Читать книгу Die Deportirten - Leopold Schefer - Страница 4
Die Deportirten.
ОглавлениеRectorei Rowlandhill,
den 1. Januar 1822.
Lieben, lieben Freunde!
Da ich vielleicht Euch vielen Kummer gemacht habe, wie ich hoffe, hoffe ich nun, da die Sache so gar einen glorreichen Ausgang genommen, Euch gewiß viele Freude zu machen! Man kann Abends noch vor Schlafengehn auf dem Stiefelknechte das Bein brechen; und Ich bin um die Welt gereiset, und mir hat kein Zahn wehgethan, kein Haar ist mit gekrümmt worden! Die guten Menschen die, welche alle da rund umherwohnen, lieben, leben und sterben, Gott segne sie! Ich habe nur lauter gute Menschen gefunden! Nicht einmal eine Nachtmütze hab’ ich verloren — ich hatte leider meine beste und einzige zu Hause gelassen — nur meine schwarzseidenen Strümpfe hat mir eine Art von geistlichen Herren gestohlen. Ach nein, nein, nicht gestohlen! ich habe sie ihm im Herzen viel zwanzigmal geschenkt, als ich sie an meiner Wiederherstellung des Zwickels erkannte; der arme Mann bedurfte ihrer zu seiner Amtskleidung, und sie mögen ihm seine magern Beine, die ihm der Herr stärken wolle, warm halten, wo er geht und steht. Ich bin so freudenvoll, daß ich es Euch gar nicht sagen kann! Ich habe ein Großes überstanden. Wenn nur meine Mutter noch lebte, oder mein Vater, oder nur der Großvater! Gott segne ihn! Wie würde es ihm die Seele laben, wenn er meine Geschichte unter seinen Sixpence-Büchlein mit im Lande umher tragen könnte! Gewinn würde er freilich wenig davon haben, er schenkte gewiß mir zur Liebe alle Exemplare weg und sagte: leset nur Leute! das hat mein Sohn gethan! — Er war einmal so; wie manchem armen Kinde hat er ein schönes Lied, ein Paar Ohrringe geschenkt, die es ansah, die Hände auf dem Rücken, mit sehnsüchtigen Augen, und sich bescheidendem Lächeln, wie uns armen Leuten eigen ist. Wenn ich nun auch von mir mit rede, sollte ich hier eigentlich das Imperfectum setzen: eigen war! Aber Gott erhalte mir die Bescheidenheit, sie steht einem Reichen viel schöner, als einem Armen; denn das soll mir Niemand sagen, daß dieselben Sachen immer dieselben sind. Es kommt gar viel darauf an, wer Etwas hat: ob der Jude die Perle im Schubsacke trägt, oder die Königin in der Krone; ob Belisarius Bettelbrot ißt, oder ein geborner Bettler, wollt’ ich sagen: ein gebornes Bettlerkind, nein doch! und kurzweg: ein Bettlerkind oder Bettler. Ich muß mich nämlich jetzt meiner Würde nach, an richtiges Schreiben, oder besser: richtiges Denken gewöhnen, und die Reise hat mir wirklich die Gedanken aufgeräumt. Freunde, wenn ich Euch sagen soll, ich habe viele Gedanken gar nicht mehr; ich habe Bilder, Wahrheiten dafür; ach, und nun thun mir oft wieder die vielen falschen, aber so schönen alten Einbildungen leid! Ich kann gar nicht mehr so sehnsüchtig in das Morgenroth schauen. Wenn die Schwalben kommen, wird mir die Brust wärmer, als wenn sie fortziehn. Wenn sie sonst auf dem großen Rasenplatze vor dem Schlosse meines Principals, oder nun — mit Respect zu sagen: meines Schwiegervaters, zur Reise sich übten, schlich ich immer fort und dachte: Du bist ja nur ein Schulmeister, ein armer Lancasterschulmeister, der Gott danken muß, wenn er sich nur Zeit Lebens so fort plagen kann. — Das war eigentlich wohl recht unchristlich, recht undankbar gedacht! — Wenn Sir Horazio eine wilde reisende Gans, oder einen reisenden Gänserich mit der Kugel gleichsam aus der Luft zu unsern Füßen herab gezaubert hatte — mir konnt’ es ordentlich leid thun! Schon die armen Rothkehlchen, Drosseln, ja die rothkäppigen Gimpel, welchen die Kinder um einige Penny die Reise so grausam unterbrochen, sie fröhlich aus den Dohnen gelöst, einen Faden durch die Schnabellöcher gezogen, sie still nach den Hütten der Menschen trugen. Ich habe auch nie etwas Reisendes gegessen, wenn ich auf dem Schlosse zur Tafel war: kaum einen Häring; eher träge Austern, eingewachsenes Wurzelwerk und höchstens auf und nieder gewehte Früchte — nur nicht Orangen! ich sah sie nur immer gern an, labte mich an ihrem Dufte, und machte dabei die Augen zu. Lady Theano sagte: ich hätte gar einmal dabei geweint. Jetzt kann ich ihr das schon vergeben! Ich glaube, mein Großvater, Gott soll ihn auch dafür segnen, hat mir die Reiselust als Kind auf seinen Knieen einerzählt. Und mußt’ ich den Kindern nicht die fernen Länder beschreiben, nicht mit dem Zeigefinger reisen über Meere, Berge und Welttheile? Das war wohl ein Schweres! Wie oft hielt ich inne, und seufzte recht innerlich, daß mir manchmal ein Westenknopf aufplatzte; aber lange schweigen durft’ ich nicht, sonst hätten die Kinder bald gedacht, ich wisse nicht weiter! Und so mußt’ ich schon den Finger nachheben, der wie behext auf Rom stand, und wie Blei auf St. Helena lag! Und in den Drei Jahren meiner Amtsführung kam der Finger schon dreimal wieder auf denselben Fleck! und ich stand so jung und mit so gesunden Reisebeinen immer auf dem alten Flecke. Das war wohl ein Jammer! Wenn ich nun gar erst dachte: wie viele liebe Menschen reisen, aus Noth, wie unsere Herren; um Wein, wie unsere Offiziere; um Brot, wie Virtuosen, Sängerinnen und Komödianten; aus Höflichkeit, wie Gesandte, oder aus Zwang, wie Couriere und Fouriere; ja um den Tod, wie Soldaten, denen Allen das Reisen eine Plage und Klage ist; oder wie Kaufleute und Matrosen, die lieber ihr Geld, das sie erwerben werden, gleich auf der Stelle ausgezahlt nähmen am Ufer, ohne zu sehen, zu hören, zu bewundern, was sonst war, was heute ist, und lange nach uns sein wird, hier und da und überall, denn das heißt wohl reisen — wenn ich dagegen mit Ohren hörte, wie unnütz andere Reisende ihr schönes Geld verzettelt, um blind und stumm und dumm zu bleiben wie Theekessel und Koffer — o wie jammerte mich der edlen Guineen! der edlen Zeit! Ich konnte das Posthorn gar nicht mehr hören, es machte mich zornig und traurig; ich weinte unter der Bettdecke darüber. Aber jetzt lach’ ich dazu. Der Herr hat dem armen Lambton geholfen, wunderbar freilich genug! Aber, er hat doch geholfen. Gloria in excelsis Deo!
So viel, lieben, lieben Freunde, mußt’ ich Euch durchaus vorhersagen, damit Ihr nicht gar zu traurig werdet, wenn Ihr unter dem Lesen immer denken könnt: er wird doch glücklich! Gott segn’ Euch gleichfalls! Was ich werde an Euch thun können, das werde ich redlich thun. Was nun folgt, ist eine bloße Abschrift meines Reisebuchs, das ich, weil es so zerlesen war, jetzt habe drucken lassen. — Das Kupfer bin ich, nach Clarke gestochen — Es bleibt aber dennoch ein bloßes Manuscript für meine Freunde. Das bedenkt! und beurtheilt es daher ja nicht wie ein Pamphlet, oder Gott behüte, gar wie ein Buch! Denn die werden jetzt oft ganz entsetzlich behandelt, wie ich nun Zeit zu lesen habe. Aber ich denke, ein bloßes Manuscript geht frei durch alle Welt, wenn auch nicht auf der Post. —
Und besucht mich Alle einmal; nicht nur Einmal etwa; recht oft, alle Jahre; alle Jahre recht oft! Ihr findet Euer prächtiges Bett, ich muß es selber sagen, und die comfortabelste Tafel; und bleibt so lange Ihr wollt, bis Ihr Euch Alle sammelt, und dann je länger je lieber. Der Herr hat mich gesegnet. Ich lade Euch nicht aus Eitelkeit; aber freuen könnt’ Ihr Euch doch mit mir, auch über meine Freude! Und wenn Ihr von mir geht, soll Euch das alte ehrwürdige Reisegeschenk nicht fehlen, sei es nun von mir, oder meiner Frau. Aber nehmen müßt’ Ihr es! Ich habe schon hin und her gedacht, und angeschafft, was Jedem von Euch am liebsten ist. Nun kommt nur, kommt!
Es. Lambton,
Rector.
* *
*
Am Bord der Themis, den 1. April 1819.
