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Kapitel 1

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Ich, Milly Sievers, war wirklich beneidenswert. Zu diesem Schluss kam ich, als ich mich an einem Samstagnachmittag mal wieder im Anblick meines Schuhschranks verlor. Dort standen sie schön übereinander gestapelt. An die hundert Paar Schuhe, die mich nun schon seit geraumer Zeit abwechselnd durchs Leben trugen.

Ich bezeichnete diese Schuhe meinem Freund gegenüber mit einem Augenzwinkern gerne als Liebhaber, die ich allesamt in meinem Schrank versteckt hielt. Das Wunderbare an Schuhen war, dass sie genauso schön aussehen konnten wie Männer, mit dem Vorteil, dass sie einen nicht betrogen und das Herz brachen. Sie waren außerdem genauso schweigsam wie einige Vertreter der Spezies Mann und gaben einem in wichtigen Lebenssituationen Halt. Dem, der nun ruft: „Und was ist mit Sex?“, dem würde ich mit der Frage antworten, ob sich das Gefühl, in neuen High Heels von Manolo Blahnik zu stecken und dabei die ersten Strahlen des Sommers zu genießen, nicht mindestens genauso berauschend und euphorisierend anfühlen kann wie Bettspiele.

Sicher küssten Schuhe nicht, aber war es nicht ebenso himmlisch, das erste Mal in neue Schuhe zu schlüpfen und zu spüren, wie sie den eigenen Fuß umschlossen? Sozusagen die erste Kontaktaufnahme mit einer neuen Liebe. Durchaus vergleichbar mit einem Kuss oder einer innigen Umarmung.

Ich war also der Überzeugung, dass man auch ohne Partner im Leben sehr glücklich sein konnte, sofern man genügend Schuhe besaß. Jede Frau hatte im Durchschnitt dreißig Paar Schuhe zu Hause. Das hieß, Frau konnte sich mit über dreißig Liebhabern vergnügen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Vielleicht betete ich mir diese Sichtweise aber auch nur deswegen immer wieder vor, weil ich Angst hatte, meinen Freund an meine Rivalinnen zu verlieren. Doch zu diesen Damen komme ich später. Ja, ich hatte in der Tat seit sechs Jahren einen Freund, der mir trotz meiner großen Affinität zu Schuhen natürlich viel bedeutete. Er hieß Kai Bloom und war seines Zeichens Inhaber einer größeren Werbeagentur in Hamburg. Sie war unter dem Namen Bloom Relations Incorporated eingetragen.

Ich arbeitete als Verkäuferin in einem Schuhgeschäft und konnte mir keine lohnendere Arbeit vorstellen. Schließlich konnte ich dort meine Philosophie in Bezug auf Schuhe an die Kundschaft weitergeben.

Der Markt war voller attraktiver Schuhe, und ich beriet sowohl Frau als auch Mann in der Frage, welcher Schuh für sie der richtige war, sehr gerne. Ich denke, ich brauche nicht weiter auszuführen, dass ich dem Beruf meiner Träume nachging, auch wenn sich manchmal noch eine andere Fantasievorstellung in meine Gedankenwelt schlich. Wie wäre es, hatte ich schon oft gedacht, eine Kolumne für ein Modemagazin zu schreiben? Mit wenigen Worten deutlich mehr Leute erreichen und ihnen meine Faszination von Schuhen schildern zu können? Da ich jedoch kein Abitur hatte, waren die Aussichten auf einen solchen Job verhältnismäßig gering. Ich hatte schließlich „nur“ Einzelhandelskauffrau gelernt und noch kein Volontariat bei einer Zeitschrift absolviert. Aber wer wusste es schon, vielleicht würde mein Traum irgendwann Flügel bekommen, wenn es die Umstände und das Glück gut mit mir meinten.

Kai und ich lebten übrigens zusammen in der Hansestadt in einer größeren Wohnung an der Außenalster. Die Miete konnten wir natürlich nur aufbringen, weil die Geschäfte in Kais Agentur sehr gut liefen und er wirklich ein sehr talentierter Werbefachmann war.

Er wusste, dass ich eine relativ einfache Parabel auf das Leben anwendete: Ausnahmslos jeder Mensch ließ sich mit einem Schuh vergleichen. Mich selbst würde ich mit einem einfachen Ballerinaschuh gleichsetzen. Ich war nicht sonderlich auffällig, im Leben legte ich manchmal eine gewisse Bequemlichkeit an den Tag, ich liebte schlichte Eleganz und hob nicht allzu leicht vom Boden ab. Das erklärte auch, warum ich mich nicht als High Heel oder als Schuh mit Plateausohle betrachtete.

In der Liebe hatte diese Parabel aus meiner Sicht ebenfalls ihre Berechtigung. War es nicht so, dass nur wenige Frauen das Glück hatten, Schuhe zu finden, die ihnen ein Leben erhalten blieben und ein gutes Gefühl vermittelten? So manche Frau würde doch auch ihren Mann nach einem Sommer nur allzu gerne wieder umtauschen, wie einen Schuh, der ihr mit einem Mal nicht mehr angenehm genug erschien, oder dessen Farbe plötzlich nicht mehr die war, nach der man ihn ausgesucht hatte. Auf Männer übertragen waren das Blender, die sich anfangs als Vegetarier ausgaben, weil sie hofften, damit bei einer Frau landen zu können, und dann eines Tages ein Rumpsteak aus der Pfanne verlangten. Ganz so, als habe sich ein Vernice-Schuh in einen Turnschuh verwandelt. Doch nun wieder zu meinem Schuhschrank: Kai war sich seiner Nebenbuhler bewusst, konnte aber gut mit ihnen leben, auch wenn ich ihn tagtäglich mit einem Paar Schuhe „betrog“. Er ahnte, dass mir diese Affären viel bedeuteten, doch eines war ihm klar: Es bestand kein Grund zur Sorge. Er wusste ja, dass mein Herz ihm gehörte. Dass ich es ihm geschenkt hatte, hatte ich bisher keine Sekunde lang bereut, er war auch immer sehr gut mit ihm umgegangen. Mein Freund Kai war im Rahmen meiner Parabel ein Sneaker: Er hatte ein sehr sportliches Erscheinungsbild, war den anderen immer einen Schritt voraus und konnte sich auf jedem Terrain mühelos bewegen. Gleichzeitig war er aber auch sehr spontan und übermütig, vor allem, wenn wir beide ausgingen und er mich in einem Tanzlokal in einem wilden Tanz mitriss und mich so auf Wolken schweben ließ. Ich kostete diese Momente stets weidlich aus, denn was gab es Schöneres, als mit seiner großen Liebe Zeit und Raum zu vergessen? In solchen Augenblicken zählte nichts außer uns beiden, und alles um uns herum schien zu verschwimmen und bedeutungslos zu werden. Ich spürte nur noch die Tanzbewegungen, meinen Partner und die Schuhe, in denen ich durch den Raum glitt. Dass ich meine Schuhe auch beim Tanzen noch deutlich wahrnahm, war ein erneuter Hinweis darauf, dass ich eine echte Schuh-Fashionita war. Den Ausdruck Schuhfetischistin fand ich dagegen weniger schön, weil er aus meiner Sicht sehr negativ besetzt war.

Zurück zum Tanz: Diese Augenblicke, in denen sich unsere Beine im Rhythmus der Musik bewegten und wir eins zu werden schienen, waren einfach herrlich. Genauso wunderbar und traumhaft war das Zusammenleben mit Kai. Für mich lag damit auf der Hand, dass ich mit ihm das große Los gezogen hatte. Er war mehr als ein hübsches Gesicht. Er hatte kurzes braunes Haar, und wenn sich auf seinem Gesicht dieses charmante Lächeln abzeichnete, mit dem er mich erobert hatte, machte mein Herz einen Sprung und verschmolz mit seinem zu einem Ganzen. Wir waren vom Glück gesegnet, in unserer Beziehung hing der Himmel noch immer voller Geigen. Doch manchmal zogen auch dunkle Wolken auf.

