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Neapel

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„Ich will die Unterwelt Neapels besuchen.“ Auf eine solche Absichtsbekundung folgen wahrscheinlich skeptische Blicke und unsicheres Lachen. Ach so? In die Unterwelt Neapels? Etwa auf einen Espresso mit der Camorra? Es ist das traurige Schicksal der Stadt am Fuße des Vesuvs, von vielen Menschen stets mit Kriminalität, Armut und der niemals endenden Müllkrise in Verbindung gebracht zu werden. In Neapel sollte man auf der Hut sein, auffallenden Schmuck und Uhren lieber zu Hause lassen, unterwegs die Tasche immer fest unter dem Arm eingeklemmt haben.

Doch bereits ein Spaziergang durch die engen Gassen der Altstadt zeigt, wie farbenfroh, lebendig und fröhlich Neapel ist. Konditoreien präsentieren in den Schaufenstern gefüllte Blätterteigtaschen und süßes Gebäck, über die Köpfe der Passanten hinweg unterhalten sich Frauen von Fenster zu Fenster lautstark miteinander, während sie frisch gewaschene Kleidung auf Wäscheleinen aufspannen. Jugendliche schlängeln sich auf ihren Motorrollern an den Fußgängern vorbei. In den vielen Osterien genießen die Neapolitaner Aperitivi, zusammen mit frischen Oliven und eingelegten weißen Bohnen.

Doch zurück zur Reise in den echten Untergrund Neapels, fernab von zwielichtigen Gestalten. Ohne diese Unterwelt hätte es die Stadt, so wie sie heute ist, niemals gegeben. Vergangenheit und Gegenwart liegen in Neapel ganz nah beieinander. Unter der Oberfläche verhält es sich nicht anders.

Der Vesuv prägte seit jeher die Landschaft und die Kultur der Städte am Golf. Zeiten, in denen er äußerst aktiv war, wechselten sich ab mit langen Ruhepausen. Infolge seiner bekanntesten Eruption im Jahr 79 n. Chr. wurden die römischen Städte Pompeji, Herkulaneum und Stabiae komplett zerstört. Bis heute bleibt der Vesuv aktiv, und so leben die Neapolitaner weiterhin in der permanenten Gefahr, dass ihre Stadt der nächsten großen Eruption zum Opfer fallen könnte. Ironischerweise ist der Vulkan gleichzeitig maßgebend für die Entstehung Neapels gewesen: Weil der Boden in dieser Gegend hauptsächlich aus vulkanischem Tuffstein besteht – leicht abbaubar, gleichzeitig äußerst stabil – begannen die Griechen im 4. Jahrhundert v. Chr., mit dem Tuffstein die Häuser ihrer neugegründeten Stadt Neapolis zu errichten. Die nachfolgenden Generationen machten es den Griechen nach. Immer mehr und immer größere Steinbrüche entstanden. Wie viele Schächte und Gruben unter Neapel liegen, kann nur geschätzt werden. Manche Experten gehen davon aus, dass 60 Prozent der Stadt unterirdisch von Höhlen und Tunneln durchzogen sind. Der Tuff gibt den meisten Häusern Neapels bis heute ihre typisch fahlgelbe Farbe.

Zu wissen, dass die Stadt von einem Boden getragen wird, der ungefähr so hohl ist wie ein löchriger Käse, macht einem nicht unbedingt Mut, der Unterwelt einen Besuch abzustatten. Einer der vielen Wege in die Tiefe beginnt mitten in der turbulenten Altstadt, wo der Verein „Associazione Napoli Sotterranea“ Touren anbietet. Die Besucher werden bis zu 40 Meter tief unter die Oberfläche geführt. Schon nach wenigen Metern verschwindet das unbehagliche Gefühl. Von den Geräuschen der lärmenden Mofas und der drängenden Menschenmassen in den engen Gassen ist hier nichts mehr zu hören. Von einem Moment auf den anderen ist die pulsierende Großstadt spurlos verschwunden. Die Reise in die Vergangenheit beginnt.

Für die großen, leeren Schächte der griechischen Steinbrüche fanden die Römer eine praktische Weiterverwendung. Sie integrierten sie in ein Aquädukt, das die Stadt permanent mit frischem Wasser versorgte. Weil die Quellen außerhalb der Stadt sehr niedrig lagen, mussten sie das Aquädukt unterirdisch bauen. So entstand ein leichtes Gefälle, wodurch das Wasser stetig weiterfließen konnte. Die Tunnel zwischen den einzelnen Zisternen waren besonders schmal. Auf diese Weise floss das Wasser noch schneller.