Ich muß alle meine Gedanken zusammen fassen, daß ich bei gutem Muthe bleibe! Darum will ich schreiben; das hilft mehr, als sich abgrübeln. Sir Horazio, mein Principal, sagte immer, wenn er von Rom erzählte, daß die Bildhauer dort des Nachts im Finstern ein Stück Wachs in den Händen kneteten, während sie über ihren Entwurf nachdächten; und wenn sie lange und tief gedacht, hätten die Finger das Männchen oder Weibchen fertig, das ihnen so viel Kopfzerbrechen gemacht, und daraus würde dann das Modell in Thon und zuletzt die Marmorstatüe. Hab’ ich meinen Kindern nicht immer so die Geschichte verdeutlicht, daß ich sie auf den Punkt stellte, wo sie das Factum nothwendig fanden, z. B. selbst den allerärgerlichsten Fall für sie, warum Hannibal nach der Schlacht bei Cannä nicht rectâ sc. viâ, nach Rom marschirt? Und ich habe immer gefunden, daß man sich in jeder Lage leidlich wohlbefindet, wenn man sich deutlich den Weg nachdenkt, den man gekommen; wenn man das unausbleiblich, nothwendig, ja ganz natürlich findet, was Einen betroffen hat, und die Vergangenheit bis in den Augenblick fortführt, in dem man lebt, und in dem man weiter leben soll, man weiß nicht wie. Und ich weiß jetzt auch nicht wie. Darum geschrieben! Auch wer sich verirrt hat, ist einen sonnenhellen grünen schönen Weg gegangen, nur ist er nicht dahin gekommen, wohin er wollte. Aber bin ich denn nicht, wohin ich lange gewollt: im Schiffe! zu Schiffe auf der herrlichsten Reise! Auf einer Themis, deren schon Aeschylus gedenkt! O du mein Gott und Herr! — Aber Lambton, freue dich noch nicht, höre dich erst. Bin ich heut’ im Schiffe, so werd’ ich es auch morgen sein. Also freue dich morgen! heute schreib’. Ach, wie wollt ich mein Reisebuch anlegen — und nun hab’ ich nicht einmal ein Buch! Ich schreibe auf einzelne Blätter, geschenktes Papier, mit wäßriger Tinte, und mit welchem Stummel von Feder mit Zähnen! — so eine corrigirt’ ich keinem Knaben mehr, so arm er war. Ach, so ein Fest so unvorbereitet anzutreten und zu feiern! Die Freude kommt doch nie wo, und wann man denkt! Aber du wirst das Alles natürlich finden, meine Seele, mein lieber Lambton. Denke nur, wie du in’s Schiff gekommen! — Die Sache war so: —
— Doch Crabbe ruft mich; droben ist ein großes Linienschiff in vollen Segeln zu sehen! —
Ibidem, den 6. April 1819.
Die Sache war so. Unsere liebe Marion, die arme Waise in Schloß Rowlandhill, war auf einmal reich geworden, so reich, daß ich ordentlich vor ihr erschrack. Sie hatte 100 Pfund geerbt! Aber in Brigthon! Sie bat mich mit solchen schelmischen Blicken, solchen herzbewegenden Anspielungen, daß Ich reisen möchte, das Geld für sie zu erheben, und sicher zu überbringen. Sie nannte mich den ehrlichsten, hübschesten jungen Mann, den sie kenne! Konnt’ ich ihr es abschlagen? Auch Sir Horazio, der Baronet, wünschte es. Er hatte das arme Kind in’s Haus genommen, seit ihm sein Töchterchen auf dem Christkindelmarkte in London geraubt worden war. Er und Lady Theano hatten ihres Kindes Platz nicht leer am Tische sehen können, und wenn ein Mädchen, angezogen wie sie, mit schwarzem Haar wie sie, im Park umher lief, konnten sie doch von weitem denken, es sei ihre Tochter. Sie riefen Sie auch deßwegen Elisa, und sie hörte auf den Namen. Nur wir Andern, die wir von Elisa nichts wußten, nannten die nun Erwachsene nur immer Marion. Die gute Herrschaft hatte so viel an ihr gethan; was ich Ihr that, that ich den Pflegeeltern. Konnt’ ich es ihnen abschlagen? Kannten sie nicht meine Reiselust, und meinen leeren Geldbeutel? Ich glaube, sie wollten mir Alle durch die Reise nur einen Gefallen thun, und Lady Theano drängte mich ordentlich dazu. Aber warum verschweig’ ich’s? — Dacht’ ich nicht immer noch, das viele Geld auch mir zu holen in mein kleines Haus? Ein Spiegel im Wohnzimmer hätte nicht geschadet; er hätte es scheinbar noch einmal so groß gemacht; ein Schreibepult statt eines offenen Tisches, wäre mir viel brauchbarer gewesen; die alten, von der Sonne ausgezogenen Vorhänge wären mit Vortheil mit farbigen neuen vertauscht worden; den Teppich vor dem Kamin hätte jeder Andre, als ich, schon längst etwa zu einer Vogelscheuche im Gärtchen verwandt. Das Bett gedacht’ ich noch einmal so breit machen zu lassen, vielleicht wäre gar eine Wiege nöthig geworden — ach, aber das Alles, wenn statt meiner alten Magd, der tauben Anna, die ich fast selbst anfangen mußte zu bedienen, wenn ich ein Christ sein wollte, Marion mir die kleinen Sorgen der kleinen Wirthschaft abgenommen, und mich zum Manne gemacht hätte! Und das Geld machte mich zum Manne. Aber, aber wenn ich so dachte, stand mir der rothe Riese, des Pachters Sohn, der lange Daniel immer vor Augen! oder ritt mir vorüber auf seinem National-Tiger, wie er ihn nennt, der so mager ist, daß man ein Licht dahinter stellen kann, wie Anna sagte! als wenn man hinter das dickeste Pferd kein Licht stellen könnte, nur daß man es dann nicht durchleuchten sieht. Freilich, wer den Menschen hübsch nennt, thut ihm das bitterste Unrecht. Er mißbraucht die Erlaubniß, garstig zu sein, wie Lady Theano immer auf französisch sagte. Wenn er steht, ist er beinahe gleich mit der großen Wanduhr in der Halle der Rectorei, und sein Gesicht so klein wie das Zifferblatt. Aber wenn er sich setzt, ist er halb wie verschwunden oder eingeschmolzen; er kann die Ellenbogen auf die Schenkel stützen, und aufrecht sitzen bleiben, so lang sind seine Arme. Doch Gott behüte, daß ich ihn verspotten sollte! er ist ja Gottes Ebenbild! Schäme dich, Lambton; die Eifersucht spottet nur aus dir. Denn wie die Weiber sind! Zwei Jahr bemüht’ ich mich, so viel meine Schuljugend mir erlaubte, zugleich mit ihm um Marion; aber sie war und blieb unentschieden, bis ihm eine Frau Lieutenantin gerathen: sich eine Fähndrichsstelle zu kaufen, und in Uniform und Säbel vor seiner Geliebten zu erscheinen. So kam er denn aufgezogen, nur die Fahne fehlte noch. Wo blieb da Lambton, der schwarze Schulmeister mit dem Buche unter dem Arm! Das war wohl ein Jammer! Ich hätte mir damals aus Verlegenheit bald das Tabakschnupfen angewöhnt, wenn mein Gehalt die Ausgabe getragen hätte; auch sagten die andern Mädchen in Rowlandhill, ich sei noch zu jung zum Schnupftabak. Aber wie gesagt, das Wort der Lady, die mir wohl will, war bisher mein Schirm und Schutz, sonst war ich bestimmt verloren. Eine Gefälligkeit im rechten Augenblick entscheidet oft bei den Weibern, das hatt’ ich gehört; Brigthon, Portsmouth hätt’ ich gern gesehen, und wer Woolwich und Chatham nicht gesehen, der hat England nicht gesehen, sagen selbst die Engländer; nach London kam ich sonst in meinem Leben nicht — so beschloß ich die Osterfeiertage zu reisen. Und so reist’ ich denn in Gottes Namen mit meiner Vollmacht. Wer schnell reist, reiset wohlfeil. Wie viel Mahlzeiten hab’ ich dadurch erspart! Was helfen die freundlichen Wirthe, wenn man viel verzehrt; und die tiefen Bücklinge der Aufwärter für das große Trinkgeld, wo man doch in seinem Leben nicht wieder hinkommt! Es ist aber wohl nicht recht gedacht; ein Mensch sollte eigentlich keinem Menschen Schande machen! Doch die Reise ging ja nicht aus meinem Beutel; ich hatte freie Station, und dann muß ein ehrlicher Mann lieber darben, als schwelgen, und ein saures Gesicht — nicht ansehn. Es ist ein albernes Wort: „der Weg ist zwar nicht breit, aber lang“; — der Weg ist aber eben so albern. Wie schön wäre ein meilenbreiter Weg, oder ein Mensch, der wie eine Colonne in Fronte reisen könnte, wie bei einem Hasentreiben jede Merkwürdigkeit aufstöbern die ganze Breite! Denn wie viel Städte blieben zur Seite stehn, links und rechts! Und die Thurmspitzen winkten mir gleichsam herüber „hie bin ich“ — „und hier bin ich! — hier ich! was ziehst du denn dort?“ — So einen bloßen Strich durch die Welt zu machen, das ist wohl auch ein Jammer. Kurz, ich kam recht verdrüßlich, unzufrieden, und ganz durchnäßt auf dem Dache der Kutsche, wo ich selber in Nebel und Regen aus Schaulust geblieben, in Brigthon an. Was hatt’ ich mir unter Reisen vorgestellt? Und was war es? Eine Sehnsucht, ein Aufruhr aller Sinne, ein Flug, ein Traum, kurz: ein Jammer. Mir war so, als wenn mir jemand aus einem kostbaren persischen Teppich einen Faden herausgezogen und geschenkt hätte.
Die Schwierigkeiten waren bald beseitigt, das Geld — eine einzige Banknote — bald eingestrichen oder leicht — was man sagt: erhoben, und auf der Brust wohl verwahrt. Nun war ich mein! Auf Reisen muß man unermüdlich sein, keine Bequemlichkeit einreißen lassen. Was Einem, wenn man in der Nähe ist, Einen Schilling zu sehen kostet, das gilt Einem, wenn man zu Hause ist, das Geld für eine ganze Reise. Wer Frühaufstehn, Unruhe Tag und Nacht, Unbequemlichkeit, Entbehrungen aller Art scheut, der bleibe zu Hause. Warum ist er gereiset! und die Freude muß und wird die Mühe vergelten. Ich hatte Menschen über ihr Phlegma in der Fremde zu spät klagen gehört, und mir auf das Titelblatt meiner Reisebemerkungen den Vers eingetragen:
Sage, warum du hieher vom Vaterlande gewandelt?
Von London war der Schenkel des Dreiecks meiner Reise selbst noch ein wenig kürzer, als der von Brighton nach Hause; die Basis wollt’ ich aus meinem Beutel bestreiten. Meine Mutter hatte mir immer gerathen, einen Ehrenthaler, einen Freudenthaler und einen Leidenthaler zu sparen; dazu hatt’ ich drei Beutelchen. Diese nun hatt’ ich alle mit. Die Ehrenthaler hatt’ ich schon zugesetzt für Geschenke an meinen Stellvertreter, meine alte taube Anna, und die besten Schüler. Die Freudenthaler wollt’ ich in Portsmuth und Woolwich darauf gehen lassen, einmal ein Stück in die See hinaus zu stechen; und die Leidenthaler sollten mir die Freude bezahlen, London zu sehen, und Marion Etwas zu kaufen.
