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Sonntag, dreizehnter Mai 1945

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Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), wird in Flensburg von britischen Soldaten verhaftet. Generaloberst Alfred Jodl, bisher Chef des Wehrmachtsführungsstabes, wird zu seinem Nachfolger ernannt.

Am Waldrand lagerte es ruhig in der Maisonne. Ein etwas heruntergekommenes Gebäude, zweigeschossig, außen weiß getüncht, mit einem umlaufenden Balkon und grünen Läden an den kleinen, der Kälte trotzenden Fenstern. Den Hof zierte ein Brunnen, der schon lange ausgetrocknet war. Seitlich davon zwei kleine Nebengebäude für Traktor und Hänger. Beide leer.

Über der breiten Eingangstür hing eine verblichene Holztafel mit der Aufschrift »PFANZELT«. Mehr stand nicht darauf. Mehr brauchte es nicht, denn jeder wusste, dass das alte Wirtshaus mit guter Küche und süffigem Bier zum Besuch einlud.

Jedoch – von gutem Essen und süffigem Bier konnte im Augenblick nicht die Rede sein. Die Zeiten waren noch immer unruhig, das Bayernland ächzte unter den Folgen eines barbarischen Krieges, der erst vor wenigen Tagen zu Ende gegangen war.

Die einen hießen das Ende »eine Niederlage«, andere nannten es »die Befreiung«. Es war, wie es war, und das kleine Dorf Schachtenstein im Zwieseler Winkel wartete erschöpft auf die Zukunft.

Das Dorf Schachtenstein also. Unweit der Häuser bahnte sich der Schwarze Regen, ein schmaler Fluss, seinen Weg durch den Wald. Dreihundertelf Einwohner. Ein Wirtshaus. Die Kirche St. Sebastian, der Kramerladen und etliche Bauern. Dazu der Rosshändler Staubwasser. Der Rest Kleinhäusler und Landvolk. Die einen arbeiteten in den Glashütten, die anderen bestellten ein Stück Wald, hielten eine Kuh oder Geißen, vielleicht ein paar Hühner, verdingten sich ihren kargen Lohn als Holzrücker.

Im Augenblick gab es in Schachtenstein weder Vieh noch Hühner noch Rösser zum Holzrücken. Vielleicht hatte einer eine Sau versteckt oder das letzte Huhn gerade geschlachtet. Wo sonst bei den Bauern die Schweine im Kobel standen, sind diese jetzt leer gefegt, als wäre ein Sturm hindurchgetobt. So ähnlich war es ja auch: Der Krieg hatte die Stuben und Ställe ausgekehrt. Selbst Kirchenbänke und Wirtshaustische waren verwaist.

Einspurig war man geworden, einspurig im Denken und einspurig im Wollen. Das Denken richtete sich auf alles, was mit Essen zu tun hatte. Das Wollen gierte nach allem, was Frieden verhieß und Ruhe und ein gutes Auskommen mit den Nachbarn und der Welt versprach.

Das war nicht einfach. Krieg veränderte die Menschen nur für einen Lidschlag. Für ein paar Stunden, Tage, Wochen vielleicht. Dann nahm der Karren der Geschichte wieder Fahrt auf. Dann richteten die Menschen sich wieder ein in der Gegenwart. Dann ging es hinaus in die Zukunft, denn zurück in die Vergangenheit konnten und wollten sie nicht mehr.

Wer das Sterben überlebt hatte, war froh. Manch einer zitterte innerlich, aber man sah es nicht. Andere hatten mehr verloren, das erkannte man an den Krücken, den Prothesen und den zerschossenen Gesichtern.

Manchen waren keine Gliedmaßen abhandengekommen, dafür der Verstand. Viele von denen waren auf dem Felde der Ehre geblieben. Das waren die Glücklichen.

Diejenigen, die kein Glück hatten, hockten in einem Bergwerk in Sibirien oder stachen Torf am Ural. Bis sie zurückdurften, konnte es Jahre dauern.