Diese dunklen Wolken waren sehr adrette Frauen, Kais Untergebene in seiner Werbeagentur, die ihn nur zu gern mit ihrem Charme einwickeln und in unserer Beziehung einen Wetterumschwung einleiten wollten. Ein Gewitter, das uns auf immer trennen würde. Ja, ich musste in der Tat damit leben, dass ich gleich mehrere Rivalinnen hatte. Diese würde ich im Gegensatz zu mir als reine Louboutins beschreiben. Warum? Sie sahen allesamt hübsch aus, und ihre langen, epilierten Beine steckten in Miniröcken, die sie Kai bereitwillig entgegenstreckten. Sie bezogen ein deutlich höheres Gehalt als ich und konnten sich daher Designerkleidung leisten, von der ich nur träumen konnte.

Dass ich mit Kai liiert war, wussten sie, doch das hielt sie nicht davon ab, mit ihm auf Flirtkurs zu gehen. Tja, manchmal fühlte ich mich diesen jungen Frauen deutlich unterlegen. Denn wer würde einem Louboutin nicht einen höheren Wert zuschreiben als einem Ballerina?

Es gab in mir natürlich eine nicht zu verachtende Angst, Kai an meine Konkurrentinnen zu verlieren. Ich hätte dann zwar noch immer meine unzähligen Liebhaber im Schrank, aber ob sie die Leere in meinem Herzen wirklich würden ausgleichen können, war mehr als fraglich. Ich habe bereits erwähnt, dass Schuhe aus meiner Sicht Männer durchaus ersetzen konnten, aber wenn ich ehrlich war, musste ich mir eingestehen, dass ich Kai mit jeder Faser meines Körpers liebte und es mir keinesfalls egal wäre, eines Morgens ohne ihn an meiner Seite aufzuwachen. Dummerweise hatten meine Rivalinnen während der Arbeit ausreichend Gelegenheit, sich in Pose zu werfen und ihren Chef, Kai Bloom, zu umgarnen. Natürlich arbeiteten in Kais Firma auch eine Empfangsdame mit dem Namen Steigenberg und seine Sekretärin, Pia Sommer. Letztere hatte er glücklicherweise noch nie auf Geschäftsreise mitgenommen. Frau Steigenberg war bereits über vierzig und wirklich sehr freundlich – allerdings nur zu ihrem Chef und seinen Kunden. Meine Existenz glaubte sie mit großer Emsigkeit beinahe übersehen zu können. Unverschämterweise fragte sie auch immer wieder von Neuem nach meinem Namen, wenn ich mal unangemeldet in der Werbeagentur erschien und wissen wollte, ob Kai die Mittagspause mit mir verbringen konnte oder stattdessen mit einem Kunden zu Mittag essen würde. So schwer konnte es doch nicht sein, den Namen Sievers im Gedächtnis zu behalten. Dass ich Kais Freundin war, durfte dieser Frau mittlerweile ebenfalls längst bekannt sein. Frau Steigenberg war stets mit Unmengen von Ohr- und Halsschmuck behangen und vom Duft eines teuren Parfüms umgeben. Während eines Heiterkeitsausbruchs hatte ich Kai gegenüber einmal bemerkt, dass in seiner Agentur das ganze Jahr über Weihnachten sei, und Frau Steigenberg als geschmückten Tannenbaum bezeichnet. Sozusagen als wandelnden Weihnachtsbaum. Die Empfangsdame besaß eine gut ausgesuchte, edle Garderobe und grünte somit nicht nur zur Winterzeit. Sie hatte pechschwarzes Haar, das sie streng nach hinten gebunden trug. Ihre kleinen braunen Augen schienen manchmal wie Stecknadeln aufzublitzen, vor allem, wenn sie Unheil witterte. Sprach sie mit mir, zog sie jedes Mal angestrengt die Luft durch die Nase. Warum, war mir ein Rätsel. Glaubte sie, ein Kind vor sich zu haben, dem sie das Einmaleins erklären musste? Ich erkundigte mich im Allgemeinen doch lediglich nach Kais Terminplan und bat sie nicht darum, mir die Relativitätstheorie nahezubringen.

Zumindest war Frau Steigenberg nicht an Kai interessiert. Sie katzbuckelte nur gerne vor ihm, während sie bei mir die Krallen ausfuhr. Kais Sekretärin Pia war ebenfalls keine Konkurrentin, da sie nach eigenem Bekunden bereits seit sechs Jahren glücklich verheiratet war. Sie hatte kurze braune Haare, trug gerne Kleider und schicke Stiefeletten, wirkte sonst aber äußerst bodenständig. Sie würde ihre Ehe wohl kaum für einen Seitensprung mit Kai riskieren. Aber neben diesen beiden Frauen gab es eben noch vier weitere Mitarbeiterinnen, die ähnlich wie Katzen immer auf der Pirsch waren und ihren Chef Kai als bevorzugtes Opfer ausgesucht hatten.

Tessa, eine gertenschlanke Frau mit langen blonden Haaren, sah ich als größte Bedrohung für meine Beziehung an. Sie war ebenso wie ich Anfang dreißig und verstand es, mit ihren blaugrünen Augen so manchen Mann in ihren Bann zu ziehen, indem sie ihm einen ihrer verführerischen Blicke zuwarf. Außerdem hatte sie eine weitere wirkungsvolle Waffe, mit der sie mich schlagen und Kai bezirzen konnte: ein charmantes Blendadent-Lächeln. Meine Zähne waren natürlich nicht so hässlich, wie es angeblich die von Kaiserin Sisi gewesen waren. Doch Tessas waren gebleacht – meine nicht.

Tessa setzte ihr berückendes Lächeln immer dann gerne ein, wenn es galt, von einem Fehler abzulenken, den sie während der Arbeit gemacht hatte, oder ihren Willen durchzusetzen. Das hatte mir Kai schon des Öfteren mit einem Schmunzeln anvertraut. Bei einem Gespräch über eine Gehaltserhöhung habe ihr Lächeln dem von Julia Roberts alle Ehre gemacht. Ich hatte jedoch den Eindruck, Tessa sei eine giftige Kobra. Eine Schlange, die sich um Kai schlängelte, um im geeigneten Moment zuzuschnappen.

Diesem blonden Gift war ich natürlich auch schon mehrmals begegnet, wenn ich Kai von der Arbeit abholte und wir anschließend irgendwo entspannt essen gingen.

Ich selbst hatte im Gegensatz zu Tessa dunkelblondes gelocktes Haar und grüne Augen und war um einige Zentimeter kleiner als sie. Auf einer Betriebsfeier von Kais Werbeagentur, der ich beiwohnen durfte, hatte ich bereits das Vergnügen gehabt, auch meine anderen Rivalinnen näher in Augenschein zu nehmen.

Verena war zwar nur 1,63 Meter groß, besaß dafür aber eine äußerst verführerische Stimme, und ihre Beine waren für ihre verhältnismäßig geringe Körpergröße sehr lang. Die Gaben schienen vom lieben Gott mehr als gerecht verteilt worden zu sein. Verena konnte mit einem Unterton in ihrer Stimme, den zu definieren mir schwerfiel, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich ziehen.

Außerdem hatte sie ein girrendes Lachen, mit dem sie ihr Umfeld selbst nach einem schlechten Witz zu einem Heiterkeitsausbruch animieren konnte, insbesondere, wenn männliche Wesen darunter waren.

Mit ihren meist im Smokey-Eyes-Stil geschminkten Augenlidern, die ihr einen etwas verruchten Touch verliehen, und ihren gelockten feuerroten Haaren, die sie stets offen trug, hoffte sie bestimmt, Kai mit einem ganz eigenen Zauber belegen zu können. Sie wollte mit ihrem Haar allem Anschein nach verspielt und sexy aussehen. Ich hoffte jedenfalls inständig, dass Kai davon absehen würde, mit diesem Feuer der Versuchung zu spielen, sich nicht die Finger an Verena verbrennen und unserer Beziehung den Todesstoß versetzen würde. Eine weitere von Kais Angestellten hieß Stella. Der Name passte wirklich gut zu ihr, da ihre Augen in einem unwahrscheinlichen Blau strahlten und sie gerne auf High Heels durchs Leben stolzierte, die golden schimmerten. Nur in der Werbeagentur trug sie Schuhe, die deutlich unauffälliger waren. Ihr langes braunes Haar pflegte sie ebenso wie Verena offen zu tragen. Sie stellte ihre Beine gerne in Miniröcken zur Schau und verzichtete bei ihrer Kleiderwahl im privaten Bereich auf übertrieben viel Stoff. Ich war ihr schon einige Male in der Fußgängerzone über den Weg gelaufen, und jedes Mal wären mir bei ihrem Anblick beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen. Nur bei der Arbeit war sie, wie bereits erwähnt, in einem seriöseren Kleidungsstil anzutreffen. Dort trug sie meist einen Hosenanzug.

