Читать книгу Heimat der Greifen - Lina Lintu - Страница 7
2. Kapitel
ОглавлениеArdara war ein kleiner, beschaulicher Ort, der im nördlichsten Teil Südirlands lag. Es gab nur eine große Straße, die grob der nordwestlichen Küste folgte und Ardara war eine von vielen kleinen Perlen, die sich lose entlang dieser Kette aufreihten. Rings um den Stadtkern herrschte nach wie vor die Natur.
Nina hatte ihr Auto bei einem kleinen Supermarkt geparkt und beschlossen, von dort aus den Ort zu Fuß zu erkunden.
Es gab mehrere Hotels, B'n'Bs, Restaurants, Bäcker, Pubs und die üblichen Geschäfte. Alles sprach für ein ruhiges Leben mit moderatem Tourismus, der mehr der wunderschönen Landschaft im Umland geschuldet war als der Stadt selbst.
Nina erinnerte sich vage an einen Besuch vor vielen, vielen Jahren. Damals war sie noch nicht mal in die Schule gegangen. Sie war mit ihren Eltern und Josephine an die nahegelegene Küste gefahren, wo Nina die meiste Zeit am Strand gespielt hatte. Aber auch an steile Hügel und an einen Wasserfall konnte sie sich noch dunkel erinnern.
Das war definitiv ein Ziel, das sie in den nächsten Tagen oder Wochen nochmal besuchen würde. Doch erst einmal wollte sie sich in der Stadt orientieren.
Nachdem sie einmal die Hauptstraße rauf und wieder runter spaziert war, hatte Nina schon einen guten Überblick, der ihren ersten Eindruck bestätigte.
Zeit für eine Pause. Sie kaufte sich eine Tageszeitung und setzte sich damit in ein kleines Café. Bei Croissant und Heißer Schokolade blätterte sie durch die Stellenanzeigen und versuchte, auf dem winzigen Tisch nichts umzuwerfen.
Die meisten Anzeigen sprachen sie nicht an. Sie wollte nicht in einer Metzgerei arbeiten und auch nicht in der Zahnarztpraxis. Dafür reichte ihre Ausbildung als Einzelhandelskauffrau definitiv nicht. Der Souvenirladen, der eine Aushilfe suchte, kam aber in die engere Auswahl. Ebenso wie das Geschäft für Gartenbedarf, auch wenn Ninas Erfahrungen mit Pflanzen sich hauptsächlich auf anspruchslose Zimmerpflanzen mit drastisch reduzierter Lebenserwartung beschränkten. Aber versuchen konnte sie es ja trotzdem.
Und wenn sie ohnehin schon mal im Ort war, konnte sie auch gleich in den jeweiligen Geschäften vorbeischauen. Schnell hatte sie die Adressen im Handy eingegeben. Der Souvenirladen lag näher, nur wenige Minuten zu Fuß von dem Café entfernt.
Das war einer der entscheidenden Vorteile an einem so kleinen Ort. Wenn man hier wohnte, brauchte man nur dann ein Auto, wenn man etwas in der nächstgrößeren Stadt besorgen musste. Oder eben wenn man ein paar Kilometer außerhalb lebte, wie die Bewohner des Bailangryph Cottage. Alle anderen waren mit Fahrrädern und gesunden Füßen gut bedient, was sich auch an Ardaras Straßenbild zeigte: vor den Häusern parkten mindestens ebenso viele Fahrräder wie Autos.
Der Souvenirladen lag direkt an der Hauptstraße, flankiert von zwei Gasthäusern. Die perfekte Lage also. Im Schaufenster klebte ein handgeschriebener Zettel mit der Aufschrift „Aushilfe gesucht“, dahinter lagen Kleidungsstücke und Regenschirme aus, manche mit dem Stadtwappen von Ardara, andere mit irischen Flaggen und Kleeblättern.
Im Inneren setzte sich ein ähnliches Angebot fort. Schlüsselanhänger, Postkarten, Bierdeckel … Zu ihrer Freude entdeckte Nina auch ein paar Figuren und Plüschtiere, die Greifen darstellten. Keines davon reichte aber auch nur ansatzweise an die Schönheit der Tiere heran.
Der Verkäufer bemerkte ihr Interesse für diese Produkte und kam näher. Er hatte einen imposanten Schnurrbart.
„Ardara war mal berühmt für seine Greifenzucht.“ Er verschluckte beim Sprechen das zweite A von Ardara.