In jedem Haus des alten Stadtzentrums gab es einen Brunnenschacht, aus dem die Hausbewohner das Wasser aus den Zisternen an die Oberfläche schöpften. Legenden zufolge soll sich ein ungebetener Gast durch die offenen Brunnen regelmäßig Zugang in die Häuser verschafft haben. Er war von schmächtiger Statur und trug einen langen Kapuzenumhang, weshalb die Neapolitaner ihn den „Munaciello“, den Mönch, nannten. Der Munaciello war zu Besuch, wenn über Nacht Gegenstände verschwanden. Er war aber auch dann zu Besuch, wenn der Ehemann nach einer langen Reise nach Hause zurückkehrte und von seiner Frau mit einem verdächtig dicken Bauch begrüßt wurde. Viele Legenden und Geschichten ranken sich um dieses koboldartige Wesen. Wer sich tatsächlich hinter dem Munaciello verbirgt, lässt sich relativ einfach erklären: Brunnenwärter hatten den Auftrag, die Zisternen regelmäßig zu reinigen. Wegen der engen Verbindungstunnel waren nur besonders schmächtige Männer für diese Aufgabe geeignet. Durch die Brunnenschächte hatten sie problemlos Zugang in fast alle Wohnhäuser. Angesichts des geringen Lohns, den sie für ihren riskanten Beruf erhielten, ist es nicht überraschend, wenn der ein oder andere Brunnenmann versuchte, auf anderen Wegen eine Entschädigung zu erhalten.


Spuren des Schädelkults in der Cimitero delle Fontanelle.

Der Beruf der Brunnenwärter war mühsam und sehr gefährlich. Nur mit einer kleinen Kerze oder Öllampe ausgestattet, kletterten sie ungesichert in die ewige Finsternis. Noch heute sind in den aufragenden Schächten Vertiefungen erkennbar, die sich stufenartig an gegenüberliegenden Wänden hochziehen: Mit gespreizten Armen und Beinen hangelten sich die Brunnenwärter aus schwindelerregenden Höhen nach unten, um die Zisternen zu reinigen, oder stemmten sich nach oben, um wieder an die Oberfläche zu gelangen. Auf den heutigen geführten Touren durch die Unterwelt erhält jeder Besucher eine Kerze, um damit durch den Abschnitt eines Tunnels zu laufen. Der Gang ist so eng, dass man nur seitwärts vorankommen kann. Durch solche Tunnel bewegten sich die Brunnenwärter von einer Zisterne zur nächsten.

Um eine Zisterne zu reinigen, ließen sie den Wasserspiegel bis auf den Boden sinken und fischten dann mit Netzen Schutt und Schlamm heraus. Letztendlich konnten sie trotzdem nur den oberflächlichen Schmutz beseitigen. Das Wasser blieb verunreinigt und wurde zum Nährboden vieler Seuchen. Bei einer besonders heftigen Choleraepidemie im Jahr 1884 starben 7000 Menschen. Die Stadt zog daraufhin endlich Konsequenzen. Das Aquädukt, 2000 Jahre lang durchgehend in Betrieb, wurde geschlossen und durch ein modernes Wasserwerk ersetzt. Das weitverzweigte Netz aus Tunneln und Zisternen geriet in Vergessenheit – zunächst jedenfalls.

Neapel ist, und dies ist nicht nur rhetorisch gemeint, tatsächlich voll von Überresten aus der Antike. Gleichgültig, wo man in der heutigen Altstadt spaziert: Früher oder später fällt der Blick auf eine Hauswand, einen Giebel, ein Eingangstor oder etwas anderes, das so gar nicht zum übrigen Teil des Gebäudes zu passen scheint. Nicht selten gibt es Häuser mit zugleich modernem, barockem und antikem Bauschmuck. In Neapel gehören die Relikte vergangener Epochen auf eine ganz einzigartige, selbstverständliche Art und Weise zum Stadtbild. Statt sie durch einen Zaun abzutrennen oder mit Informationstafeln zu versehen, bleiben Denkmäler der Vergangenheit häufig Gegenstand des öffentlichen Gebrauchs.

Überreste der Antike haben sich bis heute in allen möglichen Formen erhalten, so zum Beispiel auf der Piazza Bellini, wo Ruinen der griechischen Stadtmauer stehen, oder im Straßenbild der Altstadt, das mit dem Verlauf der einstigen römischen Straßen nach wie vor exakt übereinstimmt.

