Читать книгу Krieg und Frieden - Лев Толстой, Leo Tolstoy, Liev N. Tolstói - Страница 53

II

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Im November des Jahres 1805 sollte Fürst Wasili vier Gouvernements bereisen, um dort Revisionen vorzunehmen. Er hatte darauf hingewirkt, daß ihm dieser Auftrag erteilt wurde, um erstens dabei zugleich seine in üblem Zustand befindlichen Güter zu besuchen, und zweitens um seinen Sohn Anatol aus der Garnison seines Regiments abzuholen und mit ihm zu dem Fürsten Nikolai Andrejewitsch Bolkonski heranzufahren, in der Absicht, eine Heirat zwischen seinem Sohn und der Tochter dieses reichen alten Mannes zustande zu bringen. Aber bevor er abreiste und diese neue Sache in die Wege leitete, hielt Fürst Wasili für notwendig, die Angelegenheit mit Pierre zur Entscheidung zu bringen, der allerdings in der letzten Zeit ganze Tage zu Hause, das heißt im Haus des Fürsten Wasili, bei dem er wohnte, zugebracht und sich bei Helenens Anwesenheit so lächerlich, aufgeregt und dumm benommen hatte, wie sich das eben für einen Verliebten gehört, aber doch immer noch nicht dazu geschritten war, ihr einen Antrag zu machen.

»Alles sehr schön und gut; aber die Sache muß zum Ende kommen«, sagte eines Morgens Fürst Wasili mit einem trüben Seufzer zu sich selbst; er konnte es sich nicht verhehlen, daß Pierre, der ihm doch in so hohem Grad zu Dank verpflichtet war, in dieser Sache sich nicht ganz angemessen benahm. »Nun, Gott verzeihe es ihm ...! Jugend ... Leichtsinn ... nun ja, man darf es ihm nicht zu schwer anrechnen«, dachte Fürst Wasili und wurde sich mit Vergnügen seiner eigenen Herzensgüte bewußt; »aber die Sache muß zum Ende kommen. Übermorgen ist Helenens Namenstag; ich werde ein paar Leute dazu einladen, und wenn er dann noch nicht versteht, was er zu tun hat, so werde ich selbst die Sache in die Hand nehmen. Jawohl, ich werde die Sache in die Hand nehmen. Ich bin der Vater!«

In der schlaflosen, aufregungsvollen Nacht nach der Abendgesellschaft bei Anna Pawlowna war Pierre schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß eine Heirat mit Helene ein Unglück sein würde, und hatte den Entschluß gefaßt, sie zu meiden und wegzureisen; aber seitdem waren anderthalb Monate vergangen, und er war nicht vom Fürsten Wasili weggezogen und fühlte mit Schrecken, daß das Band, das ihn mit Helene verknüpfte, in den Augen der Leute täglich fester werde, daß es ihm ganz unmöglich sei, zu seiner früheren Art, sie anzusehen, zurückzukehren, daß er sich nicht von ihr losreißen könne, und daß, so schrecklich es sei, er sein Schicksal mit dem ihrigen werde verknüpfen müssen. Vielleicht hätte er noch einige Zurückhaltung üben können; aber es verging kein Tag, wo nicht beim Fürsten Wasili (der sonst selten Gäste bei sich gesehen hatte) eine Abendgesellschaft stattfand, an welcher Pierre teilnehmen mußte, wenn er nicht die Erwartung aller enttäuschen und das allgemeine Vergnügtsein stören wollte. Kam Fürst Wasili in den wenigen Minuten, die er zu Hause zubrachte, an Pierre vorbei, so zog er ihn in seiner wunderlichen Manier an der Hand nach unten, hielt ihm zerstreut seine rasierte, faltige Wange zum Kuß hin und sagte entweder: »Auf morgen!« oder: »Iß bei uns zu Mittag, sonst bekomme ich dich heute gar nicht mehr zu sehen«, oder: »Ich bleibe um deinetwillen zu Hause« usw. Nun sprach zwar Fürst Wasili, auch wenn er (wie er sagte) um Pierres willen zu Hause geblieben war, mit ihm doch immer nur wenige Worte; aber trotzdem fühlte sich Pierre außerstande, seine Erwartung zu enttäuschen. Täglich sagte er sich ein und dasselbe: »Ich muß doch endlich über ihr wahres Wesen ins klare kommen und mir darüber Rechenschaft geben, von welcher Beschaffenheit sie eigentlich ist. Habe ich mich früher getäuscht, oder täusche ich mich jetzt?« – »Nein, sie ist nicht dumm; nein, sie ist ein herrliches Mädchen!« gab er sich selbst manchmal zur Antwort. »Nie passiert ihr in irgendwelcher Hinsicht ein Irrtum; nie hat sie etwas Dummes gesagt. Sie spricht wenig; aber was sie sagt, ist immer schlicht und klar. Also ist sie nicht dumm. Nie ist sie unruhig oder verlegen geworden, und sie ist auch jetzt nicht unruhig und verlegen. Also ist sie nicht schlecht!« Es kam, wenn er mit ihr zusammen war, nicht selten vor, daß er Erörterungen über allgemeine Gegenstände anstellte, sozusagen laut dachte; dann antwortete sie ihm jedesmal entweder mit einer kurzen, aber im richtigen Augenblick vorgebrachten Bemerkung, die zeigte, daß der betreffende Gegenstand sie nicht interessierte, oder schweigend mit einem Lächeln und einem Blick, wodurch es ihm nachdrücklicher als auf jede andre Art zum Bewußtsein gebracht wurde, daß sie den Vorrang vor ihm in Anspruch nehmen konnte. Er sah ein: sie hatte ganz recht, wenn sie alle Erörterungen im Vergleich mit diesem Lächeln für Unsinn erachtete.