„Tatsächlich?“
„Ja, es gibt ein Landgut in der Nähe. Bailangryph. Früher waren die Tiere auf Ausstellungen und Turnieren weltberühmt.“
„Und jetzt nicht mehr?“
„Leider nicht. Mrs. Harper ist vor Kurzem gestorben. Aber sie hat die Zucht schon vor vielen Jahren eingestellt. Das hat sich leider auch auf den Tourismus ausgewirkt. Jetzt will jeder nur Kleeblätter und Leprechauns. Greifen sind nicht mehr im Trend.“ Der Verkäufer schüttelte betrübt den Kopf.
„Kannten Sie Mrs. Harper gut?“, fragte Nina.
Er zuckte mit den Schultern. „In einem Ort wie Ardara kennt jeder jeden. Und Mrs. Harper war wegen ihren Greifen schon fast eine Berühmtheit. Ich habe nicht viel mit ihr zu tun gehabt, aber sie kam manchmal in meinen Laden und hat mir die Zeit vertrieben, wenn gerade keine Kunden da waren. Sie war eine stolze Frau, aber mit einem großem Herzen.“
Nina lächelte.
„Das freut mich zu hören. Sie war meine Oma.“
„Oh, mein Beileid.“
„Danke.“
Der Verkäufer rieb sich den Bart. Dann drehte er sich zu einem Regal um.
„Hier, vielleicht als kleines Andenken an sie.“ Er nahm einen geschnitzten Holzgreifen und hielt ihn Nina hin.
„Vielen Dank! Aber eigentlich habe ich schon ein Andenken …“
„Nimm es ruhig. Und falls ich sonst noch was für dich tun kann, frag nur.“
„Nun, da wäre tatsächlich eine Sache … Ich bin gestern im Bailangryph Cottage eingezogen und bräuchte jetzt hier in Ardara einen Job.“
Dieses Mal verpasste Nina das Abendessen nicht. Irenas Kochkünste waren sogar noch bemerkenswerter als beim Frühstück. Wenn Nina nicht aufpasste, dann würde sie in den nächsten Wochen einige Kilos zunehmen.
Was sich im Vergleich zum Frühstück aber nicht geändert hatte, was Robins Verhalten ihr gegenüber. Die freundlichen Worte im Stall schienen vergessen und sie kommunizierte hauptsächlich durch kühles Schweigen.
Dementsprechend war Nina auch nicht traurig, dass Robin früher als die anderen beiden vom Tisch aufstand und wieder verschwand.
Nina wusste inzwischen, dass Robin sich bewusst das Zimmer im Erdgeschoss ausgesucht hatte, das direkt neben der Hintertür lag. Dadurch konnte sie schneller zum Stall gelangen und bei Bedarf die Begegnungen mit anderen Menschen auf ein Minimum reduzieren.
Doch damit wollte Nina sich im Moment gar nicht beschäftigen.
„Ich würde mir heute gerne Josephines Sachen ansehen“, sagte sie.
„Kein Problem, sobald ich hier aufgeräumt habe, hole ich dir die Kisten nach unten“, entgegnete Irena sofort hilfsbereit.
„Nein, kein Problem, ich kann sie auch selbst holen. Du musst mir nur sagen, wie ich die Luke zum Dachboden auf kriege.“
Während die beiden Frauen das Geschirr in die Spülmaschine räumten, erklärte Irena Nina, wo sie den Haken fand, mit dem sie die Dachluke nach unten ziehen konnte.
„Du musst dich seitlich von der Luke hinstellen. Die Leiter klappt sich manchmal von alleine auf und dann ist dein hübsches Köpfchen wenigstens in Sicherheit. Und der Fußboden hat sowieso schon Macken.“
Die Leiter knallte tatsächlich unsanft auf den Boden, doch dank Irenas Warnung passierte Nina nichts. Sie wartete kurz, ob noch irgendetwas anderes durch die Dachluke fiel – zum Beispiel Insekten oder Spinnen –, doch als die Luft rein blieb, erklomm sie vorsichtig die glatten Holzsprossen.
Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen und so wurde die Luft auf dem Dachboden von goldenen Lichtstrahlen durchbohrt, in denen der Staub tanzte.
Abgesehen davon war es aber erstaunlich sauber hier oben. Da hatten unter Ninas Bett in ihrer Duisburger Wohnung deutlich mehr Wollmäuse gelebt.
