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II
IRONIE OFF! Anthropologische Mutation

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1972 schrieb oder, genauer gesagt, kopierte der Dichter Rolf Dieter Brinkmann folgende, zunächst in einem Brief nach Deutschland geäußerten Sätze in sein römisches Collagebuch: „Es wird nicht mehr lange dauern, bis hier das 20. Jahrhundert mit allen seinen Schrecken auch voll und ganz eingetreten ist. / Was ist der Schrecken des 20. Jahrhunderts?: Es ist die starke Automatisierung des Lebendigen (…), ich habe es immer bezeichnend empfunden in Köln an der Ecke Ehrenstraße: ‚Der sprechende Automat‘ sobald man das Geld in den Zigarettenkasten geworfen hatte und automatisch kam heraus/: ‚Vielen Dank!‘“1

Was würde der Dichter heute sagen, wo in einem fort aus allen Richtungen lebendige und künstliche, in jedem Fall digital gespeicherte und abgerufene Stimmen an unser Ohr dringen, die uns bitten oder bedanken, warnen oder locken, Floskeln und Zahlen formulieren, uns auf den nicht angelegten Sicherheitsgurt aufmerksam machen, auf einen abbiegenden oder rückwärts fahrenden Lastwagen, einen Artikel im Supermarkt, wo man an der automatischen Kassa auch Tierstimmen hören kann? Würde er sich in Alexa und Siri verlieben? Hätte er sich, wie die meisten Zeitgenossen heute, an all diese Automatiken und Künstlichkeiten längst gewöhnt? An das Wasserrauschen auf den Toiletten? An das künstliche oder lebendige – läßt sich nicht entscheiden – Frauenstimmchen im Aufzug, das uns mitteilt, jetzt gehe es nach oben oder nach unten?

Wollte man im Jahr 1972 in einem Lokal Musik hören, schlenderte man cool zur Jukebox (wie in Brinkmanns Erzählung Wurlitzer), die nach zwei, drei Minuten in Schweigen fiel, wenn man sie nicht weiter fütterte. Die Dauerbeschallung durch seichte Pop- und Kaufhausmusik war noch nicht Realität, Kopfhörer, Ohrstöpsel, Bluetooth noch nicht gebräuchlich. Ist denn das alles so schrecklich? Was sind die wahren Gräuel der Gegenwart? Was würde Brinkmann zu den allgegenwärtigen, immer unauffälligeren Überwachungskameras sagen? Zum Verlust der Privatsphäre, zur sanften Kontrolle bis hinein ins Wohn- und Schlafzimmer? Zur ständigen Mitteilung von visuellen Daten, ermöglicht durch digitale Photographie und Handys, die zur zweiten Natur geworden sind und uns an das sogenannte Netz anschließen, in dem mehr und mehr auch die intelligenten Dinge zusammengeschlossen sind? Wobei die Mitteilungen, die Informationen oft nur von Maschinen gespeichert, aber kaum von Menschen angesehen, noch weniger besprochen oder diskutiert, im Glücksfall oder bei geschickter Eigenwerbung „gelikt“ werden oder sich „viral“, das heißt im Selbstlauf, verbreiten: Kommunikationslosigkeit. Fast jeder liefert sich freiwillig aus, verschenkt seine Daten, regt sich hernach über NSA und Big Data auf, verschleudert weiterhin seine Daten, gebraucht tagein, tagaus die Geräte, die sich jederzeit gegen ihn wenden können wie Panzer eines Landes gegen die eigene Bevölkerung.