Den chienesischen Pavillon in Brighton besah ich mir am füglichsten des Abends im Mondenscheine. Ich war im Geiste in China. Die Chinesen, konnt’ ich denken, schliefen; ich konnte denken: der Kaiser denkt eben nach, welche Götter, wie Minister, er das nächste Jahr will herrschen lassen. Ich bildete mir ein, Er könne mich bei dem hellen Mondenscheine aus dem nahen Fenster erblicken, und als einen verbotenen Fremden, mit dem beliebten, jedoch nicht Zucker-haltigen Bambus-Rohr von etwanigem Podagra befreien zu lassen die Kaiserliche Gnade haben wollen — ich spürte wirklich, ich weiß nicht was, in den Fußsohlen — das Herz fing mir an zu pochen, ich machte, daß ich fortkam, und stieß auf eine Schildwache, die gerade abgelöst ward, und sich auf Englisch anrief. Ist denn China Englisch? frug ich mich selbst halblaut. „Noch nicht!“ antwortete sie, und lachte. Ich schämte mich; der Mann sieht mich Zeit Lebens nicht wieder — aber ich schämte mich doch, und beschloß, mich nicht mehr meiner Einbildung so völlig zu überlassen. Der Mann konnte wohl gar etwas Anderes von mir denken!
Portsmouth aber war mein Unglück! Was mußt’ ich eher sehn, als den Hafen, die Schiffe, die, wie Aristophanes Vögel, das mittelweltische unbegrenzte Reich selbst gegen die Götter beschützen. Ich hatte den ganzen Tag vor Schaulust nichts gegessen. Gegen Abend trat ich in eine Taverne, worin fröhliche Matrosen und Makler an Tischen umher saßen und standen. An den Wänden hingen Anzeigen von Schiffsgelegenheiten nach Bengalen, Macao, Nord- und Südamerika; nach Zanthe, Neapel, Alexandrien, Smyrna, kurz, grad’ überall hin, und für ein paar einfältige Pfund, wer sie hatte! Ich durfte sie nur im Office auf den Tisch legen, in’s Schiff gehn, die Reise war nur wie ein Schritt! Denn das Meer ist hüben und drüben, der Wind rückt es gleichsam zusammen, führt die Schiffe fort, trägt die Küste her, und breitet das Meer dann wieder aus, wenn man hinüber ist.
„Drüben in Hamburg; drüben in Tanger; drüben in Boston!“ unterbrachen und erzählten sich die Matrosen. Mir war wie dem Juden in der Münze! Hundert Pfund hatt’ ich! Ueberall kam ich damit hin! Heim mußt’ ich doch kommen! — Aber das Geld war nicht mein! Ach, des Menschen Dichten und Trachten ist böse von Jugend auf, warf ich mir vor; ich habe ja nicht reisen wollen! Aber die Thränen waren mit näher; ich mußte mich setzen. Ich stemmte die Arme auf den Tisch, und verdeckte mir die Augen vor der nach Westen gesunkenen Sonne, die mich blendete. Denn sie schien prachtvoll aus der goldenen Ferne zum Hafen herein, und beleuchtete zauberhaft: Mohren, Chinesen, Amerikaner und Juden hier an einem Orte, daß mir die Welt ganz wunderbar vorkam.
Nicht lange, so stieß mich Jemand gelind an, zuzurücken. Ich sahe ihn an, er sahe mich an. Es war Crabbe. — Crabbe! rief ich vor Freuden.
„Ei, Herr Lambton, grüßt’ er mich, woher? und wohin? Was macht meine Schwester zu Hause bei Euch in ihrem kleinen Krame? Wird sie so reich wie dick? Ich bin immer noch Steuermann und kann eigentlich nicht höher steigen.“
— Wie so? fragt’ ich auf alle die Fragen. —
Es giebt nämlich gewisse Leitern für jeden Stand, sagt’ er, ich möchte sagen: Stockwerkstreppen, über die Keiner hinaus kann; sie sind oben wie in die Luft gelehnt. Ein Anderer, in einem höhern Stockwerk geboren, kriecht gleich als Kind von da aus, wo Unsereiner alt, lahm und marode aufhört! und wenn ein Hoher fällt, fällt er uns Niedern immer noch erst auf die Köpfe, wie die Fische, die man in’s Meer wirft, nicht auf den Grund fallen. Nun es geht Euch auch nicht besser wie mir; ein größeres Schiff, eine größere Schule, das können wir etwa erwarten, aber immer nur Schiff und Schule Zeit Lebens. Nun setzt Euch, Herr Lambton, zu einem Glase echten; Ihr seid hier in der Fremde.
Dabei — also bei dem oft eingeschenkten Glase Echten — trug ich ihm meinen Wunsch vor, ein Stück auf der offenbaren See zu fahren, und ein wohlgebautes Schiff zu sehn.
Nun da kommt Ihr mit in mein’s, sprach Crabbe. Schöner ist noch keins gebaut in Altengland! Es ist zwar ein Franklinischer Klapperschlangenkasten, den wir nach van Diemensland, nach Hobarttown bringen, aber schadet nichts, mein Schiff ist wie Eins, ja Keins! —
Ich stutzte wie billig. Er aber sprach lachend: Wir fahren nur Deportirte über, weiter nichts; und unser Schiff hat keine Fallthür, wie sonst die französischen, die das Exportiren der Exportanden ersparten!
Ich wollte wieder fragen, da unterbrach uns ein Kleinhändler, ein alter Mann mit grauen Haaren, fast wie mein Großvater; sie nannten ihn Oldham. Er handelte mit allerhand beinahe nur zum Schein, und nahm auch ein Geschenk, das ihm Dieser und Jener gab. Da, Vater! sprach ich, und gab ihm einen Leidenthaler. Ich bereute es aber sogleich, als wenn ich nur meines Großvaters wegen einem Armen geben könnte; ich ließ mir den Thaler nicht wiedergeben, nein, ich schenkte Ihm selber nun noch Einen. Aber das waren in einer Minute Zwei — und beide thaten mir leid um Woolwich und London! Der Alte aber sagte: „Ihr wißt nicht, wie viel ihr mir heut Gutes thut!“ So doppelt gepreßt von Scham und Mitleid, gab ich ihm auch noch den dritten und letzten Leidenthaler.
Nun kommt aber in’s Boot, Lambton! sprach Crabbe, sonst schenkt Ihr Alles weg. Es ist auch weg, erwiedert’ ich; nur mein Heimreisegeld liegt im Gasthof zum Fallstaff. Ihr braucht auch heut keins, sagt’ er im Gehen zum Boot; unsere Themis liegt ein halb Stündchen weit schon vor; aber das ist Euch ja eben recht! Morgen kommt der Capitain, und da kommt auch gewiß der Wind; das muß treffen; denn die Herren kommen eben erst immer, wann der Wind kommt. Da sollen sich nun die Matrosen wundern, wie das zugeht! Ich denke aber, wir werden im April immer noch einige Aequinoctien haben. —
Das heißt wohl bei Euch: Frühlingsstürme? fragt’ ich.
Freilich! antwortete Crabbe; das geschieht so zu Zeiten, aber vorzüglich, wenn die Sonne im Thierkreise steht, Manche sagen, in der Wage. Nun, wie die Herren wollen! Ich bin nur Steuermann. —
Ich beschuldigte heimlich Crabben, er möchte nicht mehr vom Thierkreise wissen, als die Bauern, die den Kreisthierarzt den Thierkreisarzt nennen. Die vier Matrosen warteten auf ihren Meister Crabbe. Wir stiegen in’s Boot und setzten uns. Die Matrosen nahmen Abschied von den Umstehenden, und sagten ihr Lebewohl, das „du guter Junge“ (good boy) auch zu steinalten Männern, und „guter Junge“ auch zu den Mädchen. Sie schieden, wie man sich zu Lande „gut’ Nacht“ sagt, und ruderten tapfer, jeder eine Beule im Backen, wie von Zahnschmerzen, sie war aber von Tabak. Viele Boote begegneten uns mit Vornehmen und Gemeinen, Herren und Damen, Weibern und Mädchen und Kindern, die von den Ihrigen, den lieben Deportirten mit Thränen Abschied genommen: denn sie weinten noch. Ich bedauerte, daß meine Reise schon halb war, als wir die Leiter hinaufstiegen an Bord des Schiffes.
Meister Crabbe übergab mich dem Stewart, mich überall herum zu führen, und alles Erlaubte mich sehen zu lassen. Mit dem Boote, sagt’ er, würd’ ich an’s Land gehen, mit welchem der Capitain an Bord käme. Er empfahl ihm diesen Punkt besonders, im Fall Er nicht daran denken könnte in dem Wirrwar beim Absegeln. So war Alles besorgt. Ich überließ mich wohl zwei Stunden lang meiner Andacht, bewunderte Alles im und am Schiff, wie es zu bewundern war; ja ich getraute mich zu behaupten: daß selbst die Arche Noah’s so schön mit Mahagoni-Meubeln, Spiegeln und stählernem Kamin nicht kann ausgeputzt gewesen sein; denn wann lebte Noah, und wann leben wir! Und ich kann als geistliche Person ohne Blasphemie sagen — da die Welt nicht mehr durch Wasser umkommen soll — daß eine Sündflut jetzt nur lächerlich wäre; wenn man sie vorher wüßte, nota bene! Der Herr hat damals schon die Engländer mit ihren Tausend Schiffen im Geiste gesehen, nota melius! darum hat er für die Zukunft nur von Feuer gesprochen. Nota optima! — Zuletzt blieb ich in des Steuermanns Cabin sitzen, und las in dem, auf dem ganzen Weltmeer berühmten „Schiffmeisters Assistenten,“ von dem auf dem Lande unbekannten David Steel. Der Stewart brachte Punsch, hieß mich trinken, und ließ mich lesen.