Die Kartons, die sie suchte, standen links von der Dachluke unter einer der Dachschrägen. Sechs Stück waren es, alle fein säuberlich beschriftet. Die Kleidung würde sich Nina bei einer anderen Gelegenheit vornehmen. Heute hatte sie es auf die Kisten mit den persönlichen Gegenständen abgesehen. Sie trug beide in ihr Zimmer, zu ihrer eigenen Überraschung sogar unfallfrei.
Die erste Kiste stellte sich gleich als die heraus, auf die Nina gehofft hatte. Eingeschlagen in Luftpolsterfolie lagen drei Trophäen, eine davon aus Metall, die anderen beiden aus kunstvoll geschliffenem Glas. Es waren erste Preise von Greifenaustellungen.
Nina wischte über die Gravur einer der Trophäen.
1. Platz
für SHADOW
in der Kategorie Male Intact
London, 26.04.1985
Sie stutzte. Wie alt konnten Greifen werden? Nina war sich nicht sicher und Greifen sah man ihr Alter auch nicht unbedingt an. Aber 10 Jahre älter als sie selbst? Das erschien ihr unwahrscheinlich.
Vielleicht war das ein Thema, das sie bei nächster Gelegenheit mit Robin besprechen könnte. Falls sie denn mit ihr redete. Doch bisher hatte sich das Thema Greifen als sehr positiv erwiesen.
Nina legte die Trophäen beiseite und holte die nächsten Gegenstände aus der Kiste hervor. Ein dicker Ordner, offenbar mit Zuchtunterlagen.
Fasziniert blätterte sie willkürlich durch die Seiten, doch viel konnte Nina damit nicht anfangen. Klar war aber, dass viele der Tiere ihrer Großmutter Stammbäume hatten, die über viele Generationen belegt waren. Es waren hochoffiziell aussehende Urkunden dabei, mit Stempeln, Siegeln und schwungvollen, unleserlichen Unterschriften. Und immer wieder Belege über den Erfolg ihrer Zucht.
Denn die Urkunden über die Siege in Ausstellungen und Turnieren hatten ihren eigenen Ordner. Die drei Trophäen waren nur symbolisch gewesen für wesentlich mehr Erfolge.
Der Verkäufer im Souvenirladen hatte also recht gehabt. Die Zucht von Bailangryph war einst beeindruckend gewesen. Doch vor etwa siebzehn Jahren hatte das alles schlagartig aufgehört. Auf diesen Zeitpunkt war der letzte Sieg dokumentiert, danach wurden auch die Aufzeichnungen über die Zucht sehr spärlich. Der letzte Eintrag war acht Jahre alt und galt der Geburt von Shadow, dem schwarzen Greifen.
Also bezog sich die Trophäe auf einen anderen Shadow. Natürlich, Robin hatte ihr ja sogar gesagt, dass sie den Namen ausgesucht hatte. Jetzt fühlte Nina sich dumm. Zum Glück hatte sie das Thema nicht angesprochen.
Blieb aber noch die Frage, warum diese offensichtlich so erfolgreiche Zucht seit acht Jahren keine neuen Greifen mehr hervorgebracht hatte. Über die Gründe fanden sich keine Aufzeichnungen. Und so sehr Nina auch in ihrem Gedächtnis kramte, sie konnte sich nicht erinnern, mit ihrer Oma je über dieses Thema gesprochen zu haben. Schlicht und einfach, weil es sie nicht interessiert hatte.
Wäre das anders gewesen, wenn Nina damals schon gewusst hätte, dass sie all das erben würde? Vermutlich nicht, wie sie sich eingestehen musste.
Die ersten Anzeichen für Interesse erwachten erst jetzt, wo sie die Greifen zum ersten Mal aus der Nähe gesehen hatte. Robins Begeisterung für diese Tiere hatte auch einen Teil dazu beigetragen, auch wenn sie sich scheinbar Mühe gab, Ninas Interesse gleich wieder zu dämpfen.
Vielleicht war also auch eine gute Portion Trotz mit dabei, als Nina sich jetzt schwor, mehr zu diesem Thema herauszufinden. Sie wollte wissen, warum die weltberühmte Greifenzucht nicht mehr weltberühmt war. Und ob es vielleicht sogar einen Weg gab, das wieder zu ändern.
Auf Robins Hilfe wollte sie dabei aber vorerst verzichten. Doch Irena konnte ihr bestimmt mehr erzählen. Immerhin war sie nicht nur Josephines Haushälterin gewesen, sondern auch eine langjährige Freundin.