An jenem sonntäglichen Vormittag stand die breite Eingangstür beim Pfanzelt weit offen, einladend und gemütlich. Wer hier einkehrte, sollte es gut haben, trotz der Misslichkeiten und der mageren Vorräte. Aber eine Brotzeit hatte Altwirt Maximilian Pfanzelt, ein gestandener Metzgermeister, noch immer auf den Tisch gebracht.

Offenbar wirkte das Angebot. Eine Handvoll Männer näherte sich zu Fuß dem Wirtshaus. Es waren abgerissene Gestalten, aber das musste nichts besagen. Kleidung war in diesen Tagen Glückssache. Man vernahm Lachen aus rauen Kehlen, einer warf seine Zigarette in den Hofbrunnen; dann betraten sie die Lokalität.

Im Dorf warteten die Frauen, die Kinder, die Alten auf ihre Ehemänner, Väter und Söhne. Sie hatten gelernt, Geduld zu haben. Jeden Sonntag besuchten sie die heilige Messe. Jeden Sonntag beteten sie das Vaterunser, das Ave Maria und den Rosenkranz. Jeden Sonntag vernahmen sie die Predigt von Pfarrer August Tecklenburg. Mit wohlgesetzten Worten sprach er von der Vergebung der Sünden, von der Bestrafung der Sünder und vom Tod Christi, der für uns am Kreuz gestorben war.

Das sollte es dann gewesen sein?, dachte mancher und ließ die Mundwinkel bis auf den Boden hängen vor lauter Wut und Verzweiflung.

Hätte Jesus doch bloß vorher etwas unternommen, bevor die braune Brut an die Macht gekommen war. Bevor sie die halbe Welt in einen mörderischen Krieg gezwungen hatte. Bevor sie unsere Männer verführte und dann verriet.

Jesus hätte ihr bloß die Gewehre, die Panzer und die Flugzeuge kaputt zu machen brauchen, das hätte er sicher geschafft. Schließlich hatte er bei der Hochzeit zu Kana das Wasser in Wein verwandelt. Aber er hat es nicht getan. Warum denn nicht, Herrgott noch mal?

Bei diesem heiklen Thema wusste selbst der Pfarrer keine Antwort. Stattdessen verlor er sich in Ausreden und Allgemeinplätzen. Aber am Pfarrer lag es nicht. Es lag an Jesus Christus, unserem Herrn. Der war schuld an dem Verhau.

Der Onkel könnte noch leben, und der Sohn und der Vater auch. Aber Jesus hatte nichts getan. Nichts hatte er verhindert. Es war eine Schande. Und der Pfarrer auf seiner wunderschönen Kanzel redete noch immer. Der redete sich leicht.

Inzwischen hockten die Männer beim Pfanzelt in der Gaststube am großen Bauerntisch und ließen auffahren, was Küche und Keller hergaben. Bier und Schnaps flossen reichlich. Elise Pfanzelt, die junge Schwiegertochter des Altwirtes, trug Teller um Teller herein, immer auf der Flucht vor den übergriffigen Soldaten. Denn um solche handelte es sich bei diesen Männern. Von weither waren sie offenbar gekommen. Jetzt wollten sie eine letzte Rast einlegen, bevor es zurückging zur Familie. Ein letztes Prosit auf die alte Kameradschaft und das Soldatenglück. Die Krüge hoch und saufen. Wieder und wieder eilte Bernhard Pfanzelt, Jungwirt und Elises Ehemann, in den Keller, um Nachschub zu holen.

Nach der Messe standen sie noch eine Weile beisammen, die Frauen mit den Kindern an der Hand, die jeden Tag fragten, wann der Vater aus dem Krieg kam. Sie redeten mit den alten Männern, die sich auf den Stock stützten, weil die knorrigen Hände zitterten. Die Menschen froren, obwohl die Maisonne ihre wärmende Kraft aussandte und vom Sommer kündete.

Auch der neue Bürgermeister stand bei ihnen; es war der alte und zugleich der neue, sozusagen. Rudolf Zingler könnte Bücher mit seiner Geschichte füllen. Aber er hatte es nicht mit dem Schreiben. Dafür konnte er organisieren, das hatte er immer können. Dafür haben sie ihn gewählt, wieder und wieder, obwohl er nicht der Partei angehörte und schließlich im Konzertlager verschwunden war. Keiner in Schachtenstein sprach vom Konzentrationslager, alle sprachen vom Konzertlager. Das klang eleganter.