Sie wandte sich jetzt immer zu ihm mit einem heiteren, vertraulichen, ihm allein geltenden Lächeln, in welchem eine tiefere Bedeutung lag als in dem für alle bestimmten Lächeln, das ihr Gesicht beständig zierte. Pierre wußte, daß alle nur darauf warteten, daß er endlich ein bestimmtes Wort sage, eine gewisse Linie überschreite, und er wußte, daß er früher oder später diese Linie überschreiten werde; aber eine Art von unbegreiflicher Furcht ergriff ihn schon bei dem bloßen Gedanken an diesen schrecklichen Schritt. Tausendmal im Verlauf dieser anderthalb Monate, in denen er sich immer näher und näher zu diesem ihm so furchtbaren Abgrund hingezogen fühlte, hatte Pierre zu sich gesagt: »Aber was soll denn das heißen? Hier ist entschlossenes Handeln notwendig. Bin ich denn dessen unfähig?«

Er wollte einen festen Entschluß fassen; aber er wurde sich mit Schrecken bewußt, daß es ihm in diesem Fall an der Entschlossenheit mangelte, die er doch sonst an sich kannte und die er auch tatsächlich besaß. Pierre gehörte zu denjenigen Menschen, die nur dann stark sind, wenn sie sich völlig rein fühlen. Aber seit dem Tag, wo sich seiner jenes Gefühl der Begehrlichkeit bemächtigt hatte, das auf Anna Pawlownas Abendgesellschaft bei der Zureichung der Tabaksdose in seiner Seele wach geworden war, seitdem wurde seine Energie durch ein unbewußtes Gefühl der Schuldhaftigkeit dieses Verlangens gelähmt.