Dabei denken wir noch gar nicht an die Probleme der Arbeitswelt, an ihr tendenzielles Verschwinden und das seltsame Phänomen, daß wir trotz der Steigerung der Produktivität immer mehr Arbeit am Hals haben, wenn wir Arbeit haben, und uns immer gestreßter fühlen auf dem Weg zum Burn-out. „Man stelle sich vor, mehr als 90 Prozent aller Jobs würden verschwinden; ersatzlos gestrichen, weil Maschinen sie übernehmen. Ein grauenvoller Gedanke: Was wird dann aus uns Menschen, wovon werden wir leben, womit füllen wir unsere Zeit?“, fragt Christoph Kucklick, derzeit (2021) Leiter der Henri-Nannen-Schule in Hamburg.2 Wenn wir versuchsweise mal ein paar Antworten geben: Vielleicht leben wir von dem, was die Maschinen erwirtschaften? Der Reichtum verschwindet ja nicht mit der Arbeit. Aber verschwindet sie überhaupt? Werden nicht ständig neue Arbeiten erfunden, konstruiert, bereitgestellt, damit wir nicht arbeitslos werden? Unnötige Tätigkeiten, doch immerhin sind wir beschäftigt. Der Mensch als Beiwerk der Maschinen, die er wartet, beaufsichtigt, verbessert. Bis sie sich eines nicht fernen Tages selbst warten, beaufsichtigen, verbessern werden? Diese Zukunft hat ebenfalls schon begonnen, Maschinen können immer besser, immer schneller lernen. Trial and error, alles durchprobieren, dazu sind sie unermüdlich – und rasend schnell. Frustrationstoleranz 100 Prozent. Hundertmal verlieren, einmal gewinnen. Werden die Menschen dann Gedichte schreiben wie Rolf Dieter Brinkmann? Werden sie lernen, studieren, neugierig sein, einfach so, ohne bestimmtes Ziel, Bildung als Selbstzweck? Oder sich tagein, tagaus über Politiker, über „Eliten“ ereifern und empören, die vielleicht auch gar nicht mehr nötig sind? Werden sie die heile Welt schrecklich finden? Oder den halben Tag Sport treiben? Meditieren? Shoppen? Oder sich betrinken, betäuben mit Drogen, Internet, Fußball, Shopping, Surfen, Pornos?

Zögerliche Antworten münden in neue Fragen. Es ist vor allem eine bequeme, praktische Welt, und zwar schon heute, für die meisten Menschen in den entwickelten Ländern. Ich erinnere mich an den Beschwerdespruch meiner Mutter zu einer Zeit, die noch nicht ganz so bequem war, als die Menschen weniger motorisiert und weniger mobil waren, sich aber noch viel mehr bewegten, einen Spruch, den sie ab und zu einem ihrer Kinder an den Kopf warf: „Recht faul und bequem!“ Heute sehe ich die jungen Leute mit dem Handy vor der Nase wie der Esel mit der Karotte und denke, oft gegen meinen Willen: Recht faul und bequem! Das Praktische, Annehmliche, Naheliegende, leicht zu Habende, leicht Erreichbare, leicht zu Verstehende ist in unseren heutigen Gesellschaften zum Inbegriff des Wertvollen geworden, Bequemlichkeit schlägt jeden anderen Wert, soweit noch Werte in Umlauf sind. Und warum auch nicht, was spricht dagegen, worüber regst du dich auf? Das Allzweckgerät Smartphone genügt im Verbund mit dem Hypersupermarkt Amazon, der eines Tages vollautomatisiert sein wird (3-D-Drucker, Drohnen etc.), um uns ein ewiges Leben im Schlaraffenland zu gewähren.

