Читать книгу Vom Leben getötet - Tagebuch eines 14-17jährigen Mädchens - Band 130e in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - Liesbeth K. – Anonym (alias Grete Machan) - Страница 4
Vorbemerkungen des Herausgebers 1927
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Vorbemerkungen des Herausgebers 1927
Am 1. Juni 1924 starb die Schreiberin dieses Tagebuches kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag. Vielleicht ein Vierteljahr später fand die Mutter unter ihren Schulbüchern die vorliegenden Aufzeichnungen in einem schlichten Heft, so wie sie es in der Schule wohl für ihre Aufsätze gebraucht hatte. Nachdem die Mutter das Tagebuch gelesen, legte sie die Aufzeichnungen im Krankenhaus aus den letzten Wochen dazu und brachte das Ganze dem Lehrer ihrer noch schulpflichtigen Kinder in der Hoffnung, ihn zu überzeugen, dass ihr Kind unglücklich, aber nicht schlecht war. Sie wollte dadurch verhindern, dass der Ruf der älteren Schwester den jüngeren Kindern im Urteil der Schule schade. So wurde das Heft zunächst in einem engeren Kreise bekannt. Wenn wir es jetzt der Öffentlichkeit übergeben, so geschieht es aus der Überzeugung heraus, dass es als menschliches Dokument vereinzelt dasteht, und dass es eine Aufgabe zu erfüllen hat.
Als einmal von der Zukunft gesprochen wurde, soll die Schreiberin in leidenschaftlichem Ungestüm ausgerufen haben: „Ich möchte alles lernen und alles wissen, und dann möchte ich allen Menschen Gutes tun!“ Ob das ein unbewusstes Ahnen ihres Schicksals war? Sie hat ein tragisches Wissen empfangen aus Schuld und Sünde, und durch das Gnadengeschenk ihres Talentes konnte sie ihr eigenes Lebensopfer als Gabe darbieten, hoffentlich zur Rettung vieler.
Mehr als einmal wurde der Zweifel an der Echtheit des Buches laut. Ein Proletarierkind von vierzehn bis siebzehn Jahren könne unmöglich so schreiben! Man solle doch nur auf die feine Beobachtung, die Stimmung, das Einfühlen in die Natur, die wunderbare Darstellung der seelischen Entwicklung achten! Es sei das Werk eines Künstlers, nicht eines Kindes. Darauf lautet die Antwort, dass das Original bis auf das kleinste abgegriffene Zettelchen vorliegt, und dass uns eben nur der eine Schluss erlaubt ist: dieses Kind hatte eine gottbegnadete Künstlerseele. Wohl hat sie ihren Reichtum geahnt, aber nicht gewusst. Die Kraft zur Form war so gewaltig in ihr, dass sie nicht widerstehen konnte, und es ist erschütternd, wenn man die Zettelchen sieht, auf denen sie in den letzten Wochen ihres Lebens im Krankenhaus, immer tagebuchmäßig mit Datum, treu sachlich, ihre Eintragungen machte. Oft aber ist es nur ein einziger herzerschütternder Schrei ihrer armen gequälten Seele. Es sind alte, umgekehrte Briefumschläge, Postkarten, auf denen noch ein freies Plätzchen war, die weiße Rückseite eines Stickmusters, gerade beschrieben, wenn es ging, sonst quer und schräg und rund. Nirgends eine Andeutung, dass sie ihre Worte an bestimmte Personen richtet. Wohl hat sie das Heft zweimal in ihrem Leben hergegeben, einmal um sich das Vertrauen einer mütterlichen Freundin zu sichern, einmal um ihre junge Liebe zu retten. Es scheint nicht, dass sie sich etwas anderes beim Schreiben gedacht hat, als was sie einmal ausspricht, nämlich dass sie, wenn sie grau und alt sei, mit stiller Freude einmal wieder durch die Welt ihrer Jugend gehen könne. Freilich, den ersten Anstoß, das Heft zu schreiben, gab die Kränzchenregel der Haushaltschülerinnen, aber man merkt schon nach einigen Seiten, dass die Fortsetzung unter dem inneren Drang schöpferischen Könnens geschrieben ist.