Siebenundsiebzig war Bürgermeister Zingler jetzt. Hart war sein Gesicht geworden, in all der Zeit. Doch er trug das Kinn aufrecht, darunter den gewaltigen Kropf, der sein Markenzeichen geworden war. Die Leute redeten, dass er als junger Mann der Kommunistischen Partei beigetreten war, was keiner verstanden hatte, denn was taten die Kommunisten? Die enteigneten. Die wollten, dass alles allen gehörte, so hatte es der Herr Pfarrer gesagt und so hatte es Ortsgruppenführer Staubwasser bestätigt.

Die Amerikaner hatten Zingler aus dem Lager geholt und ihn in Schachtenstein wieder als Bürgermeister eingesetzt. Weil er die Leute kannte, ihre Sprache sprach und weil er unbelastet war. »Unbelastet« war das neue Zauberwort. Unbelastet.

Waren es früher Begriffe wie »Parteigenosse« oder »Führergeburtstag« oder »Endsieg« gewesen, so war es jetzt »unbelastet«. Das Wort strahlte eine unglaubliche Anziehungskraft auf bestimmte Menschen aus. Besonders auf solche, die nicht unbelastet waren.

Bürgermeister Zingler aber war unbelastet. Das war gut für ihn und gut für das Dorf. Die Zusammenarbeit mit den amerikanischen Behörden gestaltete sich ruhig und konstruktiv. Alle hatten ein gutes Gefühl dabei. Im Kramerladen von Hans Rahn gab es manchmal sogar echten Bohnenkaffee und hin und wieder eine Tafel Schokolade, gestiftet von den Besatzern.

Als der Kirchplatz sich leerte, erschien Emmi. Emilia Unruh, eine zierliche Person von fünfundzwanzig Jahren, ausnehmend hübsch. Im Augenblick verdingte sich die gelernte Hauswirtschafterin als Pfarrersköchin, seit sie als junge Witwe aus Berlin geflohen war und im Pfarrhaus eine Heimat gefunden hatte. Was die Leute redeten, interessierte sie nicht, und auch nicht, was sie nicht redeten und was stattdessen ihre Blicke sagten.

Dass sie was hatte mit Hochwürden Herrn Pfarrer. August Tecklenburg war katholischer Priester und damit dem Zölibat unterworfen. Dennoch dachte Emmi immer öfter daran, dass sie jeden Tag älter wurde und dass sie gerne eine Familie gründen würde. Mit einem Priester klappte das nicht. Männer waren knapp. Also hatte sie diesen Josef Schnaitz in die engere Wahl gezogen. Aber hinter dem waren auch andere Frauen her. Außerdem hatte Josef etwas an sich, was Emmi abstieß. Er schien ihr unfertig zu sein. Ein Mann von dreißig Jahren, so dachte sich Emmi, sollte eigentlich gefestigt genug sein, Weib und Kinder zu haben und sie ernähren zu können. Aber die Männer waren ein schwieriges Thema. Emmi seufzte. Jetzt wartete sie vor der Kirche auf ihren derzeitigen Brotgeber.

Noch jemand wartete. Langsam schlenderte er heran. Sein rotes Gesicht leuchtete.

»Na, Emmi, wie geht es dir?«, fragte er.

»Gut, Herr Ortsgruppenführer«, sagte sie.

»Warum so förmlich?«

»Ich bin es so gewohnt, Herr Ortsgruppenführer.«

Den »Ortsgruppenführer« betonte Emmi extra, obwohl sie wusste, dass der Titel nichts mehr wert, sondern geradezu gefährlich war. Sie mochte diesen Kerl nicht, der jahrelang das Sagen in Schachtenstein gehabt hatte. Dick und fett war er geworden mit dem Verkauf seiner Rösser an die Wehrmacht. Gefressen wie die Made im Speck hatte er mit seinen Parteigenossen in Zwiesel, in Passau. Sogar bis nach München hatten seine Beziehungen gereicht. Man munkelte, er habe den Führer persönlich getroffen. Aber Emmi glaubte das nicht. Was sie dagegen genau kannte, waren die ekelhaften Annäherungsversuche des verheirateten Mannes, der ein Nazi und Weiberheld war und den jeder im Dorf als einen solchen kannte und verachtete.