Zu bequem sind wir nicht bloß, um unseren Arsch zu bewegen, sondern zunächst und vor allem, um Entscheidungen zu treffen. Algorithmen treffen sie für uns, dein Personalcomputer3 kennt dich, er berechnet und prognostiziert dich, du bist seine Person, sein Ehepartner, er sagt dir, was du kaufen, welche Musik du hören, welchen Film du sehen wirst. Meistens ist er mit dir per Du, was angemessen ist, weil er dich besser kennt und dir näher ist als fast alle Menschen. Die hundertprozentigen digital natives der jüngeren Generationen wollen gar keine Entscheidungen treffen, sie verzichten gern auf ihre Freiheit, weil dieser Verzicht ihre Bequemlichkeit vermehrt, auch wenn sie verbal-ideologisch womöglich nach wie vor für Freiheit eintreten: Sie wollen sich doch von niemandem etwas sagen lassen! (Außer von Spotify, TikTok, GPS, Partneragentur, Suchmaschine, Rechtschreibkorrektor, alles natürlich im Internet, ihrem eigentlichen Lebensraum.) Auch in vorgeblich freien Gesellschaften, schreibt Yuval Noah Harari („allegedly free societies“), werden wir mehr und mehr den Algorithmen vertrauen und im selben Maß unsere Fähigkeit einbüßen, Entscheidungen auf eigene Faust, im eigenen Namen zu treffen. Auf den Widerspruch zwischen der Haltung des Bedauerns und futuristischer Begeisterung sowie auf die Ironie, die diesen Widerspruch bedient, werde ich noch zurückkommen. Ich fürchte, daß ich ihm (und ihr, der Ironie) selbst nicht entgehen kann. Unter solchen Bedingungen, die ich als automatisiert bezeichnen würde, insofern die technische Automatisierung auf das Verhalten der Personen abfärbt – wir passen uns den allwissenden Geräten an –, optieren wir in der Regel für das Leichtere, Einfachere, schnell zu Habende. Durch Klicks und Pop-ups, durch das ständige und mühelose Aufspringen von Fenstern, ist alles in unserer Reichweite, die Abstände werden viel radikaler reduziert als beim Fernsehen, weil unsere Individualität, das „Persönliche“, das freilich schon durch die Geräte und ihre Algorithmen façonniert ist, und unsere Mobilität einberechnet werden (dennoch sehe ich die Internetpraktiken immer auch als Fortsetzung der Fernsehkultur). Wir brauchen keine Anstrengung und wollen sie auch nicht, wir ziehen das Einfache dem Komplexen vor, das Bild dem Text, den wir allenfalls überfliegen, das Triviale dem Elaborierten, die Verschwörungstheorie der Analyse, den Slogan dem Zweifel, das Poppige der Klassik, das Flüchtige dem Traditionsbeladenen. Roberto Simanowski bezeichnet dieses Prinzip, das Facebook vielleicht am besten verkörpert, als verbrecherisch („Facebooks Verbrechen …“). Daß er sich am Ende – ironisch, versteht sich – zum digitalen Smalltalk und den Banalitäten à la TikTok „bekehrt“, verweist auf den Widerspruch, von dem auch das Schreiben Hararis zehrt.

Ein Problem, das sich aus der Bequemlichkeit ergibt, besteht darin, daß die digitalisierten, bis zu einem gewissen Grad automatisierten Subjekte selbst dann, wenn sie lernen, sich bilden, etwas wissen wollen, die Gegenstände und Themen nicht mehr durchdringen, weil sie ohnehin sämtliche Daten – und anders als in Datenform, als Informationsbits, werden Inhalte von digital natives nicht wahrgenommen – ständig verfügbar haben, auf grenzenlosen Speicherplätzen außerhalb ihrer selbst, in einer virtuellen Wolke, einem Datenhypermarkt. „Was du ererbt hast von den Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“ – solche Sprüche findet man gesammelt, kopiert und „gepastet“ auf zahllosen Sites im Internet, aber was sie bedeuten … Wissensbereiche werden unter heutigen Bedingungen nicht erworben, sondern angeklickt (und meistens sofort wieder vergessen), Gegenstände werden nicht durchdrungen, Probleme und Zusammenhänge nicht erkannt, sondern nur gestreift, Bildung eignet man sich nicht an, man braucht sie im Grunde genommen nicht, und wenn doch, dann genügt es, wenn sie in den Speichern des Allzweckgeräts konserviert ist. Dementsprechend sind die beliebtesten, d. h. zeitgemäßesten Genres der Epoche des Kulturüberflusses, auch Postmoderne genannt, die Anthologie, die digitale Enzyklopädie, das Florilegium und die Zitatensammlung.4 Das jederzeit und jedermann zugängliche Internet, wie es sich im 21. Jahrhundert ausgeprägt hat, ist letzten Endes nichts anderes als die Hyperstruktur dieser Auswahlgenres, einschließlich Wikipedia, wo der User neben höchst ernsthaften, mitunter taxfrei wissenschaftlichen Artikeln so viel Information über sämtliche Kleinstädte, Dörfer und Stadtviertel, über viertklassige Fußball- und Schauspieler oder auch Pornosternchen finden kann, daß er als User gar nicht anders kann, als sich in diesem Labyrinth zu verlieren (auch „surfen“ genannt). Das Problem ist weniger, daß uns inmitten solcher Überfülle die Bildung abhandenkommt, als daß wir uns selbst nicht mehr zu Persönlichkeiten bilden, die selbständig auswählen, verwerfen, bewerten und sich das als wertvoll Erachtete aneignen: Die Notwendigkeit und schließlich die Möglichkeit dazu bleibt im digital vernetzten Lebensraum auf der Strecke. An die Stelle des Subjekts des Wissens, des Zweifelns und des Erkennens ist der Wissensmanager getreten. „Möglich ist diese Vorstellung nur“, schreibt Konrad Paul Liessmann, „weil die Wissensgesellschaft die Beziehung des Wissens zur Wahrheit gekappt hat“.5 Da sie sämtliche Daten sofort haben können, verlernen die User der digitalen Welt auch das Warten, die Geduld, das Reifen, die Introspektion. Gleichzeitig unterliegen Erholung und Unterhaltung einer Transformation: Luststeigerung, oft auch noch gratis, ohne vorhergehende Anstrengung führt leicht zur Sucht, zum unkontrollierbaren Konsum (der dem kommerziellen Ideal des Spätkapitalismus entspricht). Das Internet und die Geräte, die uns damit verbinden, machen an sich süchtig, nicht erst durch bestimmte Inhalte (Spiele, Pornographie, Wetten …), die wir darin finden. Der Süchtige ist die Verkörperung des Subjekttypus, der sich endlos gehen läßt. Er will und muß nicht denken, sich zur Verantwortung rufen, Entscheidungen treffen. Sucht ist bequem – kann aber Probleme im wirklichen Leben nach sich ziehen. Reale Nebenwirkungen sozusagen.