Eine andere Frage lautet: Wie kommt dieses Kind aus dem Volke zu solchen Fähigkeiten? Die Schule hat ihr wenig gegeben, man nannte sie eine gute, nicht eine beste Schülerin, nur im Aufsatz hatte man ein Mehr festgestellt gegenüber den andern Kindern. Nach dem Bericht der Mutter bestand die Lektüre aus der nichtssagenden, vielfach oberflächlichen Backfischliteratur, harmlos und unschädlich, aber sicher kein erhebliches Bildungsmittel. Ihr Können ist also wohl in keiner Weise als etwas Erworbenes zu betrachten, sondern vielmehr als die Äußerung starker eigener Kraft. Man wundert sich über die Begabung nicht mehr, wenn man die Mutter kennt. Die im Tagebuch eingefügten Briefe der Mutter, die wörtlich den Originalen entsprechen, und auch die, welche die Mutter im letzten Jahre als Antwort auf Anfragen wegen ihrer Tochter schrieb, und die sämtlich vorliegen, kennzeichnen sie als eine intelligente Frau mit feinster Gemütsbildung. Auch sie hat nur die Volksschule besucht, eine sogenannte äußere Bildung irgendwelcher Art blieb ihr versagt, was jedoch im Umgang mit ihr in keiner Weise als Mangel hervortritt. Sie schrieb in einem Brief über ihre Tochter von sich: „Als ich jung war, stand ich auch oft vor Rätseln, und ist es nicht so, gerade den armen Menschen ist die Illusion und Sehnsucht nach allem Schönen angeboren, weil die Entbehrungen zu groß sind. Da häuft sich so vieles an, was man alles in wachen Träumen erlebt, weil es bei uns niemals in Wirklichkeit zu erreichen ist. Und das macht ja den armen Menschen das Leben schön, dieses Träumen, diese Illusionen; die Wirklichkeit ist so unbarmherzig, und die ist immer da, zu jeder Stunde. Ich habe in meiner Kindheit bis in die Ehe hinein viel in mir erlebt, was ich mit meinem Manne nie erleben konnte. Ich habe einen guten, nüchternen, praktischen Mann, der ehrgeizig seine Familie allein ernährt und brave Menschen aus seinen Kindern machen will. Aber Träume und Ideale, alles das, was ich in ... aus meiner Jugend wiederfand, das ist meinem Mann gänzlich fern ...“ Sie sieht in der Begabung ihres Kindes das glücklose Erbe ihres eigenen Vaters, der Arbeiter in einer Großstadt Mitteldeutschlands war. Er hatte zwölf Kinder zu versorgen. In seiner Freizeit, so erzählt seine Tochter, habe er stets geschrieben, und auf die Frage, was er denn aufgezeichnet habe, antwortete sie: „Er schrieb über alles, was groß und schön ist.“ Aber die Mutter habe später alle Papiere verbrannt. Das „später“ bezeichnete die Zeit, als er, gebrochen vom Zwiespalt des Lebens, nach einigen Jahren im Irrenhaus gestorben war. Die Tochter kannte das Geschick des Großvaters, und mehr als einmal hat sie die Angst ausgesprochen, dass sie ähnlich wie er am Leben zu Grunde gehen werde. Alle, die sie im Leben gekannt haben, bezeugen, dass ihr jüngstes Schwesterchen, von dessen Ankunft sie eine so wundervolle Skizze schreibt –, in jeder Hinsicht ihr Ebenbild sei. Jedenfalls äußern sich bei dem Kind heute schon Gaben, die auch ihr ein unendlich glücklicher Reichtum, aber ebenso leicht ein tragisches Schicksal werden können.
