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Kapitel 2 Zwei Männer, ein Glück
ОглавлениеDie Reise bis zur slowakischen Grenze erwies sich als leicht und angenehm: In Kiew setzte sich Petro Schenko in den Zug und erreichte mit zwei Umstiegen die Stadt Uschhorod. Die warme Sommernacht verbrachte er auf dem Bahnhof. Am nächsten Morgen, während er laut und ausgiebig gähnte, gab er sich ganz dem Traum hin, dass er schon gegen Abend die Grenze zur Slowakei überqueren würde. Von dort führte Weg direkt nach Österreich und weiter – in das langersehnte Deutschland. Halbverschlafen trottete Petro zum Imbiss, wo er sich eine Flasche Bier, ein Glas Tee und zwei große mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen kaufte.
Nachdem er so viel gegessen hatte, dass er schon aufstoßen musste, begab er sich nach draußen und dehnte sich wie ein satter Kater nach dem Mittagessen. In der Nähe des Bahnhofeingangs stand ein schiefer Zeitungskiosk. „Mein Kiosk in Kiew sah viel schicker aus ...“, dachte Schenko, und zufrieden korrigierte er sich: „Mein ehemaliger Kiosk.“ Er fragte den Verkäufer nach einer Karte Europas: diese brauchte er, um sich besser orientieren zu können.
Als er vom Kiosk zurückging, lobte Petro sich für seine Umsicht und faltete die Karte auf. Plötzlich trübte sich sein Blick, den er auf das große geographische Blatt warf. Er staunte und lehnte sich an die Wand, um nicht umzufallen. Sehr bald aber kam er wieder zu sich, fand eine freie Bank, setzte sich bequem hin und breitete erneut die Karte aus.
„Ich verstehe schon, dass die Geschichte sehr in Bewegung ist und jeden Tag neue Überraschungen mit sich bringt – man kommt ihr einfach nicht nach. Heute weiß sogar der letzte Depp in der Ukraine, dass nicht Kolumbus, sondern der Ukrainer Kolumbenko Amerika entdeckt hat“, murmelte Schenko leise. Er versuchte sich zu beruhigen und sammelte seine zerstreuten Gedanken. „Wann hat es die Ukraine denn geschafft, Russland zu erobern? Ich habe Kiew vor einem Tag verlassen, habe ungefähr drei Tage keine Nachrichten geschaut, und auf der Karte liegt die Grenze zwischen der Ukraine und Russland schon hinter dem Ural, in Sibirien.
Welch eine Geschwindigkeit ...
Interessant, und wo bitte sind Polen und die Baltischen Staaten geblieben? Gehören die denn auch dem ukrainischen Vaterland?“
Petro brütete versonnen über diesem schweren Rätsel.
„Ich verstehe es einfach nicht. Bei der Nationalgarde konnte man doch keine großen Erfolge beobachten. Vor einem Monat noch sagte mein Nachbar, ein Major, dass die amerikanischen Spezialtruppen das Risiko eingegangen sind und in die Ukraine kamen, um unseren Soldaten beizubringen, richtig Krieg zu führen. Man musste lange auf die Amerikaner warten, verständlicherweise. Sie mussten zuerst sicher sein, dass sich auf dem ukrainischen Territorium keine russischen Truppen befanden.
Keiner möchte Probleme mit den ‚höflichen‘ Russen.
Die Amerikaner überzeugten sich schweigend und begannen dann mit der Lehre.
Sind wir denn wirklich so gute Schüler, dass wir es in einem Monat schaffen, das Kriegen zu erlernen und mit Blitzgeschwindigkeit ein Stück von Russland abzuschneiden? Keine ukrainische Armee, sondern Piloten der Formel 1! Rasend schnelle Meteoriten!
Dinge gibt’s …
Und wenn es so weitergeht, dann kommt die Ukraine auf den Geschmack und erobert ganz Europa? Dann wird es eine Ukrainische Union geben und keine Europäische ... Hahaha!!! … Mit Sitz in Kiew und nicht in Brüssel ...
Doch nein, nein, lieber nicht!