Beim Frühstück bot sich allerdings noch nicht die Gelegenheit für dieses Gespräch. Denn ausnahmsweise war Robin pünktlich – und völlig durchnässt.
„Was ist passiert?“, fragte Irena, bevor Nina es tun musste. Sie hörten alle den Regen, der leise gegen das Fenster trommelte, aber der Weg vom Cottage bis zum Stall war nicht weit genug, um so nass zu werden.
„Gewitter“, brummte Robin missmutig in ihre Teetasse.
Irena nickte verständnisvoll, doch Nina hatte keine Ahnung, was sie mit dieser Antwort anfangen sollte. Zum Glück bemerkte Irena das noch vor Robin.
„Shadow, einer der Greifen, hat Angst bei Gewitter“, erklärte sie.
„Ja, und es hat natürlich genau dann gedonnert, als ich seine Box offen hatte. Zum Glück hatte ich ihn schon gegurtet, sonst wäre er jetzt wahrscheinlich auf halbem Weg nach Dublin.“
Die Erklärung warf genauso viele Fragen auf, wie sie beantwortete. Und da Irena dieses Mal nicht zur Hilfe kam, musste Nina wohl oder übel selbst nachfragen.
„Was heißt gegurtet?“
Robins genervtes Schnauben hätte fast als Schniefen durchgehen können. Aber nur fast.
„Greifen haben Flügel“, erklärte sie, als wäre Nina ein kleines Kind. „Damit sie nicht wegfliegen, wenn wir sie nach draußen ins Freigehege lassen, binden wir einen Gurt um einen oder beide Flügel. Und nur deshalb konnte ich Shadow wieder einfangen, nachdem er panisch nach draußen auf den Hof gelaufen ist.“
Das klang logisch. Bisher hatte Nina angenommen, dass die Greifen so weit domestiziert waren, dass sie freiwillig an dem Ort blieben, der ihnen Futter und Schutz gewährte. Offenbar ein Irrtum.
„Da hast du aber Glück gehabt“, sagte sie, um von ihrer Fehleinschätzung abzulenken.
„Du kannst es Glück nennen. Oder gesunden Menschenverstand.“
Der letzte Rest Mitleid, den Nina für Robin empfunden hat, löste sich in Ärger auf, der ähnlich heiß war, wie der Tee. Dennoch trank Nina ihre Tasse in einem Zug leer und stand auf. Sie hatte heute nicht den Nerv für solche Diskussionen.
Sie wandte sich an Irena. „Ich muss zur Arbeit. Danke für das Frühstück.“
Und schon ließ sie die Küche hinter sich.
Es stimmte, sie hatte heute ihren ersten Probetag im Souvenirladen, doch es reichte, wenn sie erst in einer halben Stunde losfuhr. Diese dreißig Minuten wollte sie jedoch lieber in ihrem Zimmer verbringen als in Robins Gegenwart, die mal so freundlich sein konnte und dann wieder ätzend wie Farina aus ihrer alten Schulklasse.
Wenn Greifen genauso unberechenbar und launisch waren wie Robin, dann zweifelte Nina schon ein wenig, ob es eine gute Idee war, sich näher mit ihnen befassen zu wollen. Aber ihr Trotz war stärker als ihre Zweifel.
Im Endeffekt machte es keinen Unterschied, ob sie die verbleibende halbe Stunde in der Küche geblieben wäre oder nicht, denn die ganze Zeit, bis sie ins Auto stieg, kreisten ihre Gedanken um Robins unfreundliches Verhalten. Selbst auf der Fahrt ärgerte Nina sich immer noch und es wurde erst besser, als im Radio eines ihrer Lieblingslieder von der Band No Brine lief.
Deshalb war ihre Stimmung dann immerhin akzeptabel, als sie am Souvenirladen ankam und Bob sie in die Abläufe einwies. Das meiste war selbsterklärend, doch er erzählte ihr auch einige Anekdoten über Ardara und manche Produkte, mit denen sie Kunden erheitern konnte.
„Fröhliche Kunden geben mehr Geld aus“, sagte er.
Einen Verkäufer, der sein Leben lang in Ardara gelebt hat, würde Nina so schnell nicht ersetzen können, doch sie konnte dank Deutsch und Schul-Französisch mit zwei Fremdsprachen punkten, die für den Kontakt mit Touristen von Vorteil sein konnten.