Auch sie war eine ernst zu nehmende Konkurrentin im Kampf um Kais Herz, den ich ja eigentlich schon vor sechs Jahren für mich entschieden hatte. Doch dass Kai mein Freund war, übersahen meine Rivalinnen geflissentlich. Eine weitere Frau, die nur zu gerne ein Auge auf Kai warf, war Wanda. Sie stach im Gegensatz zu ihren Kolleginnen jedoch durch nichts sonderlich hervor. Weder hatte sie extrem lange, schlanke Beine noch besaß sie eine sonderlich starke Ausstrahlung.

Mit ihrem schwarzen Haar und ihrer sehr hellen Haut wirkte sie aber ein wenig wie Schneewittchens Schwester, die mir hoffentlich nie meinen Prinzen stehlen würde.

Es gab mir natürlich kein besonders gutes Gefühl, zu wissen, dass diese vier Frauen ihre Fühler nach Kai ausstreckten und um seine Gunst kämpften. Sie würden mich bestimmt bereitwillig auf die Ersatzbank verbannen, auf der ich dann vorzugsweise so lange zu sitzen hätte wie einige Spieler beim FC Bayern. Während der Arbeit hinderte die jungen Damen leider nichts daran, um Kai zu streichen wie Katzen um das Goldfischglas und dabei ihre epilierten Beine perfekt in Szene zu setzen. Ein neckisches Augenspiel hier, ein vielsagendes Lächeln da. Zu meinem Leidwesen konnten sie sämtliche Register ziehen. Leider verdienten diese Louboutins nicht nur deutlich mehr als ich in meinem Job als Schuhverkäuferin: Sie hatten es außerdem faustdick hinter den Ohren, an denen mir schon so manches Mal Ohrringe von Chopard aufgefallen waren. Bei all dem Glamour, den sie lebten und offen zur Schau trugen, stiegen in mir oft nicht nur Gefühle der Eifersucht hoch, weil sie sich mit ihren gut manikürten Fingernägeln meinen Kai krallen wollten, sondern auch Neid. Wenn sie mich in der Werbeagentur sahen, taxierten sie mich meist mit einem missbilligenden Blick und musterten mich erhaben von oben bis unten. Sie schienen mir damit die nonverbale Botschaft übermitteln zu wollen, dass meine Liebe zu Kai wirklich unergründlich war und sie sich fragten, warum er mich Ballerina nicht schon längst in eine hintere Schrankecke verbannt hatte. Außerdem waren sie, wie bereits erwähnt, allesamt sehr attraktiv und sich dessen voll und ganz bewusst. Wie ein Pfau schlugen sie ihre Räder, wenn sie in Kleidung von Joop oder Versace auf der Bildfläche erschienen. In ihrem Leben gab es einen Hauch von Glamour und Lifestyle, der mir fehlte. Ich wollte aber auch nicht, dass Kai mir meinen Lebensunterhalt finanzierte und mich freihielt, obwohl seine finanziellen Mittel dafür mehr als ausreichend gewesen wären. Ich freute mich natürlich, wenn unter dem Weihnachtsbaum eine Tasche von Louis Vuitton lag oder ich zum Geburtstag eine Sonnenbrille von Chanel geschenkt bekam. Doch mehr Luxus kam für mich nicht infrage. Kai sollte mir kein Leben sorgenfreies Leben bieten, indem er immer der Dumme war, der seine Kreditkarte zum Einlesen über die Theke reichte.

Ich wollte seine Geliebte sein und nicht wie eine erwachsene Tochter, die nicht aus dem Elternhaus auszog und ihrem Vater auf der Tasche lag. Ich fühlte mich eben wie ein Ballerina, der den Louboutins natürlich unterlegen war, doch meine Großmutter hatte immer gesagt: „Auch ein Mauerblümchen blüht.“ Diesen Ausspruch empfand ich als eine sehr tröstliche Weisheit. Außerdem konnte ich mit Bestimmtheit von mir behaupten, dass ich in der Tat jedes Mal aufblühte, wenn ich die Kunden des Schuhgeschäfts La Scarpa beriet. Dann hatte ich stets das Gefühl, von innen heraus zu strahlen, und mein Gesichtsausdruck und meine Stimmung wandelten sich. Ich sagte meinen Kunden oft: „Seien Sie gut zu Ihren Schuhen, dann sind sie auch gut zu Ihnen.“ Damit wies ich sie darauf hin, dass Lederschuhe ab und zu mit einem Spray imprägniert werden sollten.

Mein Chef hieß Karl Schöne. Er war ein kleiner, dicklicher Mann, der trotz seines Alters von fünfzig Jahren ein bisschen nervös wirkte und sich bei Verkaufsgesprächen manchmal verhaspelte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er eine Kundin gefragt, ob sie mehr Ruhe brauche – anstatt Schuhe.

Er war mit meiner Arbeitseinstellung sehr zufrieden, denn er merkte, dass ich stets mit Freude bei der Sache war und mein ganzes Herzblut in meine Arbeit einbrachte. Dass er jedoch das Ausmaß meiner Passion für Schuhe nachvollziehen konnte, das bezweifelte ich. Ebenso beschlich mich das Gefühl, dass Herr Schöne nicht seinem Traumberuf nachging. Kurz vor der Mittagspause hatte er mir einmal erzählt, dass er eigentlich Dirigent hatte werden wollen. Er liebe die Welt der Musik, die so viel wundervoller sei als die der Bilanzen und Verkaufszahlen. Chopin und Beethoven verehre er besonders und er spiele hervorragend Geige und Klavier. Noch im selben Atemzug meinte er, dass ihn die Buchhaltung oft maßlos überfordere und er abends mit Kopfschmerzen ins Bett ginge. Nur klassische Musik könne diese dann vertreiben. Ich hatte natürlich Mitleid mit Herrn Schöne, befürchtete aber auch, dass er mir eines Tages verkünden könnte, dass er den Laden dichtmachen und sich ein anderes Standbein suchen würde.

Doch der Saldo auf seinem Konto hatte bisher wohl immer gestimmt, und damit auch der Umsatz, den er mit seinem Geschäft erzielte. Wir konnten auch wahrlich nicht über mangelnde Kundschaft klagen. Monika Wirth und Christine Behrend waren die beiden anderen Verkäuferinnen, die Herr Schöne neben mir beschäftigte. Frau Wirth ging auf die vierzig zu und machte ebenso wie Herr Schöne keinen recht glücklichen Eindruck, was ihren Beruf betraf. Meine Philosophie über Schuhe teilte sie jedenfalls nicht. Sie meinte, ich hätte wie so viele Frauen einen Schuhtick, sodass meine Ansicht, Schuhe könnten einem ein Hochgefühl verschaffen, aus diesem Blickwinkel zu betrachten sei. Wir siezten uns nach wie vor, obwohl wir mittlerweile seit mehr als fünf Jahren zusammenarbeiteten. Christine wiederum war um einiges zugänglicher. Im Gegensatz zu Monika schüttelte sie nicht den Kopf, wenn ich mit einem breiten Lächeln ins Lager ging, um meinem Kunden den zweiten, zum Exemplar in der Auslage passenden Schuh zu holen. Christine war wie ich eine kleine Träumerin und entfloh dem Alltag in Gedanken gerne für ein paar Sekunden. Wir waren per Du. Christine war erst zweiundzwanzig und hatte mir unlängst gestanden, dass sie eigentlich Primaballerina hatte werden wollen, wie so viele andere kleine Mädchen auch. Ihr Wunsch war es gewesen, sich auf der Bühne kunstvoll zur Musik von Schwanensee zu bewegen. Doch den Ballettunterricht hatte sie abbrechen müssen, als ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Damals war sie zehn Jahre alt gewesen und hatte sich von da an verstärkt um ihre jüngeren Geschwister Lasse und Mia kümmern müssen. Außerdem verdiente ihre Mutter Bianca als Kassiererin im Supermarkt nicht sehr viel Geld, sodass sie Christine den Unterricht nicht länger finanzieren konnte. Christine und Karl Schöne waren also beide große Anhänger der klassischen Musik. Während Schöne jedoch davon träumte, den Dirigentenstab zu schwingen, zeigte sich auf Christinas Gesicht ein Lächeln, wenn sie sich vorstellte, wie sie sich mit elegischen Figuren zur Operettenmusik bewegen würde. Christine wusste zwar, dass sich ihr Traum wohl nicht mehr erfüllen würde, dennoch hatte ich beobachtet, wie sie einmal ins Lager verschwand und dort ein paar kunstvolle Drehungen vollführte. Für sie schien das wichtigste Kriterium eines Schuhs darin zu bestehen, dass man in ihm gut tanzen konnte. Diese Ansicht konnte ich durchaus nachvollziehen.