Und ob es überhaupt dazu kommt, weiß man ja nicht. Bis es so weit ist, kann man ohne Arbeit und Geld auch verhungern. Im Moment habe ich Plan А: nach Deutschland zu kommen und meine Cousine zu finden. Plan B überlege ich mir, wenn ich das deutsche Alphabet besser kenne.“
Petro legte die Karte zusammen, erhob sich von der Bank, schaute sich um und steckte die Karte unbemerkt in den Abfallkorb. Nachdem er sich noch einmal umgeschaut und die Richtung bestimmt hatte, begab er sich zur Grenze.
Später sollte er sich wie ein Alptraum an die kommende Woche erinnern. Vor Aufregung, Gefahr und der Furcht, festgenommen zu werden, vergaß er vollkommen, wie er es bis nach Wien schaffen könnte. Doch er schaffte es. Seine Deutschkenntnisse aus der Schulzeit, vermischt mit Bruchstücken des Englischen, reichten aus, um die Aufnahmestelle für Flüchtlinge zu finden. Hier war er der einzige Mensch mit heller Hautfarbe. Die anderen waren sehr dunkel: gänzlich dunkelhäutig, weniger dunkelhäutig, sehr braun oder dreckig-ungewaschen. Unter diesem Schmutz war es unmöglich, die Hautfarbe zu erkennen.
Nach einem kurzen Gedränge in der vielsprachigen, schlecht riechenden und merkwürdig aggressiven Menschenmenge verspürte Petro unvermittelt einige herbe Schläge auf seinem Rücken. Südländische junge Männer drängten den weißhäutigen Fremden, der sich in ihre engen Reihen gemischt hatte, zum Ausgang: Sie brauchten keine Konkurrenz. Riskieren wollte unser Kiewer nichts, deshalb verließ er schnell das verschmutzte Wohnheim. Er durchquerte einen Teil von Wien, schleppte sich bis zur Uferstraße der Donau, setzte sich auf eine Steintreppe und holte einen türkischen Döner, den er unterwegs gekauft hatte, aus der Tasche.
„Merkwürdig, wie sich das Leben in der Ukraine gewendet hat“, dachte er, während er das sehnige Fleisch gründlich kaute. „Ukrainer fahren nach Europa, um dort als Putzkräfte und Prostituierte zu arbeiten. Balten und Amerikaner kommen als Minister in die Ukraine, und Georgier werden auf den Straßen geschnappt und in den Gouverneurssessel von Odessa gesetzt. Wenn man genauer hinschaut, ist unser Premierminister ein kanadischer Bürger, der Präsident ein Bürger der Schweiz und der Gouverneur von Kiew ein Deutscher. Einige weitere israelische Bürger sitzen in den Ministersesseln. Und der Bürgermeister von Odessa, Georgier, hat die ukrainische Staatsangehörigkeit angenommen, ohne ein Wort Ukrainisch zu sprechen oder gar zu verstehen. Er hatte ja auch keine Wahl – das Gefängnis wartet schon lange auf ihn: Alle wissen, dass dem Oligarchen in Georgien mehrere Straftaten vorgeworfen werden. Das reinste Wunder!
Gut, dass in den europäischen Ländern alle auf den richtigen Plätzen sitzen. Fragt sich nur, wie lange noch? Mit dieser bunten, ungewaschenen Menge hat Europa eine große Chance, die Patchwork-Familie zu werden, die es immer hatte sein wollen. Eine große, aggressive und ständig miteinander unzufriedene Familie. Dafür muss niemand aus anderen Ländern eingeladen werden … Doch für meine Lebenszeit hier wird das schöne Leben doch noch ausreichen ... Zumindest hoffe ich sehr darauf.“
„Hi you, hello“, vernahm Petro plötzlich neben sich eine unbekannte Stimme auf Englisch.
Als sich unser Kiewer umdrehte, sah er einen schlanken jungen Mann, der sich neben ihn setzte. Er war europäisch gekleidet, mehr oder weniger gepflegt, aber sein Äußeres verriet die südländische Herkunft. In seinen Augen war Freundlichkeit zu erkennen.