Daß ich dabei eingeschlafen war, bemerkt’ ich richtig beim Aufwachen! Ich schlug das Buch zu, stellte es an seinen Ort, und stieg auf das Verdeck. Auf der Treppe begegnete mir der Stewart, ganz anders, aber nicht besser, angezogen, mit einer Schüssel kleiner Krebse, mit Eiern, großen Theetassen und — Frühstücksgeräth. — Er ward ganz feuerroth, als er mich sah, und drängte sich mit niedergeschlagenen Augen auf der Treppe an mir vorüber. Wo ist Meister Crabbe? fragt’ ich ihn. Er blieb mir die Antwort schuldig. Ich schenkte sie ihm, und stieg aufs Verdeck. Hoho! sprach ich, die Sonne sitzt ja noch hoch! Es hat gute Weile! Aber sie müssen das Schiff gewendet haben; vorhin stand sie rechts, und jetzt links. Ich wendete mich um, nach der Insel Wight zu sehn, die mir die hängenden Gärten der Semiramis aus ihrem Staube hervorrief — ich rieb mir die Augen — ich war entweder von dem Punsche ein Myops geworden, oder Wight war untergegangen! Aber lieber, als so vieler Menschen Unglück, war mir doch meins! Doch — die ganze Küste war verschwunden! Es war doch Tag! es war kein Nebel — ich sahe rund umher — rund umher nichts wie Himmel und Wasser — das war die offenbare See offenbar! Aber wie war das möglich? Das Schiff stand ja und wankte nicht; nur ein leises Plätschern und Glucken glaubt’ ich zu vernehmen. Ich blickte auf dem Verdeck umher — da stand ein Mann mit einem Fernrohr am Hauptmast und sah schweigend in die Ferne; auf dem Hintertheile am Steuerrade saß Freund Crabbe, ernst und im Amtsgesicht, placidus ore, wie Neptunus, der verschollene Gott. Ich starrte in die Segel! sie blühten voll und zogen, wie Pferde; die Wimpel spielten im Winde — es war richtig! Ich saß wie der Bär, der nach Honig gestiegen, hinausgeschnellt auf der Wagschale, hinausgeführt in die Welt, ja hinausdeportirt aus der Welt! Die Sinne vergingen mir — Crabbe! Crabbe! ruft’ ich, und setzte mich in Ohnmacht. Denn das sah’ ich noch, wenn ich in Ohnmacht gefallen wäre, — scilicet: die enge steile Treppe hinab, — konnt’ ich mir Hals und Beine brechen! So saß ich, halb vor Schreck, halb vor Freude, wie meine Lampe voll Wasser und Oel; aber das Oel schwamm oben! — —
Was soll Crabbe! fragte mich eine unwillige Stimme.
— „Ach, jetzt soll er nichts, er kann ja nichts“ — — brach ich ab.
„Er ist ein braver Steuermann,“ hörte ich wieder; hinsehn mocht’ ich nicht: denn es war ganz eine Capitainsstimme; sie erscholl mir, wie das Echo meiner eignen von der Mauer der Kirche, wenn ich Schule hielt und zur Zeit der Lindenblüthen die Fenster hatte aufmachen lassen. Diese angenehme Erinnerung erquickte mich in so weit, daß ich seufzen konnte.
„Ist Euch unwohl?“ hört’ ich wieder. —
Sehr, sehr, in der That! bekannt’ ich; wie soll mir anders sein? Wenn Ihr mich nur entschuldigt! —
Zu Schiffe ist’s, wie auf der See, lacht’ er — geht und füttert Fische, oder legt Euch platt auf den Bauch. Die schönen Damen dort trinken Kaffee, die denken Alles mit Kaffee zu kuriren! Aber das Mal irren sie sich; ich wette! ich habe schon gewonnen! — geht nur auch. Ich stand auf; blaß mocht’ ich gerade genug aussehn, das Schwanken kam mir leicht an, so gesund ich war, und so legt’ ich mich im Schatten des Bordes auf den platten Rücken nieder, faltete meine Hände über der Brust, wie ein Leichenstein, d. h. der Pfarrer darauf, und sah in den reinen, blauen, unergründlichen Himmel. Ach, er sah mir doch zu feierlich, ja weinerlich aus, als daß er mit mir scherzen, mich in den April schicken wolle; oder lag das Weinerliche nur in meinen, Augen, wie die Thränen?
Nach einiger Zeit hörte ich ein lautes Gelächter erschallen, Einige fragen, und sie dann mit darein lachen, wie ein vervielfältigendes Echo, dem eine Gesellschaft unaufhörlich zulacht. Es kam ein Halbkreis von Herren und Damen um mich getreten, das hört’ ich nur an den Tritten und Trittchen; denn die Augen hatt’ ich fest geschlossen; ich kam mir vor, wie ein Aal auf dem Aalfange, oder ein Fuchs im Fuchseisen, den die Kinder necken. Crabbe, der Steuermann, hatte mich ja schwanken sehn! Er hatte gewiß mit dem Capitain von mir gesprochen! Denn dieser lachte mit den andern, ja er lachte so herzhaft, daß er weinte. Darauf sprach er mit der Amtsstimme: „Nun ist es genug!“ und Alles schwieg augenblicklich und entfernte sich. Das ist ein braver Schulmeister! dacht ich, der Himmel segne ihn. Er setzte sich zwei Schritt von mir auf einen Hühnerkorb und sagte zu mir: Bleibt nur liegen, Herr Lambton! so heißt ihr doch? — Lambton Zeit Lebens! antwortete ich. — Crabbe kennt Euch, Lambton; er ist bitterböse auf den Stewart. Wenn Euch der Zufall nicht leid thut, ist er mir lieb. Ihr habt keine Kisten und Kasten bei Euch? —
Das weiß Gott! seufzt’ ich. —
Wohl! so nehme ich Euch für einen halben Passagier an. —
Wenn Ihr nur mich nicht halbirt, so viertheilt mich meinetwegen! seufzt’ ich mit rückkehrender Ruhe. —
Ihr habt kein Geld? —
Ich? — keinen falschen Schilling, Herr, antwortete ich mit Wahrheit; die hundert Pfund waren ja nicht mein; die durft’ ich nicht verrathen! —
Also in der That, Ihr habt kein Geld? Ihr! Ich meine Euch! sprach er und sah mich auf gut Englisch an, und murmelte schlaulächelnd so etwas von anzuordnender Aussuchung. —
Gott sei mir gnädig! rief ich. Das mußte er nun gewiß verstanden haben für: So wahr mit Gott gnädig sei! oder sah er meine wahre Ehrlichen-Mannes-Angst, denn er schien beruhigt und sprach: Wohl! dem Könige kann ich nichts verschenken; daß Ihr aber bezahlt, wann Ihr könnt, das müßte selbst Shylok zufrieden sein. Van Diemensland wird Euch gefallen, Ihr macht eine schöne Reise! Nachher wollen wir schriftlich Richtigkeit machen. —
Aber wann werde ich bezahlen? —
Wann Ihr könnt! Ihr seht, der Himmel hilft Euch in die Welt, er wird Euch auch in der Welt helfen. —
Wenn nur nicht aus der Welt! Herr Capitain; Seefahren ist gefährlich! seufzt’ ich nicht ohne Ahnung; denn mir fielen die Worte meiner sterbenden Mutter ein, die zu mir sagte: „mein Sohn, wenn Du nur noch ein Jahr überstanden hast, dann — dann — dann!“ — Dann starb sie! —
„Seefahren ist nie gefährlich,“ entgegnete mir der Capitain, nur Landen manchmal! Lambton — doch still davon, das ist kein Schiffsgespräch, und verboten: Geht essen, damit Ihr Muth bekommt, und seid munter und guter Dinge! Denkt, Ihr habt Schulferien, oder Euere Schule ist abgebrannt. —
Behüte Gott die Schule! sprang ich auf. Ein Hahn hackte ihm aus dem Korbe in die Waden, so ging er fort.
Ich bedankte mich, wie billig, hinter ihm drein, mit ihm — natürlicher Weise — unsichtbaren Complimenten wenigstens für seine Güte; dann stand ich noch lange in Himmelsangst, die sich nach und nach auswölkte, wie ich mich, nicht ganz unkluger Weise, in mein Schicksal und in die Themis ergab. Und so schlich ich — doch etwas schnell — in das Cabin des Steuermanns, sah den gedeckten und besetzten Tisch und ließ mir das angerathene Frühstück aus verzweifelter Verzweifelung schmecken. Darauf kam der abgelöste Crabbe, der mir die Hand gab und sagte: Was ein Kind thun kann, das noch nicht reden, noch keine Hand rühren kann! Wäre dem Capitain York nicht noch gestern ein kleines Yörklein geboren worden; ich weiß nicht was er mit Euch gemacht hätte! Vergebt dafür auch dem Stewart! Ich mußte an’s Steuer — und ihm trug der Capitain auf, als er richtig mit dem Winde kam, gleich die Sachen aufzuheben, die er mit an Bord brachte. Der eine Anker war bald aufgezogen, nun schwimmen wir! und kein Wind darf versäumt werden, sonst fehlen die Postpferde, wann man ausspannt. Ihr versteht das nicht, wie der Wind auf der ganzen Welt zusammenhängt, wie er aller Orts Alles spedirt. Warum habt Ihr Euch auch nicht selbst gemeldet! Doch es ist nun einmal so, und „So“ ist gut.
Ich dachte aber: „So“ ist freilich gut; doch anders wäre besser. Ich schlug ihm vor, den Capitain zu bitten, mich wieder auszusetzen, in Brest, in Boulogne, in Cadix doch wenigstens! aber es fiel mir selbst ein, daß das für mich noch schlimmer wäre, als im Schiffe bleiben. Auch schlug es mir Crabbe rund ab, und sagte: Ein Mensch gilt nichts zu Schiffe, todt oder lebendig.