Nicht anders verhält es sich unter der Oberfläche, wie die Teilnehmer der Tour unter der Altstadt schnell feststellen können: Verdutzt blicken sie um sich, als sie plötzlich in einen „Basso“, eine typisch neapolitanische, ebenerdige Wohnung, geführt werden. Sie stehen mitten in einem möblierten Schlafzimmer. Es würde wohl niemanden wundern, wenn jetzt der Bewohner des Basso hereinkäme und sich zum Schlafen hinlegen würde. Stattdessen schiebt der Tourguide das Bett zur Seite und zieht eine im Boden eingelassene Falltür auf. Wenige Stufen tiefer versammelt sich die Gruppe im Keller – und zugleich inmitten der Ruinen eines römischen Theaters. Die folgenden Generationen hatten ihre Häuser einfach über die Ruinen gebaut bzw. diese in die neuen Bauten integriert. Mit Ausnahme des Basso mit dem Zugang zum Keller werden die angrenzenden Wohnungen benutzt. Und so erleben die Besucher die absurde Situation, inmitten von 2000 Jahre alten Relikten zu stehen, wo einst Kaiser Nero höchstpersönlich vor rund 7000 Zuschauern gesungen haben soll, während direkt über ihren Köpfen neapolitanische Familien Fernsehen schauen, Wäsche waschen und Abendessen kochen.

Das Theater existierte kaum ein Jahr, als es bereits 65. n. Chr. einem Erdbeben zum Opfer fiel. Dagegen half auch das bis heute an den Kellerwänden sichtbare „opus compositum“ nichts: ein Mischmauerwerk, das ständige Erdstöße auffangen sollte.

Während des Zweiten Weltkrieges traf es Neapel so hart wie keine andere italienische Stadt. Zwischen 1942 und 1943 starteten die Alliierten insgesamt 105 Luftangriffe. Die Neapolitaner suchten Schutz vor den Bombardierungen, doch Luftschutzbunker gab es keine. Und so erinnerten sie sich wieder an die fast vergessenen unterirdischen Zisternen und Tunnel.

Zunächst einmal mussten diese wieder begehbar gemacht werden: Bis zu zwölf Meter hohe Berge aus Schutt hatten sich im Laufe der Zeit aufgetürmt. Die Stadtbewohner mussten einen Großteil des Mülls beseitigen. Den Rest zerkleinerten und zerhauten sie und ebneten ihn zu einem Boden ein. Dann waren die Räume endlich bezugsbereit.

Einen Eindruck davon, wie die Menschen während des Krieges ihre Zeit im Untergrund verbringen mussten, erhält man auf der Tour im Tunnel „Borbonico“. Eigentlich beabsichtigte Ferdinand II., König beider Sizilien, sich mit dem Bau des Tunnels im Jahr 1853 einen unterirdischen Fluchtweg aus seinem Palast zu schaffen. Doch der Tunnel wurde nie fertiggestellt.


Im Tunnel „Borbonico“ versteckten sich während des Zweiten Weltkrieges rund 9000 Stadtbewohner.

Knapp 100 Jahre später eigneten sich die leeren Räume ebenso wie die Zisternen hervorragend als Schutzräume vor den Luftangriffen. Rund 9000 Stadtbewohner versteckten sich in 30 Metern Tiefe. Manchmal hielten sie sich bis zu 24 Stunden hier unten auf. Ältere Menschen, denen das Treppensteigen schwerfiel, blieben häufig sogar noch länger. Frische Luft war dank der vielen Brunnenschächte immer ausreichend vorhanden. Allerdings konnte es passieren, dass eine Bombe genau in einen Brunnen hinein fiel, weshalb viele Schächte aufgefüllt werden mussten. Vor allem für die Kinder war die Zeit im düsteren Untergrund beängstigend. Funde von kleinen Autos und Puppen zeigen, dass sie ihre Spielsachen mitnehmen durften, um sich die Zeit zu vertreiben und etwas Ablenkung zu finden. Ein Neapolitaner hat während seines Aufenthalts „Noi vivi“, „Wir leben“, an eine Wand geritzt. Die Ängste und Hoffnungen der Menschen lassen sich in solchen Graffiti erahnen.

