Читать книгу Hadschi Murat - Лев Толстой, Leo Tolstoy, Liev N. Tolstói - Страница 11
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ОглавлениеAm frühen Morgen, noch in der Dunkelheit, waren zwei Kompanien mit Beilen unter dem Kommando Poltorazkijs bis auf zehn Werst vor das Schachgirinskische Tor hinausmarschiert, hatten eine Vorpostenkette vorgeschoben und sich, sobald es zu tagen anfing, an das Fällen der Bäume gemacht. Gegen acht Uhr begann der Nebel, vermischt mit dem dichten, stickigen Rauch der in den Lagerfeuern knisternden feuchten Baumzweige, höher zu steigen. Die mit der Niederlegung des Waldes beschäftigten Soldaten, die einander vorher auf fünf Schritte nicht mehr gesehen, sondern nur noch gehört hatten, konnten jetzt sowohl die Lagerfeuer wie den von den Baumstämmen versperrten, quer durch den Wald führenden Weg deutlich unterscheiden. Die Sonne erschien von Zeit zu Zeit als ein leuchtender Fleck im Nebel, um dann für eine Weile wieder unsichtbar zu werden. In einer kleinen Lichtung abseits vom Wege saßen auf den Trommeln Poltorazkij und sein Subalternoffizier Tichonow, ferner zwei Offiziere der dritten Kompanie und ein ehemaliger Offizier der Chevaliergarde namens Baron Freese, ein Bekannter Poltorazkijs vom Pagenkorps her, der wegen eines Duells degradiert worden war. Um die Trommeln herum lagen leere Flaschen, Zigarettenstummel und Papierhüllen, in denen die Offiziere ihr Frühstück mitgebracht hatten. Sie hatten sich durch ein Glas Branntwein und einen Imbiss gestärkt und dann ein Glas Porter getrunken. Der Tambour war eben dabei, eine neue Flasche zu entkorken. Poltorazkij war, obschon er nicht ausgeschlafen hatte, doch in jener ganz besonderen, sorglos heiteren und gehobenen Stimmung, die ihn inmitten seiner Soldaten und Kameraden jedesmal überkam, sobald Gefahr ihn umwitterte.
Die Offiziere unterhielten sich lebhaft über die letzte Neuigkeit – den Tod des Generals Sljepzow. Keiner von ihnen sah in diesem Tode jenen wichtigsten Augenblick des menschlichen Daseins, in dem das Leben zu Ende geht und zu jenem Urquell, aus dem es hervorgegangen, zurückkehrt – alle sahen vielmehr nur die Tapferkeit des kühnen Offiziers, der mit dem Säbel in der Faust kühn auf die Bergbewohner losgestürmt war und verzweifelt auf sie dreingehauen hatte.
Zwar wußten alle diese Offiziere, namentlich diejenigen von ihnen, die selbst schon mit im Feuer gewesen waren, daß es während jenes Krieges im Kaukasus niemals und nirgends zu solch einem Nahkampf mit dem Säbel gekommen war, wie man sich ihn gewöhnlich vorstellt, und wie er auch vielfach geschildert wird. Sie wußten, daß, wenn schon ein Nahkampf mit Bajonett und Säbel vorkam, diese Waffen höchstens den Rücken des fliehenden Feindes bearbeiteten. Gleichwohl wurde die Fiktion eines solchen Nahkampfes von den Offizieren aufrecht erhalten, und sie war es, die ihnen jenen ruhigen Stolz und jene Heiterkeit verlieh, mit der sie teils in malerisch kecker, teils in selbstbewußt zurückhaltender Haltung auf den Trommeln saßen, rauchten, tranken und scherzten und sich nicht die geringste Sorge um den Tod machten, der jeden Augenblick an sie ebenso wie an Sljepzow plötzlich herantreten konnte. Und wie zur Bestätigung der Erwartung, in der sie dasaßen, fiel plötzlich mitten in ihr Gespräch hinein links vom Wege her ein Büchsenschuss, und eine Kugel pfiff lustig durch den Nebeldunst, um irgendwo in einen Baum einzuschlagen. Ein paar laute, dumpf knallende Schüsse aus den Gewehren der Soldaten antworteten auf den feindlichen Schuß.