„Ich habe dich schon an der Aufnahmestelle bemerkt. Du Armer bist dort ja fast zusammengetreten worden“, sprach der Unbekannte weiter. „Woher kommst du, Habibi2)? Aus dem hohen Norden? Hast du schon einen Gesprächstermin?“
„Eeeh…“ Petro war überrascht. Er wusste nicht, wie er auf die Worte des Fremden reagieren sollte. Aber zu seinem Erstaunen verstand er die englischen Worte recht gut. Nach kurzer Überlegung entschied er, sich auf ein Gespräch einzulassen. Letztendlich hatte er ja nichts zu verlieren.
In der Stadt war eine Menge Polizei und es konnte nichts Schlimmes passieren.
„Eigentlich fahre ich weiter, nach Deutschland, und hier bin ich einfach so, aus Interesse. Ich wollte mich nach den Regeln der
Flüchtlingsaufnahme erkundigen. Ich komme aus der Ukraine, nicht weit von hier. Und woher bist du?“
„Hallo Bruder, lass uns einander bekannt machen“, freute sich aus irgendeinem Grund der Südländer und reichte Petro Schenko die Hand. „Ich heiße Amon Nef und komme aus Ägypten.“
Angesichts solcher Freundlichkeit traten Schenko Tränen in die Augen. Ein unbekannter Mensch in einem fremden Land reichte ihm die Hand und bot seine Freundschaft an?
Nein, so etwas war ihm noch nie passiert ...
Wenn man berücksichtigte, dass er zum ersten Mal im Ausland war. Unser ukrainischer Bursche schluchzte also laut auf und reichte dem anderen die Hand.
„Ich bin Petro Schenko, du kannst einfach Petro zu mir sagen.“
„Pedro? Ukraine ... noch nie gehört. Ist das Spanien?“
„Nein, nicht Spanien. Und ich bin kein Pedro, sondern Petro. Du musst doch die Ukraine kennen! Wir sind das einzige Land in der Welt, in dem der Präsident die Pralinen für uns selbst macht! ‚Roshen‘ heißen sie.“
„Oh … oh!“, sagte langsam und respektvoll der Ägypter und holte ein iPhone aus seiner Tasche. Er hielt sich das Display dicht vor die Nase, drückte mehrmals darauf herum und sagte mutlos: „Wieso willst du nach Deutschland? Deine Ukraine hat doch dieselben Farben auf der Flagge wie die Schweden, eins zu eins. Fahr dorthin! Sie müssen dich dort wie einen Bruder empfangen. Ihr habt wahrscheinlich das gleiche Blut.“
„Was hat Schweden damit zu tun?“ Petro fühlte sich seltsam beleidigt. „Na und, auch wenn die Farben gleich sind? Was für Brüder? Sie haben mich nicht eingeladen.“
„Und die Deutschen?“, fragte Nef interessiert und steckte sein iPhone zurück in die Tasche.
„Natürlich, sie laden ein“, erklärte Petro ernst. Jetzt fühlte er sich als Herr der Lage. „Die Frau Kanzlerin sagte im Fernsehen: ‚Alle, denen es schlecht geht, können nach Deutschland kommen.
Wir nehmen alle auf.‘
Mir geht es schlecht, deshalb bin ich auch gefahren. Man sagt, man bekomme dort jeden Monat Geld, werde mit einer Wohnung, Möbeln, Kleidung und Schuhen versorgt. Zur Arbeit wird man auch nicht gezwungen. Stell dir mal vor, ist das kein schönes Leben? Deutschland hat immer damit angegeben, dass es ihm so gut geht und Afrika und vielen anderen Ländern helfen kann.
Jetzt kommen wir aus allen Ecken in dieses Paradies.