Im Gegenzug konnte sie meinen Wunsch, meiner Begeisterung für Schuhe bei einem Modemagazin noch mehr Raum zu geben, gut verstehen. An dieser Stelle mag vielleicht der Eindruck entstanden sein, dass wir im La Scarpa fast alle heimlichen Träumen nachhingen, die wir lieber verfolgt hätten, als Schuhe zu verkaufen. Ich liebe meinen Beruf zwar sehr, aber eine Kolumne in einer Modezeitschrift für Schuhe würde mich gewiss in die höchsten Höhen des Glücks befördern. Wenn man dagegen Monika Wirth fragte, ob sie es sich vorstellen könne, woanders zu arbeiten, entgegnete diese stets, dass ein Beruf schließlich nicht dazu da wäre, einem Freude zu bereiten, sondern um den Lebensunterhalt zu verdienen. Ich glaubte ehrlich gesagt, dass ihr die Fantasie für Träume fehlte. Wenn sie einen Lebensratgeber auf den Markt bringen würde, würde dieser wohl „Kein Platz für Träume“ heißen. Ich für meinen Teil erachtete es im Gegensatz dazu als wunderbar und sogar wichtig, Lebensträume zu haben, die einen durch den Alltag begleiteten und, wenn auch manchmal nur für Sekunden, die Stimmung aufhellten.

Eines Morgens ereignete sich ein skurriler Geschäftsfall. Eine Frau in einem weiten Sommerkleid näherte sich sichtbar missgelaunt der Auslage für Schuhe in Größe zweiundvierzig. Draußen herrschten ziemlich hohe Temperaturen, sodass Herr Schöne im Laden die Klimaanlage in Gang gesetzt hatte. Die Dame beäugte die Schuhmodelle kritisch, nahm einige von ihnen nacheinander in die Hand, um sie mit gestrengem Gesichtsausdruck von allen Seiten zu inspizieren. Sie verlor sich ein paar Augenblicke im Anblick der Schuhsohlen; vielleicht wollte sie sich davon überzeugen, dass sie rutschfest waren. Auf ihrer Nase saß eine alte Brille, durch deren Gläser ihre Augen leicht spöttisch hervorzublitzen schienen. Schließlich ergriff sie einen Paul-Green-Schuh und verzog verächtlich das Gesicht, nachdem sie den Preis entdeckt hatte. Ja, sie stellte ihn regelrecht angewidert zurück. Ganz so, als hätte sie einen toten, schon etwas älteren Fisch in der Hand gehalten, der einen unangenehmen Geruch verströmte. Ich war natürlich noch nie so mit einem Schuh umgesprungen. Selbst wenn mir einer mal etwas überteuert schien oder mein Budget sprengte, stellte ich ihn mit einem tiefen Bedauern einfach wieder ins Regal zurück.

Ich trat aus dem hinteren Ladenteil hervor, passierte die Theke und ging mit einem freundlichen Lächeln auf die Dame zu, die ich auf um die vierzig schätzte. Ich musste ihr wohl erklären, dass es sich bei diesen Schuhen um wahre Schätze handelte, die es nur zu entdecken galt, und nicht um billige Einwegrasierer.

„Entschuldigen Sie, kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich sie freundlich.

„Ja, ich brauche etwas für den Geburtstag meiner Schwiegermutter. Die ist leider ziemlich zäh und feiert bald ihren achtzigsten Geburtstag. Ich habe meine letzten Schuhe vor sieben Jahren gekauft. Da spare ich eisern.“

Ich zuckte unmerklich zusammen. In diesem Moment schien mir alles möglich: dass Tag und Nacht aufeinandertrafen. Oder dass Nord- und Südpol sich berührten. Diese Frau sprach von Schuhen, als seien sie das Unwichtigste der Welt. Das stellte wiederum meine Welt auf den Kopf, doch ich versuchte, meine Bestürzung über ihre Worte hinter einem noch breiteren Lächeln zu verbergen.

„An was für einen Schuh haben Sie denn gedacht? Wahrscheinlich an einen, der elegant ist und sich Ihrem Typ anpasst. Er sollte sicher nicht zu …“

Die Frau unterbrach mich unwirsch: „Sie reden mit mir, als ginge es um eine neue Frisur. Geben Sie mir einfach ein paar einigermaßen ansehnliche Treter. Etwas mit einer Sohle und ein bisschen Leder drum herum.“

Ich schluckte schwer und meinte: „Glauben Sie, dass Ihnen mit Schuhen von Salamander geholfen wäre?“ Ich dachte im Stillen, dass diese sicherlich ihrer Vorstellung von einem fairen Preis-Leistungs-Verhältnis entsprachen. Doch im Grunde wollte ich die Dame am liebsten dazu auffordern, den Optiker ihres Vertrauens aufzusuchen und sich dort eine neue Brille zu besorgen, um so erkennen zu können, dass Schuhe keine „Treter“ waren, sondern ein guter Begleiter und der beste Freund einer jeden Frau.

Ich sagte: „Haben Sie schon entschieden, was Sie zu den Schuhen tragen wollen? Ich betrachte es nämlich so“, ich hob meine Stimme deutlich an, „dass Schuhe und die Kleidung sozusagen ein Perfect Match bilden sollten. Eine Einheit.“

„Sie sind ja wirklich drollig“, entgegnete die Kundin amüsiert. „Sie erwarten wahrscheinlich auch, dass Ihnen einer Ihrer Schuhe einen Heiratsantrag macht. Schuhe sind zum Gehen da und zu nichts anderem. Es ist schon das höchste der Gefühle, wenn man welche findet, die nicht drücken. Mehr auch nicht.“ Voller Hoffnung spähte ich kurz auf die Füße der Dame, um zu sehen, ob sie sich bisher vielleicht immer nur in der Schuhgröße vertan hatte und Schuhen deswegen so kritisch und abwertend gegenüberstand. Doch diesen Fall konnte ich nach einem kurzen Blick ziemlich schnell ausschließen. Die Kundin hatte für eine Frau recht große Füße, und es war bestimmt nicht immer leicht, in Größe zweiundvierzig schöne Exemplare zu finden, doch ehrlich gesagt, trieb mich die Art und Weise, wie diese Kundin mit mir umsprang, ziemlich in die Enge. Da kam mir der rettende Gedanke. Das war doch genau die passende Kundin für Frau Wirth. Eventuell würden sich hier sogar zwei verwandte Seelen finden. Ich deutete mit dem Kopf zur Ladentheke hinüber und sagte zu der Kundin: „Es tut mir leid, ich habe im Lager noch etwas zu erledigen. Frau Wirth, ich habe hier eine Kundin für Sie. Entschuldigen Sie mich“, fügte ich kurz hinzu, ehe ich der Kundin den Rücken zudrehte und ins Lager lief.

