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Neue Anschauungen

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Katjenka saß neben mir in unserem Wagen und verfolgte, das hübsche Köpfchen gesenkt, nachdenklich den unter den Rädern entschwindenden, staubigen Weg. Ich blickte sie schweigend an und wunderte mich über den unkindlichen, traurigen Ausdruck, den ich zum ersten Male auf ihrem rosigen Gesichtchen bemerkte.

»Nun kommen wir bald nach Moskau«, sagte ich, »wie denkst du, sieht es wohl aus?«

»Ich weiß nicht«, antwortete sie unlustig.

»Na aber dennoch, wie denkst du, ist es größer als Serpuchow oder nicht?«

»Was?«

»Ach nichts.«

Aber mit dem instinktiven Gefühl, mit welchem ein Mensch die Gedanken des andern errät und welches als Leitfaden des Gespräches dient, begriff Katjenka, daß ihre Gleichgültigkeit mich kränkte; sie hob den Kopf und wandte sich zu mir.

»Hat Papa euch gesagt, daß wir bei Großmama wohnen werden?«

»Ja, Großmama will ganz mit uns zusammenwohnen.«

»Und wir werden alle zusammenwohnen?«

»Versteht sich; wir werden oben auf der einen Seite wohnen und ihr auf der andern, und Papa im Seitenflügel; speisen werden wir alle zusammen unten bei Großmama.«

»Mama sagt, Großmama sei so ernst und böse?«

»N–nein, das scheint nur so anfangs; sie ist ernst, aber durchaus nicht böse, im Gegenteil, sehr gut und lustig. Wenn du nur gesehen hättest, was für einen Ball wir zu ihrem Namenstag hatten.«

»Dennoch, ich fürchte mich vor ihr. Übrigens weiß Gott, ob wir –«

Katjenka verstummte plötzlich und wurde wieder nachdenklich.

»Was denn?« fragte ich unruhig.

»Nichts; ich meinte nur.«

»Nein, du sagtest doch: ›Gott weiß – ‹«

»Du hast gesagt, daß ein Ball bei Großmama war?«

»Ja, schade, daß ihr nicht dabei wart. Es waren eine Menge Gäste da, gegen tausend Personen, Musik, Generäle, – und ich habe getanzt. – Katjenka«, unterbrach ich plötzlich meine Beschreibung, »du hörst nicht zu.«

»Doch, ich höre, du sagtest, daß du getanzt hast.«

»Warum bist du so verstimmt?«

»Man kann doch nicht immer lustig sein.«

»Nein, du hast dich sehr verändert, seit wir aus Moskau gekommen sind. Sag' mir die Wahrheit«, fügte ich entschlossen hinzu, indem ich mich ihr zukehrte, »warum bist du so sonderbar geworden?«

»Bin ich denn sonderbar?« antwortete Katjenka mit einer Lebhaftigkeit, welche bewies, daß meine Bemerkung sie interessierte, »ich bin doch gar nicht sonderbar.«

»Nein, du bist nicht mehr so wie früher«, fuhr ich fort, »früher sah man, daß du in allem mit uns eins warst, daß du uns wie deine Verwandten betrachtetest und uns so lieb hattest wie wir dich, und jetzt bist du so ernst geworden, hältst dich von uns fern –«

»Aber gar nicht!«

»Nein, laß mich ausreden«, unterbrach ich sie, während ich schon das leise Kitzeln in der Nase spürte, das den Tränen vorausgeht, welche mir immer in die Augen traten, wenn ich einen lang zurückgehaltenen Herzensgedanken aussprach, »du hältst dich von uns fern, du sprichst nur mit Mimi, als ob du uns nicht mehr kennen wolltest.«

»Man kann sich doch nicht immer gleich bleiben, irgendwann muß man sich doch verändern«, antwortete Katjenka, welche die Gewohnheit hatte, alles durch eine Art fatalistischer Notwendigkeit zu erklären, wenn sie nicht wußte, was sie sagen sollte. Ich erinnere mich, daß sie einmal während eines Streites mit Ljubotschka, die sie ein »dummes Mädel« genannt hatte, erwiderte, es können ja nicht alle klug sein, es müsse auch Dumme geben. Aber ihre Antwort, daß man sich irgendwann verändern müsse, befriedigte mich nicht, und ich fuhr fort zu fragen:

»Warum muß man das?«

»Wir werden doch nicht immer zusammen bleiben«, antwortete Katjenka leicht errötend und aufmerksam Philipps Rücken betrachtend, »Mamachen konnte bei eurer seligen Maman leben, weil sie befreundet waren, aber weiß Gott, ob sie mit der Gräfin, die, wie man sagt, so böse ist, übereinstimmen wird? Und auch sonst, irgendwann müssen wir uns ja doch trennen: ihr seid reich, ihr besitzt Petrowskoje, und wir sind arm, Mamachen besitzt gar nichts.«