»Aha,« rief Poltorazkij in heiterem Tone, »das war in der Vorpostenkette! Nun, mein lieber Kostja,« wandte er sich an Freese, »du hast wirklich Glück. Jetzt geh' mal zur Kompanie – wir werden gleich eine Schlacht haben, so wild und heiß, wie man sie sich nur wünschen kann. Das soll eine Galavorstellung werden.«
Der degradierte Baron sprang auf und begab sich raschen Schrittes nach jenem verqualmten Revier, in dem seine Kompanie an der Arbeit war. Poltorazkij ließ sich seinen kleinen, gelbmäuligen, dunkelbraunen Kabardiner vorführen, setzte sich darauf, ließ seine Kompanie antreten und führte sie in der Richtung, aus der der Schuß gefallen war, zur Vorpostenlinie vor. Die Vorpostenkette lag am Rande des Waldes, vor einer kahlen Schlucht, die sich niederwärts zog. Der Wind wehte nach dem Walde zu, und nicht nur der diesseitige Abhang, sondern auch die jenseitige Wand der Schlucht war deutlich sichtbar. Als Poltorazkij die Vorposten erreichte, trat gerade die Sonne aus dem Nebel hervor, und auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht, am Rande eines zweiten, niedrigen Waldes, der dort begann, wurden in einer Entfernung von etwa dreihundert Schritten einige Reiter sichtbar. Es waren die Tschetschenzen, die Hadschi Murat verfolgt hatten und sich davon überzeugen wollten, daß er wirklich zu den Russen ging. Einer von ihnen hatte nach den Vorposten hinübergeschossen, und ein paar Soldaten aus der Vorpostenkette hatten ihm geantwortet. Die Tschetschenzen hatten sich zurückgezogen, und das Gewehrfeuer war eingestellt worden, als jedoch Poltorazkij mit seiner Kompanie anmarschiert kam, ließ er sogleich wieder schießen. Kaum war der Befehl erteilt, als auch auf der ganzen Linie alsbald ein ununterbrochenes keckes Knattern und Knallen einsetzte und bald hier, bald dort zierliche kleine Rauchwölkchen aufstiegen. Die Soldaten, die in der Schießerei eine willkommene Abwechslung sahen, luden in raschem Tempo ihre Gewehre und gaben Schuß auf Schuß ab. Die Tschetschenzen waren nicht faul und schossen gleichfalls, indem sie einzeln Mann für Mann vorsprangen. Einer ihrer Schüsse traf einen Soldaten. Es war derselbe Awdjejew, der mit auf dem Geheimposten gewesen war. Als die Kameraden zu ihm eilten, lag er mit dem Rücken nach oben da, hielt sich mit beiden Händen auf die am Bauche befindliche Wunde, zuckte von Zeit zu Zeit und stöhnte leise.
»Ich war gerade dabei, mein Gewehr zu laden, als ich ein Zischen hörte,« erzählte Awdjejews Nebenmann, »und wie ich hinschaue, seh' ich, daß er das Gewehr fallen läßt.«
Awdjejew stand bei Poltorazkijs Kompanie. Als dieser die Soldaten zusammenlaufen sah, ritt er an die Gruppen heran.
»Hast du was abbekommen, mein Lieber?« fragte er. »Wohin denn?«
Awdjejew gab keine Antwort.
»Ich war gerade dabei zu laden. Euer Wohlgeboren,« wiederholte der Nebenmann Awdjejews, »als ich ein Zischen hörte, und wie ich hinsehe, hat er das Gewehr auch schon fallen lassen.«
»Tss, Tss,« schnalzte Poltorazkij mit der Zunge. »Tut's weh, Awdjejew?«
»Das nicht, aber gehen kann ich nicht. Um einen Schluck Branntwein möcht' ich bitten, Euer Wohlgeboren.«
Irgend jemand reichte eine Flasche mit Spiritus hin, wie ihn die Soldaten im Kaukasus zu trinken pflegten, und Panow goss mit finsterer Miene einen Becher davon ein, den er Awdjejew reichte. Awdjejew kostete, schob jedoch sogleich den Becher mit der Hand fort.
»Die Seele mag ihn nicht,« sagte er, »trink' ihn nur selber.«
Panow leerte den Becher. Awdjejew versuchte wiederum, sich zu erheben, sank jedoch von neuem zurück. Die Kameraden breiteten einen Mantel aus und legten Awdjejew darauf nieder.
»Euer Wohlgeboren, der Herr Oberst kommt!« rief der Feldwebel Poltorazkij zu.
»Gut – sieh du hier nach dem Rechten,« sagte Poltorazkij, schwang die Peitsche und ritt in scharfem Galopp Woronzow entgegen.