Durch die soziotechnischen Systeme werden uns immer mehr Bürden abgenommen, das Leben wird – oder wirkt, auf den ersten Blick – ungeheuer leicht. Unsere Spätmoderne ist, um einen Begriff Zygmunt Baumans zu gebrauchen, eine leichte Moderne, die das schwere Gepäck des Industriezeitalters und seiner Moral abgeworfen zu haben scheint (das relativierende Verb füge ich Baumans Erläuterungen hinzu). Wissen heißt heute nicht mehr, sich etwas angeeignet und in seinem Gehirn aufbewahrt zu haben; es bedeutet, eifrig im Internet herumzuklicken, geleitet von einer Suchmaschine, in den meisten Fällen Google, wobei der Suchende immer wieder auf dieselben Pages, dieselben Sites, also Orte, stößt, die eine Unzahl von Orten und Verbindungen dort- und dahin („Links“) anbieten. Was durch die mehr oder weniger intelligenten Maschinen und Systeme ausgelagert wird, sind nicht mehr nur beschwerliche körperliche Tätigkeiten wie Rasenmähen, Tagebau oder Geschirrspülen (schon seit prädigitalen Zeiten), es betrifft mehr und mehr den intellektuellen, emotionalen und sinnlich-perzeptiven Bereich: das Erinnern, das Denken, das Erstellen(-Lassen) von Korrelationen anstelle des Aufspürens von Zusammenhängen, die Orientierung, die Intuition, ja, sogar das Verlieben, das laut Harari von Algorithmen viel besser besorgt wird als durch fehlbare menschliche Subjekte, die nur auf ihre Gefühle und Eingebungen zurückgreifen können und daher oft unvernünftig agieren. Gleichzeitig verliert sich die Forderung nach Verantwortlichkeit, und spiegelbildlich dazu das Verantwortungsbewußtsein der Subjekte. Letzteres gilt nicht nur für anonyme System-User, oft als „Poster“ unter Pseudonym auftretend, die in irgendeinem „sozialen“ Medium immer wieder mal zu ihrem Vergnügen Haßbotschaften oder Drohungen absetzen, es gilt auch für die Konstrukteure dieser digitalen Systeme und wiegt bei ihnen viel schwerer, bei den Software-Entwicklern und den von ihnen geschaffenen intelligent-maschinellen Entitäten, zumal wenn sie zu raschem Selbstlernen befähigt sind: Wer ist für deren ach so reibungsloses, aber mitunter dystopisches Funktionieren verantwortlich? Wer kontrolliert es? Wer kann es rechtzeitig stoppen? „Es besteht die Gefahr, daß am Ende niemand mehr zur Verantwortung gezogen werden kann“, faßt Catrin Misselhorn in ihrem Buch über „Grundfragen der Maschinenethik“ zusammen, nachdem sie Beispiele wie den Einsatz von Drohnen in der Terrorbekämpfung, der Kreditvergabe von digitalisierten Banken und die Preisgestaltung von Tickets bei Lufthansa angeführt hat. Die geschilderten Verhältnisse könnten „dazu führen, daß die Menschen sich weniger verantwortlich fühlen und die Bedeutung ihrer Handlungen nicht mehr wirklich verstehen“.6 Algorithmen verstehen sie besser. Aber wirklich den Menschen gemäß?