Eine weitere, wichtige Frage, die zugleich sehr schwer zu beantworten ist, lautet: Ist das Buch wahr? Wir müssen da unterscheiden. Das Tatsächliche in Bezug auf Menschen, Dinge, Ereignisse konnte bis auf einiges Wenige, das zudem auch kaum wichtig ist, nachgeprüft werden und erwies sich als durchaus echt. Die weiteren Fragen: Sagt sie alles? schmückt sie nicht aus? biegt sie die Tatsachen nicht zu ihren Gunsten um? sind nicht leicht zu beantworten, und eine restlose Klarheit in dieser Hinsicht ist für die einzelnen Tatsachen wohl auch zu entbehren. Wer die Tagebücher der Jungmädchen kennt, und wer die Jungmädchen kennt, die Tagebücher schreiben, der weiß, dass den Blättern trotz der Versicherung, dem verschwiegenen Freund alles anzuvertrauen, doch nicht alles gesagt wird. Wer wollte der Schreiberin daraus einen Vorwurf machen? Sodann schreibt sie so, wie sie selber ihr Leben schaut und erlebt, und das schließt selbstredend hie und da objektive Richtigkeit aus, gibt uns aber ein umso deutlicheres Bild des schauenden und erlebenden Menschen. Wer das Buch vom psychologischen Standpunkt aus würdigt, wird diese Punkte sicher berücksichtigen müssen. Wenn uns nun Menschen, die sie genau kannten, sagen, dass das Mädchen wahrhaftig und ehrlich war, und wenn wir feststellen, dass alles Tatsächliche in dem Buche stimmt, dann dürfen wir wohl annehmen, dass sie bewusst niemals täuschen, dass sie auch vor sich ihr Leben nicht fälschen wollte. Die Schilderungen, die sie z. B. von ihren Eltern, ihren Geschwistern, ihrem Heim gibt, die aus einer Seele stammen, welche durch Menschen und Dinge hindurch das Wesen schauen kann, entsprechen dennoch ganz und gar der Wirklichkeit, wenn auch wohl jeder, der das Heft las und dann das arme Häuschen sieht, sich zunächst nicht zurechtfinden kann, bis er einmal die Schilderungen und Berichte nachprüft und feststellt, dass er wirklich in ihrer Heimat steht, dass er sie aber durch ihre Kinder- und Künstleraugen schauen muss.
Oft wurde gefragt, ob das Mädchen nicht doch gefallen sei, und wenn, dann müsse man ihr aus dem Verschweigen doch den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit machen. Ganz abgesehen davon, dass eine moralische Verpflichtung zum Bekenntnis für sie nicht bestand, war es in ihrer Lage das Selbstverständliche und Natürliche, dass sie ein solches dem Buche nicht anvertraute. Die Schuld, deren sie sich wohl bewusst ist, und von der sie auch einige Wochen später in Verbindung mit der Klage über die für sie so unverständlich schwere Buße schreibt, war für sie die Tat einer leidenschaftlichen Stunde, aber nicht die eines oberflächlichen Leichtsinns; sie glaubte keinen Grund zu haben, an der ehrlichen Treue des Mannes, mit dem sie verlobt war, zu zweifeln. Erst als die Tat, losgelöst vom ersten Eindruck, für sie ganz und nur Schuld war, spricht sie davon. Ob der Mann in Wirklichkeit so war, wie ihre Liebe ihn darstellt, ließ sich nicht ermitteln.
