vom Alltag, von meinem Denken und Tun, um mich in Beziehung zu setzen zu Gott. Ich trete vor Gott und werde mir bewusst, wer er ist und wer ich bin. Auch die Liturgie erfordert unbedingt Stille. Das Wort der Vorstehenden muss aus der Stille kommen und auf die Stille in der Gemeinde treffen. Die Lesungen, vor allem das Evangelium, dürfen nicht wie ein Bericht vorgelesen, sondern sollen verkündet werden. Die Lektorin oder der Lektor muss den Text zuerst selber verstanden und still in sich aufgenommen haben, um ihn dann bewusst und mit innerer Teilnahme auszusprechen und vorzutragen. Das gilt auch für die offiziellen Gebete der liturgischen Bücher. Sie werden oft nur kühl zitiert statt persönlich nachvollzogen. Sowohl Lesungen wie Gebete sind wesentlich Bitte, Klage oder Dank, Jubel. Wo bleibt da die Emotion, der Affekt? Die aktive Teilnahme (participatio actuosa) an der Liturgie bedeutet nicht in erster Linie, dass möglichst viele etwas tun sollen, sondern dass alle von innen heraus, mit Herz und Verstand, mitvollziehen, was in der Liturgie geschieht. Sie lebt vom Wort Gottes und von unserer Antwort, von Zeichen und Symbolen, von der Stille. „Das verlautete Wort muss von der Stille umgeben und durchdrungen sein. Erst so entsteht Sprache, die kommunikativ wirkt. Das gilt bereits für die alltägliche Kommunikation, umso mehr für jene Sprache, deren Bezugsfeld das Heilige ist. Der Stille kommt sogar gegenüber dem Laut Priorität zu. Die Stille kann ohne Laut tiefste Kommunikation sein, ein Laut aber, der nicht an Stille gebunden ist, wird zum bloßen Lärm!“4
Stille ist also für jedes gemeinschaftliche wie persönliche Beten notwendig. Das eigentliche Gebet der Stille kommt ganz ohne Worte aus. Es ist im Grunde ein Ganz-bei-sich-Sein als ein Sein bei Gott. Das heißt zuerst ganz abschalten, sowohl die äußeren wie die inneren Geräusche, die Arbeit liegen lassen, die Sorgen abgeben, zu mir selber kommen, mich bewusst in und mit meinem Körper wahrnehmen. Ich kann zunächst eine aufrechte Haltung einnehmen, auf ein Kreuz, eine Ikone schauen, die Wechselwirkung wahrnehmen. Nach einer Weile setze ich mich (im Lotus- oder Fersensitz mit Kissen, Schemel oder Bänkchen als Hilfsmittel) auf den Boden, schließe die Augen leicht oder blicke vor mich nach unten ins Leere. Dann achte ich auf den Atem, wie er kommt und wie er geht, ganz ohne mein Zutun; ich spüre, wie ich lebe, lausche still in mich hinein. Nach etwa zehn Minuten setze ich mich entspannt hin und lese einen kurzen Text – z.B. das Tagesevangelium in der katholischen oder die Tageslosung in der evangelischen Kirche –, frage mich, welches Wort, welcher Satz mich besonders anspricht, sinne darüber nach und bitte schließlich Gott um Hilfe oder danke ihm, je nachdem was der Text in mir auslöst.
Wer diese Art Meditation länger übt, wird mit der Zeit ganz ohne Text oder Bild auskommen. In einer Zeit vieler Meditationsangebote ist es aber wichtig zu betonen, dass christliches Beten sich an ein Du richtet, an einen Gott, an den wir nicht bloß irgendwie abstrakt glauben, sondern an den wir uns wenden, weil er sich an uns gewandt hat. In seinen Worten (Bibel) und in den Sakramenten ist er bei uns; er wirkt in der Geschichte, auch heute. Im christlichen Bereich drückt sich das Gebet der Stille darum häufig so aus, dass Betende die Psalmen oder das Neue Testament vor sich haben oder unentwegt auf das am Altar in der Monstranz ausgesetzte Allerheiligste schauen. Nicht von ungefähr zieht die in manchen Kirchen übliche stille Anbetung den ganzen Tag über Gläubige an, besonders viele Jugendliche auf Katholikentagen oder bei dem in manchen Städten monatlich veranstalteten Night-Fever. Die Anbetung kann zur guten Gewohnheit werden, zum Gegengewicht von Betriebsamkeit und Hektik. Papst Johannes Paul II. sagte am 18. November 1980 beim Besuch des Konrad-Klosters in Altötting: „Wir sehen Bruder Konrad in seiner Zelle knien – vor dem Fensterchen, das man ihm eigens durch die Mauer gebrochen hatte, damit er immer zum Altar der Kirche schauen konnte. Durchbrechen auch wir immer wieder mitten im Alltag die Mauern des Sichtbaren, um immer und überall den Herrn im Auge zu behalten“ (zitiert nach der Inschrift vor der Alexius-Zelle im Kloster St. Konrad).
Beten ist franziskanisch
Die drei genannten Arten des Betens – mit Worten, mit dem Leib und in der Stille – kommen auch bei Franziskus vor. Das verwundert nicht, denn sein Vorbild und Lehrer war Jesus. Für Franziskus ist das Gebet vorrangig, zwar nicht von Anfang an, aber im Lauf seines Lebens immer stärker. Daheim, in der Kirche und in der Schule wird Francesco die ersten Gebete gelernt haben. Nach verflogenen Ritterträumen, nach Gefangenschaft und Krankheit gerät er in die Krise. Lange sucht er, bis er bei einer gewöhnlichen Messe im verkündeten Wort Gottes die Antwort auf seine Fragen findet. Nun zieht er sich immer öfter zum Gebet zurück. Seine radikale, Aufsehen erregende Lebenswende, sein Verzicht auf das Erbe und sein Versuch zu leben wie Jesus und dessen Apostel führen ihm bald Gefährten zu. Für sie wird er Leitbild, Beispiel, Vater und Mutter und Lehrmeister, auch im Gebet. Die heilige Teresa von Avila (1515–1582), die wegen ihrer reichen Praxis und Lehre der Kontemplation 1970 von Paul VI. zur Kirchenlehrerin erhoben wurde, nannte Franziskus einen „Meister des Gebets“.5 Gehen wir bei ihm ein wenig zur Schule.