An Helenens Namenstag war beim Fürsten Wasili eine kleine Gesellschaft, der engste Kreis, wie die Fürstin sagte, zum Souper geladen, nur Verwandte und Freunde. Allen diesen Verwandten und Freunden war zu verstehen gegeben, daß sich an diesem Tag das Schicksal der Tochter des Hauses, deren Namenstag man feiere, entscheiden werde. Die Gäste saßen bei Tisch. Die Fürstin Kuragina, eine korpulente, ehemals schöne, stattliche Dame, saß auf dem Platz, der ihr als Hausfrau zukam; ihr zu beiden Seiten saßen die vornehmsten Gäste: ein alter General, seine Frau, Anna Pawlowna Scherer und andere; am anderen Ende des Tisches hatten die an Alter und Rang geringeren Gäste ihre Plätze, und ebendort saßen die Hausangehörigen, und zwar Pierre und Helene nebeneinander. Fürst Wasili aß nicht mit, er wanderte am Tisch umher, in fröhlichster Stimmung, und setzte sich bald zu diesem, bald zu jenem seiner Gäste auf ein Weilchen hin. Für einen jeden hatte er ein paar flüchtige, freundliche Worte, mit Ausnahme von Helene und Pierre, deren Anwesenheit er gar nicht zu bemerken schien. Fürst Wasili war das belebende Element der ganzen Gesellschaft. Hell brannten die Wachskerzen; es glänzte das Silber- und Kristallgerät der Tafel, die Schmucksachen der Damen, das Gold und Silber der Epauletten; um den Tisch herum liefen die Diener in roten, langschößigen Röcken; man hörte das Geräusch der Messer, Gläser und Teller und das Stimmengeschwirr der Gespräche, die am Tisch im Gange waren. Man hörte, wie an dem einen Ende der Tafel ein alter Kammerherr einer alten Baronin beteuerte, daß er sie glühend liebe, und wie sie darüber lachte; am andern Ende wurde von dem Mißerfolg einer Sängerin Marja Viktorowna gesprochen. In der mittleren Partie der Tafel bildete Fürst Wasili den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er erzählte den Damen mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen von der letzten Mittwochssitzung des Reichsrates, in welcher der neue militärische Generalgouverneur von Petersburg, Sergei Kusmitsch Wjasmitinow, ein von der Feldarmee her eingegangenes Reskript des Kaisers Alexander Pawlowitsch zur Verlesung gebracht hatte. In diesem damals Aufsehen erregenden Reskript hatte der Kaiser, sich an Sergei Kusmitsch wendend, gesagt, er erhalte von allen Seiten Ergebenheitsadressen seines Volkes, und unter diesen sei ihm die Adresse der Stadt Petersburg besonders willkommen; er sei stolz auf die Ehre, das Haupt einer solchen Nation zu sein, und werde sich bemühen, sich dieser Ehre würdig zu zeigen. Das Reskript begann mit den Worten: »Sergei Kusmitsch! Von allen Seiten gehen mir Nachrichten zu« usw.

»Also über ›Sergei Kusmitsch‹ ist er nicht hinausgekommen?« fragte eine der Damen.

»Nein, weiter brachte er fast kein Wort heraus«, antwortete Fürst Wasili lachend. »›Sergei Kusmitsch ... von allen Seiten. Von allen Seiten, Sergei Kusmitsch ...‹ Weiter konnte der arme Wjasmitinow absolut nicht kommen. Mehrere Male nahm er den Brief von neuem in Angriff; aber sowie er gesagt hatte ›Sergei‹, fing er an zu schlucken ... ›Ku...smi...tsch‹, da kamen ihm die Tränen, und die Worte ›von allen Seiten‹ wurden schon ganz von Schluchzen erstickt, und weiter konnte er überhaupt nichts herausbringen. Er benutzte sein Taschentuch und begann wieder: ›Sergei Kusmitsch, von allen Seiten‹, und da liefen ihm wieder die Tränen ... Schließlich ersuchte man einen andern, das Reskript vorzulesen.«

»›Kusmitsch ... von allen Seiten‹, und da liefen ihm die Tränen ...«, wiederholte einer der Gäste lachend.

»Seien Sie doch nicht so boshaft!« sagte Anna Pawlowna vom oberen Ende des Tisches her und drohte mit dem Finger. »Er ist doch ein so braver, ausgezeichneter Mann, unser guter Wjasmitinow ...«