Bob selbst konnte nur ein paar Brocken Deutsch, mit einem so starken Akzent, dass Nina gegen ihren Willen lachen musste. Dafür sprach er Irisch, was Nina umso beeindruckender fand.
Nachdem sie eine Stunde lang zusammen „gearbeitet“ hatten, ließ Bob Nina mit dem Laden allein. In der Zeit waren nur zwei Kunden da gewesen und in den nächsten Stunden würde es laut Bobs Einschätzung auch nicht viel mehr werden. Ein guter Einstieg für einen Anfänger.
Erst am frühen Nachmittag kam eine größere Gruppe in den Laden, zu Ninas Freude eine Reisegruppe aus Deutschland. Die Touristen freuten sich, sich nicht mit eingerostetem Englisch verständigen zu müssen und Nina machte mit ihrer freundlichen Art einiges an Umsatz. Etliche Postkarten und ein halbes Dutzend Regenschirme wanderten über die Ladentheke. Bei dem anhaltenden Regenwetter sicher nicht die schlechteste Investition.
Wenigstens hatte sich das Gewitter vom Morgen verzogen. Umso besser, denn sonst hätte Nina in den langen Phasen ohne Kunden bei jedem Donner an Shadow und Robin denken müssen. Also noch häufiger als ohnehin schon.
Am späten Nachmittag kehrte Bob zurück.
„Und, wie hast du dich geschlagen?“
„Ganz gut, glaube ich. Sind siebzehn Kunden zu dieser Zeit viel oder wenig?“
„Siebzehn Kunden? Das ist mehr als ich letzte Woche hatte!“ Bob lachte. Er zählte das Geld in der Kasse, verglich es mit den Zahlen auf der Abrechnung und nickte dann wohlwollend.
„Passt alles. Wenn du magst, kannst du morgen offiziell hier anfangen. Ich schließ dir den Laden in der Früh wieder auf und mach im Laufe des Tages einen Ersatzschlüssel für dich. Dann kannst du in Zukunft auch ohne meine Hilfe anfangen.“
Nina bedankte sich und packte ihre Tasche. Die gute Laune hielt an, bis sie vor dem Cottage parkte und daran denken musste, dass sie gleich beim Abendessen wieder Robin begegnete. Genervt lehnte sie den Kopf gegen das Lenkrad.
Wieso war ihr Robin nicht einfach egal? Wieso regte sie sich so über sie auf? Sie war doch sonst ein umgänglicher Mensch, der sich selten provozieren ließ. Aber so, wie Robin genau wusste, wie sie mit Greifen umzugehen hatte, fand sie offenbar auch bei Nina all die wunden Punkte.
Es half nichts. Sie hatte sich dafür entschieden, in das Bailangryph Cottage zu ziehen und ihr war bewusst gewesen, dass es nicht immer einfach werden würde. Das würde sie schon noch überstehen.
Sie löste ihre Stirn vom Lenkrad, straffte die Schultern und huschte die paar Meter vom Parkplatz zur Haustür, ohne allzu nass zu werden.
Im Haus roch es schon wieder lecker nach Essen. Dieses Mal hatte Irena ein Kartoffelgratin vorbereitet und nicht mit dem Käse gespart, wenn Nina das durch die Scheibe des Ofens richtig erkennen konnte.
„Wo ist Robin?“, fragte Nina; nicht zu laut, falls sie unerwartet in der Nähe war.
„Wahrscheinlich im Stall, wo sonst? Ich habe ihr nicht nur einmal vorgeschlagen, ihr Bett dort aufzustellen, so viel Zeit wie sie da verbringt.“ Irena warf dem Gratin einen kurzen Blick zu, doch die geschlossene Käsedecke hatte wohl noch nicht den gewünschten Farbton. „Als sie noch jünger war, hat sie im Sommer oft bei den Greifen geschlafen.“
„Wie kommt es eigentlich, dass Josephine jemanden hier angestellt hat, der so jung ist?“ Das war zwar nicht das Thema, das Nina am meisten unter den Nägeln brannte, doch die Gelegenheit bot sich gerade an.