Woronzow kam, von dem Regimentsadjutanten, einem Kosaken und einem tschetschenzischen Dolmetscher gefolgt, auf seinem Fuchshengst, einem echten englischen Vollbluttier, herangeritten.
»Was ist denn bei Ihnen los?« fragte er Poltorazkij.
»Eine Schar von feindlichen Reitern ist drüben aufgetaucht, sie haben die Vorposten angegriffen,« antwortete ihm Poltorazkij.
»Und da mußten Sie gleich mit ihnen anbinden!« sagte der Fürst.
»Nicht ich habe angefangen, Fürst,« versetzte Poltorazkij lächelnd, »sondern sie selbst.«
»Ein Soldat soll verwundet sein, wie ich höre?«
»Ja, schade um ihn. Es ist ein tüchtiger Soldat.«
»Ist die Verwundung schwer?«
»Sie scheint schwer zu sein, ein Bauchschuss.«
»Und wissen Sie, wohin ich jetzt reite?« fragte Woronzow. »Erraten Sie es nicht? Hadschi Murat ist angekommen, wir werden ihn sogleich treffen.«
»Nicht möglich!«
»Gestern hat er einen Boten zu mir geschickt,« sagte Woronzow, nur mit Mühe seine Freude verbergend. »Er erwartet mich jedenfalls schon auf der Lichtung. Lassen Sie die Postenkette bis an die Lichtung vorgehen, und kommen Sie dann zu mir zurück.«
»Zu Befehl,« sagte Poltorazkij, legte die Hand an die Fellmütze und begab sich zu seiner Kompanie. Er führte selbst einen Teil der Kette nach rechts hinüber, während er die Besetzung der linken Seite dem Feldwebel übertrug. Der verwundete Awdjejew war inzwischen von den Soldaten nach der Festung gebracht worden. Poltorazkij war bereits wieder zu Woronzow unterwegs, als er in seinem Rücken einen Reitertrupp gewahr wurde, der ihn einzuholen suchte. Er machte halt und erwartete die Herannahenden.
Allen übrigen voran ritt auf einem weißmähnigen Pferde ein Mann von eindrucksvollem Äußeren, mit einem Turban um die Lammfellmütze und mit kostbaren goldverzierten Waffen im Gürtel. Es war kein anderer als Hadschi Murat. Er ritt an Poltorazkij heran und sagte zu ihm irgend etwas auf tatarisch. Poltorazkij zog die Brauen hoch und zuckte lächelnd die Achseln, zum Zeichen, daß er ihn nicht verstehe. Hadschi Murat antwortete gleichfalls mit einem Lächeln, und dieses Lächeln überraschte Poltorazkij durch seine kindliche Gutmütigkeit. Poltorazkij hatte sich den kühnen Anführer der Bergbewohner ganz anders vorgestellt. Er erwartete einen finsteren, trockenen, absonderlichen Menschen zu sehen, und nun erblickte er einen harmlos schlichten Mann vor sich, der so gutmütig lächelte, als sei er sein alter Freund und Vertrauter. Nur eins fiel an seinem Gesichte auf: die weit auseinanderstehenden Augen, die ruhig, durchdringend und aufmerksam in die Augen anderer Leute schauten.
Das Gefolge Hadschi Murats bestand aus vier Männern. Einer dieser Männer war Chan Mahoma – derselbe, der in der Nacht vorher bei Woronzow gewesen war. Er hatte ein rundes, vor Lebensfreude strahlendes, rotwangiges Gesicht, in dem ein Paar lebhafte schwarze Augen blitzten. Dann war da ein breitschultriger, stark behaarter Mensch mit zusammengewachsenen Augenbrauen – der Aware Chanefi, der das Vermögen Hadschi Murats verwaltete. Er führte ein Saumpferd am Zügel, das hoch mit Säcken bepackt war. Der dritte und vierte der Männer, die Hadschi Murats Gefolge bildeten, fielen durch ihr Äußeres ganz besonders auf. Der eine von ihnen, der junge Eldar, war ein schlanker, stattlicher Mensch mit den Augen eines Widders, breit in den Schultern und frauenhaft schmal über den Hüften, mit kaum sichtbarem Bartansatz. Der vierte und letzte war ein Einäugiger ohne Brauen und Wimpern, mit kurzgeschorenem rotem Barte und einer mächtigen Schramme, die ihm quer über die Nase ging; es war der Tschetschenze Hamsalo.