Alle lachten herzlich. Auch am oberen Ende des Tisches, auf den Ehrenplätzen, schienen alle heiter zu sein und sich in angeregter Stimmung zu befinden, was sich in verschiedener Weise äußerte; nur Pierre und Helene saßen, beinah am untersten Ende des Tisches, schweigend nebeneinander; auf den Gesichtern beider lag ein strahlendes Lächeln, das sie vergebens zu unterdrücken suchten und das nichts mit Sergei Kusmitsch zu tun hatte, ein Lächeln verschämter Scheu vor ihren eigenen Gefühlen. Und was die andern Tischgenossen anlangte, mochten sie auch noch so eifrig reden und lachen und scherzen, mochten sie auch mit noch so großem Genuß den Rheinwein schlürfen und Ragout und Gefrorenes genießen, mochten sie auch mit ihren Blicken dieses Paar vermeiden und äußerlich gleichgültig und achtlos in bezug auf dasselbe scheinen: dennoch merkte man an den Blicken, die ab und zu nach den beiden hinüberflogen, daß die Anekdote über Sergei Kusmitsch und das Lachen und das Schmausen alles nur Heuchelei war, und daß die Aufmerksamkeit dieser gesamten Gesellschaft sich mit aller Kraft nur auf dieses Paar, Pierre und Helene, richtete. Fürst Wasili brachte mimisch zur Darstellung, wie Sergei Kusmitsch geschluchzt hatte, aber gleichzeitig huschte sein Blick zu seiner Tochter hin; und während er lachte, sagte der Ausdruck seines Gesichtes: »Recht so, recht so; alles geht gut; heute wird alles zur Entscheidung kommen.« Anna Pawlowna drohte ihm mit dem Finger wegen seiner Spötteleien über »unsern guten Wjasmitinow«; aber in ihren Augen, welche dabei mit schnellem Aufblitzen Pierre streiften, las Fürst Wasili ihren Glückwunsch zu dem künftigen Schwiegersohn und zu der guten Partie, die die Tochter mache. Die alte Fürstin bot mit einem trüben Seufzer ihrer Nachbarin Wein an und sagte mit diesem Seufzer, indem sie ärgerlich nach ihrer Tochter hinblickte, gewissermaßen: »Ja, meine Liebe, uns alten Damen bleibt jetzt nichts weiter übrig als süßen Wein zu trinken; jetzt ist für diese jungen Leute die Zeit gekommen, in so dreister, herausfordernder Weise glücklich zu sein.« Und jener auch hier anwesende Diplomat dachte, während er die glücklichen Gesichter der beiden Liebesleute ansah: »Wie dumm ist doch alles das, was ich da erzähle, indem ich tue, als ob ich dafür Interesse hätte! Da, das da ist das wahre Glück!«

Inmitten der kleinlichen, nichtigen, erkünstelten Interessen, die das verknüpfende Band innerhalb dieser Gesellschaft bildeten, war ein schlichtes, einfaches Gefühl zum Vorschein gekommen: zwei hübsche, gesunde junge Leute, Mann und Weib, begehrten einander. Und dieses rein menschliche Gefühl schlug siegreich alles andere nieder und schwebte hoch über all dem gekünstelten Geschwätz der übrigen Tischgenossen. Die Scherze waren matt, die Neuigkeiten uninteressant, die ganze Lebhaftigkeit sichtlich nur gespielt. Nicht nur die Tischgenossen fühlten das, sondern sogar die bei Tisch aufwartenden Diener hatten dieselbe Empfindung und begingen hier und da Versehen in ihren dienstlichen Obliegenheiten, weil sie gar zu viel nach der schönen Helene mit dem strahlenden Antlitz und nach dem roten, dicken, glücklichen und aufgeregten Gesicht Pierres hinschauten. Selbst das Licht der Kerzen schien sich nur auf diese beiden glücklichen Gesichter zu konzentrieren.

Pierre fühlte, daß er der Mittelpunkt des Ganzen war, und diese Situation machte ihm zwar Freude, doch war sie ihm auch peinlich. Er befand sich in dem Zustand eines Menschen, der in irgendeine Beschäftigung ganz vertieft ist. Er war außerstande, etwas anderes klar zu sehen, zu hören oder zu verstehen. Nur ab und zu tauchten in seiner Seele plötzlich Bruchstücke von Gedanken und Empfindungen aus der Wirklichkeit auf.

»Also nun ist alles abgemacht!« dachte er. »Wie ist das nur alles gekommen? So schnell! Jetzt weiß ich, daß dies nicht allein um Helenens willen, nicht allein um meinetwillen, sondern um aller willen mit Notwendigkeit zur Ausführung kommen muß. Sie alle sind so fest davon überzeugt, daß es geschehen wird, und warten mit solcher Sicherheit darauf, daß es mir unmöglich, geradezu unmöglich ist, ihre Erwartung zu täuschen. Aber wie wird es geschehen? Das weiß ich nicht; aber geschehen wird es, geschehen wird es unbedingt!« dachte Pierre und blickte dabei auf diese Schultern, die dicht vor seinen Augen schimmerten.