Seine Ehefrau Sofia war ebenfalls kein Ausbund an Frömmigkeit und Keuschheit, auch wenn sie in der Kirchenbank in der ersten Reihe saß und jeden Sonntag die heilige Kommunion empfing. Das eckige Weib, so redeten die Leute, beherrschte Konrad mit eisernem Willen. War etwas zu entscheiden, so entschied Sofia – nicht Konrad. Die Ehe war kinderlos. Warum das so war, wusste niemand im Dorf. Es gab zwar das Gerücht von einem Bankert, aber keiner traute sich offen darüber zu sprechen.

Konrad Staubwasser war achtundvierzig Jahre alt, schwer übergewichtig und hinter jedem Rockzipfel her. Das Alter der »Weiber«, wie er sie gerne nannte, spielte dabei keine Rolle. Emmi graute vor seinen dicken Fingern, vor seiner lauten Stimme, vor seinen Ausdünstungen.

Also machte sie einen Schritt in Richtung Sakristei, wo sich die Tür öffnete und Hochwürden heraustrat. Er grüßte Staubwasser mit einem knappen Kopfnicken und machte sich mit Emmi auf den Weg ins nahe Pfarrhaus, wo die Suppe auf dem Herd stand und der Braten im Rohr wartete.

Dass der Braten ein Geschenk vom Ortsgruppenleiter war, vergaß Emmi nicht. Aber das köstliche Gericht war ja nicht nur für sie, sondern auch und vor allem für den Gustl, wie sie ihn heimlich nannte.

Beim Pfanzelt ging es laut her. Lieder ertönten, derbe Witze machten die Runde, viel Geld lag auf dem Tisch. Der Anführer der abgerissenen Männer, ein gewisser Waller, hob ein ums andere Mal den Krug und die Stimme, um auf den Führer anzustoßen. Seine Kumpane fielen in das Gebrüll mit ein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Teller oder ein Bierglas zu Bruch ging.

Waller bestellte eine weitere Runde. Elise sollte das Geld, ein paar Münzen, entgegennehmen, während sie das Tablett mit den Getränken auf den Tisch stellte. Waller umfasste ihre Hüften, zog die junge Frau auf seinen Schoß. Elise war ganz in Weiß gekleidet; eine Farbe, die sie liebte, mit einer hochgeschlossenen Bluse unter dem Trägerkleid und flachen weißen Schuhen. Sie hatte ein blasses, nahezu durchscheinendes Wesen, rotes Haar umrahmte ihr Gesicht mit den großen schwarzen Augen, aus denen jetzt zornige Funken schlugen. Was bildete sich dieser Kerl ein?

»Tanz für uns, schönes Kind!«, rief er und griff ihr hart an die Brust.

Elise wollte sich aus seinem Griff befreien, schaffte es aber nicht. Noch nicht.

»Nein!«, sagte sie energisch und schlug Waller auf die Hand. Die anderen lachten.

»Warum denn nicht?«

»Weil ich nicht mag.«

»Sie mag nicht … sie mag nicht«, höhnte Waller und packte sie am Hintern.

»Vielleicht kann sie bloß nicht«, rief ein kräftiger Bursche mit Namen Michi.

»Vielleicht kann sie was anderes besser?«, sagte Waller und spielte an ihrer Brust. Da biss sie ihm in die Hand.

Wieder lachten die anderen. Es gefiel ihnen, wie das hübsche Mädchen mit ihrem Sturmbannführer kämpfte. Ein lustiger Zeitvertreib, bevor sie die karge Realität zu Hause bei den Familien einholte. In diesem Augenblick kam Bernhard Pfanzelt aus dem Keller. Mit einem Blick erfasste er die Situation und stürmte los.

Schwarzer Regen Rotes Blut

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