Das war genug gesagt! und hatt’ ich Flügel, so hätt’ ich sie hängen lassen. Und doch wollt’ es gar in mir singen und einen Jubel anstellen. Denn wie viel Vorbereitungen hatte mir diese Ueberraschung, wie man ein wenig Einheitzen nennt, erspart! Paß, Empfehlungsbrief, Geldsorge nota bene, Einpackerei, einen Vicarius in meinem Amte, Reiseapotheke, Bücher, Excerpte, Landcharten — kurz allen den Tand, ohne den ich nicht glaubte eine Reise nur antreten zu können, geschweige durchzusetzen und auszuführen; ich hätte mich erst alt und blind studirt; und jung muß man reisen, und scharf sehen muß man können „Ich bin ich selbst allein“ sagt Richard, und ich sag’ es getrost; denn die Welt ist reich genug, wenn man auch noch so arm ist, nur Augen, Herz und Gedächtniß hat, oder eine alte Feder. Aber ach, was mußte aus meiner schönen Lancaster-Schule werden! Waren die Kinder nicht eine Heerde ohne Hirten? Mußte sich alles Gute, das ich sie gelehrt, nicht im Leibe umkehren, nicht in Falsches verwandeln, da der Mann ein Falscher gewesen, der es gelehrt? Denn was der Lehrer ist, das bedeutet die Lehre. Von einem Bösen ist nicht gut lernen; und so mußt’ ich erscheinen! War ich in Marions Augen mit dem Gelde nicht durchgelaufen, in alle Welt gegangen, weil sie den langen Daniel mir vorgezogen? Oder glaubte sie — wie die Weiber sind — ich habe mir wohl gar ein Leides gethan? Die Angst verdiente sie! Sie thut mit leid, aber ihretwegen, nicht meinetwegen. Nun ich hin bin, ist sie mir hin; denn wenn man scheidet, dann erst soll man ja wissen, wen man zu Hause lieb hat; und, die Kinder und die alte Anna ausgenommen, kann ich mich auf Niemand besinnen! Aber der Baronet, der keinem Menschen etwas Gutes zutraut, der allen noch so braven Handlungen lauter Eigenliebe unterlegt, muß ich, ich ihm nicht seine frevelnde Ansicht bestätigen? Aber der arme Mann soll von seinem einzigen Freunde schwer betrogen worden sein; auch hat er keine Kinder, und solche Menschen wissen niemals recht, was ihnen fehlt. Doch Lady Theano — — o Gott, was hilft es mir nun Zeit meines kurzen Lebens ehrlich gewesen zu sein, wenn ich nun ein Landläufer, ein Dieb geworden bin? Ja ja, ich verdiene nach Bontanybai exportirt zu werden! Aber endlich komm’ ich einmal wieder! und wenn auch mein Amt schon besetzt ist, wenn Marion lange den langen Daniel geheirathet hat, so will ich doch wieder meinen Ehrenplatz in den Herzen einnehmen, und die Kinder sollen nicht länger als den ersten Tag mit Fingern auf mich weisen! — Ich verfaßte daher einen Aufsatz, Inhalts: daß ich nur „durch ein Versehn“ nach van Diemensland „gereiset“ sei, und bat den Steuermann Mstr. Crabbe, den Capitain York und den Stewart das Zeugniß zu unterschreiben, was sie willig thaten.
Es war mir ordentlich ein Stein vom Herzen, als säh’ ich ihn mir als eine Ehrensäule aufrichten, als ich das Blatt zusammen faltete. Nur der Gedanke peinigte mich noch, daß der Fähndrich Daniel nun Marion, ohne Geld, nicht heirathen werde! Es soll sogar Menschen geben, die eine Frau bloß um ihres Geldes willen nehmen, besonders Lieutenants. Aber die Weiber wissen, daß sie mit dem Gelde Eine Person ausmachen, und sind guter Dinge, wenn sie nur welches haben; und wo ihr Schatz ist, da ist auch ihr Herz. Vielleicht aber ersetzt ihr Lady Theano die verlorene Ausstattung! Denn sie selber ist unglücklich, und empfindet also Unglück. Sie ist so gut wie schön, und hat ein weiches Herz. Hat sie doch 10,000 Pfund, sammt anlaufenden Interessen, für den Wiederbringer ihres einzigen Kindes niedergelegt, und bringt gleichsam die Bill alle Weihnachten vor das Publikum, wie Wilberforce die seine in’s Parlament — Doch konnt’ ich mich den ganzen Tag nicht freuen, und auch die Nacht that ich kein Auge zu; ich schlief auf dem Fußboden, mit Kaputzen zugedeckt: denn alle Betten waren besetzt.
Wie der Herr aber auch für einen Schulmeister sorgt, davon bekam ich am andern Morgen einen Beweis; denn das Essen und Trinken auf Borg schmeckt ehrlichen Leuten bitter. Capitain York hatte meine, nun ja, saubere Handschrift in dem Zeugniß gesehn; er hat seinen jüngsten Bruder William bei sich, und Stephan, den Sohn seiner Schwester, einer steinreichen Plantagenbesitzerin. Diese sollt’ ich unterrichten. Um richtig eingreifen zu können, examinirte ich die Knaben in seiner Gegenwart. Ich fiel auf die Zahlenlehre, und fragte William: Wie viel sind 3 Aepfel und 4 Birnen? — Das ist schon summirt! sagte er. Ich freute mich. Dabei wollt’ ich wissen, ob er in der Pflanzenkunde einen Anfang gemacht, und fuhr fort: Ich dächte nicht! ich glaube es sind doch Sieben — aber was? — Aepfel! sprach er; die Birne ist eigentlich ein Apfel: malum-pyrum. — Was ist sie denn aber uneigentlich? fragte ich weiter, um ihn auf das nichts bedeutende Wort „eigentlich“ aufmerksam zu machen, und so mich in das Stilisticum zu spielen. — Uneigentlich? wiederholt’ er — je nun: eine Birne! — Ich freute mich reichlich, und gab ihm die Hand; der Capitain lobte mich ganz unverschuldeter Maßen. Nun nahm ich meinen Stephan vor, größer zwar als William, aber dick und stumpf und aufgeblasen. Mein Stephan! fragt’ ich, in welches Reich der Natur, als Mensch, gehörst denn Du? — Ins Steinreich, erwiedert’ er stolz. Der Capitain lachte laut, und sprach: das kommt daher, daß ihm seine Mutter immer gesagt hat: er sei steinreich! Aber es ist gut, daß ich mich daran erinnere. Für die 6 Monat Unterricht auf der Reise soll er Euch gut bezahlen, Herr Lambton, und zwar so viel, daß Ihr auch die Rückreise an ihm verdient. Die Meister sind rar auf der See, und was rar ist, ist theuer. — Wer war froher als ich! „Ihr sollt vom Evangelium leben“ beruhigte meine Bedenklichkeit; nur dem Ochsen, der nicht drischt, soll man das Maul verbinden; aber mein Gott, ich wollte ja dreschen! — Nun war mir geholfen! Wenn ich einmal wiederkomme, bin ich ein berühmter Schulmeister, Victoria! Denn wer nur etwas Gescheidtes gesehn hat, den hält man selbst für gescheidt.
Auch ein Bett bekam ich durch ein Paar lange Beine des einen Herrn; denn in dem kaum zwei Ellen langen Kasten, der wie für ein Faulthier, einen Siebenschläfer, höchstens für einen jungen Waschbär, eingerichtet war, — in dem Bett, so zu sagen, waren dem Herrn die Füße ganz verstarrt und eingeschlafen, daß er sie lange Zeit gar nicht wieder aufwecken konnte. Er war ganz erbost, und wußte nicht mehr, oder wahrscheinlich vorher schon nicht: wo er zu lang sei, ob unten? wie ihm jetzt vorkam, oder oben? wie ihm aus den Beulen schon vorgekommen, die er sich in den niedrigen Räumen an Thürstöcken schon an die Stirn gestoßen. Wer kann seiner Länge eine Elle abnehmen! sagen die Großen, sprach er; und der Zwerg muß sagen: wer kann seiner Elle eine Länge zusetzen. —
„Ich habe meine Beine abgeschnallt!“ rief ein invalider Offizier in die Scene. —
Sie Glücklicher! rief der Leidende. Ich bot ihm aus Mitleid einen Tausch an. Mit Freuden acceptirt. Er bettete sich also auf den Fußboden, und ich an seiner Statt. So sorgt der Herr durch Alles aufs der Welt, es habe Namen, wie es wolle. Ich aber pries in besagtem Kasten mein Schicksal, wenn die Wellen kaum einer Hand breit vor meinem Ohre vorüber gluckten, wenn ich an die armen Haifische und Hammer dachte, die in dem ewig-dunklen kalten Meeresgrund ihr Haupt hinlegen müssen auf Felsen wie auf Amboße, die nirgends hin und nirgends her fahren in ihrem Irrsal — da ist doch ein Schulmeister eine ganz andre Person! Das Schiff, das edle Thier, man möchte es „Herr“ nennen, wie ein Reitknecht sein Pferd, das Schiff war auch für mich erfunden! Der Magnet, die Sternkunde, das Fleischeinsalzen, die edle Leinwandweberei, kurz Alles, Alles, seit Thubalkain; und Cook kam mir nur vor, wie der Rabe Noah’s, der mir Land, van Diemensland gesucht! Tausend Menschen zusammen vollbringen fast tausend Mal mehr, als tausend Einzelne. Ein Mensch hätte noch nicht den Thurm zu Babel fertig, und wenn er 6000 Jahr vor Erschaffung der Welt angefangen hätte, Ziegel zu streichen, trotz dem, daß keine Sprachverwirrung bei ihm möglich war! Wie dumm wäre nur Ein Mensch, so groß und dick mit ungeheurem Kopfe, aus allem dem Stoff aller Gebornen zusammen seit Eva’s Zeit; wie dumm wär’ er noch, wie Stephan oder der Stephansthurm; doch einmal von weitem sehn, wie eine Wasserhose groß, möcht’ ich ihn wohl, oder wie den einen Mann im Monde. — Und daß die Menschen sterben, das ist erst das Wahre! da erben die Nachkommen immer Verstand, Kunst und Wissen, wenn es wahr ist; denn der Tod macht Alles offenbar, das ist unbezweifelt. — Das waren so meine Gedanken. Ich wunderte mich ordentlich, wie sich mein Kopf aufthat; aber auf Reisen muß man klug werden, man mag wollen oder nicht. Selbst Stephan, der nicht will! Ich will ihn schon lancastern!
Ibidem, den 1. Mai 1819.