Dann wieder überkam ihn auf einmal eine Art von Schamgefühl. Es war ihm unbehaglich, daß er allein die Aufmerksamkeit aller auf sich zog, daß er in den Augen der andern als ein Glücksprinz dastand, daß er trotz seines unschönen Gesichtes gewissermaßen der Paris war, welcher Helena gewann. »Aber das ist gewiß immer so und muß so sein«, tröstete er sich selbst. »Und übrigens, was habe ich denn eigentlich dazu getan, es so weit zu bringen? Wann hat es denn angefangen? Ich bin mit dem Fürsten Wasili zusammen aus Moskau hierhergefahren. Damals bestand noch nichts. Dann habe ich bei ihm Wohnung genommen, und warum hätte ich das auch nicht tun sollen? Dann habe ich mit ihr Karten gespielt und ihr ihren Ridikül aufgehoben und bin mit ihr spazierengefahren. Aber wann hat dieses Verhältnis begonnen, wann hat dies alles sich herausgebildet?« Und da saß er nun neben ihr, beinah schon als ihr Bräutigam; er hörte, er sah, er fühlte ihre Nähe, ihren Atem, ihre Bewegungen, ihre Schönheit. Und dann wieder schien es ihm auf einmal, als ob nicht sie, sondern er selbst so auffallend schön wäre, daß ihn alle deswegen ansähen; und beglückt durch die allgemeine Bewunderung, warf er sich in die Brust, hob den Kopf in die Höhe und freute sich über sein Glück.

Plötzlich hörte er eine Stimme, eine ihm bekannte Stimme, die etwas zu ihm schon zum zweitenmal sagte. Aber Pierre war mit seinen Gedanken so beschäftigt, daß er nicht verstand, was zu ihm gesagt wurde.

»Ich frage dich, wann du einen Brief von Bolkonski erhalten hast«, wiederholte Fürst Wasili zum drittenmal. »Wie zerstreut du bist, mein Lieber!«

Fürst Wasili lächelte, und Pierre sah, daß alle, alle ihn und Helenen anlächelten.

»Nun gut; wenn ihr es denn wißt ...«, dachte Pierre. »Nun gut; es ist ja auch die Wahrheit.« Und er selbst lächelte in einer sanften, kindlichen Art, und Helene lächelte ebenfalls.

»Wann hast du denn einen Brief bekommen? War er aus Olmütz?« fragte Fürst Wasili noch einmal; anscheinend lag ihm zur Entscheidung eines Streites daran, dies zu wissen.

»Wie kann jemand nur an solche Kleinigkeiten denken und davon reden!« dachte Pierre.

»Ja, aus Olmütz«, antwortete er mit einem Seufzer.

Nach dem Souper führte Pierre seine Dame hinter den andern Paaren her in den Salon. Die Gäste begannen sich zu empfehlen, und manche gingen fort, ohne von Helenen Abschied zu nehmen. Manche traten zwar zu ihr, aber nur für einen Augenblick, als möchten sie sie nicht gern von ihrer wichtigen Beschäftigung abhalten; dann entfernten sie sich schleunigst, und wenn Helene sich anschickte, sie hinauszubegleiten, so baten sie sie ausdrücklich, dies nicht zu tun. Der Diplomat verließ den Salon schweigend und in trüber Stimmung; er mußte daran denken, wie nichtig und unbefriedigend doch seine ganze diplomatische Karriere sei im Vergleich zu Pierres Glück. Der alte General brummte seine Frau ärgerlich an, als sie ihn fragte, wie es mit seinem Bein ginge. »Ach, du alte Schraube!« dachte er. »Wenn man dagegen diese Helene nimmt, die wird auch noch, wenn sie fünfzig Jahre alt ist, eine Schönheit sein.«

»Ich glaube, ich darf Ihnen gratulieren«, flüsterte Anna Pawlowna der Fürstin zu und küßte sie mit bedeutsamer Herzlichkeit. »Wenn ich nicht meine Migräne hätte, wäre ich gern noch geblieben.«

Die Fürstin antwortete ihr nicht; der Neid auf das Glück ihrer Tochter peinigte sie.

