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Impressum

Texte: © Copyright by Liesa-Maria Nagel

Umschlag: © Copyright by JoHoelken

Verlag: Eigenverlag

45147 Essen

kontakt@liesanagel.de

Druck: epubli ein Service der

neopubli GmbH, Berlin


ISBN 978-3-754951-36-1

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Für Andrea, die seit jeher meine Robin ist.

Für Jo, den besten Lektor, den ich je hatte und haben werde.

Für Mama.

Und für dich, mein liebster Leser, denn ohne dich, wäre dieses Buch nicht auf dieser Welt.

Danke!


Prolog


Nachdem Gott entschieden hatte, dass seine Söhne ihrer Aufgabe gerecht geworden waren, sprach er zu ihnen: Meine Kinder, ihr habt meiner Aufgabe genüge getan. Ich werde eure Körper in den Turm der Magier, hoch oben in meinem Atziluth, dem Hohen Himmel, verbergen, Körper von Seele getrennt. Niemals wieder sollt ihr das Licht der Welt erblicken. Denn ihr seid schreckliche Kreaturen. Grausam und durstig nach Blut. Damit aber wollten sich die Söhne Gottes nicht abfinden und so begehrten sie auf wider ihrem Vater und wandten sich ab von seinem Angesicht. Der Dunkelheit und dem gefallenen Engel Luzifel verschrieben sie ihre Seelen. Doch Gott, der die Macht seiner eigenen Kinder fürchtete, sperrte sie ein in den Turm der Magier, der umgeben von weißer Magie hoch oben im Himmel stand. Für alle Zeit sollten sie dort gefangen sein.

Doch Luzifel war es, der in den Hohen Himmel kam und die Seelen mit sich nahm. In seinem She’Ol, in den tiefsten Tiefen der Hölle, gab er ihnen neue Körper, schöne Körper, auf dass sie unerkannt und frei unter den Menschen leben konnten.

Meine Kinder, sprach der Gefallene zu ihnen, als er sie freiließ, Ich schenkte euch das Leben. Geht hinaus auf die Erde und nehmt Rache an Gott für seinen Verrat an euch. Sehet, ich gebe euch Wächter, die euch beschützen vor seinem Zorn. Übt Rache an ihm. Mordet und brandschatzt, auf das seine geliebten Menschen in eurem Gelächter ertrinken.

So wird die Geschichte in der Hölle gelehrt.


Kapitel I


Melody war eine der Ersten gewesen, die an diesem Morgen den Supermarkt gestürmt hatten. Überall quollen die Regale bereits mit Halloweendeko über. Menschen drängelten und schubsten sich gegenseitig, um die besten und gruseligsten Stücke zu erhaschen. Dabei war es gerade erst Anfang Oktober.

Mel hatte sich beeilt die letzten Posten auf ihrer Partyliste einzukaufen und atmete erleichtert auf, als sie in die immer noch frische Morgenluft auf den Parkplatz hinaustrat. Sie hatte Tracey versprochen ihr bei den Vorbereitungen für ihren Geburtstag zu helfen und sie war schon immer jemand gewesen, der die Dinge lieber früher, als später erledigte. Ihr sechzehnter Geburtstag war erst am 31., aber wer weiß, was ihr bis dahin noch alles einfiel.

Nun schlenderte sie summend den Fußweg hinab in Richtung von Traceys Haus. Es war nicht mehr allzu weit und der Tag war klar und kalt, weshalb sie beschloss, das Stück zu laufen. Ihr Weg führte sie durch einen weitläufigen Park und ein kleines Gebiet, in dem nur Bürogebäude standen. Es versprach also ein einsamer Weg zu werden, aber das war ihr ganz recht. Schon seit Tagen war sie innerlich schrecklich unruhig und nervös. Ob es nun an ihrem Geburtstag lag, am bald bevorstehenden Vollmond oder an sonst was, wusste sie nicht. Sie fühlte sich freudig aufgekratzt und war schnell aus der Ruhe zu bringen. Doch konnte sie sich einfach keinen Reim darauf machen.

Der herbstliche Park lag in aller Stille vor ihr. Kleine, herbstlich bunte Baumgruppen wechselten sich mit laubbedeckter Wiese und nackten Blumenbeeten ab. In der vergangenen Nacht hatte es gefroren und überall glitzerte noch der Raureif in der kalten Morgensonne. Außer ihr war weit und breit niemand.

Melody hatte den Park praktisch für sich allein. Sie genoss für eine Weile die sanfte Ruhe und ließ ihre Gedanken schweifen. Sie blickte den Weg vor sich hinunter, im Kopf schon bei dem bevorstehenden Tag, als plötzlich eine kleine Stoffspinne aus ihrer Einkaufstasche hüpfte und über den gefrorenen Kiesweg rollte.

„Ach, Mist!“, fluchte sie und beugte sich hinunter, um die kleine Spinne aufzuheben. Da trat plötzlich ein Paar schwarzer Turnschuhe in ihr Blickfeld, die Spitzen verkrustet von Salz und Erde.

Eine große Hand mit langen, schlanken Fingern erschien in ihrem Blickfeld und griff nach der Spinne. Melodys Blick folgte der Hand mit der Spinne darin auf ihrem Weg nach oben. Sie sah eine schwarze Jeans an langen, kräftigen Beinen und schmalen Hüften. Die Hand hielt auf Höhe eines AC/DC – Shirts an, dass eine schlanke, aber gut trainierte Brust bedeckte. Die Arme steckten in einem halblangen, gefütterten Ledertrenchcoat. Feines, schwarzes Haar fiel auf die schmalen Schultern. Irgendwie schien es blau zu schimmern, als er den Kopf schieflegte. Melody schluckte, als sie den Blick weiter hob und dem Mann vor sich ins Gesicht sah. Ein Lächeln umspielte volle Lippen und besonders die ausgeprägte Unterlippe hielt ihren Blick fest. Kleine Grübchen zeigten sich auf seinen Wangen. Sogar in seinen Augen erkannte sie dieses Lächeln, sie schienen zu funkeln, aber in einem so eigenartigen, übernatürlichen Blau, dass es ihr den Atem verschlug.

Oh, Herr im Himmel! Dieses Lächeln ...!

Sogar der Himmel verblasste neidisch im Vergleich zu der Farbe seiner Iris. Sie verfolgte jede Bewegung in seinem kantigen, schönen Gesicht. Hohe Wangenknochen. Helle Haut. Nicht die kleinste Unebenheit, abgesehen von diesen süßen Grübchen. Einfach zum Niederknien!

„Ich glaube, du hast da was verloren“, sagte er lächelnd.

Melody fühlte ihr Herz schmelzen, wie Eis in der Sonne. „Äh ...“

Wie war das gleich noch mal? Erst einmal weiteratmen! Dann denken, Worte finden und einen Satz daraus bilden. Langsam. Deutlich. Aber das war gar nicht so einfach beim Klang dieser Stimme. Tief. Maskulin. Aber geschmeidig und sanft, wie warme Sahne.

„D ... Danke“, presste sie heraus und wusste plötzlich nicht mehr, wo sie hinschauen sollte. Sein Blick fesselte sie. Er starrte sie nicht an, ganz im Gegenteil. Er schaute irgendwie müde aus. Aber in seinen Augen lag eine Weisheit, der Melody sich nicht gewachsen fühlte. Ein amüsiertes Schmunzeln verzog seine schönen Lippen. Erst als er das Stofftier an einem Beinchen in die Höhe hielt, bemerkte Melody, dass Sie den Kopf fast in den Nacken legen musste, um ihn anzusehen. Er war groß. Nahezu riesig. Und Melody war weiß Gott kein Zwerg. Ihre Werwolfgene brachten sie selbst mir ihren kaum sechzehn Jahren schon auf gute eins siebzig. Obendrein trug sie leidenschaftlich gern Absätze.

„Süß“, grinste er und hielt ihr die Spinne hin. „Willst du dein Stofftier gar nicht wieder haben?“

Melody griff rasch nach der Spinne und verstaute sie wieder in der Tasche. Es ärgerte sie ein wenig, dass dieser wahnsinnig gutaussehende Mann mit ihr sprach, wie mit einem kleinen Mädchen.

„Danke“, murmelte sie mürrisch und rückte ihre Tasche zurecht „Fürs Aufheben.“ Dann machte sie einen Schritt an ihm vorbei und ging weiter. Ihr Herz schlug schneller, als sie spürte, wie er ihr nachsah.

Noch während sie an ihm vorüberging, atmete sie tief ein. Sie wollte wissen, wie ein Mann, der so gut aussah, eigentlich roch. Die Erkenntnis hätte sie beinah aus den Latschen kippen lassen.

Flüssige Schokolade. Vanille. Zimt und ein Hauch Patchouli. Süß und erdig. Wild und wundervoll. Sie seufzte leise. So musste die Versuchung riechen!

Sie ließ sich einige Schritte von seinem berauschenden Geruch begleiten, ehe sie sich davon befreite, und versuchte ihn zu ignorieren. Sie hörte seine langsamen Schritte auf dem Weg. Er folgte ihr.

Warum tat er das?

Melody versuchte, sich nicht beunruhigen zu lassen. Wahrscheinlich wollte er bloß in dieselbe Richtung. War ja auch kein Wunder. Da sie ihn vorher vor sich nicht gesehen hatte, musste er ja schließlich aus derselben Richtung gekommen sein, wie sie. Also wollte er wahrscheinlich auch in dieselbe Richtung weitergehen.

Schließlich tauchten gutaussehende Männer nicht einfach aus dem Nichts auf.

„Ist das nicht ein bisschen zu gefährlich für dich hier draußen allein im Park?“, hörte sie seine Stimme hinter sich, freundlich und sanft. Er war immer noch einige Schritte entfernt. Und dennoch richteten sich die Härchen in ihrem Nacken auf. Ein Schauer rann ihren Rücken hinunter.

„Gerade für einen so hübschen, kleinen Dämon, wie dich.“

Melody erstarrte und fuhr herum. Er stand direkt vor ihr. Lächelte sie mit diesem anziehenden, sinnlichen Lächeln an. Und sie hatte ihn nicht einmal herankommen gespürt.

Schnell machte sie einen Schritt rückwärts.