Die Frau hat mich vielleicht aufgeregt, dachte ich bei mir. Schließlich hatte bereits der gestiefelte Kater gewusst, wie wichtig gutes Schuhwerk war. Ebenso hätte Cinderella ohne ihre Glasschuhe ziemlich alt ausgesehen. Auch wenn mir Schuhe aus Glas natürlich nicht wirklich sinnvoll erschienen. Doch ich fühlte mich durch das Verhalten der Frau irrsinnigerweise sogar etwas gekränkt. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie meine Kollegin die Kundin bediente, und hörte, wie sie mit knappen Worten zu ihr sagte: „Sie brauchen ein Paar Schuhe? Hier, probieren Sie doch die mal an.“ Frau Wirth hatte zu meinem Erstaunen einen Schuh gewählt, der eigentlich für ältere Semester bestimmt war. Doch die Kundin schien das nicht zu stören, sie nickte sogar anerkennend. Irritiert ließ ich die beiden zurück. Wenn die Kundin auf dem Geburtstag ihrer Schwiegermutter in Schuhen für ältere Frauen erscheinen wollte, sollte sie!

Um mich wieder ein wenig aufzubauen, öffnete ich einen Karton, von dem ich wusste, dass er Pumps von Manolo Blahnik enthielt, sah diese eine Weile an und strich einmal kurz mit der linken Hand verzückt darüber. Das war für mich wie ein Seelenstreichler. Denn ich kannte schließlich den wahren Wert von Schuhen. War es meine Schuld, wenn andere zu kurzsichtig waren, um diesen zu begreifen? Der restliche Arbeitstag verlief deutlich angenehmer, und ich beriet wieder Kunden, die in der Lage zu sein schienen, den wahren Nutzen und die Schönheit von Schuhen zu erkennen.

Zu Hause machte ich Kai gegenüber meinem Ärger noch einmal Luft. Wir waren gerade dabei, uns eine Gemüsepfanne zuzubereiten. Bei uns herrschte nicht das überholte Modell vor, dass ich das Heimchen am Herd spielte, sondern stattdessen eine gerechte Arbeitsteilung, „Diese Frau hat mich angeschaut, als sollte ich einen Arzt aufsuchen!“, rief ich entrüstet, als ich ihm von der Kundin erzählte und währenddessen ein paar grüne Bohne in die Pfanne fallen ließ. Ich fügte hinzu: „Ich würde mir wirklich zweimal überlegen, welche Schuhe ich zum runden Geburtstag meiner Schwiegermutter trage. Diese Kundin würde wahrscheinlich auch auf einen Ball in Hausschuhen oder Flipflops gehen. Ich sage dir, ich koche innerlich vor Wut!“

Kai sah mich mit einem Schmunzeln an. „Du hast ja zum Glück keine Schwiegermutter, die du beeindrucken musst.“

„Was soll das jetzt heißen? Planst du etwa schon, mich zu verlassen?“, erwiderte ich aufgebracht.

„Unsinn, ich meine doch nur, dass du die ganze Angelegenheit überbewertest. Außerdem reicht es, wenn nachher der Topf mit dem Reis kocht, den wir zu dem Gemüse essen wollen.“

„Mach dich nur lustig über mich. Ich finde das gar nicht komisch. Diese Kundin heute hat an meinem Berufsethos gekratzt.“

„Und dafür wird meine liebe Milly jetzt zur Kratzbürste“, entgegnete Kai unumwunden. Da gab ich es auf, Kai von dem Ausmaß meiner Verärgerung zu überzeugen. Er verstand mich ja doch nicht – oder vielmehr wollte er mich nicht verstehen. Ich fragte ihn beiläufig: „Na, haben dir Tessa und Konsorten heute mal wieder schöne Augen gemacht? Die Minirockfraktion.“

„Ich finde, du übertreibst.“

„Glaubst du etwa, ich habe Tomaten auf den Augen? Jede von den vier würde sich dich gerne schnappen. Du siehst nicht gerade schlecht aus und hast außerdem ausreichend Geld auf dem Konto. Die jungen Damen kreisen doch über dir wie Raubvögel über ihrer Beute. Diese Stella lässt doch immer absichtlich die oberen zwei Knöpfe ihrer teuren Bluse offen, während Verena versucht, dich mit ihren feuerroten Haaren und ihrer bedeutungsschweren Stimme zu verhexen. Und bei Tessa und Wanda ist es auch nicht viel besser. Ich denke allerdings, dass Tessa einen besonderen Einfallsreichtum an den Tag legt, um dein Herz zu erobern. Du hast doch schon mehrfach erzählt, dass sie dir immer deinen Kaffee bringt und keine Möglichkeit verstreichen lässt, dich zu berühren. Dass sie dir einmal sogar angeboten hat, deine Krawatte neu zu binden, und tagtäglich glaubt, dir angebliche Fussel von deinem Anzug zupfen zu müssen. Offensichtlicher und plumper geht es wohl kaum!“

„Ich bin aber doch sehr glücklich liiert. Danke der Nachfrage. Und du weißt, dass diese Damen bei mir keine Chance haben.“ Da huschte mir trotz meines Ärgers ein Lächeln übers Gesicht. Gleich darauf wurde ich jedoch nachdenklich und sagte: „Du hast recht. Vielleicht sehe ich tatsächlich nur Gespenster. In diesem Fall wohl sehr attraktive. Aber ich weiß, ich kann mir sicher sein, dass du bei dem Augengeklimper meiner Rivalinnen nicht schwach werden wirst.“

„Na siehst du. Das Essen ist bald fertig. Wir gönnen uns einen guten Rotwein dazu, dann wirst du all deinen Ärger und Kummer bald wieder vergessen haben.“

Der nächste Arbeitstag sollte einer wie jeder andere werden – das dachte ich zumindest.

Zunächst verlief alles wie gewohnt. Ich half einigen Kunden bei der Wahl des richtigen Schuhs und ließ Kreditkarten durchs Lesegerät gleiten. Doch kurz vor der Mittagspause bedeutete Karl Schöne mir und meinen Kolleginnen mit einer kurzen Handbewegung, dass er uns etwas mitzuteilen hatte. Neugierig traten wir näher und scharten uns um ihn wie die Schafe um ihren Hirten. Karl sah heute besonders ausgeglichen aus. Ja, es war unverkennbar, dass sein Launebarometer die obere Skala erreicht hatte. Welch seltenes Phänomen! Ich wusste, dass er alleinstehend war, und überlegte, ob er schließlich doch noch eine Frau gefunden hatte, die er heiraten wollte, und uns gleich zur Hochzeit einladen würde. Nach reichlicher Überlegung kam mir jedoch der Gedanke, dass seine Laune dann schon über einen längeren Zeitraum deutlich aufgehellt gewesen wäre. Als wir um ihn versammelt waren, räusperte sich Herr Schöne, ehe er zum Reden ansetzte: „Ich will Sie natürlich gleich in Ihre wohlverdiente Mittagspause entlassen. Vorher muss ich Ihnen jedoch noch etwas mitteilen, das für Sie ebenso wie für mich von großer Bedeutung ist …“ Er räusperte sich erneut und sagte dann bestimmt: „Wir werden schließen. In einem Monat, um genau zu sein.“