Erst vor einigen Jahren begannen die Mitglieder des Vereins „Associazione Culturale Borbonica Sotterranea“, den Tunnel Borbonico und die angrenzenden Zisternen zu erkunden. Neben zurückgelassenen Gegenständen aus Kriegszeiten fanden sie faschistische Statuen, aber auch zahlreiche konfiszierte Autos und Motorräder aus der Nachkriegszeit. Die Polizei hatte die Fahrzeuge einfach hier unten deponiert. Platz war ja genügend da.

Die Neapolitaner nutzten ihre Unterwelt auf vielfache Weise: Im Untergrund suchten sie Zuflucht, nahmen sich Tuffstein als Baumaterial, sammelten Wasser und deponierten all das, was von der Oberfläche verschwinden sollte. Hier bestatteten sie auch ihre Toten. In keiner europäischen Metropole ist der Austausch zwischen Diesseits und Jenseits so präsent wie in Neapel. Ein Besuch im Untergrund von Rione Sanità zeigt, wie intensiv die Neapolitaner ihr Verhältnis zu den Toten pflegen.

Seit vielen Jahren hat das Stadtviertel mit seinem schlechten Ruf zu kämpfen. In der „Hochburg“ der Camorra würde es nur so von Dieben und Kriminellen wimmeln. Bloß gut auf die Wertsachen aufpassen. Ach was, am besten gar nicht erst das Viertel betreten!

Diejenigen, die sich trotz solcher Warnungen noch dorthin trauen, können sich ein ganz anderes Bild machen: von dem quirligen Leben auf den Straßen, den imposanten Kirchen und prunkvollen Palazzi. Einst galt Sanità aber auch als das „Tal der Toten“, wo die meisten Friedhöfe der Stadt angesiedelt waren. Einige davon können auf den Touren des Vereins „La Paranza“ besichtigt werden.

Der Cimitero delle Fontanelle ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Neapolitaner Zeugnisse der Vergangenheit immer wieder den aktuellen Bedürfnissen anpassten und weiter benutzten. In dem Steinbruch – heute 15 Meter hoch und 3000 Quadratmeter groß – trugen Griechen, Römer und die nachfolgenden Generationen Tuffstein ab. Im 17. Jahrhundert hatte das ein Ende. Damals musste Neapel gleich mehrere Katastrophen aushalten. 1631 brach der Vesuv aus. 1647 hielten die blutigen Ausschreitungen der Masaniello-Revolte die Stadtbewohner zehn Tage lang in Atem. Und 1656 folgte die große Pest, deren Ausmaß die vorherigen Katastrophen weit übertraf: Fast die Hälfte der Bevölkerung soll in diesem Jahr ums Leben gekommen sein. Die Toten mussten weggeschafft werden. Die Steinbrüche in der Stadt waren dabei eine praktische Lösung. So entstand auch der Cimitero delle Fontanelle. Bis zu 3000 Tote pro Tag transportierten die Leichenträger in den Tuffsteinbruch. Die Opfer von weiteren Epidemien im 19. Jahrhundert fanden ebenfalls in diesem Friedhof ihre letzte Ruhestätte. Heute sollen hier die Gebeine von 40.000 Toten liegen.

Links und rechts an den Wänden der Höhle stapeln sich die Knochen in mehreren Reihen übereinander, in den Boden sollen ebenfalls Massen von Gebeinen hineingepresst worden sein. Es mag den einen oder anderen Besucher an die Katakomben unter Paris erinnern, doch etwas ist anders, irgendwie seltsam. Viele Schädel liegen in kleinen Kästchen auf Kissen, manchmal geschmückt mit Blumen. Je länger man die Gebeine betrachtet, desto mehr ungewöhnliche Details fallen auf: In den Augenhöhlen liegen Münzen, vor den Knochen sind Rosenkränze und Heiligenbildchen drapiert, sogar Bustickets und Bonbons. Neben einem Schädel sitzt eine Barbiepuppe im rosaroten Kostüm.


Im Keller eines neapolitanischen Wohnhauses liegen die Überreste eines römischen Theaters.

Nach der großen Pest entwickelte sich in Neapel eine besondere Leidenschaft für das Jenseits und ein den Neapolitanern ganz eigener Schädelkult. Sie beteten für die Seelen der Menschen, die an der Pest gestorben waren, und hofften, sie damit aus dem Fegefeuer retten zu können. Die Gläubigen adoptierten jeweils einen Schädel, pflegten und umsorgten ihn. Das Ritual sollte die Seelen der Toten vom Fegefeuer weg und ein Stück näher zum Paradies führen.