„Bitte? Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen“, erwiderte sie hektisch, etwas zu hektisch für ihren Geschmack. Er lachte leise, was bei seiner Stimme beinah, wie Musik klang. Er steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans und nahm eine lockere, sehr unbedrohliche Haltung ein. Viel zu unbedrohlich, wie Melody fand. Sie machte vorsichtshalber noch einen Schritt zurück. Er seufzte leise und wiegte leicht den Kopf. Sein langes, schimmerndes Haar fiel ihm dabei wie flüssige Seide um die Schultern, bewegte sich, als wäre es lebendig.

„Ich erkenne einen Dämon, wenn er vor mir steht. Glaub mir.“

Oh, Melody glaubte ihm aufs Wort. Nichts in seiner Stimme oder seinem Blick ließ auch nur den Hauch einer Lüge erkennen. Geschweige denn irgendwelcher Unsicherheiten.

„Das freut mich für Sie“, sagte Melody steif, „Aber ich werde jetzt gehen.“ Wieder wandte sie ihm den Rücken zu und stapfte durch das Laub weiter den Weg entlang. All ihre Sinne waren angespannt nach hinten gerichtet. Im schlimmsten Falle würde sie die Tasche fallenlassen und davon rennen, so schnell sie konnte.

Aber diesmal hörte sie keine Schritte, die ihr folgten. Erleichtert beschleunigte sie etwas und bog eilig um den Pfeiler, der die Mauer des Parks beendete.

„Du hast doch wohl nicht etwa Angst vor mir, oder?“


Melody konnte das erschreckte Aufkeuchen nicht mehr unterdrücken, als er plötzlich vor ihr unter einer Laterne stand.

„Was zum … ! Wie bist du so schnell hier? Das ist doch …“

Sie starrte ihn an. Das amüsierte Lächeln auf seinen Lippen war ihr wohl Erklärung genug.

„Na schön. Du bist also ebenfalls ein Dämon. Warum, zur Hölle, verfolgst du mich?“

Sie stemmte ihre freie Hand in die Seite und versuchte so bedrohlich wie möglich auszusehen. Bei dem Wort 'Hölle' sah sie es in seinen Augen aufblitzen. Also ein Unterweltdämon. Vielleicht sogar ein Satan? Außer Robins Wächter kannte sie keinen. Und es gab ja einige.

„Ich verfolge dich doch nicht. Wir haben nur zufällig denselben Weg.“

Er stieß sich von der Laterne, an der er gelehnt hatte, ab und ging weiter die Straße entlang. Genau in die Richtung, in die sie wollte. Melody fluchte leise und folgte ihm. Was sollte sie auch anderes machen als wachsam bleiben und ihn im Auge behalten. Für den Notfall kramte sie schon einmal ihr Handy aus der Tasche und behielt es in der Hand. Dabei starrte sie auf seinen Rücken und dachte darüber nach, was für eine Art Dämon er wohl war? Er war weder Vampir noch Werwolf, das hätte sie am Geruch erkannt. Während sie noch darüber nachdachte, merkte sie nicht, dass der Abstand zwischen ihnen immer kleiner wurde.

Erst, als er neben ihr ging und sie anlächelte, mit diesem gut gelaunten, 'Ich weiß, dass ich verboten gut aussehe' – Lächeln, merkte sie, dass er sich hatte zurückfallen lassen. Sie seufzte resigniert. Wahrscheinlich wurde sie ihn nicht mehr los. Gut, dass sie auf solche Fälle vorbereitet worden war. Im Notfall wusste sie sich zu verteidigen.

„Wie heißt du?“, fragte er leise und begann in seiner Manteltasche zu kramen. Melody fürchtete schon das Schlimmste, aber er holte nur eine Schachtel Zigaretten heraus und steckte sich eine an. Als er ihr auch eine anbot, lehnte sie kopfschüttelnd ab.

„Also? Dein Name?“

Seine Stimme war immer noch freundlich, bekam aber einen kaum wahrnehmbaren ungeduldigen Unterton. Instinktiv antwortete sie. Sie war sich sicher, dass es besser wäre, ihn nicht zu verärgern.

„Melody. Melody Bradley.“

Er nickte und zog an seiner Zigarette. Melody fiel auf, dass es diese schwarze Sorte war. Die, die nach Nelken duftete.

„Ich bin Lou“, stellte er sich vor. Melody stutzte. Was für ein seltsamer Name.

„Lou? Wie Ludwig oder Louis, oder was?“, spöttelte sie.

Er grinste breit und kicherte.

„So in etwa.“

Melody sah deutlich, dass sich hinter dieser unscheinbaren Antwort wesentlich mehr verbarg. Lou war eine Kurzform, ein Spitzname. Nicht sein echter Name.

„Und weiter?“, fragte sie, jetzt neugierig geworden.

„Morgenstern.“

Ein eiskalter Schauer rann ihr den Rücken hinab, ließ sie frösteln und setzte sie gleich darauf in Flammen, als er sich zwischen ihren Beinen sammelte. Sie schluckte ein leises Aufkeuchen herunter, das sich plötzlich in ihrer Kehle sammelte.

Lou Morgenstern.

Irgendwo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört ... Bloß wo? Vielleicht gehörte er zu einem größeren Konzern? Oder war er Schauspieler? Model? Dem Aussehen nach sehr wahrscheinlich Letzteres ... Aber dann für ein Gothic- oder Fetishmagazin. Ohne, dass sie es wirklich wollte, drängte sich ihr ein Bild von Lou in Lack und Leder auf, halb nackt, wie er sich zwischen Stahlstangen rekelte. Ein wenig schockiert über sich selbst, verdrängte Melody das Bild schnell wieder. Ihr war ohnehin schon viel zu warm in seiner Gegenwart.

Gemeinsam bogen sie in die Straße ein, an deren Ende Traceys Haus lag. Schon von Weitem sah sie Robins Wagen quer in der Einfahrt parken. Die Vampirin schien es mal wieder überaus eilig gehabt zu haben. Mel schmunzelte. Vielleicht war Tony bei ihr. Dann hatte sie es immer eilig.

Gute hundert Meter vor ihrem Ziel blieb Lou plötzlich stehen. Melody, die sich in der Zwischenzeit schon richtig an seine Gesellschaft gewöhnt hatte, bleib ebenfalls stehen. Sie sah ihn fragend an, als er sie entschuldigend anlächelte.

„Verzeih“, sagte er und sie stolperte regelrecht über dieses veraltete Wort. „Weiter kann ich dich nicht begleiten, aber ich bin mir sicher, dass wir uns wiedersehen.“

Melody runzelte die Stirn. Sie glaubte ihm aufs Wort. Klar, wahrscheinlich würde er sie weiter verfolgen oder beobachten, weil er ein merkwürdiger, kranker Stalker oder Psychopath war. Das würde sie ihm sofort abkaufen! Also lieber nicht verärgern. Sie hob in einer möglichst unverbindlichen Geste die Schultern.

„Wie du meinst. Bis dann.“

Sie drehte sich um und ging los. Sie fröstelte, als die Wärme, die sie in seiner Nähe empfunden hatte, plötzlich verschwand.

„Grüß doch bitte deine Mutter von mir, wenn du sie gleich triffst.“

Seine Stimme verhallte in der frischen Luft des angebrochenen Tages. Als sie sich umdrehte, war die Straße hinter ihr leer und auch in die andere Richtung sah sie ihn nicht mehr. Seltsam, dachte sie noch, während sie weiterging. Warum sollte Emilia hier sein? Sie hasste Traceys Labor ...


*


Alles schien gut, denn wie jeden Freitag erschien sie pünktlich zum Unterricht. Ein eigentümlicher Stolz erfüllte mein Herz, als ich Melody beobachtete, wie sie Traceys Haus betrat.

Sie war so ein fleißiges und kluges Kind. Wie gern hätte ich sie Tag für Tag dafür umarmt und ihr gesagt, wie sehr ich sie liebte. Meine Tochter. Aber das war nicht möglich. Niemals.

Nicht, wenn ich wollte, dass sie am Leben blieb. Ihre Existenz durfte nicht bekannt werden. Außer den Wenigen, die von ihr wussten und denen ich vertraute, durfte kein Lebewesen je von ihr erfahren. Um ihre Sicherheit zu gewährleisten und mein Kind vor meinem eigenen Wächter zu bewahren, hatte ich sie vor nunmehr sechzehn Jahren weggegeben. Aufgewachsen war sie bei einem Werwolfpaar, das keine eigenen Kinder bekommen konnte, und irgendwann mal in Traceys Kartei aufgetaucht war. Die Bradleys waren zuverlässige Leute. Sie sorgten gut für Melody. Seit dem Tag ihrer Geburt war ich aus ihrem Leben verschwunden. Melody wusste nicht, dass es mich gab. Und wenn es nach mir ginge, würde sie es niemals erfahren. Ihre Sicherheit, ihr Leben, war meine größte Sorge.


Von meinem Beobachtungsposten, dem Hausdach auf der anderen Straßenseite, hatte ich Traceys Haus perfekt im Blick. Die Menschenfrau war meine einzige Verbindung zu meiner Tochter. Hätte Tracey bei der Adoption nicht darauf bestanden, dass das Mädchen in ihr Programm käme, würde ich gar nichts mehr von ihr hören. Oder mir meine Informationen auf illegalem Wege beschaffen müssen.

Ihre erste Wandlung stand kurz bevor. Mein Kind erreichte langsam das richtige Alter. In den nächsten Monaten würde sich zeigen, ob meine Lüge für sie bestehen bliebe, oder die Warggene ihres Vaters die Oberhand gewinnen würden. Nie verschwendete ich auch nur einen Gedanken daran, dass Claude ihr Erzeuger sein könnte.

Sollte sie sich nicht von allein verwandeln, so würde ich Melody gegenübertreten und ihr alles erklären müssen. Dann müsste ich ihr diese ganze, große Lüge offenbaren und alles würde auffliegen …

Mit jedem Tag, der verging und sie sich nicht wandelte, schien der Wahnsinn in meinem Herzen weiter zu wachsen. Hunger quälte mich öfter als normal. Öfter als gut war. Meine Wandlungen waren länger und schmerzhafter. Ich war leicht reizbar und sehr schnell aus der Ruhe zu bringen. Dauernd aufmerksam, ob sich nicht schwarze Rabenflügel am Himmel zeigten. Auch, wenn wenigstens das schlicht unmöglich war. Denn Claude war sicher verwahrt ...