Ein Aspekt und eine Folge der Bequemlichkeit ist die immer umfassendere Herrschaft von kulturellen Mainstreams. Technisch und ideologisch bestünde die Möglichkeit zunehmender Diversifizierung, tatsächlich ist aber die gegenläufige Tendenz wesentlich stärker. Hinter der sogenannten Personalisierung, auch Singularisierung genannt, verbirgt sich das Gegenteil dessen, was der Begriff aussagt, nämlich Stereotypisierung und Rhetorisierung; das Gegenteil jener Singularitäten, die nach Gilles Deleuze durch menschliche Kreativität hervorgebracht werden.7 Wer hat, dem wird gegeben; was oft angeklickt wird, wird noch öfter angeklickt; nach und nach bleichen die Besonderheiten aus. Dabei klickt man zunächst oft nur, um zu sehen, was da so interessant sein soll: eine Art von ironischem Klicken, augenzwinkerndes Mitmachen, das unmerklich zu distanzlosem Baden im Mainstream werden kann. Technologische Basis des Konventionalismus und Konservativismus der ach so innovationsfreudigen digitalen Welt8 sind ökonomische Quasi-Monopole wie Google und Facebook, es sind die durch Algorithmen erzeugten Spiegelkabinette und Echoräume von sogenannten Feeds, von Empfehlungen des Gleichen oder Ähnlichen, die gedankenlos als Befehle aufgenommen werden. Harari begeistert sich für die Möglichkeit der digitalen Produktion von – vom Konsumenten aus gesehen – „personalisierter Kunst“. Der Kunde ist König, die Produzenten und Vertreiber geben ihm, was er wünscht und braucht, oder zu brauchen glaubt (natürlich beeinflussen sie ihn zugleich durch systematische, im Internet durchaus lückenlose Werbung). Facebook-Algorithmen wissen, wie der Einzelne, d. h. der „User“, der Digitalkonsument, auf Musikstücke reagiert, bzw. andersrum gesagt, sie wissen, in welcher Lage er welche Musik braucht. Um auf solche Weise über Kunst zu sprechen, ist ein etwas beschränkter Begriff davon Voraussetzung: „Oft wird gesagt, daß die Menschen deshalb für Kunst empfänglich sind, weil sie sich selbst darin wiederfinden.“ Das heißt, vor allem ihre Gefühle, und auf diese wirke die Kunst ein, und ein Algorithmus, der genügend neurologisches Datenmaterial über meine psychischen Reaktionen zur Verfügung hat, könne das viel erfolgreicher als ein Komponist, der für ein allgemeines, a priori nicht-personalisiertes Publikum komponiere. „Wenn die Schönheit in den Ohren der Zuhörer liegt, und wenn der Kunde immer recht hat“, dann werden biometrische Algorithmen die „beste Kunst in der Geschichte“ produzieren. Meint Harari.

Natürlich ist das Zukunftsmusik. Es mag Versuche in diese Richtung geben, aber die meisten Leute – Kunden – hören immer noch am liebsten, was gerade en vogue ist, und ein solcher Geschmack ist nicht singulär, sondern stereotyp. Harari konzediert dies, fügt aber sogleich hinzu, daß Algorithmen auch beim Herstellen von „global hits“ besser sein werden. Demnach wären menschliche Komponisten bereits überflüssig … Dabei fällt mir auf, daß der israelische Historiker nicht nur mit einem etwas simplen Kunstbegriff operiert, sondern selbst einen Musik- und überhaupt Kunstgeschmack entwickelt haben dürfte, der über globale Pop-Hits und Klassikschnulzen nicht hinausreicht. Die Künstler, die er an dieser Stelle zitiert, sind Britney Spears und Tschaikowsky (nichts gegen Tschaikowsky!). Die werden von den Kreativrechnern sicher bald übertroffen.