Während die Gäste hinausbegleitet wurden, blieb Pierre lange Zeit in dem kleineren Salon mit Helene allein; sie setzten sich beide dort hin. Er war auch früher in diesen anderthalb Monaten oft mit Helene allein geblieben, hatte aber nie zu ihr von Liebe gesprochen. Jetzt fühlte er, daß das notwendig war; aber er konnte sich zu diesem letzten Schritt schlechterdings nicht entschließen. Er schämte sich, und es kam ihm vor, als nähme er hier neben Helene einen Platz ein, der nicht ihm, sondern einem andern zukäme. »Dieses Glück ist nicht für dich«, sagte ihm eine innere Stimme. »Dieses Glück ist für Leute, die das nicht besitzen, was du hast.«

Aber schließlich mußte er doch etwas sagen, und so begann er denn ein Gespräch. Er fragte sie, ob sie mit dem heutigen Abend zufrieden sei. Sie antwortete, wie immer, schlicht und einfach, der heutige Namenstag sei für sie einer der angenehmsten gewesen, die sie je begangen habe.

Einige der nächsten Verwandten waren noch dageblieben. Sie saßen in dem größeren Salon. Fürst Wasili trat mit lässigen Schritten zu Pierre heran. Pierre stand auf und sagte, es sei schon recht spät. Fürst Wasili blickte ihn ernst und fragend an, als ob das, was er gesagt hatte, so sonderbar wäre, daß man sich gar nicht daraus vernehmen könne. Aber gleich darauf änderte sich dieser ernste Ausdruck; Fürst Wasili faßte Pierre an der Hand, wobei er diese nach unten zog, veranlaßte ihn, sich wieder zu setzen, und lächelte freundlich.

»Nun, wie geht es dir, Helene?« wandte er sich dann sofort an seine Tochter in jenem lässigen Ton altgewohnter Zärtlichkeit, wie er Eltern eigen ist, die ihre Kinder von klein auf immer mit größter Freundlichkeit behandelt haben; beim Fürsten Wasili indessen beruhte es nur auf Nachahmung anderer Eltern, daß er diesen Ton so gut traf.

Darauf wandte er sich wieder an Pierre.

»›Sergei Kusmitsch, von allen Seiten ...‹«, sagte er und knöpfte sich den obersten Westenknopf auf.

Pierre lächelte; aber aus der Art seines Lächelns war zu ersehen, daß er das Interesse, welches Fürst Wasili in diesem Augenblick für die Anekdote von Sergei Kusmitsch zu haben schien, als fingiert erkannte; und Fürst Wasili merkte, daß Pierre dies durchschaute. Fürst Wasili brummte etwas vor sich hin und ging hinaus. Pierre hatte den Eindruck, daß sogar Fürst Wasili verlegen sei. Der Anblick der Verlegenheit dieses alten Weltmannes hatte für Pierre etwas Rührendes; er blickte zu Helenen hin – auch sie schien verlegen zu sein und ihm mit ihrem Blick zu sagen: »Nun ja, daran sind Sie selbst schuld.«

»Ich muß notwendig den entscheidenden Schritt tun; aber ich kann es nicht, ich kann es nicht«, dachte Pierre und begann wieder von gleichgültigen Dingen zu reden, von Sergei Kusmitsch, indem er sich erkundigte, was denn bei dieser Geschichte so komisch gewesen sei, da er nicht danach hingehört habe. Helene antwortete lächelnd, sie wisse es auch nicht.

Als Fürst Wasili in den größeren Salon zurückkam, redete die Fürstin leise mit einer ältlichen Dame über Pierre.

»Gewiß, es ist ja eine glänzende Partie«, sagte die Fürstin. »Aber, meine Liebe, das Glück ...«

»Die Ehen werden im Himmel geschlossen«, antwortete die ältliche Dame.

Fürst Wasili ging, wie wenn er die Damen nicht hörte, nach einer entfernten Ecke und setzte sich dort auf ein Sofa. Er schloß die Augen und schien zu schlummern. Der Kopf fiel ihm auf die Brust; da kam er wieder zu sich.