Nachdem Melody das Haus betreten hatte und ich sie sicher wusste, verließ ich meinen Posten und schlug nun meinerseits den Heimweg ein.


*


Er sah ihr noch nach, bis sich die Haustür hinter ihr geschlossen hatte. Dass auch ihre Mutter sie beobachtete, war ihm durchaus bewusst. Ihre Präsenz vibrierte in ihm, wie das Echo einer großen Glocke. Aber er machte sich keine Sorgen darum, dass er bemerkt werden könnte.

Gerade war Melody die Einzige, die ihn sehen konnte. Allein für sie war er hier. Oder genau genommen sein Geist, den er nur für Melody auf die Erde sandte. In einer Gestalt, die er extra für seine Nachfolgerin ausgewählt hatte. Sexy und ein bisschen gefährlich und so, wie es aussah, hatte er genau richtig entschieden. Sie hatte angebissen.

Nun musste er sich ihr nur noch vertraut machen. Sie musste ihm ihr Vertrauen schenken. Nur so konnte sein Plan gelingen. Luzifer holte tief Atem, sog die kühle Luft in seine Lungen und ließ sie mit einem Seufzer wieder aus.

Wie sehr sehnte er sich diesen Tag herbei. So lange wartete er nun schon darauf, plante und erdachte, und nun war es fast soweit. Alles fügte sich genau so, wie er es wollte. Ende des Monats würde Melodys Welt in Schutt und Asche vor ihr liegen und er, Luzifer, wäre derjenige, der ihr Zuflucht böte. Bis dahin würde er sie, sooft er konnte, besuchen und bereits mit ihrer Ausbildung beginnen. Je früher sie lernte eine Herrscherin zu sein, desto besser. Die Hölle war schließlich kein Kindergarten. Auch, wenn sich so manch ein Satan gern mal so benahm. Wieder entrann ihm ein Seufzer, diesmal voller Zufriedenheit, als er sich langsam auflöste, die Morgendämmerung verließ und zurück in seinen Körper kehrte.


*


Der Geruch würde ihm noch tagelang nachhängen. Tief in seine Haut zog er, der Duft von Lust und Fleisch, Frau und Blut, Sünde und Verderbnis.

Ira saß in einem der roten Samtsessel des Wolllust. Nur ein Wochenendausflug von London nach Berlin. Zwar gab es in der alten Stadt auch Clubs wie diese, aber das Wolllust mochte er irgendwie. Er war allein hergekommen, denn für das, was er vorhatte, brauchte er die Gesellschaft seiner Brüder sicher nicht. In den letzten Jahren war er oft allein unterwegs. Wochenlang. Monatelang … Sein Kopf lag auf der niedrigen Lehne, tief hineingesunken in die Polster war sein Körper. Niedergedrückt von der zarten Last auf seinem Schoß.

Sein wolfsfellgraues Haar bildete einen harten Kontrast zu dem roten Samt. Auch, wenn nur noch wenige Strähnen auf ihn fielen. Er hielt es kurz seit einigen Jahren. Zu sehr erinnerte ihn die raue Länge daran, wie sie stets mit ihren Fingern hindurchgefahren war.

Die Frau, die sich so lasziv auf seinem Schoß räkelte, die er dafür bezahlte, dass sie genau das tat, stöhnte leise auf. Ihre lackierten Fingernägel, die exakt die Farbe ihrer Highheels hatten, krallten sich in seine Schultern. Die Spitzen ihres blonden Bobs fielen ihr ins Gesicht, als sie sich vorbeugte, um seinen Hals zu küssen.

Ihre Hüften bewegten sich in einem routinierten, kreisenden Rhythmus. Langsam und fordernd zugleich. Ausgerichtet darauf ihm die größtmögliche Freude zu bereiten. Und dennoch war sein Innerstes kalt.

Kein Feuer. Keine Leidenschaft. Kein Begehren.

Er verspürte nicht einmal besonders große Lust, aber dieser Abend war notwendig, denn der Hunger nagte an ihm. Seit er sie verloren hatte, waren Menschenfrauen alles, von dem er im Stande war, sich zu ernähren. Allerdings reichte das sterbliche, schwache Blut gerade einmal eine Woche, wenn er Glück hatte. Wie dankbar war er da für Etablissements, wie das Wolllust.

Der Schrei der Hure lockte einige neugierige Blicke zu ihnen herüber. Das kleine Separee, welches er für sich beansprucht hatte, war zwar von zarten Vorhängen verdeckt, ließ aber dann und wann doch einmal einen Blick hindurch. Ihn störte das nicht und die Frau offenbar auch nicht. Immer wilder und hemmungsloser ritt sie ihn, befriedigte sich schier an ihm, der er nur da saß und seinen unseligen Hunger schürte. Mit den Gedanken war er bei einer anderen. Der einzigen Frau, die er je wieder begehren würde. Wieso nur hatte er sie fortgeschickt?

Er hätte sie einsperren sollen. Oder zu einer der Seinen machen.

Aber diese Schmach, die sie ihm bereitet hatte, konnte er nicht dulden! Niemand hinterging ihn auf so schändliche Weise! Sosehr er sie auch lieben mochte, er würde sich nicht das Kind ihres Wächters unterjubeln lassen! Wütend packte er den Nacken der Hure, die gerade ihren wer-weiß-wievielten Orgasmus erlebte, und versenkte seine Zähne in ihrer Halsschlagader. Wieder schrie sie und ein neuer Schauer ließ ihren Körper erbeben. Im Anschluss hieran hätte sie jedenfalls keinen Grund sich zu beschweren … Wie stets, wenn er sich eine der Frauen nahm, die hier arbeiteten, schloss er die Augen. Mit einer Hand in ihrem Nacken und der anderen an ihrer Hüfte zwang er sie zu noch wilderen, schnelleren Bewegungen.

Nur mit all seiner Willenskraft gelang es ihm, sich vorzustellen, dass das matte Blut, welches seinen Rachen hinunter rann, einen anderen Geschmack hatte. Süßer. Herber. Unsterblicher …

Hinter seinen geschlossenen Lidern verwandelte sich der blonde Schopf der Frau in lange, nachtschwarze Wogen. Wurde der dünne Körper zu üppigen, wohlgeformten Rundungen. Er erinnerte sich an ihren Geschmack … Dieser wilde, ungebändigte, die Sinne betäubende Nachtjasmin, der tief in sein Innerstes drang und sich dort festsetzte. Ewig, wie es schien.

Solange verbrachte er die Nächte nun schon ohne sie und dennoch war sie alles, was seine Gedanken beherrschte. Das Erbeben seines Körpers beendete jäh seine Gedanken. Die Zähne noch tief im Hals der Frau vergraben, stöhnte er auf. Kaum hatte er jedoch seinen Hunger und die übrigen Bedürfnisse seines Körpers gestillt, ließ er die Hure los und stieß sie von seinem Schoß.

Mit einem verwirrten Aufschrei landete ihr bloßer Hintern auf dem schmutzigen Boden. Das Unverständnis in ihren Augen, und vor allem diese bedingungslose Hörigkeit, machten ihn wahnsinnig! „Scher dich weg!“, zischte er und die Augen der Frau wurden noch größer. Der scharfe Geruch von Angst erfüllte die Luft, als sie sich herumwarf und eiligst das Weite suchte.

Ira schnaubte abfällig, während er seine Hose zuknöpfte. Das Gefühl gesättigt zu sein konnte er nicht genießen. Es war kaum von langer Dauer. Sein Hunger verlangte etwas anderes, doch das war schlicht unerreichbar.


*


Oh, verdammt!

In meinem Kopf drehte sich alles. Die Welt um mich herum war undeutlich und verschwommen, als ich die Augen aufschlug. Mein Schädel dröhnte und mein ganzer Körper zitterte vor Schmerz. Als ich mich bewegte, schrie mein Magen in einem protestierenden Gebrüll auf.

Keuchend vor Übelkeit sackte ich zurück. Wo auch immer ich hier war ...

Ich roch nassen Asphalt. Regen und Dreck. Und Blut, aber das war wohl größtenteils mein eigenes. Scheiße, wie war ich denn hier hergekommen? Und was war passiert? Ganz langsam versuchte ich ein erneutes Aufstehen. Und siehe da, mein Körper rappelte sich stöhnend und keuchend auf. Blut tropfte auf den Boden. Meine Hand tastete hinter mich und fand eine Hauswand, an der ich mich abstützen konnte. Dann erst sah ich mich um. Es war dunkel um mich. Eine unbeleuchtete Seitengasse, wie es aussah. Mülltonnen und Unrat. Es wurde gerade wieder Morgen. Am fernen Horizont, den ich nur zwischen den Hausdächern hindurch erkennen konnte, zeichnete sich sanfte Farbe ab. Langsam ließ ich mich an die Wand hinter mir sinken. Ein Grinsen lag auf meinen Lippen.

Verdammt, mir tat wirklich jeder Knochen im Leib weh. Ich glaubte auch, dass einer meiner Knöchel gebrochen war. Schade, dass die Verletzungen nie von Dauer waren. Ein paar Stunden und der Bruch wäre Geschichte. Ebenso, wie die Muskelschmerzen und die äußeren Verletzungen. Trotz der permanenten Unterernährung heilte mein Körper immer noch ziemlich schnell. Viel zu schnell. Meine Fäuste droschen gegen den Backstein. Der Schmerz schoss in heißen, roten Fäden durch mich hindurch. Ich biss mir auf die Lippen, bis sie bluteten, damit ich nicht schrie. Der Schmerz tat gut. Ich wollte ihn. Genauso, wie die Prügelei, die ich letzte Nacht angezettelt hatte und wegen der ich jetzt in dieser Seitengasse aufgewacht war. Ich brauchte diese Gewalt und die Schmerzen, damit ich mich überhaupt noch spürte … Und es lenkte ihn von meiner Tochter ab. Empfand ich körperlichen Schmerz, spürte ihn auch mein Wächter. Und ich wollte, dass dieser Schmerz alles war, was er spürte.

Aber nun sollte ich langsam nach Hause, bevor mich noch jemand fand. Nachsehen, ob Er noch da war.