Eine weitere Frage, die nach dem, was wir hier schon ausführten, vielleicht noch dunkler wird, lautet: Wie konnten die Eltern, wie konnte die Mutter das Kind in doch offensichtliche Gefahren hineingehen lassen? Als der Jugendrichter diese Frage stellte, hat die Mutter geantwortet: „Unser Kind war immer fleißig und gehorsam, sie hat von morgens bis abends für uns gearbeitet, da glaubten wir, ihr erlauben zu dürfen, bis 9 oder 10 Uhr mit ihren Bekannten spazieren zu gehen.“ In vertraulichem Gespräch gefragt, bekannte sie, dass sie erst durch das Geschick ihres Kindes die Gefahren und die Schlechtigkeit der Welt kennen gelernt habe. Bis zu ihrem achtzehnten Jahre habe sie unter der Aufsicht ihrer sehr energischen und religiösen Mutter schwer arbeiten müssen, während ihrer zweijährigen Verlobungszeit habe die Mutter zum Beispiel niemals erlaubt, dass sie mit ihrem Bräutigam allein spreche. Dann kam die Ehe mit dem ersten schweren Jahr des gegenseitigen Eingewöhnens. Als dann die Kinder kamen, sei Ihr ganzes Sinnen und Trachten durch die neue Aufgabe gefesselt worden. Sie habe niemals außer dem Hause ihre Freuden gesucht, und dann habe der Krieg ihre Lasten verdoppelt und ihr Leben damit noch mehr auf den engen Kreis ihrer Kinder beschränkt. Wenn sie ihrer Tochter Freiheiten gegeben habe, so sei sie darin auch dem allgemeinen Brauch in ihren Kreisen gefolgt, sie selber habe ja keine Erfahrung gehabt. Es sei aber auch ihr Wunsch gewesen, dass die Tochter sich bald verheirate; sie habe das Gefühl gehabt, dass das nach dem Erlebnis in Berlin eine Notwendigkeit gewesen sei, und sie wolle auch ruhig gestehen, dass sie ein wenig stolz war auf die für ihre Verhältnisse doch vornehmen Freier. Man habe ihr oft den Vorwurf gemacht, sie halte ihre Kinder für etwas Besonderes; sie wisse darauf nur zu sagen, dass sie sich in ihren Kreisen nicht heimisch gefühlt habe, dass sie nur unter den Ihrigen glücklich gewesen sei.
Wenn man auch kaum verstehen kann, dass die Eltern den Verkehr mit Mädchen zuließen, von denen sie wenigstens ahnten, dass sie schlecht waren, so haben sie eben einerseits nicht glauben können, dass ihr Kind sich verführen lasse, und anderseits war es eine übel angebrachte Gutmütigkeit und Leichtgläubigkeit. Der Schaden, durch den diese armen Eltern die Erziehungsweisheit für ihre übrigen Kinder erkaufen mussten, ist so unsagbar groß, dass er wohl ausreichen möchte, um auch andern Eltern und Führern die Augen zu öffnen.
Es war das Unglück des Mädchens, dass es durch die Reise nach Berlin, durch diesen Kinderstreich – von ähnlichen weiß wohl manche Geheimchronik aus besten Familien zu berichten, denen andere Mittel zur Verfügung standen als die Hilfe der Polizei, um ein Kind zu suchen und zu finden! – nachträglich sowohl bei der Polizei, die trotz aller Zeugnisse immer noch die Harmlosigkeit der Reise bezweifelte, als auch bei der Halbwelt bekannt geworden war. Als sie starb, stand sie wohl gerade an einem Wendepunkt, und es ist schwer zu sagen, ob sie von da an schnell in die Tiefe gezogen worden wäre, oder ob die Menschen, die ihren Charakter und ihre reiche Veranlagung kannten, bereit und fähig gewesen wären, ihr junges Leben zu retten.
Etwa zwei Wochen vor ihrem Tode sprach das Jugendgericht sie ihrem Elternhause zu in der Erkenntnis, dass sie keinesfalls zu den Verlorenen gehöre, und dass die Eltern Schutz und Aufsicht sein konnten. Die Verhandlungen waren ihr eine letzte seelische Qual. Sie betrachtete die amtlichen Frager als ihre Feinde, gegen die sie sich durch stolzes Schweigen wehren zu sollen glaubte. Eine Überführung ins Elternhaus konnte aber nicht sogleich stattfinden, da sie typhusverdächtig war. Als man dann einige Tage später erkannte, dass es sich nicht um eine ansteckende Krankheit handelte, brachte man sie den Eltern. Nach acht Tagen starb sie, am 1. Juni 1924.
An dem Original des Tagebuches wurde nichts geändert, natürlich mit Ausnahme sämtlicher Namen. Eine Verbesserung der Interpunktion und hie und da auch eines Schreibfehlers dürfte wohl nicht unter den Begriff Änderung fallen. Die Eltern gaben nur schweren Herzens ihre Zustimmung zur Veröffentlichung; aber wir glaubten ihnen die Versicherung geben zu dürfen, dass allen Lesern die Ehrfurcht vor der Schwere ihres Leides jedes ungütige und unnütze Fragen verbiete.
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