Hast du denn nichts davon gehört?“
„Pedro, mein Lieber, erzähle mir noch mehr über Deutschland. Vielleicht fahren wir zusammen dorthin?“
Petro beschloss, den neuen Bekannten nicht wegen seines erneut falsch ausgesprochenen Namens zu verbessern. Er war eben ein Dummkopf, dachte er milde und fragte:
„Wieso willst du nach Deutschland? Ich habe es so verstanden, dass du in Österreich bleiben möchtest? Du hast doch einen Asylantrag gestellt ...“
„Weißt du, Pedro, gute Länder gibt es nie zu viele. Ich habe drei Pässe, deshalb kann einer hier bleiben, und ich fahre mit dir nach Deutschland. Vielleicht ist es dort besser? Ich habe eine große Familie, bis ich mich mit ihr an einem neuen Wohnort eingelebt habe, wird viel Zeit vergehen. Also, wollen wir zusammen fahren?“
Petro Schenko überlegte eine Weile. Er stellte sich die Reise eines einsamen Wolfes vor, durch unbekanntes Land, voller Gefahren und Polizisten. Dieser Amon-Hamon sprach viel besser Englisch als er. Vielleicht konnte er auch besser Deutsch? Und zu zweit war es wirklich viel einfacher, als allein zu verreisen.
„Gut, Hamon. Lass uns gemeinsam nach Deutschland fahren. Sollte es Schwierigkeiten geben, können wir uns gegenseitig unterstützen, jа?“
„Klar werden wir uns unterstützen, Habibi, Freund! Aber Pedro, ich heiße A-m-o-n. Das ist ein alter arabischer Name und kein spanischer Schinken.“
„Gut! Kein Schinken, dann kein Schinken. Hol mal dein iPhone raus und lass uns schauen, wie wir nach Deutschland kommen. Die ukrainische Karte von Europa taugt nur für Zerstörungsmanöver. Dort ist noch nicht mal Österreich drauf – überall nur Ukraine.“
Zwei Männerköpfe, ein blonder und ein gewellt-schwarzhaariger, beugten sich über das iPhone. In der Nähe führte Europas längster Fluss, die Donau, ihre majestätischen Gewässer. Ihren Anfang nahm sie in Deutschland, in dem Land, in dem unsere Reisenden anzukommen vorhatten. In dem sie aber zu ihrem Bedauern nicht geboren waren …
Der Schönheit der österreichischen Hauptstadt schenkten unsere neuen Kameraden keine besondere Aufmerksamkeit. Sie interessierten sich nicht für die wunderschönen Brücken zwischen den zwei Ufern, die hohen Spiegelgebäude, die auf beiden Seiten entlang der Donau standen, die historischen Bauwerke, die als Museum unter offenen Himmel nach der Ära der Habsburger zurückgeblieben waren.
Vor ihren Augen stand nur ein Wort: Deutschland.
Ihre Herzen schlugen gemeinsam im Takt: Deutschland.
Die Seelen flackerten süß: Deutschland.
Mit offenen Ohren fingen die jungen Leute alle Nachrichten um sie herum auf und erfuhren, dass andere Länder die Aufnahmeregeln für ausländische Bürger streng einhielten. Wie auf jedem Markt: Jeder hatte seinen Kunden. England nahm große und mittlere Ganovenoligarchen auf; Amerika aller Art Verräter, aber gebildete; die Ukraine Bandera3)-Fans, Banditen und Mörder; und Europa: Flüchtlinge mit einem Teil versteckter Terroristen.
Wessen Verteilung das war, wer die Karten gemischt hatte?
Und wer die Bank besaß?
Das war sogar einem Kind klar …
Und wenn man über Taschendiebe und jene, die Millionen vom Staat entwendet hatten, noch streiten konnte, wer von ihnen ehrlicher war: Wie sollte man da einen armen Flüchtling von einem potenziellen Terroristen unterscheiden? Sogar der beste
Sicherheitsdienst war nicht immer in der Lage, diese Frage zu klären. Umso weniger, wenn er nicht für seinen, sondern einen fremden Geheimdienst arbeitete.
Die Interessen eines fremden und nicht seines Landes verteidigte.
Petro und Amon klopften gegenseitig ihre Taschen ab und vergewisserten sich, dass sie weder Waffen noch Sprengstoff dabeihatten.
„Also, wir sind beide friedliche Flüchtlinge und keine Terroristen“, dachte jeder bei sich, schüttelten sich einvernehmlich die Hände und begaben sich in Richtung Bahnhof.