Vorsichtig stieß ich mich von der Wand ab und wankte aus der Seitenstrasse. Die Hauptstraße, auf die ich kam, erkannte ich wieder. Mal sehen, wo ich mein Motorrad geparkt hatte …


*


Nicolai fuhr mit der Straßenbahn in die Innenstadt. Das tat er immer, wenn er zu Cassie wollte. Cassandra Emerald. Seine Freundin. Ein Mensch.

Seufzend lehnte er den Kopf gegen die Scheibe. Wie gern würde er sie zu sich nach Craven holen. Jedes Mal, wenn er zu ihr fuhr, drehten sich seine Gedanken um dieses Thema. Sooft in den zehn Jahren ihrer Beziehung hatte er Mark auf Knien angefleht und doch nur immer die gleiche Antwort bekommen: Nein.

Es tat weh, aber Nick wusste, dass Mark recht hatte. Ein Rudel war kein Ort für eine Menschenfrau. Die Sitten waren hart, gerade für ihn als niedrigster in der Rangfolge. Eine Prügelei, bei der sie zwischen die Fronten geriet, und sie würde es wohl nicht überleben. Das Risiko war einfach zu hoch. Ihr Leben zu kostbar. Doch Cassie wusste, was er war, was die anderen in Craven waren und was ihr blühte, wenn sie dieses Geheimnis je verriet.

Das war wohl das schwierigste Jahr ihrer Beziehung gewesen. Nachdem Nick ihr gesagt hatte, dass er ein Werwolf ist. Natürlich wollte sie ihm partout nicht glauben. Welcher normal aufgewachsene Mensch würde das auch schon?

Er hatte es ihr beweisen müssen. Indem er eine Vollmondnacht in der Stadt verbrachte. Als sie das Unglaubliche dann in vollendeter, schwarzer Gestalt vor sich sah, war sie nicht schreiend davongerannt. Sie hatte nicht den Verstand verloren und auch nicht die Polizei gerufen.

Nein, Cassie, seine wundervolle, atemberaubende Cassie, war, wenn auch mit rasendem Herzen und Angstschweiß auf der Stirn auf ihn zu getreten und hatte ihre warme Hand auf seinen Kopf gelegt. „Ich erkenne dich. Das bist immer noch du, Nick.“

Ihre Worte widerhallten in seinen Ohren, wenn er daran zurückdachte. In diesem Moment war sein Herz ein für alle Mal an sie verloren. Nie wieder würde er ein anderes Wesen so lieben, wie diese Frau. Das schrille Klingeln kündigte die nächste Haltestelle an und Nick stieg aus. Cassie war Lehrerin an einer Grundschule in direkter Nähe vom Finsbury Park. Sie bewohnte dort mit einer Kollegin und Freundin ein kleines Reihenhäuschen. Vorgarten, Zaun, Terrasse. Alles, was dazugehörte. Sie führte ein solides, ehrliches Leben und nicht selten kam sich Nick vor wie ihr dunkles, kleines Geheimnis, der Schmutzfleck auf ihrer weißen Weste. Mürrisch stopfte er die Hände in die Taschen und lief den Weg entlang. In seinen Adern kochte bereits die wilde Vorfreude. Nur mit Mühe und Not hatte er sich von Mark die Erlaubnis erkauft, diesen letzten Tag vor Vollmond hierher zu dürfen. Viel Zeit blieb ihm auch nicht mehr, bis die Sonne unterging und seinen Körper zwang, sich zu verändern.

Hätte Cassie am Telefon heute früh nicht so aufgewühlt geklungen, wäre er wohl auch nicht hergekommen. Aber sie bat ihn darum, also war er gekommen. Ein düsterer Teil von ihm knurrte, dass es hoffentlich etwas Wichtiges und er den Weg nicht umsonst gekommen war. Er klopfte an ihrer Tür und trat einen Schritt zurück. Wenn Lydia, ihre Mitbewohnerin aufmachte, wollte er nicht wie ein bedrohlicher Schatten im Türrahmen lauern. Die Tür ging auf und Cassie erwartete ihn.

„Nick! Endlich!“ Sie fiel ihm um und Hals und drückte sich an ihn. Er konnte die Tränen noch an ihr riechen. Ihr ganzer Körper strahlte Schmerz, Angst und Anspannung aus. Sanft aber bestimmt ergriff er ihre Schultern und drückte sie etwas von sich. Er fing ihren Blick auf und hielt ihn fest. „Was ist los, Cassie? Was ist passiert?“

Er versuchte ruhig zu klingen, aber die Sorge um ihr Wohlbefinden ließ Zorn in ihm aufkeimen. Wenn ihr irgendjemand wehgetan hatte, dann …!

Er spürte, wie seine Augen die Farbe veränderten, und versuchte tief durchzuatmen. Sich in einer Vollmondnacht mit solchen Sorgen zu quälen hatte schon unzählige Leben gekostet.

Cassie sah ihn an und die Unsicherheit in ihrem Blick wuchs. Sie nahm seine Hände und zog ihn ins Innere des Hauses. Ohne ihn anzusehen, schloss sie die Tür und wies auf den Durchgang zur Küche. „Lass uns einen Tee trinken. Lydia ist nicht da. Wir haben also unsere Ruhe.“

Normalerweise sagte sie so etwas in einem leicht provokativen, sexy Tonfall, der sofort jedes Nervenende in ihm erregte, aber diesmal klang es viel zu ernst. Als müssten sie nun eine Beerdigung besprechen.

Wortlos und ihn höchster Alarmbereitschaft folgte er ihr in die kleine Einbauküche. Sein Blick suchte ihren Körper nach Anzeichen von Verletzungen ab, aber er fand nichts. Irgendetwas beunruhigte sie und er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um das zu ändern.

Cassie setzte Teewasser auf, nahm zwei Tassen aus dem Schrank, stopfte ihren Lieblingstee hinein und setzte sich zu ihm an den Küchentisch. Immer noch sah sie ihn nicht an, was Nick langsam aber sicher verrückt machte.

„Cassie, wenn du mir nicht gleich sagst, was dich bedrückt, dann muss ich leider irgendwas zerschlagen. Und du weißt, was für ein Tag heute ist.“

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen und endlich, endlich, endlich sah sie ihn an.

„Nick, ich bin schwanger.“

Als hätte sie ihn mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen, starrte er Cassie an. Plötzlich herrschte in seinem Kopf nur noch weißes Rauschen. Sogar die Bestie in ihm war vollkommen perplex ob dieser Nachricht, von der er sich nicht sicher war, ob sie nun gut oder schlecht war.

„Äh ...“, stammelte er, weil er nicht wusste, was er dazu sagen sollte.

Er musste ein ziemlich dummes Gesicht machen, denn Cassie fing an zu kichern.

„Hallo? Jemand zu Hause?“ Ihre Hand flog ein paar Mal vor seinen Augen hin und her. Nick blinzelte und endlich kehrten die logischen Gedanken in sein Hirn zurück.

„Wie ...? Aber wir ...? Wie ist denn das passiert?“ Immer noch überschlugen sich die Tatsachen und Konsequenzen in seinem Kopf und allein ihr liebevolles Lächeln hielt ihn davon ab, sich die Haare auszureißen. Er lehnte sich vor und ergriff ihre Hände. „Wie konnte das passieren? Ich meine, wir haben doch immer verhütet, wenn du fruchtbar warst.“

Fragend und verständnislos sah er sie an, aber auch sie zuckte nur mit den Schultern. „Ja, haben wir, aber es ist trotzdem passiert. Ich weiß nicht, warum, aber vielleicht hatte eines von den Kondomen ein Loch ...“

Als Werwolf konnte Nick es an ihr riechen, wenn sie empfänglich war. An diesen Tagen bestand er darauf, mit Kondom zu verhüten. Er wollte keine Kinder und schon gar nicht von einer Menschenfrau. Nicht, weil er es sich mit Cassie nicht vorstellen konnte, nichts würde ihn glücklicher machen, als eine Familie mit ihr, doch war sie sterblich und er lebte ungefähr zehn Mal länger. Was wäre das für eine Zukunft? Ihr beim Sterben zusehen? Kinder, die ihn irgendwann fragten, warum er nie alterte oder ihnen gar erklären zu müssen, was er war. Schlimmer noch das Gen weitervererben und seine Kinder zum gleichen Schicksal verdammen?

„Nick.“ Cassie befreite ihre Hände und legte sie auf seine Wangen. „Ich weiß, wir waren uns einig, dass wir keine Kinder wollten, aber ... es ist passiert. Was machen wir jetzt?“

Nick starrte sie an, sah in ihre braunen Augen und seufzte. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung.“

Cassie küsste ihn kurz und setzte sich dann auf seinen Schoß. Sie schlang die Arme um seinen Hals und drängte sich an ihn. Er nahm sie in den Arm und legte den Kopf an ihre Brust. So erschöpft, wie in diesem Moment hatte er sich noch nie gefühlt. Da war er so vorsichtig gewesen, damit er in der Welt der Menschen, in Cassies Welt, möglichst wenig Spuren hinterließ und dann so was. Ein Kind. Sein Kind.

„Ich werde Mark morgen davon erzählen. Sobald das Kind da ist, werden wir zu einer Expertin gehen, die ich kenne. Sie kann herausfinden, ob das Gen in ihm aktiv ist. Sollte das so sein, muss es auf Craven aufwachsen.“

Cassie musterte ihn und ihre Stirn legte sich in Falten. Ihr kastanienbraunes Haar fiel nach vorn, als sie den Kopf senkte. Nick ertappte sich bei dem Wunsch, dass dieses Kind ihre Haare erben würde.

„Auf Craven aufwachsen? In deinem Rudel? Aber du hast gesagt, dass Mark mich nicht akzeptiert?“

Nick stieß einen Seufzer aus und raufte sich nun doch das Haar. „Cassie, sollte das Kind das Gen erben muss es lernen, damit umzugehen! Du kannst es nicht in deiner Welt behalten. Wenn es in die Pubertät kommt, wird es sich verwandeln und, wenn es sich dann nicht kontrollieren kann, wird er wahllos Menschen töten. Jeden, der sich ihm in den Weg stellt. Dich mit eingeschlossen.“

Darüber schien sie einen Moment nachzudenken. Schließlich wurde ich Blick dunkel. „Ich würde eher das Kind aufgeben, als ein ganzes Leben von euch getrennt sein zu müssen.“

Nick starrte sie entgeistert an. Der Entschluss, der sich langsam in sein Bewusstsein schlich, war so logisch und so einleuchtend, dass Nick sich wunderte, warum ihm das nicht gleich eingefallen war.