„Hat sie dir das nicht erzählt?“, fragte Irena erstaunt. Nina wusste nicht, ob mit „sie“ Josephine oder Robin gemeint war, aber die Antwort war in beiden Fällen die gleiche. Sie schüttelte den Kopf. „Robins Mutter hat lange für deine Oma gearbeitet. Und vor ihr deren Mutter. Robin ist mit unseren Greifen quasi aufgewachsen. Da war es nur logisch, dass sie schließlich in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten ist.“
„Und Robins Mutter ist …?“ Da kam wieder das Mitleid vom Morgen auf, nur noch viel stärker. Die eigene Mutter zu verlieren war furchtbar. Das wusste Nina nur zu gut.
„Nein, sie ist nicht tot. Jedenfalls nicht soweit ich weiß. Sie ist verschwunden. Hat ihren Mann und ihre Tochter von einem Tag auf den anderen verlassen und sich nicht mehr gemeldet. Sie war eine wundervolle Frau, konnte mit den Greifen umgehen, als würde sie deren Sprache sprechen. Doch das hat Josephine ihr nie verziehen. Und ich glaube, Robin auch nicht.“
„Und du?“
Irena ließ sich mit der Antwort Zeit. Sie holte das Gratin behutsam aus dem Ofen und stellte es auf dem Tisch ab, bevor sie Nina in die Augen sah.
„Ich habe deiner Großmutter nie widersprochen, wenn sie sich mal wieder über Robins Mutter aufgeregt hat. Aber ganz ehrlich? Bei einem Ehemann wie dem ihren hätte ich wahrscheinlich irgendwann das Gleiche getan. Nur hätte ich mein Kind mitgenommen, statt es bei diesem Nichtsnutz zu lassen. Das ist das Einzige, was ich ihr vorwerfe.“
„Hat sie denn mit ihrem Vater noch Kontakt?“
„Sporadisch. Marlon heißt er. Schreibt ihr zu Weihnachten Karten, manchmal auch zu ihren Geburtstagen, wenn er rechtzeitig dran denkt. Umgekehrt ist es wohl ähnlich. Als sie alt genug war, eigene Entscheidungen zu treffen, hat Robin Josephine gefragt, ob sie hier wohnen kann. Sie hat angeboten, sich dafür im Stall nützlich zu machen, weil sie kein Geld hat, um die Miete zu zahlen.“ Irena lächelte. „Ich glaube, Josephine hat dieses Angebot nur angenommen, weil sie wusste, dass Robin davon noch mehr profitiert als sie selbst. Sie hat die Greifen schon immer geliebt.
Jedenfalls, nachdem er von Frau und Tochter verlassen wurde, hat Marlon nichts mehr in Ardara gehalten. Er ist bald darauf nach Cork gezogen. Von dort stammen jedenfalls seine Karten.“
Bevor Nina etwas entgegnen konnte, öffnete sich mit einem leisen Klappern die Hintertür. Irena setzte eine fröhliche Miene auf.
„Aber erzähl mir doch von deinem ersten Arbeitstag“, bat sie gutgelaunt, als wäre das die ganze Zeit schon ihr Thema gewesen.
„Ich glaube, ich habe mich nicht allzu doof angestellt“, sagte Nina, während Robin sich wortlos zu ihnen an den Tisch setzte. „Ich hatte viele Kunden und Bob wirkte ganz zufrieden. Morgen kriege ich einen eigenen Schlüssel.“
Robin war zu beschäftigt mit Essen, um etwas dazu zu sagen. Wahrscheinlich interessierte es sie auch einfach nicht.
Aber aus irgendeinem Grund störte das Nina genauso sehr wie der abwertende Kommentar, mit dem sie eigentlich gerechnet hatte.
So viel also zu ihrem Vorsatz, sich nicht mehr provozieren zu lassen.
„Ich habe heute die Aufzeichnungen der Greifenzucht gefunden“, sagte sie stattdessen. „Ist Shadow wirklich der einzige Greif, der in den letzten fünfzehn Jahren hier geboren ist?“
Robin ließ die Gabel sinken und schaute sie an. „Das heißt bei Greifen geschlüpft, nicht geboren“, nuschelte sie mit vollem Mund. „Aber ja, ist er. Kurz nachdem ich hier angefangen habe zu arbeiten, hat Vina sein Ei gelegt. Josephine hat vor Freude geweint, als sie das Küken gesehen hat.“ Ein wehmütiges Lächeln schlich sich auf Robins Gesicht. „Falls du den Namen Shadow auf den Auszeichnungen gefunden hast, das war sein Großvater, der damals massenhaft Preise abgeräumt hat. Von dem Stolz seiner Vorfahren ist aber leider nicht viel übrig geblieben, wenn man sich ansieht, wie dieser Shadow bei Gewitter reagiert.“
Robins Blick wurde ernst. „Aber das spielt bald ohnehin keine Rolle mehr. Wenn in den nächsten ein bis zwei Jahren keine neuen Küken mehr schlüpfen, dann können wir den Stall in ein Gewächshaus umbauen. Denn die anderen Greifen werden bald zu alt sein, um sich noch zu paaren. Und Shadow stammt zwar aus einer hervorragenden Linie, aber um ein neues Weibchen für ihn zu kaufen, haben wir nicht die finanziellen Mittel. Außer du hast Privatvermögen, von dem wir nichts wissen, das du in diese Sache investieren möchtest.“ Robin sah Nina eindringlich an. Doch da diese nicht wusste, was sie daraufhin erwidern sollte, widmete sich Robin nach einigen Augenblicken wieder ihrem Essen.