Mein Gott, wie ist doch Alles anders, wenn man es sieht, als wenn man es sich einbildet. Mitten auf dem Meere ist man bloß, wie auf einem großen blanken silbernen Teller, es kommt Einem kleiner vor, wie ein See. Und wie abgesondert lebt man! Morgens keine Schule, keine Zeitungen aus London mit Nachrichten aus der ganzen Welt; Sonntags keine Kirche; Abends kein Clubb! Früh baut die Sonne ihren Silbersteg, Abends zieht sie ihn wieder ein, wie eine Schiffbrücke, wie die Schnecke ihre Hörner. Und daß man die Sterne in dem immerbewegten Meere sähe, kein Gedanke! Eine Wolke, ein fernes Schiff mit den Augen verfolgen, das ist Alles. Und doch wie schön! wie innig und heimlich! rein abgeschieden von allen Menschen, aller Kunde ihrer Sorgen und Plagen zu reisen, und wie bequem! — Man steht auf, und unter dem Anziehn ist man zwei Meilen gereist; man frühstückt und — reiset; man ißt zu Mittag, geht spazieren, sitzt, ja man geht zu Bett und schläft, und reiset und reiset! Und wie besonders? der Weg ist nicht Eisenbahn noch Eis, sondern Wasser; die Wegweiser brennen am Himmel; die Rosse sind unsichtbar, und doch geht es sausend fort!
Mein Casus hat gemacht, daß ich nur lauter freundliche lächelnde Gesichter sehe, wie Alles die Kinder anlacht. Früh und Abends gehn wir spazieren um die Mastbäume, in geschlossenem Kreise, ohne Rang, wie an der Tafelrunde; und doch ist ein großer Unterschied. Aber was doch die Deportirten für hübsche Leute sind, ganz wie andre Menschen anzusehn, wohl angezogen und gesprächig! Wenn ich es nicht sähe, ich glaubte gar nicht, daß sie ausgesetzt würden, aller Güter der Gesellschaft verlustig. Manche können ihr Handwerk nur noch nicht gleich vergessen. Ich hörte eines Abends ein Gespräch: „Man wollte uns nicht einsperren,“ sagte der Eine; wir sollten frei sein, aber man giebt uns eine schöne Probe! Das Schiff ist das elendeste sicherste Gefängniß: keine Thür, kein eisernes Gitter, keine Kette an Hand oder Fuß, es wehrt es Einem Niemand, sich hinaus zu bemühen, und doch kann man nicht fort! Da lob’ ich mir ein Stockhaus, das bleibt auf einem Flecke — man hat Freunde, man hat Gehülfen da draußen! Der Sturm hole den Wind, der uns hinführt, wo wir nicht hin wollen! —
Ja, ich möchte auch lieber Zeit Lebens so herumschwimmen, als dort arbeiten! so elend es zu Schiffe ist, das unendliche ewige Bowling-blew ohne Bäume umher, sagte der Andre, von dem Steinkohlendampf noch, ganz abgesehn, oder abgerochen. —
Sieh nur, wie dunkel es ist! sagte der Dritte; Schade um die rabenschwarze Nacht! Hui, wer eine Meile von London jetzt auf dem Klepper säße und die Post rasseln hörte — Jammerschade! —
Andere spielen hier noch um Kreidestriche falsch, und betrügen einander um Nasenstüber. Kurz es ist ein Seidenleben unter den Menschen, und ich sehe deutlich, daß nur ein weites Exil vor Vertrath und Rache sichert. Vor Allem gefällt mir der junge Maler. Er sieht aus, wie der Engel der Verkündigung, und ich glaube, jede Jungfrau würde ihn gern verkündigen hören. Denn er sieht aus, wie die leibhafte Liebe oder Schönheit, ja wie beide verschmolzen. Wenn Alle laut sind, und Er kommt, werden sie still, die Frauen blaß, die Männer roth; er schnürt ihnen gleichsam das Herz und siegelt die Lippen zu. Schöne Menschen sollte man zu Lehrern und Priestern wählen; ja sogar, was man sagt: pressen, und das aus allen Ständen ohne Gnade, wenn der Vornehmste nur die zum Schulmeister erforderlichen Kenntnisse und Tugenden besäße; schon bei den Persern mußte der König der Schönste sein! — Er lehrt still durch seine bloße Gegenwart, und da er fast gar nicht spricht, bleibt er bei seinem Respect. Klug! — Unter Tigern ist der Wolf das Lamm, und das Lamm, so zu sagen, ein Engel! und doch ist er ein gefallener Engel! Es ist mir ein Räthsel, was kann Er verbrochen haben? er heißt Clarke.
Capstadt, den 30sten Juni 1819.
Capitain York hatte mir einen feinen warmen Oberrock und eine Bibermütze mit Ohren geschenkt, muß Ich sagen, Er aber sagte nicht einmal, gegeben, sondern ich fand beides nur eines Morgens für Reinschrift einiger Papiere. Die Morgen und Abende, ja die Tage bis in die Gegend von Trafalgar waren ziemlich kalt, und Rock und Mütze waren mir hier lieber, als in England 100 Schafe und 50 Biberfelle. Doch wie geschahe mir darin! Eine junge nette Witwe war gar noch nicht zu uns an den Tisch gekommen, sondern hatte, aus Unbehagen, in ihrem Zimmer, so zu sagen, gelebt, das 3 Ellen lang und 2 Ellen breit ist, und ihr wöchentlich 3 Guineen kostet; vielleicht wollte sie doch ordentlich den theuren Miethzins absitzen. Ich weiß nicht, was ich an mir habe, das ihr gefiel. Sie kam alle Tage in andrer, immer reizenderer Kleidung. Einige Irländer hatten mich einem jungen Manne ihrer Bekanntschaft zum Verwechseln ähnlich gefunden, und es kam nachher heraus, daß er ein bildschöner junger Mann sei. Ich ward über und über roth und bitterbös — und die Mistriß, deren Tischnachbar ich war, trat mir sanft auf den Fuß. Ich sahe die Dame groß an, welches wohl unhöflich und unpassend sein mußte, denn sie erröthete ganz. Der feine Clarke aber, den der Capitain seiner Vorzüge wegen mit an den Tisch genommen, lächelte sie an, zog die Augenlieder leise über die Augen und erhob sie gleich wieder, so etwa wie die Augen Ja! sagen müßten, wenn sie redeten. Ich fragte nachher Freund Crabben, wer die Lady sei, und erzählte ihm, was geschehen. —
Die Reise kann Euer Glück sein! Lambton, sprach er, mich betrachtend; sie ist steinreich, aus Martinique, und die Martiniquerinnen sind leicht und lustig, und heirathen so geschwind, wie bei uns eine Frau Thee kocht. — Sie heißt Mistriß Distreß. — Aber kennt sie Euch denn? —
Ich verstand Crabbe’s Frage erst einige Tage später, als mich Einer „Herr Schulmeister“ nannte, grade als die Mistriß mir Etwas sagen wollte. Sie behielt aber die Rede bei sich! nur erst nach einiger Zeit sprach sie in Gedanken vor sich hin „Schade, Schade!“ und drehte sich auf dem Absatz herum. Ich hatte es gleich weg, und dachte: so geht es, wenn man auf gewisse Art eine Respectsperson ist! Vielleicht hab’ ich ihr auch zu geistlich gesprochen. Einer Frau wegen ändere ich meine Rede nicht! Es ist mit aber lieb so. „So“ ist gut, spricht Crabbe. Denn, wenn ich nur Guineen hätte, so könnte ich eben so gut „ein Zwanzig-Ender“ werden, nicht ein Hirsch, sondern ein Rector, der zwanzig Pfarreien zugleich hat und — niemals predigt. Das getraue ich mich ohne Ruhmredigkeit.
Ich werde bitter, ich muß abbrechen; aber man bleibt ein Mensch, auch wenn man ein Schulmeister ist. Die Weiber haben den Rang, nachher erst das Geld lieb. Wenn ich aber auch in allen andern menschlichen Dingen nichts weiß, nichts habe, nichts gelte, so bin ich doch in meiner Schule zu Hause. Ach, wenn ich nur zu Hause wäre! Meinen schwarzen Rock will ich aber als Ehrenkleid tragen, die vornehmen Herren-Kleider machen mir nur Schande und Aerger. Was giebt Respect? das Wissen! Was giebt Andern Ehrfurcht? die Unwissenheit! Denn wenn ich einen Knaben frage: „Wer bringt den Caravanenthee?“ und er weiß es nicht, und Ich sehe ihn an wie allwissend, und gehe ein Paar Mal schweigend auf und nieder — dann hab’ ich Respect! Wenn die vornehmen Herren und Damen nur dürften gefragt werden, sie sollten schon Respect bekommen! So tröstete ich mich; aber an die Mistriß Distreß will ich denken, und nie einer vornehmen Frau trauen.
Nun hatt’ ich ein langes Aergerniß, so lang wie die Küste von Afrika. Von so einem Ungeheuer von Lande, das allen Schiffs-, Macht- und Geldinhabern zum tausendjährigen Spectakel daliegt, soll man den Kindern immer so viel erzählen, und Unsereiner selbst möchte und möchte gern. Aber wenn man sich nicht in das alte Aegypten zu spielen weiß, das gar nicht einmal mehr in Afrika liegt — selbst Stephan fragte neulich ganz superklug, wo Groß-Griechenland liege — im tempore praesenti so Etwas zu fragen! — so ist man so bald damit fertig, wie mit dem Russischen Reiche, welches sich so um die Erde schmiegt, daß die Sonne niemals drin aufgeht, oder wie Andre lieber sagen, drin untergeht. Würde man nun die Lancastersche Methode auch auf das Reisen anwenden, würde man scilicet ein Regiment Reisende hinschicken, die sich schützten, ernährten, untersuchten, nur etwa den Niger hinauf: so müßte das auch bei Uns zu Tage kommen, was dort am hellen Tage liegt. Aber Lancaster wird jetzt noch nicht recht begriffen. Doch Gott segne ihn, ich bin sein Schulmeister und bleib’ es, auch ohne Schule! Gott wird mir helfen!