»Ihr seid reich, wir sind arm«, diese Worte und die Begriffe, die mit ihnen verbunden waren, erschienen mir außerordentlich sonderbar; nach meinen damaligen Begriffen konnten nur Bettler und Bauern arm sein, und diese Vorstellung von der Armut konnte ich durchaus nicht mit der graziösen, hübschen Katjenka in Verbindung bringen. Es schien mir, daß Mimi und Katjenka, wenn sie schon immer bei uns gelebt hatten, auch immer mit uns leben und alles mit uns teilen würden, anders konnte es gar nicht sein. Jetzt aber schwirrten mir tausend neue, unklare Gedanken über ihre Gleichstellung mit uns durch den Kopf, und ich schämte mich so sehr, daß wir reich und sie arm seien, daß ich errötete und mich nicht getraute, Katjenka anzusehen.

»Was ist denn dabei, daß wir reich und sie arm sind«, dachte ich, »und warum ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer Trennung, warum sollten wir nicht gleichmäßig teilen, was wir besitzen?« Aber ich begriff, daß man mit Katjenka darüber nicht sprechen konnte, und ein gewisser, praktischer Instinkt sagte mir schon im Gegensatz zu dieser logischen Betrachtung, daß sie recht habe und daß es nicht am Platze wäre, ihr meine Gedanken zu entwickeln.

»Wirst du wirklich von uns fortgehen?« fragte ich, »wie sollen wir denn ohne einander leben?«

»Was ist dabei zu machen? Es tut mir selbst weh, aber wenn es geschehen sollte, so weiß ich, was ich tu.«

»Du willst Schauspielerin werden, so eine Dummheit!« unterbrach ich sie, weil ich wußte, daß es immer ihr Lieblingstraum gewesen war, zur Bühne zu gehen.

»Nein, das habe ich gesagt, als ich noch klein war.«

»Also was wirst du tun?«

»Ich werde ins Kloster gehen, werde dort wohnen und in einem schwarzen Kleidchen und Samthäubchen umhergehen.«

Und Katjenka begann zu weinen.

Ist es dir, lieber Leser, in einem bestimmten Lebensabschnitt begegnet, daß du plötzlich gewahr wirst, deine Anschauungen von den Dingen verändern sich völlig, so als ob alle Gegenstände, die du bisher gesehen hast, dir plötzlich eine andere, noch unbekannte Seite zukehren? Eine solche moralische Umwälzung vollzog sich in mir zum erstenmal während jener Reise, von der ich auch den Anfang meines Knabenalters datiere.

Zum erstenmal kam mir die Erkenntnis, daß wir, das heißt unsere Familie, nicht allein auf der Welt seien, daß alle Interessen sich nicht uns allein zuwenden, und daß auch noch andere Leute existieren, die mit uns nichts gemeinsam haben, sich nicht um uns kümmern und sogar von unserer Existenz nichts ahnen. Ich hatte das alles ohne Zweifel auch früher gewußt, aber ich hatte es nicht so gewußt, wie ich es jetzt erkannte; es war mir nicht zum Bewusstsein gekommen, ich hatte es nicht empfunden.

Ein Gedanke wird zur Überzeugung nur auf einem bestimmten Wege, der oft ganz unerwartet ist und sich von den Wegen unterscheidet, welche ein anderer Geist durchläuft, um dieselbe Überzeugung zu erlangen. Mein Gespräch mit Katjenka, das mich sehr rührte und mich zwang, über ihre zukünftige Lage nachzudenken, war für mich dieser Weg. Wenn ich die Dörfer und Städte betrachtete, durch welche wir fuhren, in denen jedes Haus wenigstens von einer solchen Familie, wie die unsere, bewohnt war, wenn ich die Frauen und Kinder ansah, die mit momentaner Neugier unserem Wagen nachblickten und für immer unseren Augen entschwanden, die Krämer, die Bauern, die uns nicht nur nicht grüßten, wie ich das in Petrowskoje gewöhnt war, sondern uns nicht einmal eines Blickes würdigten, dann ging mir zum erstenmal die Frage durch den Kopf: Was beschäftigt sie wohl, wenn sie sich gar nicht um uns kümmern? Und aus dieser einen Frage bildeten sich andere: Wie und wovon leben sie? wie erziehen sie ihre Kinder? lehren sie sie? erlauben sie ihnen zu spielen? wie bestrafen sie sie? und so weiter.

Knabenalter

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