„Nein, wir behalten das Kind. Und wenn Mark dich nicht ins Rudel aufnimmt, werde ich es eben verlassen.“


*


„Scheiße noch mal! Was hast du jetzt wieder angestellt?!“ Robins Stimme widerhallte in meinem Ohr. Ich war noch nicht ganz von meiner Honda gestiegen, da hatte mein Handy geklingelt und eine aufgebrachte Robin damit begonnen mich zusammenzufalten, wie einen besseren Briefbogen. Derweil sie schimpfte, schleppte ich meinen geschundenen Körper aus der Tiefgarage in den Aufzug.

„Das war schon die dritte Prügelei diese Woche! Und es ist erst Freitag!“

Nein, Traceys Stimme war noch etwas schlimmer als Robins. Obwohl uns einige Kilometer trennten, bekam ich das Gefühl, dass die Beiden neben mir stünden. Mittlerweile war ich diese morgendlichen Kontrollanrufe gewohnt und überhörte die Bitten, Anschuldigungen, Predigten und Appelle einfach.

Mit langsamen, unbeholfenen Bewegungen wegen der schmerzenden Muskeln zog ich mir die blutigen, zerrissenen Sachen aus, während ich das Handy zwischen Wange und Schulter geklemmt hielt, und hin und wieder ein „Mhm“ murmelte.

„Angel! Verdammt! Hörst du uns überhaupt zu?!“ Robins Stimme drang allmählich wieder zu mir durch.

„Das ist einfach meine Sache, Robin. Lass es gut sein. Und du auch Tracey.“

Robin schäumte vor Wut. Aber ich ließ mich nicht belehren und legte einfach auf. Auf dem Weg ins Bad schaltete ich mein Handy aus und ließ es auf dem Nachttisch liegen. Morgen wäre immer noch ein genauso guter Tag, um mir die Sorgen meiner Freunde anzuhören.

Ich schloss die Badezimmertür hinter mir ab und stellte die Dusche an. Das heiße Wasser spülte Staub, Schmutz und Blut hinunter in den Abfluss. Zurück blieb nur mein geschundener, gebrochener Leib. Irgendwann mischten sich Tränen zu dem Wasser. Wie jeden Morgen, wenn ich zurückkam.


Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis ich mich wieder soweit beisammen hatte, dass ich das Bad verlassen konnte.

Mittlerweile klappte auch das Gehen wieder etwas besser, da mein Fuß schon heilte. Das war die Sache mit der Unsterblichkeit. Man heilte wahnsinnig schnell.

Ohne das Licht einzuschalten, durchquerte ich die Küche, neben Bad und Schlafzimmer der einzige, weitere Raum in dieser Wohnung. Alles hier war spärlich möbliert und besaß nichts Liebevolles. Er war rein zweckdienlich, ich verbrachte ohnehin nie viel Zeit hier. Für gewöhnlich wartete hier in der Küche immer … - Ich stutzte und drehte mich auf halbem Weg ins Schlafzimmer noch einmal um. Wo zum Teufel …?

„Ich finde nicht gut, was du da tust, Angel.“

Ach, da war sie ja.

Beruhigt drehte ich mich wieder um und erblickte sie im Türrahmen meines Zimmers. Die zarten, milchweißen Arme vor der schmalen Brust verschränkt. Das hübsche, ebenmäßige Gesicht zu einem verärgerten Ausdruck verzogen. Die himmelblauen Augen funkelnd. Ihre goldenen Locken fielen ihr in einem langen, geflochtenen Zopf über die Schulter bis zur Hüfte. Ein Engel, wie er im Buche stand.

„Dieser Ausdruck steht dir nicht, Marie“, sagte ich zu ihr, während ich weiter ins Schlafzimmer ging.

„Er ist aber gerechtfertigt“, brummte sie und blieb im Türrahmen stehen, während ich das Handtuch, das ich um mich geschlungen hatte, wegwarf und in meinem Schrank nach einem Shirt suchte. Mir war egal, dass Marie all die Blutergüsse, Schrammen und Kratzer sah, die meinen Körper verunstalteten. Narben zierten ihn unzählige. Da fielen ein paar Neue kaum auf.

„Geh schlafen“, murmelte ich, ohne sie anzusehen.

„Angel!“

Ihr aufgebrachter, wütender Ton ließ mich zu ihr blicken. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und die Arme in einer Geste von Wut und Ärger an den Seiten ausgestreckt. „Du musst aufhören mit diesem Selbstzerstörungstrip! Wirklich! Du bringst dich noch ins Grab damit!“

Ich stieß ein heiseres Lachen aus. „Na, da will ich ja auch hin.“

Ich wandte mich wieder meinem Schrank zu und fischte ein schwarzes T-Shirt heraus.

„Ich bin nicht bei dir, um deinen Untergang tatenlos mit anzusehen!“, schrie sie mich an. Dafür, dass sie so klein und zierlich war, hatte sie ein echt lautes Organ.

„Dann geh doch einfach wieder dahin, wo du hergekommen bist. Ich brauche dich hier nicht!“, konterte ich.

Das schien sie endlich etwas zu bremsen. Sie verstummte und ihr bittersüßer Ärger, der die Luft erfüllt hatte, verschwand mit einem Mal. Dann schluchzte sie und der salzige Geruch von Tränen erfüllte die Luft.

„Das kann ich nicht und das weißt du auch“, flüsterte sie. Ich verdrehte die Augen, ohne sie noch einmal anzusehen.

„Verdammt, Marie!“, zischte ich, „Lass mich doch einfach mein Ding machen. Ich habe nicht darum gebeten, dass du dich um mich kümmerst! Du bist zu mir gekommen und ich habe dir erlaubt zu bleiben. Es war deine Entscheidung, nicht meine. Also hör auf, mir zu sagen, was ich tun soll. Du hast überhaupt keine Ahnung, was in mir vorgeht, also versuche nicht noch einmal, dir ein Urteil über mich zu bilden.“

Meine Stimme klang härter und kälter, als ich es beabsichtigt hatte, aber das war im Grunde auch egal. Denn es war wahr, was ich sagte und das wusste sie. Niemand hatte Marie gebeten, bei mir zu sein. Sie hatte es sich so ausgesucht. Ich hatte es ihr lediglich gestattet. Damals erschien es mir praktisch, da ihr süßer Geruch und ihre himmlische Präsenz Claude zusätzlich verwirrte. Mittlerweile bereute ich diese Entscheidung manchmal ... Eine lange Zeit vernahm ich nichts als Stille. Ich zog mich an und schlug mein Bett auf. Unwillkürlich fiel mein Blick dabei auf die kleine, schwarze Schachtel, die seit Jahren unangetastet auf meinem Nachttisch stand. Sofort wurde mein Herz schwer und der Schmerz in meiner Brust raubte mir den Atem. Ich versuchte ihn herunterzuschlucken, aber natürlich gelang es nicht. Das tat es nie.

Meine Finger griffen fester um den Holzrahmen meines Bettes, bis das Ding protestierend knackte. Ich durfte die Erinnerung nicht zulassen. Ich durfte nicht wieder in dieses bodenlose Loch stürzen. Gott, bitte nicht noch einmal!

„Er hat dein Flehen gehört. Deshalb bin ich hier.“

Ich fuhr herum und starrte in dieses unschuldige Himmelblau. Marie stand direkt an meiner Seite. Nein, jetzt nicht mehr Marie. Mariel, der Engel.

Ein sanfter Lichtschimmer umgab sie. Ein tiefes, inneres Leuchten, das den ganzen Raum mit Wärme füllte. Sie sah mir fest in die Augen und ich hatte das Gefühl, das sie bis auf meine hässliche, tote Seele sehen konnte.

„Der Schmerz in deinem Herzen ist so groß, aber du teilst dein Leid mit niemandem. Wenn du dir nur helfen lassen würdest, könnte es dir sehr viel besser gehen. Du bist nicht so allein, wie du es dir einredest. Um dich sind Viele, die dich lieben und dir helfen wollen. Ich zum Beispiel.“ Ihre sanfte Stimme, hell und klar wie der Himmel selbst, klang tief in meinem Inneren wider. Mir stockte der Atem. Aber dann vertrieb meine innere Finsternis ihr Licht. Niemand konnte mir helfen. Niemand ...

„Geh“, zischte ich leise. „Lass mich endlich in Ruhe.“

Mariels Licht erlosch. Ihr Blick wurde traurig, so traurig, dass es mir einen Stich ins Herz versetzte. Aber sie ging und außer die wage Erinnerung an Rosenduft ließ sie nichts zurück. Den Schrei, der mir in der Kehle steckte, konnte ich nur mit Mühe niederringen. Ich hasste es, wenn sie das tat. Sie stieß damit jedes Mal eine Tür in mir auf, die ich nur mit Mühe wieder zu werfen konnte. Es war so unsagbar unfair!

Warum hatte er das sagen müssen? Warum hatte der einzige Mann auf dieser Welt, dem ich willentlich mein Herz schenkte, mir nicht geglaubt? Er war der Vater meines Kindes, da gab es keinen Zweifel. Und dennoch hatte er mich fortgeschickt. Mir nicht einmal geglaubt ... Es tat schrecklich weh. Ich ging um das Bett herum und setzte mich auf die Matratze. Mein Blick ruhte auf der Schachtel. Sanft strichen meine Fingerspitzen über den Deckel des rauen Holzes. Ich hatte nie den Mut gehabt, es zu öffnen. Nicht seit dem Tag, als Tony in der Tür stand und es mir gab.

Ich streckte mich auf dem Bett aus und holte das Kästchen zu mir. Oft lag ich tagelang wach und starrte diese Schachtel an. Malte mir wieder und wieder den Moment aus, an dem ich es in Iras Beisein geöffnet hätte, wäre er wie geplant heimgekommen. Aber es war alles in einer Katastrophe geendet. Und ich quälte mich Tag für Tag mit diesen Bildern, bis mein Herz blutete und ich nicht mehr atmen konnte. Oft schlief ich über Wochen nicht, aber ich redete nicht darüber. Mit niemandem. Weder mit meiner Schwester im Geiste noch sonst irgendwem. Und schon gar nicht mit diesem Möchtegern-Schutzengel! Marie machte mich mit ihrer dauernden Freundlichkeit und ihrer naiven Art ständig wütend. Umbringen konnte ich mich nicht. Sterben konnte ich nicht. Nicht einmal verhungern.