Der Gedanke beschäftigte sie trotzdem. Sie hatte ja schon den Vorsatz gefasst, die Greifenzucht wieder in Gang zu bringen. Doch es würde wohl schwieriger werden, als sie angenommen hatte.
Nach dem Abendessen ging Nina noch einmal zum Stall. Sie hatte extra gewartet, bis Robin in ihrem Zimmer verschwunden war, um sich einmal alleine und in Ruhe bei den Greifen umzusehen. Solange sie in ihren Boxen waren, würde es schon keine Probleme geben.
Manche der Tiere raschelten mürrisch mit den Federn oder krächzten leise, als Nina das Licht im Stall einschaltete, die meisten beachteten sie aber gar nicht.
An den Boxen waren Namensschilder angebracht. Nina ging an allen Boxen vorbei und las sie aufmerksam durch. Fugoll, Wren, Vina, Madame, Akira, Glen, Emrys, Muffin und schließlich Shadow. Die anderen Boxen standen leer. Helle Stellen im Holz zeigten, wo ursprünglich ebenfalls Schilder gehangen hatten.
Shadow war der einzige ganz schwarze Greif im Stall, die meisten anderen rangierten in helleren Tönen; Cremefarben, Gold, Kupfer, Braun oder Grau. Bei manchen hatten Gefieder und Fell nicht nur unterschiedliche Schattierungen, sondern verschiedene Farben.
Und das Weibchen namens Wren hatte sogar einige graue Federn rund um den Schnabel, was davon zeugte, dass sie nicht mehr die Jüngste war. Vielleicht war das ja auch der Grund, warum sie von allen Greifen die größte Ruhe ausstrahlte.
Nina bemühte sich, ihr nicht in die Augen zu sehen, doch selbst im künstlichen Licht des Stalls konnte sie den Blick kaum von den Bernsteinen abwenden, die sie neugierig beobachteten. Nina fixierte eine dunkle Feder an Wrens Hals.
„Hallo, du Hübsche“, murmelte sie leise. Wren blinzelte einmal zur Antwort, was Nina ein Lächeln entlockte. Gerne hätte sie die Hand durch die Gitter gestreckt und den Greifen gestreichelt, doch ihre Vorsicht siegte.
Lieber nichts überstürzen und erst einmal das Vertrauen der Greifen gewinnen.
In der Box neben Wren stand Vina, Shadows Mutter. Bei ihr war nur das Fell schwarz, das Gefieder war Cremefarben, was Nina unwillkürlich an einen Fischadler denken ließ. Vinas Blick wirkte so viel feindseliger als der von Wren, so dass Nina gar nicht erst in Versuchung kam, Blickkontakt herstellen zu wollen. Das unruhige Schnauben trug nur noch dazu bei.
Ninas Anwesenheit machte langsam auch die anderen Greifen nervös. Deshalb nahm sie etwas Abstand zu den Boxen und ging zurück in den vorderen Bereich des Stalls, wo jede Menge Ausrüstung lagerte.
Neben der Tür hingen ordentlich Gurte und Halfter. Jedoch keine Sattel.
Konnte man Greifen überhaupt reiten? Nina war sich nicht sicher, aber eine verschwommene Erinnerung legte die Vermutung nahe. Oder war das nur in einem Film gewesen?
Sie sah sich die Ausrüstung genauer an. Die Gurte, mit denen die Flügel festgebunden wurden, wie Robin erklärt hatte, waren aus robustem Leder und an der Innenseite weich gepolstert. Sie hatten etliche Ösen, wahrscheinlich damit man die Größe sowohl für einen als auch für beide Flügel anpassen konnten.