In diesem Moment wurde mein Gesicht so bleich wie Marmor, und der Mund stand mir offen. Hatte ich mich verhört? Schließen? Was war geschehen? War Herr Schöne wider Erwarten von einem Kammerorchester als Dirigent engagiert worden? In meine Gedanken hinein sagte unser Chef, begleitet von einem nervösen Hüsteln: „Es ist an der Zeit, dass ich auf mein Herz höre und nicht länger auf meinen Verstand. Wie sagt man so schön: Man muss seinem Glück auf die Sprünge helfen. Das werde ich nun tun, indem ich mich zu diesem mutigen Schritt entscheide. Ich will mich meiner Leidenschaft widmen, der Musik. Ich habe zwar noch kein Angebot vorliegen, irgendwo als Dirigent oder Musiker zu arbeiten, bin mir aber dennoch sicher, dass ich meinen Weg machen werde.“ Das war ja gut und schön. Ich wünschte Herrn Schöne für die Zukunft ehrlich alles Gute. Aber was würde aus uns werden? Aus Frau Wirth, Christine und mir? Für die nicht übertrieben vielen Schuhgeschäfte in unserer Stadt gab es nicht gerade wenige Verkäuferinnen. Ich spürte einen deutlichen Schmerz in meinem Herzen, der sich anfühlte, als würde es von einem Messer durchbohrt werden. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Meine schlimmste Befürchtung war wahr geworden! Ich würde bald arbeitslos sein und bei der Agentur für Arbeit vorstellig werden müssen. Warum war ich nicht intelligent genug gewesen, um das Abitur zu schaffen? Dann hätten mir deutlich mehr Türen offengestanden. Doch all die Lateinvokabeln hatte ich mir nun mal schwer merken können. Und auch Mathematik, Physik und Chemie waren für mich stets ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Ich war ganze vier Jahre lang auf das städtische Gymnasium gegangen, bis meine Noten in besagten Fächern so schlecht geworden waren, dass mir die Lehrer dazu geraten hatten, auf die Realschule zu wechseln und dort die Mittlere Reife zu machen. Ich erinnere mich noch heute an den beinahe mitleidigen Blick meines Physiklehrers, als er gemeint hatte, mir wäre nicht ausreichend Intelligenz in die Wiege gelegt worden, doch auch unterbelichtete Menschen hätten natürlich ihre Daseinsberechtigung. Wie galant Herr Simmel sich da ausgedrückt hatte. Danke noch mal an dieser Stelle! Mein Lateinlehrer wiederum hatte mir eine mit einer Sechs benotete Klassenarbeit mit der Bemerkung zurückgegeben, ich hätte damit den bellum gallicum verloren.

Mein Klassenlehrer Herr Schmidt, in dessen Fach Geschichte ich auf einer Drei stand, hatte mich eines Morgens mit den bedeutungsschweren Worten begrüßt: „Houston, wir haben ein Problem.“ In dem Moment hatte ich das große Flattern bekommen. In seiner Funktion als Klassenlehrer hatte sich Herr Schmidt im Lehrerzimmer bestimmt angeregt mit meinen Latein-, Mathematik-, Physik- und Chemielehrern unterhalten. Worüber sie sich ausgetauscht hatten, war leider allzu offensichtlich: meine miserablen Noten! Mir klopfte das Herz bis zum Hals, als Herr Schmidt mir mitteilte, dass er am Ende der Stunde mit mir reden müsse. Die Apollo 13 erlebte damals ein Happy End, ich jedoch nicht. Kurzum, ich wechselte auf die Realschule.

An dieser Stelle möchte ich aber noch einmal herausstellen, dass ich in den Sprachen abgesehen von Latein an sich relativ gut war. Damit meine ich, dass ich sowohl meine Muttersprache gut beherrschte, was nicht jeder Deutsche von sich behaupten konnte, als auch in Englisch auf einer Zwei gestanden hatte.

Wer brauchte außerdem schon eine tote Sprache wie Latein? Gut, die Ärzteschaft würde ihren Nutzen gewiss nicht abstreiten, ebenso wenig wie die Juristen. Meine Leistungen in Deutsch und Englisch waren für meinen weiteren Verbleib auf dem Gymnasium zu meinem Leidwesen einfach nicht ausreichend gewesen.

Mein Klassenlehrer hatte sich von mir mit den Worten „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“ verabschiedet. Damit hatte er sich wieder mal eines historischen Zitats bedient, denn das waren die Worte eines preußischen Generals, die dieser nach dem Einfall Napoleons an seine Soldaten gerichtet hatte. Pah! So dumm, wie er dachte, war ich also doch nicht! Mein Lateinlehrer hatte die Unverschämtheit besessen, mich in der letzten Stunde, in der ich seine Schülerin war, noch einige Vokabeln abzufragen. Wollte er die Gewissheit haben, dass man mich zu Recht geschasst hatte? Ich hatte darauf einfach entgegnet: „Was discipulus heißt, können Sie mich fragen, wenn ich tot bin. Immerhin ist Latein eine tote Sprache, in der sich nur Tote unterhalten.“ Damit hatte ich Herrn Neuer, wenn auch nur für ein paar Sekunden, mundtot gemacht, was ich für mich als letzten Erfolg auf besagter Schule wertete. Mein Lehrer hatte sich daraufhin zu einem milden Lächeln durchgerungen und mich in Ruhe gelassen. Danach hatte ich die Realschule besucht. Obwohl sich meine Noten in Mathematik, Chemie und Physik dort verbesserten, hatte ich mich trotzdem als Verliererin gefühlt. Zumal mein Mathelehrer gerne Witze riss, vor allem wenn er mich an die Tafel holte, um eine Aufgabe zu lösen. „Na, dir ist die Luft auf dem Gymnasium wohl zu dünn geworden?“ oder „Hast du den Absturz gut überlebt?“ – nach solchen Sätzen, die Herr Thiele bei jeder sich bietenden Gelegenheit anbrachte, wäre ich ihm immer am liebsten ins Gesicht gesprungen und hätte gerufen: „Lassen Sie mich in Ruhe! Ich bin nicht abgestürzt, sondern habe nur eine Zwischenlandung eingelegt.“ Das mochte zwar nicht ganz stimmen, aber ich sah nicht ein, warum ich ständig mit der Tatsache konfrontiert werden musste, dass mein Unvermögen in den naturwissenschaftlichen Fächern meine Schullaufbahn negativ beeinflusst hatte. Eine Zeit lang glaubte ich nicht mehr an mich, obwohl sich meine Schulleistungen deutlich verbesserten. Bis zu dem Tag, an dem ich meine Leidenschaft für Schuhe entdeckte, nein, ich will eher sagen, an dem diese Leidenschaft geboren wurde. Dies verdankte ich kurioserweise meiner Biologielehrerin Frau Fiedler. Biologie betrachtete ich im Übrigen stets als ein sehr lohnendes Fach. Denn solange man die entsprechenden Kapitel des Biologiebuches auswendig lernte, erlebte man keine unangenehmen Überraschungen bei der Rückgabe von Klausuren. Doch zurück zu Frau Fiedler: Sie erschien stets sehr modisch gekleidet im Klassenzimmer, auch wenn das nicht so recht zum Bild einer Biologielehrerin passen mochte. An einem verregneten Dienstag trug sie Schuhe von Neid Cherag, und da war es um mich geschehen! Sie sah in diesen Stilettos noch viel eleganter aus als sonst, und ich bewunderte, wie leichtfüßig sie sich in ihnen bewegte, gerade so, als würde der doch ziemlich hohe Absatz für sie nicht das geringste Hindernis darstellen. Auf jeden Fall faszinierten mich diese Schuhe so sehr, dass ich mich kaum mehr auf den Unterricht konzentrieren konnte. Die High Heels waren tiefblau und schienen in das Leben einer Dame von Welt zu gehören. Ich war zu diesem Zeitpunkt natürlich noch ein Teenager, wusste aber dennoch, dass ich eines Tages ebenfalls solche Schuhe tragen würde. Sobald meine Mutter außer Haus war, schlüpfte ich heimlich in ihre Stilettos und übte das Laufen. Das geschah ziemlich häufig, aber meine Mutter erwischte mich nie in flagranti. Aber schließlich kiffte ich ja auch nicht ohne ihr Wissen, und Gehversuche in High Heels waren laut Jungendschutzgesetz nicht verboten. Ich genoss das Gefühl, Schuhe mit Absatz zu tragen. Kaum umschlossen sie meine Füße, fühlte ich mich besser, hübscher, ja sogar mutiger. Das Schöne an den High Heels war, dass sie mir einen gewissen Glücksrausch bereiteten. Wozu brauchte ich also Cannabis oder andere Drogen?

Die Stilettos meiner Mutter waren einfach wunderbar, und jedes Mal, wenn ich sie trug, spürte ich, wie die Endorphine in meinem Körper regelrecht explodierten. Wenn ich erwachsen war, wollte ich zu einer Göttin in High Heels werden.