Es scheint ein Zug der gegenwärtigen Epoche zu sein, daß sich auch kluge und besonnene Menschen immer wieder in einen Taumel der Vorwegnahme rasanter technologischer Neuerungen hineinziehen oder -fallen lassen. Unsere Zeit ist paradoxermaßen beides: zukunftsängstlich und zukunftssüchtig. Was als nüchterne Überlegung beginnt, verwandelt sich ziemlich rasch in Science-Fiction. Manch ein Schreiber ist so ein verkappter SF-Autor; erkennen heißt – nicht nur für Algorithmen, sondern auch für menschliche Gehirne – Prognosen anzustellen. Und die Prognosen haben es so an sich, daß sie ihren Agenten immer weiter vorwärtstreiben, ihn beschleunigen und begeistern. Hin und wieder gebieten sich die Klügeren (wie ich) Einhalt – um sich dann von neuem treiben zu lassen. Ich glaube, daß Walter Benjamins geschichtsphilosophische These aus der düstersten Periode der europäischen Geschichte, kurz vor seinem Freitod formuliert, immer noch gilt, bzw. daß sie jetzt erst recht gilt und uns immer stärker beunruhigen sollte. Der Sturm der Geschichte wehe den Engel auf der Zeichnung Paul Klees – oder den Menschen, der (sich) erkennen will – „unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“9 Welche Trümmerhaufen wir in Zukunft auf unsere Vergangenheit zurückblickend sehen werden, kann niemand so genau sagen, aber zu befürchten steht doch, daß nicht alles heil bleiben wird und das, was den Menschen im positiven Sinn auszeichnete, auf dem Spiel steht (oder gestanden haben wird). Der Engel schaut nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit, doch er wird in die Zukunft getrieben. Ob im Anfang der Zeiten oder vor diesem wirklich ein Paradies lag, muß uns hier und jetzt nicht kümmern.

Wenn wir uns Klees Bild noch einmal ansehen, werden wir bemerken, daß der Engel schielt, als ginge sein Blick in zwei verschiedene Richtungen – also doch auch in die Zukunft, nicht nur zurück? Er verharrt und bewegt, anders gesagt: er schwebt über der Schwelle, die die Gegenwart darstellt. Außerdem wendet er sich dem Betrachter zu, und gleichzeitig von diesem ab. Sind wir, die Betrachter, die Vergangenheit oder die Zukunft des Engels? Weht der Sturm gar nicht vom Anfang, sondern vom Ende der Zeiten her? Ist es kein Wind, sondern ein Sog, der den Engel – die Menschen – zieht, ein horizontaler Malstrom? Wäre es, zumindest in unserer Zeit, die so oft als eine der beschleunigten Beschleunigung charakterisiert wird, nicht geboten, sich gegen diesen Sturm zu wappnen und öfter in die Vergangenheit zu schauen als in die Zukunft? Vielleicht gibt es aus den Trümmerlandschaften doch mehr zu retten, als die menschlichen und maschinellen Beschleuniger und Science-Fiktionisten uns weismachen wollen.

Ob personalisiert oder globalisiert oder beides, die rechnende Vorgangsweise gepaart mit dem wirtschaftsliberalen Prinzip „Der Kunde hat immer recht“ schafft und stärkt Mainstreams, Malströme. Die Effekte dessen lassen sich auch im politischen Bereich feststellen, oder im antipolitischen der Empörungs(un)kultur, die in jüngster Vergangenheit um sich gegriffen hat und in den USA einen Staatspräsidenten auf den Thron gespült hat, den seine Wähler für einen Feind des sogenannten Establishments hielten und immer noch halten (dabei war er allenfalls ein Feind der Demokratie). Die technologisch bewirkte Festlegung aufs Immergleiche, das Immerähnliche, um genau zu sein, schafft einen hervorragenden Nährboden für Simplifizierungen, Verschwörungstheorien und populistische Politik, die ich, wenn ich nun meinerseits vereinfachen darf, als Transponierung des KK-Prinzips (Kunde = König) ins Politische auffassen würde. Im Milieu der sogenannten Sozialen Medien kann der Antipluralismus der populistischen Bewegungen bestens gedeihen. Die „segmentierten Mikroöffentlichkeiten im Internet – in denen sich Mitglieder politischer Völkchen gegenseitig in ihrer moralischen Überlegenheit bestätigen – begünstigt die Logik des Populismus.“10 Die global vernetzte Kultur ist theoretisch in nie dagewesenem Ausmaß pluralistisch, der Überbau einer offenen Gesellschaft. Bei näherem Hinsehen besteht sie jedoch aus einer Anzahl von monistischen, geschlossenen Räumen, und parallel dazu breiten sich unverbindliche, aber wirkungsvolle Mainstreams aus.