Die Halfter ähnelten denen, die man für Pferde nutzte, nur dass der vordere Teil – der für den Schnabel – kleiner war. Nina kannte diese Halfter von den Paraden, auch wenn sie da viel aufwendiger verziert waren als die, die hier im Stall hingen. Doch für Ausstellungen und Turniere gab es sicher Ähnliches. Wahrscheinlich in einem der Schränke, in denen Nina lieber nicht stöbern wollte, aus Sorge, etwas durcheinander zu bringen.
Sie schaltete das Licht wieder aus und ging zurück ins Cottage. Der Arbeitstag hatte sie müder gemacht, als sie erwartet hätte, und sie freute sich schon auf ihr Bett.
Doch als sie schließlich im Dunkeln lag, fand ihr Kopf keine Ruhe. Sie hatte so viel, worüber sie nicht aufhören konnte, nachzudenken. Vor allem Robins Worte kreisten ihr dabei immer noch unentwegt durch den Kopf.
War die Greifenzucht ihrer Großmutter wirklich zum Aussterben verurteilt? Auch wenn Nina gerade erst anfing, sich mit diesen Tieren zu beschäftigen, spürte sie mehr als nur Bedauern dabei.
Das Cottage und sogar die ganze Stadt waren so fest mit den Greifen verknüpft, dass es ein tragischer Verlust wäre, wenn es sie bald nicht mehr gäbe. Außerdem war es ein wertvolles Andenken an Josephine und an die Arbeit, die sie in die Zucht gesteckt hatte.
Robin hatte eine Lösung erwähnt, wie man die Zucht fortführen könnte. Neue Greifen kaufen und hoffen, dass sie paarungsfreudiger waren als der bisherige Bestand. Doch das war teuer, auch wenn Nina keine Zahlen kannte.
Konnte man vielleicht einen oder zwei der alten Greifen verkaufen? Würde das genug Geld bringen für ein neues Weibchen?
Vielleicht. Doch Nina hatte das dumpfe Gefühl, dass sie es sich mit diesem Vorgehen dann endgültig mit Robin verscherzen würde. Sie hatte es nie explizit gesagt, doch die Greifen zählten hier ähnlich wie Familienmitglieder. Die konnte man nicht einfach verkaufen.
Als Nina nach einer halben Stunde immer noch nicht schlafen konnte, griff sie zu ihrem Handy und fing an, einige der ungeklärten Fragen zu recherchieren.
Ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich.
Ein weiblicher Greif im besten Zuchtalter war nicht für unter 50.000 Euro zu bekommen. Nina schluckte. Nein, das Geld hatte sie wirklich nicht zur Verfügung, selbst wenn sie ihr Auto verkaufen würde. Küken kosteten zwar deutlich weniger, aber Greifen wurden erst mit zwei Jahren geschlechtsreif. Und das würde für die meisten Greifen schon zu spät sein. Dann käme nur noch Shadow als Partner in Frage.
Als nächstes klickte Nina sich durch verschiedene Foren über Greifenzucht, doch da gingen die Meinungen weit auseinander, was man gegen ausbleibenden Nachwuchs tun konnte. Und Nina war sich sicher, dass Robin jeden einzelnen dieser Tipps kannte und schon ausprobiert hatte.
Und selbst wenn etwas davon funktionieren würde, machte es keinen guten Eindruck, wenn ein Laie jemandem Tipps gab, der sich schon sein ganzes Leben damit beschäftigte.
Doch in einem waren sich die Foren einig: Greifenzucht war ein extrem heikles Thema, und Nachwuchs war selten. Theoretisch konnten Greifen mehrmals pro Jahr ein einzelnes Ei legen, aber in der Praxis hatte man schon Glück, wenn es alle zwei Jahre so weit war. Und mit Pech noch später oder nie. Dagegen war die Zucht von Pandas wohl vergleichsweise unkompliziert.
Nina legte das Handy weg. Der helle Fleck des Bildschirms flimmerte noch vor ihren Augen.
Das war alles unbefriedigender, als sie es sich vorgestellt hatte. Aber irgendwas musste Josephine richtig gemacht haben, dass die Zucht Bailangryph so lange so gut funktioniert hatte.
Doch das war eine Frage, nach deren Antwort sie später weiter suchen würde, wenn sie in dieser Nacht zumindest noch ein paar Stunden Schlaf kriegen wollte.