Ich hatte den Pico nicht gesehn, es war Nacht, als wir Teneriffa vorbeisegelten; ich hatte St. Helena nicht gesehn, weil der General, der Generale scilicet, dort bewacht wurde — jetzt am Johannistage, wo wir im Gasthause zum Cap der guten Hoffnung ankamen, regnete es die ganze Zeit für uns frisches Wasser aus der ersten Hand, daß ich nicht einmal den Tafelberg erkennen konnte. So reiset man! Nicht einen Hottentotten, nicht eine Kuh hab’ ich mit Augen gesehn, noch mit Ohren gehört. Schiffe lagen viele im Hafen, aber alle segelten um diese Zeit nach Morgen. Eines, nach Altengland, war gestern abgegangen, als ich mich erkundigte. So saumselig ist man! An einem andern, das gleich im Eingange des Hafens lag, war ich im Boote vorüber geeilt. Das Gute soll immer weit sein! Man fährt in eine Stadt und glaubt, der Freund, den man sucht, wohne tief in den Gassen, am Platz; man fährt hin, und dann wohnt er am Thore, wo man hereingekommen! Zwar besucht’ ich noch Eins; aber es war so beladen, und so besetzt, daß der Capitain lachend sagte, wenn ich im Mastkorbe beim Teufelsdreck mir es gefallen lassen wollte, könn’ ich von der Gelegenheit Gebrauch machen. Ich hätte mich noch auf den Schnupftabak verlassen, und den Vortheil erlangt, daß mir alles nachher Zeit Lebens wie Blauveilchen roch; aber das Schiff ging noch zuvor nach den vereinigten Staaten, nach Neu-York. So blieb ich denn in Gottes Namen bei meinem alten York.
Hobarttown auf van Diemensland,
Michaelis 1819.
Vom Cap aus ging die ewige Leier wieder an; und nach und nach erlaubten sich die freien Passagiere für ihr Geld ungeduldig zu werden, welches ich Freigut mich nicht unterstehen durfte. Endlich, endlich, brachte uns die Verzweiflungsinsel fast zur Verzweiflung. Man kann den Schifffahrern nicht verdenken, solche sonderbare Namen im Ocean auszustreun. Wenn man sie auf der Charte bei den Inseln sieht, die alle schön grün, oder roth illuminirt sind, glaubt man, die Leute haben ihnen nur so leichtsinnig Taufnamen gegeben, wie der Bauer seinen Kühen und Ochsen; aber nur hinaus! da versteht man die redenden Namen. Denn wer die Desolationsinsel benannt hat, dem kann man zurufen: rem acu! Auch die Ankunft berechnen durften wir nur im Stillen; denn wenn es Capitain York oder nur Crabbe hörte, daß wir sagten: bleibt der Wind so stehn, bleibt er so frisch, so sind wir in 45 Tagen an der Bassestraße, so schalten sie gleich mit dem eignen abergläubischen Gesicht: „rechnet nicht! macht uns den Wind nicht rebellisch! Zu Schiffe heißt es: mit Einem Brot hundert Meilen, und mit hundert Broten Eine Meile.“ — Wir rechneten aber heimlich den andern Tag doch, 44! und so fort 43, 42, 41, 40! nun nur noch 10 nach Löwensland; in 20 Tagen erblicken wir den Möwenstein; in 6 Tagen Tasmannscap! Ich muß sagen, der alten Römer Art, die Tage zu rechnen, hat viel Hoffnungsreiches. Sie legten den Monat ganz und voll wie ein hausbackenes Brot auf den Tisch, und schnitten alle Tage ein Stück herunter. Wir machen uns die Last alle Tage schwerer, wie die Lebensjahre; 70! So! Kinderspott! Gnadegott! — Indeß hatte man uns nicht ohne Ursache das Rechnen verboten. Die Kenner des Wolkenhimmels und des Meeres hatten einen Sturm vorausgesehn, ja rascher herbeigesehnt, um ihn gnädiger zu bekommen, der aber zu ihrem Erschrecken lange auf sich warten ließ, und nur uns überraschte, die wir seine Anzeichen nicht verstanden.
Der Himmel war eines Morgens dicht und schwer überzogen; die Wolken schienen sich, gar nicht weit von uns auf das Meer zu senken, und an Gehalt und Farbe sich ähnlich, konnte man Meer und Himmel am Horizont nicht unterscheiden. Ein unwiderstehlicher Südwest-Sturm trieb uns links von unserm Wege, an der Königsinsel im Fluge vorbei, auf die Huntersinseln los, in die furchtbare Bassestraße! Der Wind mußte Nordost gestanden haben, denn wir mußten hügelhohe Wellen, die uns noch entgegen strömten, quer durchschneiden! Im Schiffe ward alles Bewegliche von den gewaltigen Stößen durch einander geworfen; die Kanonen polterten wie Gespenster; wenn Zwei mit einander sprechen wollten, mußten sie sich anfassen, mit den Armen gegen einander stemmen und sich anschreien, wie zwei taube alte Weiber, die sich etwas Wichtiges heimlich zu sagen haben. Dem Schiffe knackten die Ribben im Leibe, die Masten knarrten und seufzeten ängstlich. Der Wind, der bisher wie ein Racepferd im Stalle, nur für ein Lamm oder einen Esel anzusehn gewesen, nur in Athem (in training) erhalten worden war, lief jetzt gleichsam Wette; es war nicht mehr dasselbe Thier, nein, ein geflügelter Drache, ein schrecklicher Dämon! Doch war ich, so zu sagen, froh: ich hatte nun erst das Meer gesehn; wenn es nur so abging! Denn wenn man Etwas dann sieht, wenn es Alles ist, was es sein kann, dann erst hat man es wirklich gesehen, vom Blüthenbaum an bis zum empörten Volke. Sonst täuscht man sich. Wie verächtlich hätt’ ich zu Hause von Wind und Meer gesprochen! — Aber es ging nicht so ab. Ich sollte noch mehr sehn, was Wasser und Wind Alles sein können, scilicet, nicht nur Fische und Wolken, sondern sogar ein Himmelsthier mit einem Beine, wie es selbst St. Johannes in seiner Offenbarung nicht vermerkt hat! Wir waren den Tag über, wenn er diesen leuchtenden Namen verdiente, den Knoten nach über 100 Meilen gejagt. Crabbe, der trotzig und still am Steuer saß, hatte das Schiff durch die furchtbaren, oft thurmhohen Felsen gleichsam durchgelogen. Daß die Sonne unterging, bemerkte man bloß an einem mattgelben Scheine, der durch den Wolkendom drang, als wäre er, die See und Alles aus einem trüben Rauchtopas, worin wir steckten, wie das Insect im Bernstein. Die Wolken regneten, selbst in dem Winde, grade herunter, als wenn es ihr Letztes wäre. Der Sturm hatte sich außer Athem geheult, und hielt inne. Nach einiger Zeit kam die Wache aus dem Mastkorbe, und sagte dem Capitain einige Worte in’s Ohr. Sie mußte unten bleiben. Er stand eine Weile; dann erst blickte er verstohlen unter dem Hute links und rechts nach der schroffen unzugänglichen Küste, die ihm zu mißfallen schien; zuletzt sah er nur, wie von ungefähr, zum oberen Himmel. Ich sah auch hinauf. Es war nichts zu bemerken, als ein schwarzes Ding, wie ein werdendes Fröschchen, mit einem Schweife, der nach unten hing, und sich dehnte, wie der schwarze Leib sich aufblies, und nach unten züngelte und lechzete. Jetzt aber brachen die Wolken gleichsam, wie ein Kirchengewölbe, ein, und der Sturmwind stürzte von oben herab, wie ein Kind in sein Schüsselchen bläst. Er hielt uns fest auf einer Stelle und drückte uns fast in den Grund. Der Capitain ging Befehle ertheilen.
Ich fragte Crabben auf sein Gewissen, was vorgehe?
Ernst und wild murmelt’ er zwischen den Zähnen: der Himmel macht Hosen! —
Was für Hosen? fragt ich. —
Wasserhosen! Hier ist die Wasserhosenfabrik! die Gewitterniederlage! das Parlament der Winde, wo sie öfter die Sprache wechseln, als die Minister. Still! still! fuhr er fort, wir können einem Schneider das Handwerk nicht legen, der solche Pantalons macht; aber ein rechtschaffener Kerl muß das Aeußerste versuchen, eh’ er sich ergiebt. Darum, Lambton, geht, Ihr seid eine fromme Seele; da habt Ihr meinen alten Hut, und nagelt ihn mit drei Nägeln an den Hauptmast, im Namen †, †, †, — Ihr wißt schon. Hilft das nichts, so hilft nichts! —
Ich eilte und nagelte tüchtig den Hut an; ja ich glaube, ich hätte eine Maus gegessen, wenn das hätte helfen sollen! Wer keinen Rath weiß, befolgt jeden, und der Hut wenigstens war behütet.