Wenn ich je verhindern wollte, dass Claude dem Schmerz in mir eine andere Bedeutung beimaß, musste ich dafür sorgen, dass mein Körper taub blieb. Geschwächt und ausgezehrt von Hunger und Schmerz. Nur die seelische und körperliche Qual blieb mir. Seit der Trennung von Ira hatte ich mich nicht mehr genährt. Mein Körper war dünn und schwach geworden. Der ständige Mangel zehrte ihn langsam aus. Irgendwann würde er ein Stadium erreichen, indem ich mich nicht mehr bewegen konnte und, bei wachem Geist, vor mich hin vegetieren würde. So, wie Ira damals in der Höhle, aus der ich ihn befreit hatte. Ein leises Geräusch ließ mich aufhorchen. Ein Krächzen. Müde und traurig.

Ein Lächeln huschte über meine Lippen, als ich aufstand, zurück zu meinem Schrank ging und die andere Tür öffnete. Die, hinter der sich keine Kleider befanden. Nur ein Käfig.

Pechschwarze, kluge Augen starrten mich an, als ich mich hinhockte, um mit ihm auf einer Höhe zu sein.

„Na? Wie war dein Tag?“, raunte ich und betrachtete den reglos dasitzenden Vogel. Seine schwarzen Federn verschlangen das Licht. Wie ein sternenloser Himmel. Endlos und ohne Hoffnung. Wieder ein leises Krächzen. Mürrisch, fast ein Schnauben.

Ich lachte leise und legte den Kopf auf die Seite. „Ja, ich weiß genau, was du meinst. Mein Tag war nicht besser, glaub mir.“

Claude legte den Kopf etwas auf die Seite. In seinen Augen flammte ein Zorn, den ich nur allzu gut kannte. Der nur mir allein galt.

Er hasste mich, mein geliebter, verabscheuter Wächter. Aber ich war ja schließlich auch der Grund, warum er in diesem Käfig hockte. Eingesperrt in eine Gestalt, in der er nichts weiter war, als ein übergroßer, kluger Vogel.

„Hasse mich ruhig, Claude. Du hast allen Grund dazu ...“

Sein schwarzer Blick verfolgte mich stumm, als ich aufstand und die Schranktüre schloss. Durch die zugezogenen Samtvorhänge fiel ein schmaler Streifen Morgenröte. Von ganz allein gingen meine Füße hinüber und ich warf einen Blick hinaus. Der heraufziehende Tag verdrängte die Nacht, das Licht den Schatten. Nur der Schrecken der Dunkelheit, die Angst und der Schmerz blieben. Mein Blick wanderte aufwärts. Hinauf zu der blasssilbernen Scheibe des fast vollen Mondes. „Heute Nacht, mein alter Freund“, murmelte ich und in meinen Augen glommen goldene Funken, „Heute Nacht.“


*


Wieder Dunkelheit.

Claude krächzte verärgert und zog den Kopf tiefer zwischen die schwarzen Schwingen. Ihm war kalt, obwohl ihn sein Gefieder gut isolierte. In seinem Teil des Kleiderschrankes war es tatsächlich nicht mal besonders kalt, aber es war nicht die weltliche Kälte, die ihn frieren ließ ... Es war ihre. Er konnte sie spüren, als stünde sie neben ihm. Traurig und so erschöpft. In Angel lauerte eine Kälte, die alles zu erfrieren drohte.

Wenn er sich nicht ganz täuschte, war sie mittlerweile eingeschlafen. Er fühlte ihre Müdigkeit in den Knochen. Näher konnte er nicht heran. Nicht, solange er in diesem verdammten Käfig saß, in den Belial ihn für sie gesperrt hatte. Dieser Verräter! Sollte er jemals wieder seinen menschlichen Körper und die Freiheit zurückerlangen, würde er es Belial heimzahlen! Jeden verfluchten Tag, den er in dieser Gestalt verbringen musste! Siebenfach! Und ihr auch …

Seit er zurückdenken konnte, tat er nichts anderes, als ihr durch diese Welt zu folgen und sie vor allem zu beschützen, was ihr drohte. Oh, bei allen Sieben Höllen, und das war einiges! Was hatte er nicht schon alles Grausames tun müssen, um sie zu beschützen.

Sie, die sie sein Fluch war ...

Wut blitzte in seinen nachtschwarzen Rabenaugen auf. Er hasste sie so sehr ... und liebte sie mit jeder Faser seines Körpers. Und das Wissen darum, dass seine vollkommene Liebe zu ihr nur ein Teil seines Fluchs war, machte es nicht unbedingt leichter. Er war zu ihrem Wächter gemacht worden. Von Ihm. Als Strafe für sein boshaftes, maßloses Treiben vor unbestimmter Zeit.

Er kettete den Magier, der er einstmals gewesen war, an dieses gottlose, grausame Geschöpf mit dem Engelsgesicht und verband sie in allem, was sie waren. Er spürte alles, was sie tat. Wusste, was sie fühlte und dachte. Spürte jeden anderen Kerl, der sich mit ihr vergnügte.

Und am Deutlichsten aber spürte er ihren Schmerz. Seit sie ihn fortgeschickt hatte, verbannt in die Gestalt eines Raben, quälte sie sich Tag für Tag.

Oh, er wusste nur zu gut, dass sie bei jedem Kerl, den sie mit sich nahm, nur an ihn dachte. Sie wusste, dass er es spürte und sie wusste ganz genau, wie weh ihm das tat! Sie tat es nur, um ihn zu verletzen. Aber er war ihr darum nicht böse. Diesen Hass hatte er wahrlich verdient ...

Jedes Mal, wenn er sein Spiegelbild in ihren Augen sah, erinnerte er sich daran.

Wenig von seiner ursprünglichen Kraft war ihm noch geblieben. Der Rest an Magie, die er noch besaß, reichte gerade so, um zu überleben.

Und trotz allem konnte er nicht von ihrer Seite weichen. Jedes Mal, wenn er sie sah, wurde es warm um die Stelle, an der sein Herz saß.

Er liebte die Art, wie sie sich bewegte. Er liebte ihr pechschwarzes Haar und ihre perlweiße Haut.

Nur allzu gut erinnerte er sich an das Gefühl dieser zarten, weißen Haut unter seinen Fingern. Er erinnerte sich, wie sie schmeckte ... wie sie sich anfühlte ... wie sie roch.

All das machte sein Leid nur noch schlimmer. Er hatte es sich schon vor so vielen, vielen Jahren mit ihr verdorben.

Er musste sie damals alles vergessen lassen. Es war zwingend notwendig gewesen. Sonst hätte er sie für immer an den Wahnsinn verloren.

Er hatte einen großen Teil seiner unsterblichen Seele und seiner Macht opfern müssen, um sie ihrer vielen tausend Jahre Erinnerung zu berauben. Aber es war damals der einzige Weg gewesen, sie vor sich selbst zu retten. Denn das war der einzig wirkliche Feind, den sie hatte: sich selbst. Und das, was nun wieder in ihr schlummerte. Er wusste, dass der Wahnsinn ihrer Seele immer noch in ihr war und das er immer da sein würde. Kein Zauber, den er wirkte, würde das jemals ändern können.

Er spürte es, jedes Mal, wenn sie tötete. Wenn sie die Gestalten wechselte. Wenn sie jede Vollmondnacht im Blutrausch an der Grenze zum Abgrund wandelte ...


*


Der Atem meiner Bestie ging schwer und rasselnd. Ich bekam kaum Luft, als ich nach vollendeter Wandlung auf dem Asphalt lag.

Hier war die Grenze!, dachte ich, als ich zum wiederholten Male aufzustehen versuchte und kläglich scheiterte. Der nächste Vollmond wäre mein Letzter. Die Kraft meines unsterblichen Körpers war restlos erschöpft. Wer hätte das gedacht. Auch Unsterbliche konnten also sterben …

Mein Blick verschwamm, als ich mich rein durch schiere Willenskraft zum Aufstehen zwang.

Ich bin der einzige, unsterbliche Werwolf auf diesem gottverdammten Planeten!, fluchte ich innerlich, Ich werde ja wohl noch laufen können!

Meine Klauen gruben sich in den Boden, als ich die Zähne fletschte und aufstand. Na komm schon, Körper … Einen letzten Tanz noch.

Ein Brüllen löste sich aus meiner Kehle, als ich mich anspannte und sprang. Das Garagendach war keine Hürde. Selbst jetzt nicht. Die Nacht hatte mich wieder! Mordlust keimte in meinem Herzen auf, als ich auf die Straße hinunterblickte, und überlagerte die Erschöpfung. Ich würde jagen! Ich würde töten! Und nicht einmal mein eigener Hunger würde mich davon abhalten! Nicht heute Nacht! Meinen mächtigen Wolfskörper auf die Hinterläufe aufrichtend, stimmte ich ein schrilles, lautes Heulen an, das noch weithin hörbar war. Ein Artgenosse antwortete und ich folgte seinem Ruf, hatte ihn erkannt. Mein Rudel traf sich etwas außerhalb der Stadt. Die Lande rund um London waren voll mit Schafen, Rindern und unachtsamen Touristen, die wir zu Tode hetzen konnten.

In stiller, heiterer Vorfreude rannte ich durch die Straßen. Nichts hielt mich auf. Niemand sah mich. Ich war ein lebendiger Schatten, gerade einmal ein kalter Windhauch, der durch ein offenes Fenster strich.

Der raue Kies eines Hinterhofs riss mir die Pfoten auf, als ich schlitternd bremste. Ich hatte etwas gesehen. Dort, in einer Seitenstrasse. Unbedacht und so leicht zu entdecken. Wie unvorsichtig. Aber das konnte nur er sein … Er …

Ein schmatzendes, nasses Geräusch, als seine Zähne einen großen Brocken Fleisch aus dem Oberschenkel seines Opfers rissen. Blut bildete einen schimmernden Teich um seinen hellgrauen, fast aschfahlen Leib. Muskeln, hart, wie Drahtseile und eine Kraft versprechend, die einem Teufel ebenbürtig war. Meine Kehle verließ ein Grollen, dass sein Name war.