Nach den traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges besuchten vor allem neapolitanische Frauen Orte wie den Cimitero delle Fontanelle und ließen den Schädelkult wieder aufleben. Sie suchten sich einen Schädel aus, legten ihn auf ein weißes Kissen, gaben ihm einen Namen, polierten ihn und beteten für ihn. Aber all das passierte nicht ohne Hintergedanken. Denn gleichzeitig erwarteten sie eine Gegenleistung von dem Toten und sprachen einen Wunsch aus – ob nun die Geburt eines gesunden Kindes, die Heilung von einer Krankheit oder etwas Glück beim Lottospiel. Dann warteten sie auf ein Zeichen. Geschah in der Zeit darauf etwas Ungewöhnliches, wurde ihr Wunsch gar erfüllt, so setzten sie den Schädel in ein Holzhäuschen mit der Inschrift: „Per Grazia Ricevuta“. Aus Dank für den erfüllten Wunsch. Gleich einem Handel gingen Lebende mit den Toten eine wechselseitige Beziehung ein, die jederzeit abrupt enden konnte: Erfüllte der Tote den Wunsch nicht, wurde ihm selbstverständlich auch sein Holzhäuschen wieder weggenommen. Der Gläubige suchte sich daraufhin einen anderen Schädel aus und ging mit ihm erneut eine Beziehung ein.

Der Kirche gefielen solche Bräuche ganz und gar nicht, weshalb sie 1969 alle unterirdischen Friedhöfe schließen ließ. Erst seit wenigen Jahren hat der Cimitero delle Fontanelle seine Tore wieder geöffnet. Der Schädelkult existiert nicht mehr. Aber die vielen Rosenkränze, Kerzen und Geschenke zeigen, dass die Seelen im Fegefeuer den Neapolitanern immer noch sehr am Herzen liegen.

In Sanità gibt es zwei weitere Friedhöfe, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Die Katakomben von San Gennaro liegen im Hügel von Capodimonte. Hier wurde San Gennaro, der heilige Januarius, bestattet, nachdem er im 4. Jahrhundert unter Kaiser Diokletian verfolgt und enthauptet worden war. Adelsfamilien ließen ihre verstorbenen Verwandten an diesem Ort begraben. Die Fresken ihrer Grabstätten, die frühesten davon datieren in das 4. Jahrhundert, sind bis heute sehr gut erhalten. Sie zeigen Darstellungen des San Gennaro, aber auch andere Heilige und Figuren aus der Bibel. Die Verstorbenen selbst sind natürlich ebenfalls abgebildet.

Für Gänsehaut sorgen die Fresken in den Katakomben des San Gaudioso unter der Basilika Santa Maria della Sanità. In der Krypta führt ein kleiner Tunnel hinunter in eine Galerie. An den Wänden sind Fresken von fast lebensgroßen Skeletten in vornehmer Kleidung abgebildet. Sie repräsentieren Verstorbene aus der Adelsschicht. Alles ist aufgemalt, mit Ausnahme des Kopfes: Den ersetzte einst ein echter, in der Wand eingelassener Totenschädel. Denn im Kopf, da waren sich die Gläubigen sicher, saß die Seele. Nur der „Wächter“ der Galerie ist ganz ohne Fresko, dafür mit einem echten Skelett an der Wand dargestellt. Allerdings wurde das Skelett aus den Knochen ganz unterschiedlicher Individuen zusammengefügt. Das erklärt auch die etwas zu lang geratene Wirbelsäule des Wächters.

Eine Etage unter der Galerie wurden die Verstorbenen auf eine seltsam anmutende Weise mumifiziert. In kleine Nischen in der Wand wurden die Toten zusammengekauert eingebracht, die Köpfe nach hinten gestreckt und die Körper mehrfach angestochen. Nach und nach sickerte die Flüssigkeit aus den Körpern heraus, sie vertrockneten und mumifizierten.

In der Galerie sieht der Betrachter heute über den Fresken nur noch Hohlräume mit wenigen Schädelteilen darin. Der Rest der Schädel fiel im Laufe der Zeit vermutlich der Feuchtigkeit zum Opfer.

Vulkanausbrüche, Erdbeben, Kriege, Epidemien – Neapel hat bis heute allen Katastrophen getrotzt und wurde nie zerstört. Die Geschichte der Stadt ist ein Teil der Gegenwart geblieben. Wo immer der Besucher auch hinschaut: Zeugnisse der Vergangenheit sind überall greifbar. So auch in der Unterwelt Neapels.

Unter dem Asphalt

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