Anfang der siebziger Jahre, in der Zeit, als Rolf Dieter Brinkmann in Rom weilte, verbreitete Pier Paolo Pasolini seinen Befund einer „anthropologischen Mutation“, welche die italienische – man kann extrapolieren: die europäische Gesellschaft erfaßt habe. Durch täglichen, bis in die hintersten Provinznester verbreiteten Massenkonsum und durch die Kulturindustrie (die er nicht so nannte: der Filmregisseur bezog sich auf das Fernsehen), sei das Wesen des (italienischen) Volks dabei, sich zu ändern, und zwar nicht gerade zum Besseren. Als ich damals, noch in den siebziger Jahren, das erste Mal davon hörte, war ich wie Pasolini bestürzt. Heute scheinen mir solche Wesensveränderungen, wenn wir annehmen wollen, daß es so etwas wie ein Wesen überhaupt gibt, unvermeidlich, normal, mitunter wohl auch begrüßenswert. Nach der Jahrtausendwende schlug in Österreich das von einem rechtsextremen Politiker geschmiedete Wort von der drohenden „Umvolkung“ hohe Wellen. Gemeint waren nicht Konsumismus und Infantilisierung, sondern der Zuzug von Fremden, die die ethnische Substanz der Heimat gefährden würden. Zwanzig Jahre später ist klar, daß die Mutation viel tiefer geht, daß der Wind wiederum aus einer anderen Richtung weht und überall auf der Welt zu spüren, also von globaler Natur ist. Die Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche von Arbeitsorganisation und Verwaltung über Bildungs- und Gesundheitswesen bis hin zu Küche, Schule und Verkehr, Freizeit, Unterhaltung und Sport, und die weltweite Vernetzung, zuletzt und besonders die Sozialen Medien, beeinflussen – meist ohne daß es den Subjekten bewußt wird – das tägliche Verhalten, die Denkweisen und Kommunikationsformen, die Erinnerungs- und Projektionsweisen, die Art des Wahrnehmens, des Sich-Konzentrierens und -Zerstreuens, also grundlegende menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten, die unser Wesen ausmachen oder ausgemacht haben. Nicht von einem oberflächlichen Einfluß ist die Rede, sondern von einer Umkrempelung, nicht von Revolution, sondern von Mutation. In der Zeitspanne seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, schreibt Michel Serres, sei „ein neuer Mensch geboren worden“.11 Wir passen uns der Funktionsweise und den Kriterien der Algorithmen an, die uns via Display gegenübertreten. Wer sich bei einer großen Firma um eine Stelle bewirbt, schreibt seine Bewerbung algorithmenkonform, weil er weiß, daß sie zunächst nicht von einem Firmenmitarbeiter gelesen wird, sondern von einem Bewerberbewertungsalgorithmus. Hat einer die Stelle bekommen, ist er gehalten, sich selbst zu quantifizieren, vergleichbar zu machen, zu optimieren.12 So ticken wir mehr und mehr wie die Maschinen, von denen wir abhängig sind. Der personalisierte und personalisierende Universalratgeber ist längst zum ständigen Begleiter geworden, zum Alter Ego, das uns beherrscht, auch wenn wir glauben, es zu beherrschen; ein neuer Typus von Über-Ich, nachdem die alten Instanzen wie Moral und Gewissen an Bedeutung verloren haben. Diese Entwicklung ist unaufhaltsam, aber wir können sie durch unser Bewußtsein und unseren kollektiven Willen mitgestalten. Wir können … Das heißt nicht, daß es wirklich geschieht. Die Betroffenen und die Zuständigen, soweit sich überhaupt jemand zuständig fühlt, lassen den Dingen ihren Lauf.