Sein Kopf schnellte herum und in dem mondlichtfarbenen Fell glänzte rotes Blut. Doch nichts vermochte die grausame Schönheit dieser Höllenkreatur zu entstellen. Erkennen ließ ihn die Augen weiten. Rote Augen, glühend und heiß, wie Kohlen. Er fuhr herum und knurrte leise. Seine ausgreifenden Sätze würden ihn schnell zu mir getragen haben …


Kapitel II


Bald würde es schneien, dachte Raphael bei sich und warf einen Blick hinauf in den wolkenlosen Himmel. Er und Michael saßen in einem kleinen, aber sehr exklusiven Café in der Londoner Innenstadt. Zwischen ihnen auf dem kleinen Tisch aus Naturstein stand ein üppiges Frühstück. Croissants, Champagner, Erdbeeren … Alles, was das verwöhnte Erzengel-Herz begehrte. Aber immerhin war heute ein besonderer Tag. Es gab etwas zu feiern! Denn heute hatte der himmlische Rat ihm und ihm allein die Befehlsgewalt übertragen. Er war nun nicht mehr nur der Führer der himmlischen Heerscharen, sondern auch Herrscher über den gesamten Himmel. Zwar war dies nur eine vorübergehende Maßnahme, doch hatte Raphael keinesfalls vor diesen Posten wieder abzugeben. Ganz im Gegenteil.

Wenn sein Plan erstmal erfolgreich abgeschlossen war, würde die Position des „Gottes“ für alle Ewigkeiten ihm gehören.

„Sag, mein lieber Michael, was hältst du von der heutigen Tageszeitung, hm?“

Raphael schob seinem Freund eine der irdischen Morgenzeitungen über den Tisch. Es war dabei völlig egal gewesen, welche Zeitung er vorhin am Kiosk gegenüber erwarb. Jedes Titelblatt zierte heute das gleiche, verschwommene Bild. Auf Michaels groben, aber dennoch nicht unschönen Gesicht, zeigte sich ein Lächeln. „Da hast du dich aber mal wieder selbst übertroffen“, grinste der rothaarige Erzengel, „Wie hast du denn ein Foto von der Ersten bekommen? Lagst du selbst auf der Lauer oder hast du jemanden bezahlt?“

Raphael seufzte und machte gleichzeitig eine wegwerfende Handbewegung. „Als wenn ich mich selbst des Nachts auf irgendeine Mauer hocken würde. Nein, mein treuer Diener Raziel hat das für mich übernommen. Du kennst ihn sicher noch aus seiner Ausbildung. Er war einer der Besten, weshalb er ja auch nun zu meiner Garde gehört. Der Junge hat ganze Arbeit geleistet.“

Michael lachte. „Ja, ich erinnere mich an ihn. Das war wirklich ein geschickter Schachzug. Nun muss der Rat der Dämonen sich mit ihr und diesem Problem befassen. Was glaubst du? Werden sie ihr auf die Schliche kommen? Und es uns wohlmöglich noch einfacher machen?“

Raphael wiegte leicht den Kopf. „Das ist mein Plan, aber da diese hinterwäldlerischen Kreaturen so schwer einzuschätzen sind, rechne ich nicht unbedingt damit. Aber dafür habe ich ja Mariel. Sie ist meine Trumpfkarte. Sobald sie den Herrn der Schatten von ihr getrennt hat, wird es uns ein Leichtes sein, die Schwestern zu töten und zurück in den Himmel zu holen. Ach, wo wir gerade dabei sind: Wie steht es um die Fertigstellung ihrer Gefäße?“

Der andere Engel verlagerte sein Gewicht und schlug die Beine übereinander. In seinem schwarzen Anzug mit dem offenen, roten Seidenhemd sah er aus, wie ein irdischer Kredithai. Die dunkle Sonnenbrille tat ihr Übriges dazu.

„Die Konstruktionen sind fast abgeschlossen. Gerade heute, bevor ich mich mit dir traf, informierte man mich, dass die letzte Kristallschicht aufgetragen wird. Ich denke, spätestens in sieben Tagen sind die Gefäße fertig. Und stark genug, um die Seelen der Schwestern bis in alle Ewigkeit gefangen zu halten.“

Herrlich!, dachte Raphael und lehnte sich zurück. Sein ganzer Körper kribbelte in stiller Vorfreude. All seine so wohl geschmiedeten Pläne gingen auf. Er hob die Hand und winkte eine Kellnerin heran, um noch mehr Champagner zu bestellen.


*


Ich erwachte in einem warmen Raum. Das Geräusch eines kleinen Kaminfeuers kitzelte meine Ohren und mein müder Körper war in weiche, warme Wolldecken gewickelt. Es roch nach Sandelholz und Bergamotte. Begleitet von dem zarten Duft des Todes. Da war jemanden bei mir. Wer war das?

Langsam versuchte ich, die Augen zu öffnen. Das Licht war gedämpft. Lediglich das Feuer und ein paar Kerzen vertrieben die Schatten. Das machte es meinen Augen wesentlich angenehmer.

„Ahh ...“, hörte ich es neben mir, dann das Rascheln von Kleidung und Stoff, „Du bist wach. Schön.“

Ein warmer Körper kniete neben mir und ich wandte den Kopf. Nur um in eiskalte, blaue Augen zu sehen. „Connor!“

Mein Schrei gellte durch den Raum. Reflexartig versuchte ich aufzuspringen, um davonzulaufen, doch ich kam nicht weit. Mein Brustkorb wurde mit der Gewalt eines Lastwagens zurück auf das Sofa gepresst.

„Nicht so schnell.“

In seiner Stimme lag ein warnender Unterton, dunkel und tief genug, um mich tatsächlich innehalten zu lassen. Connor musterte mich mit diesen bitterkalten, wunderschönen Augen. Lange und schweigend, bis schließlich ein schmales Lächeln seine Züge weicher werden ließ.

„Mir scheint, du bist wieder da.“

Ich verstand kein Wort. Aber das war auch völlig egal. Ich musste hier weg!

„Bitte sag nicht, dass du mich mit zu euch genommen hast“, sagte ich leise und meine Stimme war rau. Connors Lächeln wurde schief.

„Doch.“

Ich fluchte und versuchte all die Bilder von Schmerzen und Monstern, die meinen Kopf fluteten, zu verdrängen. Gott sei es gedankt, konnte ich in meinem erschöpften Zustand kaum klar denken und das hielt auch die Panik fern.

Langsam versuchte ich mich erneut aufzusetzen, aber Connors Hand drückte mich wieder zurück.

„Das würde ich an deiner Stelle lieber noch lassen.“

„Lass mich aufstehen, Connor! Ich will gehen!“

Er schnaubte verächtlich, ließ mich aber los. „Du hast wirklich keine Ahnung, was letzte Nacht passiert ist, oder?“ Kommentarlos sank ich zurück in die Kissen.

„Natürlich. Es war Vollmond und ich … “

Erschrocken verstummte ich, als ich feststellte, dass ich mich nicht erinnern konnte. Ich konnte mich nicht erinnern!

Blinde Panik schnürte mir die Kehle zu, als die Vergangenheit ihre Klauen nach mir ausstreckte. Das Rascheln von Papier drang an meine Ohren und plötzlich tauchte eine Tageszeitung vor mir auf. Das große Titelbild war rot. Blutrot und dunkel. In den blutigen Resten schimmerte rosa der Morgen.

Das völlig aus dem Zusammenhang gerissene Bild zog mich aus dem Strudel der Angst, in den ich zu geraten drohte. „Was …?“, fragte ich verwirrt und sah Connor an.

„Das warst du. Heute Morgen, um genau zu sein. Längst nach Dämmerung, wie du sicher sehen wirst. Ich finde ja, sie haben dich ganz hervorragend getroffen, nicht?“

Der Sarkasmus in seiner Stimme entging mir gänzlich, als ich das Bild erneut anstarrte und erst jetzt begriff, was genau ich mir da ansah. In den Schatten zwischen zwei Häusern glühten goldene Sterne, blicklos und wild. Ohne Verstand. Sie saßen im Kopf eines … Monsters.

Anders konnte ich die Kreatur nicht beschreiben, die dort schemenhaft hockte, über und über mit menschlichem Blut befleckt.


„Höllenhunde terrorisieren London!“


Die Schlagzeile brannte sich unwiderruflich in mein Hirn. Und die Wahrheit, die sich dahinter verbarg, war so grausam, dass sich mein Verstand schier weigerte, sie zu verstehen.

Das war ich.

Ich hatte die Kontrolle verloren.

Ich war zu diesem Monster geworden …

„Ich musste dich niederschlagen, damit du zur Besinnung kamst.“ Connors ernste, leise Stimme schnitt hart durch das Entsetzen in meinem Inneren.

„Du kannst von Glück sagen, dass ich da war und das wir uns nicht bei Sonnenaufgang zurückverwandeln, wie ihr. Du hast völlig den Verstand verloren, als du mich in der Gasse entdeckt hast.“

Er streckte den Arm aus und wies auf einen Haufen blutverschmierter Handtücher neben der Tür. Offenbar hatte ich ihn schwer verletzt. Zu sehen war von dieser Wunde nun nichts mehr. Dafür heilten Warge viel zu schnell.

„Du hast mich halb in Stücke gerissen, bevor ich dich außer Gefecht setzen konnte. Wärst du nicht so blind vor Mordlust gewesen, wäre es mir vermutlich gar nicht gelungen. Leider hast du vorher noch ein ganz schönes Massaker mit meinem Abendessen veranstaltet. Den Fotografen habe ich leider nicht einmal gesehen. Heutzutage hat ja aber auch jeder Depp ein Fotohandy. Schrecklich diese Technik. Als du dich verwandelt hattest, habe ich dich hierher gebracht, weil ich nicht wusste, wohin mit dir. Und liegenlassen konnte ich dich ja schlecht.“

Vollkommen verwirrt starrte ich ihn an, während mein Gehirn sich darum bemühte, seinen Worten einen Sinn abzuringen. Er hatte dafür gesorgt, dass ich keinen größeren Schaden anrichtete. Und mich davor bewahrt, von den Menschen entdeckt zu werden. Obwohl ich ihn verletzt hatte, hatte er mich mit hierher genommen.