Poltorazkij machte Hadschi Murat auf den Fürsten aufmerksam, der soeben auf den Weg hinausritt. Hadschi Murat ritt auf Woronzow zu, legte, als er ihn erreicht hatte, die rechte Hand auf die Brust, sagte irgend etwas auf tatarisch und hielt dann wie in Erwartung einer Antwort ein. Der Tschetschenze, der mit Woronzow gekommen war, übertrug Hadschi Murats Worte: »Ich übergebe mich hiermit in die Gewalt des russischen Zaren und will ihm dienstbar sein,« so lauteten seine Worte. »Ich wollte es schon lange tun, doch hat Schamyl es mir nicht gestattet.«
Nachdem Woronzow die Worte des Dolmetschers vernommen hatte, reichte er Hadschi Murat die mit einem gemsledernen Handschuh bekleidete Hand. Hadschi Murat blickte auf diese Hand, zögerte einen Moment, schüttelte sie dann aber kräftig und sagte dabei irgend etwas, wobei er bald den Dolmetscher, bald Woronzow ansah.
»Er sagt, er habe sich keinem andern ergeben wollen, als gerade dir, weil du der Sohn des Sardar1 bist. Er schätzt dich besonders hoch.«
Woronzow nickte mit dem Kopfe, zum Zeichen, daß er ihm für seine Hochachtung dankbar sei. Hadschi Murat sagte dann noch irgend etwas, wobei er auf seine Begleiter zeigte.
»Er sagt, daß auch diese Leute, seine Muriden, ebenso wie er selbst den Russen dienstbar sein werden.«
Woronzow ließ seinen Blick über die vier Männer schweifen und nickte ihnen zu.
Chan Mahoma, der Tschetschenze mit den munteren schwarzen Augen, nickte seinerseits Woronzow zu und sagte etwas, das wohl ziemlich lustiger Art sein mochte, da der starkbehaarte Aware Chanefi über das ganze Gesicht dazu lachte, wobei seine blinkend weißen Zähne sichtbar wurden. Der rothaarige Hamsalo warf Woronzow nur einen einzigen Blick aus seinem roten Auge zu und blickte dann wieder starr auf die Ohren seines Pferdes.
Als Woronzow und Hadschi Murat mit ihren Begleitern nun nach der Festung ritten, machten die Soldaten, die nach Auflösung der Vorpostenkette da und dort in Gruppen zusammenstanden, ihre Bemerkungen über den Gast.
»Wie viel Seelen hat er auf dem Gewissen, der Höllenhund! Und jetzt wird er noch obendrein seine schöne Versorgung kriegen, gebt acht!« sagte der eine.
»Das ist wohl möglich. Er war auch Schamyls bester Kommandeur. Jetzt hat er ausgesorgt.«
»Ein tüchtiger Bursche ist er schon, dagegen ist nichts zu sagen. Ein richtiger Dschigit!«2
»Und der Rothaarige – habt ihr gesehen, wie der scheel geguckt hat? Wie ein Raubtier!«
»Das muß ein böser Hund sein!«
Hamsalo, der Rothaarige, war ihnen ganz besonders aufgefallen.
Dort, wo das Holz gefällt wurde, kamen die Soldaten, die näher am Wege waren, rasch herbeigelaufen, um sich den seltsamen Zug anzusehen. Der Adjutant schrie sie an, doch Woronzow wehrte ihm.
»Mögen sie sich ihren alten Bekannten doch ansehen,« meinte er. »Weißt du, wer der Mann da ist?« fragte Woronzow, die Worte langsam mit seinem englischen Akzent herausbringend, den ihm zunächst stehenden Soldaten.
»Nein, Ew. Exzellenz.«
»Hadschi Murat ist es. Hast du von ihm gehört?«
»Gewiß doch, Ew. Durchlaucht, wir haben ihn oft genug verhauen.«
»Ihr habt aber auch euer Teil von ihm bekommen!«
»Das stimmt wohl, Ew. Durchlaucht,« antwortete der Soldat, ganz stolz darauf, daß er mit dem hohen Vorgesetzten hatte sprechen dürfen.
Hadschi Murat begriff, daß von ihm gesprochen wurde, und ein heiteres Lächeln leuchtete in seinen Augen. Woronzow kehrte in der heitersten Gemütsverfassung in die Festung zurück.
1 Der Oberstkommandierende
2 Held