Nun stand ich also im La Scarpa und musste mich mit dem Gedanken anfreunden, bald arbeitslos zu sein. Das Leben war manchmal so bitter und ungerecht. Herr Schöne teilte uns gerade mit, dass er bereits ein Schild für den Räumungsverkauf vorbereitet hatte. Wahrscheinlich eines dieser Schilder, auf denen stand: Alles muss raus! Dreißig Prozent auf alles! Ich merkte, wie erste Tränen in mir hochstiegen, doch ich musste mich jetzt zusammennehmen. Schließlich musste die Kundschaft im Laden noch bedient werden, ehe ich in die Mittagspause entschwinden und diese mit so ganz anderen Gedanken als sonst verbringen würde. Mit einem Taschentuch aus meiner Handtasche, die hinter der Theke lag, wischte ich mir die Tränen weg, die über meine Wangen liefen. Christine bemerkte meinen Gefühlsausbruch als Erste. Sie kam auf mich zu und sagte freundlich: „Ach, Milly, du wirst sicher eine neue Stelle finden. Keiner kann sich für Schuhe so sehr begeistern wie du. Jedes Schuhgeschäft würde so eine Verkäuferin mit Kusshand nehmen.“ Ich war mir dessen bewusst, dass sie mich lediglich aufbauen wollte. Denn sie wusste: Die Wahrheit war eine andere. Da brach all meine Verzweiflung aus mir heraus: „Ich werde als Klofrau enden! Kai wird sich meinetwegen schämen und mich verlassen! Er wird mit einem Louboutin durchbrennen und mich armen Flipflop zurücklassen. Jawohl, Flipflop! Der Ballerina ist passé.“

Nun schaute mich Christine doch ein wenig besorgt an. Denn meine Schuhparabel, die ich auf mich und meine Liebesbeziehung anwendete, kannte sie nicht. Sie wusste lediglich, dass ich Schuhe als Seelentröster und gute Freunde betrachtete, die einen durchs Leben begleiteten. Dann war endlich Mittagspause. Doch ich konnte diese nicht wie gewöhnlich in der Pizzeria um die Ecke verbringen. Ich hatte vielmehr das Gefühl, dass man mich wie einen Pizzateig behandelt hatte. Ja, man hatte mich plattgemacht! Ich beschloss, die Mittagspause in Kais beziehungsweise unserer Wohnung zu verbringen. Ich musste schnell weg von hier! Ich rannte zu meinem Auto, schloss es auf, startete den Motor und fuhr in einem Tempo, das mir einen Strafzettel eingebracht hätte, davon.

Zu Hause warf ich mich auf das weiche Bett und vergrub mein Gesicht in meinem Kopfkissen. Tränen strömten mir aus den Augen, als sprudelten sie aus einer soeben entdeckten Ölquelle. Das Kissen war bald vollkommen durchnässt und diente als eine Art Auffangbecken meiner Tränen. Einige Minuten später, als ich mich wieder ein wenig beruhigt hatte, atmete ich einmal tief ein und aus. Nein, ich würde schon irgendwie eine neue Stelle finden. Im Umkreis gab es schließlich auch noch Schuhgeschäfte. In der Nachbarstadt Billing beispielsweise.

Mit einem Ausdruck im Gesicht, als ruhe die ganze Last der Welt auf meinen Schultern, betrat ich nach der Mittagspause wieder den Schuhladen, der schon bald Geschichte sein würde. Meine tiefe Trauer darüber, dass ich bereits in naher Zukunft nicht mehr jeden Tag einige Stunden lang von Schuhen der Marken Geox, Nike, Puma, Manolo Blahnik und Neid Cherag umgeben sein würde, entlockte meinen Augen erneut ein paar Tränen. Ich musste jetzt wirklich all mein schauspielerisches Talent an den Tag legen. Ich konnte meine Kundschaft schließlich nicht mit einem Gesicht bedienen, als stünde der Weltuntergang bevor. Auch Herr Schöne sollte nicht merken, dass er mit seiner Entscheidung, beruflich zu neuen Ufern aufzubrechen, meine so wunderbar geordnete Welt vollständig auf den Kopf gestellt hatte.

Hinter Tränen verbargen sich bekanntlich immer Geschichten. Jede Träne, die man vergoss, erzählte eine davon. Meine standen für ein Drama in drei Akten. Einleitung: Eine Frau taucht ein in die Welt der Schuhe. Hauptteil: Eine Schuhverkäuferin findet ihre Bestimmung. Schluss: Ein wunderbarer Beruf wird zu Grabe getragen. Obgleich ich mir vorgenommen hatte, den nächsten Kunden oder die nächste Kundin wie üblich mit einem Lächeln zu bedienen, scheiterte ich bei dem Versuch, meine Mundwinkel nach oben zu bewegen, erbärmlich. Durch die Geschäftsaufgabe glaubte ich, einen entscheidenden Teil von mir zu verlieren. Für mich waren all die Markenschuhe, die mich umgaben, nicht einfach nur eine Ware, die ich verkaufen sollte, sondern vielmehr eine Lebenseinstellung. Dementsprechend hatte ich das Gefühl, man würde mich durch die Geschäftsaufgabe meiner Familie entreißen. Das mag übertrieben klingen, aber so dachte ich nun einmal. In dem Moment war ich sogar überzeugt davon, dass mir das so oft griesgrämige Gesicht von Frau Wirth fehlen würde. Ich griff schnell zu meiner Handtasche, um ein paar weitere Taschentücher herauszufischen, mit denen ich meine von Neuem aufwallenden Tränen auffangen und wegwischen wollte. Da trat Herr Schöne auf mich zu, der immer noch wesentlich fröhlicher und entspannter wirkte als sonst. Ja, des einen Freud, des anderen Leid.

Er konnte an meinen mittlerweile deutlich geröteten Augen erkennen, dass ich geweint hatte. Er registrierte sicherlich auch, dass ich mich gerade wie ein Häufchen Elend fühlte. Zu meinem großen Unbehagen hielt er ein Schild in den Händen, auf dem stand: Wir schließen! Räumungsverkauf! Dreißig Prozent auf alles! Ich hatte es geahnt. Aber er konnte doch nicht im Ernst von mir verlangen, dass ich dieses Schild am Schaufenster anbrachte. Sollte er doch Frau Wirth darum bitten, der die Geschäftsaufgabe sicherlich bei Weitem nicht so zusetzte wie mir. Sie betrachtete die ganze Angelegenheit bestimmt mit ihrer gewohnten Nüchternheit. Nach dem Motto: Verlierst du eine Arbeit, suchst du dir einfach eine andere. Ich dagegen litt unter dem bedrückenden Gefühl, eine große Liebe verloren zu haben, mit der man eine wundervolle Zeit verbracht hatte. Mehr als niedergeschlagen dachte ich: Trenne Milly und Schuhe genauso wenig wie ST, denn es tut den beiden weh. Dabei fiel mir ein, dass ich schon immer für die Dekoration des Schaufensters verantwortlich gewesen war und Herr Schöne wohl deshalb von mir erwartete, dass ich dieses verdammte Schild dort anbrachte. Wie gerne hatte ich das Schaufenster immer mithilfe unterschiedlich farbiger Tücher für die künftige Frühlings-, Sommer-, Herbst- oder Wintersaison vorbereitet.

Ich hatte die Tücher immer schön drapiert. Im Frühling und Sommer hatte ich blaue kunstvoll ausgebreitet, im Herbst orangefarbene und im Winter rote. Doch auch das würde ich von nun an nie mehr tun können, denn wir würden ja in Kürze schließen. Mir hatte das Schaufenster immer die Gelegenheit geboten, mich kreativ zu entfalten, war mir immer eine Art Abenteuerland gewesen, das ich nach meinen Vorstellungen gestalten konnte. Herr Schöne meinte: „Frau Sievers, ich habe natürlich bemerkt, dass Ihnen Schuhe und Ihr Beruf viel bedeuten. Sie haben all die Zeit hervorragende Arbeit geleistet. Aber ich würde mich selbst und meine Träume verraten, wenn ich dieses Geschäft weiter betreiben würde. Bitte verstehen Sie das. Schäume soll es in meinem Leben nur noch auf einem guten, kühlen Bier oder einem Kaffee geben. Wer seinen Träumen nicht hinterherjagt, wird irgendwann von der Zeit eingeholt und muss sich eingestehen, dass er die Chance seines Lebens verpasst hat. In diesen Räumlichkeiten würde ich nur immer älter, aber keinesfalls glücklich werden.“ Ich konnte ihm in diesem Punkt zwar nur beipflichten, aber mich würde bald die raue Wirklichkeit einholen. Die der Arbeitslosigkeit. Es war schon verrückt, dass mein Chef seinen Traum von der Musik leben wollte, während er dabei meinen zerstörte. Trotz seiner Worte fühlte ich mich jedoch nicht imstande, das Schild am Schaufenster anzubringen. Mit schwacher Stimme brachte ich mühsam hervor: „Bitten Sie doch eine meiner Kolleginnen darum, das Schild gut sichtbar am Fenster anzubringen. Ich bin dafür im Moment noch etwas zu aufgewühlt.“ Herr Schöne reagierte mit einem verständnisvollen Kopfnicken.