Es war plötzlich Nacht geworden, und zwar so eine, wo Eule wider Eule fliegt, sich anklammert und recht besehen muß, um die Frau Gevatter zu erkennen. Bald darauf ließ sich von Weitem ein Lärm hören, als wenn sich eine Heerde Elephanten badet, den Grund aufwühlt, mit dem Rüssel Wasser einschlürft, und fröhlich und schrecklich toset. Die Wasserhose hatte also die Meeresfläche erreicht und pumpte mit solcher Gewalt in die Wolken, daß man das Kochen und Wirbeln der See, das Schnarchen der ungeheuren Nase vernahm. Was doch in der Welt vorgeht! Was das für Dinge sind! ängstet’ ich mich, und erstaunte noch mehr. Da in solcher Nacht an keine Flucht zu denken war, hatte der brave Capitain Krieg gegen diesen Polyphem beschlossen, im Fall er das Schiff allein zu entern drohte. Er ließ in Zwischenräumen mächtige Raketen steigen, die, plötzlich in die Höhe wachsend und feurige Blätter verlierend, droben gleichsam aufblühten und ihre Blume, die Leuchtkugel, an einem Fallschirm, langsam herabschweben ließen, so daß sich der Dom des Himmels weit und breit erhellte wie beim Vollmonde: Der Himmel sah während der Zeit aus, wie eine unermeßliche gothische Kirche; denn umher ragten die thurmhohen, schlanken, geschnörkelten Felsen scheinbar eben bis in die Wolken. Welche von den Säulen, die ihn zu tragen schienen, aber der Himmelselephanten-Rüssel sei, war nicht zu unterscheiden, obgleich die andern nicht weniger zu fürchten waren; nur mit dem kleinen Unterschied, daß sie nicht auf uns los kamen, sondern wir auf sie. Nur das Getose verrieth das lebendige Ungethüm, das nun auf uns zuwandelte. So glaubten wir denn, die andern Säulen würden sich nun auch in Bewegung setzen, und uns befiel die einzige Furcht der Celten: daß der Himmel einfalle! Eine neue Leuchtkugel entdeckte uns den Feind nahe und riesengroß vor uns. Aber die Kanonenkugeln fuhren ihm durch den Leib, ohne daß er zuckte, wie der Elephant, von Flintenkugeln gestochen, kaum mit den dicken Füßen stampft. So bekam ich denn gleichsam noch ein Riesenbein von dem Gotte Tangalon zu sehn, der einst über alle diese Inseln und Gewässer geherrscht, und eigentlich noch hier unbekehrbar und unabschaffbar herrschte, und so stark war, Eilande wie Eier aus der Tiefe zu angeln, so wie jetzt sein Bein noch: Schiffe empor zu heben! — Der Capitain verordnete in dieser Krisis eine Salve aus allen Kanonen des Schiffes zugleich, um durch den Hall wo möglich die Wolken zu erschüttern, oder das Unthier zu erschrecken, daß es wie eine nach Raube vom Baume gestützte, und noch oben hangende Boaschlange, wieder zurück in das Gezelt des Himmels schlüpfe. — Sein Mittel hatte angeschlagen, oder hatte das Podagra-Bein des großen Christophs, wie die Matrosen diesen Pfeiler oder Absenker der Wolken nannten, schon ausgetanzt. Denn der wie von Geistern erbaute Leuchtthurm, den der Capitain aus zwei an einander gebundenen Raketen auf einige Minuten in die Luft gezaubert, ließ nichts mehr davon sehn. Der Donner war auch entsetzlich! Bis jetzt hatte ich ehrlich bei Crabben ausgehalten, aber der nun nahende Wirbelwind, die Katarakte von Sand, untermischten Steinen und sommerlauem Wasser vertrieb nun Alles von dem Verdeck. Selbst der brave Crabbe befestigte schleunig Steuer und Rad, und sich selber an das Sicherheits-Seil; ich gab ihm meine Mütze, und er sagte mir nur: „Ihr habt gut genagelt, Lambton! der Hut hat geholfen!“ Wir Andern flüchteten in den Raum, und verriegelten die Fallthür über der Treppe. Unten schrien und jammerten uns die Weiber entgegen, die vor Angst halb von Sinnen und halb todt waren, wie die Weiber sind; und unser Trost „es ist überstanden“ schlug noch nicht bei ihnen an. Der Capitain entmüßigte sich, ihnen zu sagen: Weiber sind nur zum Spazierenfahren! nicht zum Reisen; wenn ihr nicht auf der Stelle aufhört zu heulen, so müssen wir noch vor Euch in’s Wasser springen! — Sein William aber, der sich ihm an den Arm hing, begütigte ihn; auch auf Stephan nahm er Rücksicht, der jetzt wirklich in’s Steinreich zu gehören schien. Denn die Dummen fürchten und glauben am meisten. Ich setzte mich vor Ermattung; Clarke kniete vor mich hin und legte sein in die Hände verborgenes Gesicht auf meine Kniee. Und weil ich doch Mitleid zu haben schien, drückte sich auch die Martiniquerin an mich, und hielt in der Angst meine Hände fest. Bin ich jetzt gut genug, Frau Mistriß Distreß? dacht’ ich. Alles war vor dem Capitain verstummt. Ich habe nur einmal in meinem Leben ein solches Schweigen gehört, scilicet, wo die ganze Kirche sich nicht getraute zu sprechen, nur zu seufzen und sich mit den Augen zu fragen, was sie thun solle, nämlich, als einst der Rector in Rowlandhill vom Schrecken am Morgen über die Einziehung seines Sohnes, auf der Kanzel während der Predigt krank geworden, nicht herunter gehen wollte, und sich auch nicht gleich erholen konnte. Wie wir so stumm im Kreise um den Capitain saßen, der allein im Zimmer umher tragirte, kam mir die Scene so vor, wie in dem kleinen Theater im Schlosse der alten verrückten Herzogin von B. — Ihr Theseus, ihr Mann, hatte sie verlassen, und sie allein führte alle Sonnabend einen ganzen Sommer hindurch das Melodrama: „Ariadne auf Naxos“ bei verschlossenen Thüren auf. Die Einwohner im Dorfe waren ihr natürlich zu schlecht, ihre unwürdigen Zuschauer zu sein; deßwegen hatte sie ein schon abgesehenes Wachsfiguren-Cabinet theuer erkauft, und die hohen Personen als Zuschauer in die sechs Logen vertheilt. Da saß Suwarow Rimninsky im Hemde; Kaiser Paul, Marat, Charlotte Corday, Ankarström, Ludwig der Sechszehnte, Sokrates, Papst Ganganelli, Mirabeau, Voltaire, Friedrich der Große, und Kaiser Joseph, Gott segne ihn. Mein Vater, der Kammerdiener bei der Herzogin war, hatte mir einen Platz in einer Loge hinter dem Kopfzeuge der Königin Marie Antoinette verschafft, wo ich als Kind unbemerkt statt des umgelegten Dauphins erstaunen konnte, wenn die dicke, dicke Hottentottin Ariadne zuletzt immer vom Felsen plumpte, ohne sich Hals und Beine zu brechen, selbst nicht in dem federbettenen oder bettfedernen Meere. Mein Vater regnete, donnerte und blitzte dazu furchtbar! Von dem Anblicke der Herzogin stammt mein Abscheu gegen den Selbstmord, und es wäre gut, wenn solche Damen solche Vorstellungen publice gäben zum allgemeinen Abscheu vor — dem Selbstmord! Ich lachte beinahe, indem ich das Alles durchdachte; und es that mir wohl, zu denken, daß es jetzt auch mein Vater sei, der so donnre und regne. Uns Allen aber ein solches, weiches, trocknes Meer zu wünschen, wie die alte verlassene Herzogin sich bereitet, vergaß ich durch einen entsetzlichen Stoß des Schiffes, welcher so darin krachte, wie es im Kopfe kracht, wenn man sich einen Zahn ausreißen läßt. Wenig Minuten darauf erscholl ein tosendes Getümmel in den Untergemächern. Es entstand durch die Deportirten, welchen es nicht zu verdenken war, daß sie nicht in der zu dem Leck hereindringenden Flut ertrinken wollten. Man konnte sie nicht beschuldigen, die Wachen überwältigt zu haben: denn diese wiesen ihnen selbst mit Dreistufen-Schritten den Weg auf’s Verdeck, ja einige Hasen krochen schon in das Thauwerk. Wer ein allgemeines Unglück nicht abwehren kann, der muß es sich auch gefallen lassen, daß alle Ordnung, aller Gehorsam aufhört. Man hörte kaum den Capitain, als er Untersuchung und Ausbesserung des Schadens befahl! Denn unterdessen schwoll das Wasser sichtbar von Zoll zu Zoll. Man gehorchte ihm erst, als er die Boote auszusetzen befahl; denn damit befahl er etwas, das Jeder selbst wünschte und verlangte, ja gefordert hätte. — Da lernt’ ich, was ein Befehl ist. — Auf dem Verdeck befand er das Schiff unbrauchbar, die Segel zerrissen, verwickelt, selbst die Mastbäume durch die Gewalt des Wirbelwindes verdreht. Das Verdeck lag voll Meersand, wimmelte von Meerspinnen und Ungeziefer aller Art, tief aus dem untersten Grunde des Meeres in die Wolken gezogen, und herniedergeschüttet. Ein gewisser See-Elephant darunter war nicht weniger erschrocken, als wir. Die Damen entsetzten sich und wußten nun nicht mehr, wohin. Das Cabinetsstück aber schnaufte, erhob sich und suchte das Meer. Die nächste Angst waren wir los! Darauf ward Alles, was besonders schwer war, was sich davon nur erreichen ließ, über Bord geworfen. Nach einer Stunde hatte das Wasser im Schiffe dennoch wieder denselben Stand. Die Pumpen hatten keinen Augenblick still gestanden. Wir waren ihrer genug zum Ablösen; aber Alles fruchtete nichts. Die finstre Nacht, die Nähe des Ufers, vielleicht irgend einer Insel, der Zustand des Schiffes, und dazu noch das Bestürmen der Weiber, die Liebe zu William und Stephan bewogen den Capitain, diesen Schiffsgott, das sinkende Schiff zu verlassen, und das große Boot zu besteigen. Die wenigen Soldaten besetzten es zuerst; es ward mit den besten Sachen, Geld, Papieren und Lebensmitteln in eiliger Verwirrung beladen, und da es nicht die Hälfte der Mann- und Frauschaft aufnehmen konnte, mußten natürlich die 100 Deportirten zurückbleiben. Es ward also der Unterschied zwischen uns gemacht, den jener Zeitungschreiber — beging, welcher das Ertrinken von 6 Personen und 7 Bauern ankündigte. Einer der Deportirten, ein Richter, äußerte laut, daß ein Gesetz den Römern verboten, sein Weib oder Kind mit zu Schiffe zu nehmen, „Den Römern“ entgegnete der Capitain. „Ich rette, was zu retten ist, Krongut zuerst, dann Galgengut. Habt Geduld! Weiß Einer noch ein Mittel, uns Alle zu retten, der schlag’ es vor. Ich erlaub’ es ihm. Denn bis ich Seewasser trinke, bin Ich Capitain.“ Alle schwiegen ohne Rath. Mir stellte er frei, das Boot mit zu besteigen; aber die hochgehenden Wellen, das Sausen der Nacht, das fast überladene Boot, vor Allen aber das herzrührende Bitten Clarke’s bestimmten mich, lieber im Schiffe zu bleiben. Und der Capitain versprach ja das Boot am Tage wiederzusenden, wenn es uns fände, um Alle, Alle zu retten. So ruderten sie ab. Und während sie Leuchtkugeln von Zeit zu Zeit steigen ließen, verschwanden sie mit dem Boot in der Nacht und der Ferne, und Crabbe’s adoptirter Hund heulte vergessen und bellte ihm nach, als wir es längst nicht mehr sahen.