Auch Gilles Deleuze hatte, ein Konzept seines zu früh verstorbenen Freundes Michel Foucault aufgreifend, von Mutation gesprochen, diese aber zunächst sozioökonomisch bestimmt. Das nahezu Visionäre seines kurzen Textes über die Kontrollgesellschaften13 liegt darin, daß er erkannte, wie eng diese fundamentale Mutation mit technologischen Entwicklungen zusammenhängt, so daß der neue, postindustrielle und postmoderne Kapitalismus zunehmend kognitiv, virtuell und kulturell ausgerichtet ist und die alte Unterscheidung von Basis und Überbau obsolet wird (was schon Adorno in seinen Schriften zur Kulturindustrie vorausahnte). Was zunächst als Wortspiel erscheint, trifft als Diagnose ins Herz unserer Gegenwart: Die Individuen sind dividuell geworden, die Rechenmaschinen zerlegen mit ihren Funktionsprogrammen den Einzelnen in Daten und immer mehr Daten, zwischen denen Korrelationen gesucht und gefunden werden; er ist kein Kondensat mehr, sondern ein Dezentrat. Die alten Disziplinargesellschaften arbeiteten mit einfachen Maschinen, mit Zahnrädern, Hebeln, Flaschenzügen; die moderneren des 20. Jahrhunderts mit Energiemaschinen (Dampf, Elektrizität); die Kontrollgesellschaften, die Foucault und Deleuze heraufkommen sahen, operieren mit informatischen Maschinen, machines informatiques, mit Datenspeicherung und -verarbeitung, deren Ausmaß und Reichweite erst in den letzten Jahren klar geworden ist. Das Panoptikum des 18. Jahrhunderts, das Foucault ins Zentrum seiner Analyse der Disziplinargesellschaft gestellt hatte, hat sich der veränderten Realität angepaßt und verfeinert, es wirkt nicht mehr bedrohlich, weil es der anonymen Technik überlassen wird und uns die winzig und zahllos gewordenen Überwachungskameras ebensowenig auffallen wie die Tatsache, daß wir ständig Spuren hinterlassen und unsere Daten preisgeben, sobald wir uns im Internet bewegen oder unser Handy eingeschaltet haben, und das tun die meisten von uns ständig. Wir wissen zwar nicht in jedem Augenblick, aber doch im Prinzip, daß alles, was wir tun, denken und wünschen, gewußt, gespeichert und korreliert werden kann und wahrscheinlich wird, und so verinnerlichen wir die Überwachung, sie nistet sich im neuen Über-Ich ein.

Durch diese anthropologische Mutation sind wir in eine Epoche eingetreten, die man als „posthuman“ bezeichnen könnte; Nietzsches Rede vom Übermenschentum zielt in dieselbe Richtung, mit der Einschränkung, daß die Mutation nicht eine Elite, sondern die Masse betrifft, während es eher die Eliten sind, die am Alt-Menschlichen festhalten. Glaubt man Yuval Harari, so haben die Menschenrechte ausgedient. Im Jahrhundert der Totalitarismen seien sie vielleicht nützlich gewesen, um Gewaltherrschaft zu bekämpfen, doch heute gehe die Berufung auf angebliche Menschenrechte an den Realitäten vorbei. Biotechnologie und Künstliche Intelligenz, schreibt Harari, würden den herkömmlichen Sinn des Menschlichen umdeuten („…now seek to change the very meaning of humanity“). Freiheit habe sich durch den Fortschritt der betreffenden Wissenschaften – Mathematik und Statistik – als Chimäre entpuppt: Wozu sie noch verteidigen?

Andere versuchen genau dies, eine „Verteidigung des Menschen“, und bestehen auf den fundamentalen, unauflöslichen Unterschieden zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, wobei trotz allem – machine learning usw. – erstere letzterer zugrundeliege und ihr Sinn und Ziel verleihe.14 Der herkömmlichen Humanität bleibt nichts anderes übrig, als mit der digitalisierten Gesellschaft, den digital humanities, zu koexistieren. Wenn sie abdankt und der exponentiell steigenden Digitalisierung einfach nur freien Lauf läßt, könnte dies fatale Folgen zeitigen. Ein hierzu bloß komplementärer Gedanke: Wäre es nicht sinnvoll, in der Gesellschaft nichtdigitale Zonen und Zeiträume einzurichten und zu verteidigen? Handyfreie Schulen, Cafés, Seminare? Um 1990, als Handys langsam zum Massengerät und Massenkonsumartikel wurden, waren diese in manchen Wiener Kaffeehäusern untersagt. Als einmal trotzdem jemand telephonierte, meinte der Ober empört: „Wir sind doch kein Großraumbüro!“ Wenige Jahre später erschien die Welt als ein einziges Großraumbüro; oder genauer, als globales Gebiet, das sich restlos in Büro- und Privat-Blabla aufteilte. Noch ein paar Jahre später ist das stimmliche Sprechen überflüssig geworden, Büro und Blabla werden „getextet“, die Finger sind flink geworden, die Kunden/User/Gäste starren ins Gesicht ihres Geräts und wischen darin herum. In den Kaffeehäusern, soweit sie musikalische Beschallung ablehnen, herrscht nun eine andere Art von Schweigen.

Parasiten des 21. Jahrhunderts

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