Christine erwies sich mal wieder als richtige Freundin. Sie hatte die Szene beobachtet, und mein Gesicht, das Ernüchterung und Verzweiflung widerspiegelte, weckte in ihr wohl ein Gefühl der Solidarität. Sie ging auf Herrn Schöne zu und meinte: „Ich bringe das Schild gerne am Schaufenster an. Wir sind doch alle Teamplayer.“ Sie bedachte mich mit einem herzlichen Lächeln, das mich aufbauen und mir versichern sollte: Wir stehen das gemeinsam durch. Ich war so gerührt, dass sich auf meinem Gesicht das erste Lächeln seit gut 60 Minuten vorwagte. Denn so lange war es her, dass Karl Schöne uns verkündet hatte, dass das Geschäft bald nur noch eine Erinnerung sein würde. Für mich war der Laden eine Insel des Glücks gewesen, die in Kürze wie einst Atlantis im Meer versinken sollte. Bald würde ich diese Insel nie wieder betreten und nie wieder dieses wohlige Gefühl in meiner Magengrube spüren können. Diese Mischung aus Geborgenheit, Vertrautheit und Freude.

Ich wollte gerade ein paar Quittungen auf der Theke sortieren und einige Schuhe, die dahinter herumstanden, mit einem Preisschild versehen, als ein junger Mann über die Ladenschwelle trat. Er sah sehr gut aus. Er hatte kurzes dunkelblondes Haar, sein Körper wirkte durchtrainiert, und seine Augen leuchteten in einem wunderbaren Schokobraun. Er schaute sich gar nicht erst näher im La Scarpa um, sondern eilte direkt auf mich zu. „Entschuldigen Sie, ich bräuchte ein Paar Schuhe in Größe zweiundvierzig. Von Vernice, genarbt und in Schwarz.“ Der Mann lächelte mich so freundlich an, dass sich meine Lippen wie von selbst zu einem breiten Lächeln auseinanderzogen. Das hätte ich noch vor wenigen Minuten für vollkommen unmöglich gehalten. Doch das selbstbewusste und zugleich offene Auftreten dieses jungen Mannes machten es möglich. „Ich glaube, diesen Schuh haben wir noch da. Sie müssen nämlich wissen, dass wir in einem Monat schließen. Ich frage meinen Chef mal, ob der Räumungsrabatt schon jetzt gültig ist. Es sind dreißig Prozent Preisnachlass geplant.“

Überraschenderweise zwinkerte mir der Mann daraufhin verschwörerisch zu und sagte: „Das mit dem Rabatt vergessen wir mal ganz schnell. Ich spiele nämlich nur mal wieder den Laufburschen für meinen Vater, der unbedingt ein paar neue schicke Schuhe braucht. Er kann es sich durchaus leisten, den vollen Preis zu zahlen.“ Ich sah den Mann etwas verwundert an, beschloss jedoch, ihm keine weiteren Fragen stellen. Das Verhältnis zu seinem Vater ging mich schließlich nicht das Geringste an. Doch dann plauderte er zu meiner Überraschung von selbst aus dem Nähkästchen. „Mein Vater ist Personalmanager bei einem Modemagazin und heuert den ganzen Tag neue Leute an, während er andere feuert.“ Der Mann schmunzelte vielsagend.

„Er ist mit der Chefredakteurin verheiratet. Sie ist für mich eine Art Zierpflanze, er das Nachschattengewächs. Er lebt gewissermaßen in ihrem Schatten, was ihn durchaus wurmt, denke ich. Ich bin das ungeliebte Kind aus erster Ehe, das zu Botengängen abgestellt wird. Ich trage den Mädchennamen meiner Mutter, was meinem Vater, glaube ich, mehr als recht ist. Wahrscheinlich schämt er sich für mich, weil ich an meinem Physikstudium gescheitert bin. Schon nach ein paar Semestern war mir klar, dass ich nie eines Tages nervtötende Schüler unterrichten oder Atome spalten würde. Das wiederum hat meinen Vater und mich sozusagen gespaltet.“ Er legte eine kurze Pause ein, bevor er fortfuhr: „Ich sage Ihnen das nur, weil Sie so einen traurigen Eindruck auf mich gemacht haben. Hat wohl etwas mit der Geschäftsaufgabe zu tun. Ich wollte Ihnen damit klarmachen, dass auch ich nicht immer auf der Sonnenseite des Lebens stehe. Aber selbstverständlich will ich Sie nicht mit meinem Leben langweilen oder Ihnen zu nahe treten.“

„Das ist schon in Ordnung“, entgegnete ich. Ich musste zunächst einmal verdauen, dass da ein Mann vor mir stand, der mir ohne Umschweife einen tiefen Einblick in sein Leben gegeben hatte. Dass er an seinem Physikstudium gescheitert war und dies ganz offen zugab, machte ihn mir sehr sympathisch. Bei dem Wort Modemagazin hatte mein Herz einen kleinen Sprung gemacht und mein Wunsch sich wieder in meine Gedanken gedrängt. Der Wunsch, eine Kolumne zu schreiben. Um der Unterhaltung wieder den Anstrich eines Verkaufsgesprächs zu geben, meinte ich: „Ich hole Ihnen jetzt den Gegenschuh zu dem, den Sie dort in der Ablage sehen. Dafür muss ich schnell ins Lager, bin aber gleich wieder da.“ Irgendwie fühlte ich mich mit einem Mal sehr in mich gekehrt. Völlig in Gedanken versunken. Als ich im Lager stand, brauchte ich auch deutlich länger als sonst, um den passenden Schuh zu finden. Als ich endlich den richtigen Karton in Händen hielt, ging ich zurück zur Theke. Der Mann hatte mittlerweile den gewünschten Schuh aus dem Regal geholt. Ich nahm ihm diesen aus der Hand und legte ihn zu dem in dem Schuhkarton, den ich daraufhin sofort schloss. „Wie möchten Sie zahlen?“, fragte ich und merkte, dass ich Blickkontakt zu dem jungen Mann suchte. „Ich bezahle mit der Kreditkarte meines Vaters. Keine Angst, ich habe Ihnen kein Märchen erzählt. Er würde wahrscheinlich sogar einen Wutanfall bekommen, wenn ich diese Schuhe nicht für ihn kaufen würde.“ Er zückte sein Portemonnaie und brachte die American-Express-Karte in Gold zum Vorschein. Ich pfiff unwillkürlich durch die Zähne, was mir im Nachhinein äußerst peinlich war. Der Mann reagierte darauf mit einem Lächeln: „Sie sehen selbst, dass mein Vater nicht auf die Suppenküche angewiesen ist.“

Ohne darauf etwas zu erwidern, zog ich die Karte durch das Lesegerät. Auf der Karte standen der Name Will Gerster und natürlich die Kreditkartennummer. Nachdem wir das Finanzielle geregelt hatten, sagte der Mann, während er sich den Karton unter seinen linken Arm klemmte: „Machen Sie es gut. Geschäftsaufgabe hin oder her, es wäre schade, wenn Sie Ihr Lächeln vergessen würden. Es ist nämlich sehr schön.“ Mit diesen Worten ließ er mich zurück, was zur Folge hatte, dass sich meine Lippen erneut zu einem breiten Lächeln verzogen. Sein Kompliment hatte mich sehr gefreut.

Dem Glück auf den Fersen

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