„Wo sind wir hier?“, fragte ich ihn, als ich bemerkte, dass sonst niemand hier war. Connor lehnte sich zurück auf seine Fersen.

„Das hier ist meine Wohnung. Meine ganz private. Du musst dir also keine Sorgen machen, dass Ira gleich hereinplatzt. Er weiß nichts hiervon.“ Er hob die Schultern. „Wir haben also sturmfrei!“ Er grinste wie ein Teenager, der im elternfreien Haus eine Riesen-Party schmeißen wollte. Ich musste unwillkürlich lächeln. Von der Erleichterung, die mein Herz überflutete, ganz zu schweigen. Ira würde ich hier jedenfalls nicht begegnen, wenn Connor mich nicht anlog. Ira …

„Ich habe dich für ihn gehalten. Dort in der Gasse ...“, murmelte ich, kaum hörbar. Connor stieß in einem Seufzen die Luft aus. „Das erklärt wohl einiges.“

In einer schwungvollen, kräftigen Bewegung erhob er sich wieder auf die Füße. „Da du ja jetzt wach bist, werde ich mich auf die Suche nach etwas zu Essen für dich machen. Leider wirst du erst einmal mit normalem Essen vorlieb nehmen müssen, da es bereits Tag ist, aber bei Einbruch der Dunkelheit … “

Ich unterbrach ihn. „Danke. Aber ... Ich komme schon zurecht.“

Connor sah mich mit erhobener Augenbraue an. „So?“

Ich nickte leicht. Connor kam zu mir zurück und musterte mich eindringlich.

„Ich werde gleich wieder verschwinden. Gib mir noch eine halbe Stunde, bis mein Kopf aufgehört hat, sich zu drehen. Und vielleicht was zum Anziehen“, erklärte ich ihm. Connors Augenbrauen schnellten in die Höhe und ich hörte wie er scharf die Luft einsog. Es dauerte einen Moment, ehe er antwortete. „Nein.“

Sein Tonfall erlaubte eindeutig keinen Widerspruch. Mein Blick wurde sofort finster.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass es deine Entscheidung ist. Ich kann machen, was ich will.“

Connor schnaubte abfällig. „Ach hör doch auf! Du kannst ja kaum alleine stehen! Geschweige denn den nächsten Vollmond überleben, so ausgehungert, wie du bist. Du willst mir doch nicht erzählen, dass du noch die Kraft hast die Verwandlung zu überstehen!“

Ich senkte schnell den Blick, als er das sagte. Zorn wich Scham und Angst. Er hatte recht und das wusste ich. Wenn ich wieder die Beherrschung verlor, war es diesmal vielleicht für immer.

„Wie lange hast du dich schon nicht mehr genährt, hm? Drei Wochen? Für deine Art ist das pure Folter! Und so wie du aussiehst, isst du auch sonst nichts. Verdammt! Du wirst hier bleiben und ich werde dafür sorgen, dass du wieder auf die Füße kommst!“

Verdattert starrte ich ihn an. Was wollte er? Ausgerechnet er wollte mich pflegen? Das konnte nicht sein Ernst sein!

„Connor, das geht nicht!“, wandte ich ein und hob die Hände in einer ziemlich hilflos wirkenden Geste.

„Und wie das geht!“, zischte er, „Was ist mit deinem Wächter? Rufe ihn. Er kann dich nähren. Sein Blut ist so stark, dass es dich in null Komma nichts wieder auf die Beine bringt.“

Ich keuchte, als mir die Erinnerung an Claudes Blick den Atem nahm. Die Erinnerung an seinen Schmerz. Das schlechte Gewissen, das mich plagte, weil ich ihn verstoßen hatte. Auch, wenn er etwas Schreckliches getan hatte. Er war mein Wächter, ein Teil von mir. Der verborgen vor der Welt in einem Käfig in meinem Kleiderschrank vegetierte.

„Nicht hier“, hauchte ich und schlang die Decke enger um meinen Körper.

Connors prüfenden Blick konnte ich nur zu deutlich auf mir spüren, auch, wenn ich ihn nicht sah. Er überlegte, was er tun sollte. Genau, wie ich.

Was er sagte, stimmte. Nährte ich mich nur ein einziges Mal von Claude, wären die Schäden an meinem Körper in kürzester Zeit behoben. Ich hätte die Kraft für den Vollmond. Aber ... konnte ich es riskieren? Konnte ich ihn befreien, ohne Melody in Gefahr zu bringen in Gefahr zu bringen? Connors Seufzen holte mich in der Realität zurück. „Überleg dir, was du tun willst. Ich gehe jetzt in die Küche und mache dir was zu essen.“

Ohne ein weiteres Wort fuhr er herum und verschwand durch eine Tür mir gegenüber. Nur Sekunden später hörte ich das Klirren von Geschirr. Gedankenverloren starrte ich vor mich hin. Wieder und wieder durchlebte ich die letzten Tage, bevor sich mein Leben in das totale Chaos verwandelt hatte. Erst Claude, der, zerfressen von seinem Fluch, seine Gier nach mir nicht im Zaum halten konnte und nur kurze Zeit später Ira, der mich verstieß. Dabei liebte ich sie beide ...


Das Geräusch eines Schlüssels, der ins Schloss geschoben und herumgedreht wurde, riss mich aus meiner Erstarrung. Kerzengerade richtete ich mich auf. Es kam noch jemand! Aber Connor hatte doch gesagt, dass sonst niemand …

„Connor! Alter! Bist du hier? Ich suche dich schon überall. Verdammt ich komm noch um vor Hunger! Gehst du mit mir aus? Ira ist immer noch, wie besessen von - Ah, verdammt!“

Duncan schlug sich beide Hände vor die Nase, als er das Wohnzimmer betrat. Er erstarrte, als er mich auf dem Sofa sitzen sah. Nackt, wie mir erst in diesem Moment wirklich bewusst wurde. Lediglich in eine Wolldecke gewickelt.

„Angel!“, keuchte er, die Augen voll Entsetzen geweitet. Connors blonder Schopf erschien in der Küchentür. Kurz schwenkte sein Blick zwischen Duncan und mir hin und her. Dann aber grinste er. „Ich begleite dich, Dun. Moment noch.“

Connor verschwand wieder in der Küche, während Duncan seinen Blick nicht von mir abwenden konnte. Immer noch hielt er sich die Nase zu, als könne er meinen Geruch kaum ertragen. Aber was hatte er gesagt? Er war hungrig. Kein Wunder also, dass ihm der Geruch einer Unsterblichen das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ.

„Angel, was zum Teufel machst du hier?“

Nicht einen Schritt kam er näher. Ganz im Gegenteil machte er sogar noch einen zurück. In seinen blassgrauen Augen glommen goldene Funken. Der Hunger nagte an ihm und scheinbar traute er sogar seiner Selbstbeherrschung nicht, mir zu nahe zu kommen.

„Connor hat mich letzte Nacht hergebracht.“

„Nicht um sie zu fressen!“, schallte es aus der Küche.

Ich verdrehte nur die Augen und auch Duncan schmunzelte, wurde aber sofort wieder ernst. „Du weißt schon, dass er dich immer noch … “

Harsch fiel ich ihm ins Wort, als er im Begriff war, mich an Dinge zu erinnern, an die ich nie wieder denken wollte.

„Kein Wort über ihn, Duncan! Das ist vorbei.“

Jetzt sanken seine Augenbrauen so tief in seine Stirn, dass sie sich fast trafen. Abrupt wandte er sich zur Küche und bellte hinein: „Ich warte im Club auf dich. Lass dir nicht zu viel Zeit dabei sie zu vögeln!“

Und damit rauschte er aus der Wohnung. Sprachlos starrte ich ihm hinterher. Dachte Duncan wirklich, Connor hätte etwas mit mir? Nur einen Augenblick später kam Connor aus der Küche und trug einen Teller mit einem gewaltigen Stapel Sandwiches vor sich her. Geräuschvoll stellte er ihn auf den Tisch vor mir ab und setzte sich dann an meine Seite.

„Essen“, sagte er und deutete auf die belegten Brote, „Und zwar alle.“

Gehorsam nahm ich eines der Sandwiches auf und biss hinein. Der köstliche Geschmack von Käse, Mayonnaise und Gurke breitete sich in meinem Mund aus. Ich seufzte zufrieden. Erst als der Teller leer war, entspannte sich Connor etwas.

„Braves Mädchen“, feixte er und kassierte dafür einen Klaps in die Seite. „Woher wusste Duncan von der Wohnung? Sagtest du nicht, es wüsste niemand davon?“

Connor seufzte und lehnte sich zurück. „Ich sagte, Ira weiß nichts davon. Dun hat einen Schlüssel. Wir teilen uns die Räume. Wenn eine Krawatte am Türknauf hängt, haben wir Besuch.“

Ich nickte steif und versuchte die Bilder nicht zuzulassen, die sich gerade in meinem Kopf schleichen wollten.

Erst, als ich wieder zu ihm aufsah, fiel mir etwas auf. Tief verborgen in dem kontrollierten Blau seiner Iris erkannte ich die Zeichen seines Hungers. Die Verletzung und der Kampf gegen mich mussten ihn viel Kraft gekostet haben. Wenn das nicht eine willkommene Gelegenheit war. „Hungrig?“, zischte ich leise.

Connors kalte Augen weiteten sich, ehe er schnell den Blick abwandte. Einmal ertappt ließ er seinen Trieben nun aber freien Lauf. Ein erstickender, intensiver Geruch, schwer und süß, erfüllte die Luft. Er war so hungrig, dass es fast einem Wunder glich, wie ruhig er noch war. Seine Selbstkontrolle musste wirklich gewaltig sein.

„Du bist aber auch einfach zu verlockend“, knurrte er und dann bewegte er sich so schnell, dass ich nicht reagieren konnte, so erschöpft, wie ich war. Seine Hände packten meine Handgelenke und zwangen sie über meinen Kopf. Schwer lag sein schlanker Körper auf meinem und drückte mich in die Polster.

„Connor! Was soll das?“, entfuhr es mir, als ich begann, mich gegen ihn zu sträuben. Schnell jedoch merkte ich, dass es aussichtslos war. Ich war so erschöpft, dass ich schon nach wenigen Minuten nach Atem rang.

ANGEL

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