»Aline«, sagte er zu seiner Frau, »sieh doch einmal nach, was sie tun.«

Die Fürstin begab sich nach der Tür hin, ging mit ernster, gleichgültiger Miene an ihr vorbei und warf dabei einen Blick in den kleineren Salon. Pierre und Helene saßen noch ebenso da wie vorher und unterhielten sich miteinander.

»Immer noch dasselbe«, antwortete sie ihrem Mann.

Fürst Wasili runzelte die Stirn und zog den Mund in Falten nach der Seite; seine Wangen zuckten mit dem ihm eigenen unangenehmen, rohen Ausdruck; er schüttelte sich, stand auf, warf den Kopf zurück und ging mit entschlossenen Schritten an den Damen vorbei in den kleineren Salon. Schnell und freudig trat er auf Pierre zu. Das Gesicht des Fürsten war so ungewöhnlich feierlich, daß Pierre, als er ihn erblickte, erschrocken aufstand.

»Dem Allmächtigen sei Dank!« sagte er. »Meine Frau hat mir alles gesagt!« Er legte den einen Arm um Pierre, den andern um seine Tochter. »Meine liebe Helene! Ich bin sehr, sehr erfreut.« Seine Stimme zitterte. »Ich bin deinem Vater ein treuer Freund gewesen ... und sie wird dir eine gute Frau sein ... Gott segne euch!«

Er umarmte seine Tochter, dann wieder Pierre und küßte ihn mit seinem übelriechenden Mund. Seine Wangen waren wirklich von Tränen benetzt.

»Fürstin, komm doch her!« rief er.

Die Fürstin kam herein und brach ebenfalls in Tränen aus. Auch die ältliche Dame fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht. Pierre wurde geküßt, und er küßte mehrere Male der schönen Helene die Hand. Nach einiger Zeit ließ man das Paar wieder allein.

»Alles das hat wohl so sein müssen und konnte nicht anders sein«, dachte Pierre. »Daher hat es keinen Zweck, zu überlegen, ob es gut oder übel sei. Gut ist es jedenfalls insofern, als die Sache entschieden ist und der frühere qualvolle Zustand des Zweifelns ein Ende hat.« Pierre hielt schweigend die Hand seiner Braut in der seinigen und blickte nach ihrem sich hebenden und senkenden schönen Busen.

»Helene!« sagte er laut, stockte aber sogleich wieder.

»Die Leute pflegen doch bei solchen Gelegenheiten irgend etwas Besonderes zu sagen«, dachte er; aber er konnte sich schlechterdings nicht besinnen, was man eigentlich bei solchen Gelegenheiten zu sagen pflegt. Er blickte ihr ins Gesicht. Sie bewegte sich näher zu ihm heran. Ihr Gesicht überzog sich mit einer leisen Röte.

»Ach, nehmen Sie sie doch ab ... wie heißt es ... diese ...«, sie zeigte auf die Brille.

Pierre nahm die Brille ab, und seine Augen hatten, auch abgesehen von dem sonderbaren Aussehen, das man allgemein bei Leuten findet, die die Brille abgenommen haben, einen erschrockenen, fragenden Ausdruck. Er wollte sich über ihre Hand beugen und sie küssen; aber mit einer schnellen, unfeinen Bewegung des Kopfes fing sie seine Lippen auf und brachte sie mit den ihrigen zusammen. Ihr Gesicht überraschte Pierre durch seinen veränderten Ausdruck: sie schien verwirrt und befangen zu sein, und das wirkte unangenehm.

»Jetzt ist es schon zu spät; nun ist alles abgemacht; und ich liebe sie ja auch«, dachte Pierre.

»Ich liebe Sie!« sagte er, da ihm nun eingefallen war, was man bei solchen Gelegenheiten sagen müsse; aber diese Worte klangen so armselig, daß er sich darüber schämte.

Nach anderthalb Monaten wurde er getraut und wohnte nun, wie allgemein gesagt wurde, als der glückliche Besitzer einer wunderschönen Frau und vieler Millionen in dem großen, neu hergerichteten Petersburger Haus der Grafen Besuchow.

Krieg und Frieden

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