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Kapitel 2

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Am nächsten Tag um 13 Uhr wartete Tessa neben der Wendeltreppe. Diese war direkt beim Haupteingang und deshalb ein beliebter Treffpunkt, vor allem für Verabredungen, die sich noch nicht kannten. Henry hatte zwar ein Foto von sich auf seiner Website, aber bei so was konnte man sich nie sicher sein, wie aktuell das Bild war.

Doch alle Sorgen, Henry nicht zu erkennen, waren schnell hinfällig. Tessa sah ihn bereits von weitem. Dunkle Haare, Dreitagebart, schwarze Lederjacke, Jeans.

Optisch passte Henry gut zu den restlichen Studierenden. Er war nicht viel älter als die meisten, Tessa schätzte ihn auf Mitte bis Ende zwanzig.

Doch die Art, wie er sich bewegte, sich unsicher umschaute und die ganze Umgebung staunend erfasste, machte es deutlich, dass er gerade zum ersten Mal die Uni betrat. Fast hätte Tessa Mitleid mit ihm gehabt.

Sie wich einer Meerfrau im Rollstuhl aus und ging ihm entgegen.

Erleichterung machte sich auf seinem Gesicht breit, als er sie bemerkte.

„Tessa Pandino?“, fragte er dennoch, um sicherzugehen. Sie nickte.

„Ich hoffe, Sie haben den Weg gut gefunden?“

„Ja, habe ich. Aber darf ich dir, äh, Ihnen das Du anbieten? Ich fühle mich sowieso schon so alt hier …“

„Von mir aus gerne.“

„Danke.“ Er schenkte Tessa ein einnehmendes Lächeln, das sie kurz vergessen ließ, dass sie ihn und seine Drachenzucht eigentlich unsympathisch fand. Aber nur kurz.

„Komm mit, ich habe einen Raum für uns reserviert.“

Es war nicht schwer gewesen, einen leeren Raum für das Interview zu finden. Die Kunst bestand darin, einen zu erwischen, der nicht in Hörweite einer der zahlreichen Baustellen lag.

Tessa öffnete die Tür und bedeutete Henry, an einem der Tische Platz zu nehmen, während sie das Aufnahmegerät aus der Tasche holte.

„Möchtest du was trinken? Ich habe Wasser und Cola dabei.“ Tessa tätschelte ihren Rucksack.

„Wasser wäre nicht schlecht. Danke.“ Wieder ein charmantes Lächeln. Versuchte Henry, mit ihr zu flirten?

Tessa tat, als würde sie das nicht bemerken und reichte Henry die Wasserflasche. Sie selbst nahm einen Schluck von der Cola. Dann stellte sie das Aufnahmegerät auf den Tisch und setzte sich Henry gegenüber. Sie wartete noch kurz, bis der Krähenschwarm draußen sich beruhigt hatte, dann nickte sie.

„Können wir anfangen?“

Henry atmete tief durch, lockerte die Schultern und nickte ebenfalls.

„Ich werde eine kurze Einleitung machen, dann darfst du dich vorstellen.“

Tessa schaltete das Gerät ein, wartete, bis das Lämpchen grün leuchtete und fing an.

„Mein Name ist Tessa Pandino und ich habe heute den Drachenzüchter Henry Schlichtegroll vor mir sitzen. Möchtest du dich kurz vorstellen?“

„Ja, gerne. Wie schon erwähnt, mein Name ist Henry Schlichtegroll, ich bin 26 Jahre alt und seit sieben Jahren züchte ich Drachen hier in Bielefeld.“

Henrys Stimme klang ruhig, jede Nervosität schien von ihm abgefallen zu sein. Er lächelte Tessa an.

„Wie kommt man zu einem so ungewöhnlichen Beruf?“

„Mein Onkel hatte einen Drachen als Haustier. Und da ich in meiner Kindheit oft bei ihm war, bin ich sozusagen mit diesem Drachen aufgewachsen. Bully hieß er. Schon als Kind war mir klar, dass ich später auch Drachen haben wollte. Und diesen Wunsch habe ich mir dann erfüllt. Ein Jahr später habe ich dann auch noch den Drachen einer verstorbenen Nachbarin bei mir aufgenommen. Da wurde es schon eng in meiner Wohnung. Und da sowieso ein Umzug nötig war, hatte ich die Wahl: Entweder ich nehme eine Wohnung, die nur etwas größer ist als die vorherige, oder ich expandiere richtig. Es war eine gewagte Entscheidung, aber ich habe mich für die Drachen entschieden. So ist meine Zucht dann nach und nach gewachsen und ich habe es seitdem noch keinen Tag bereut.“

„Wie kann man sich als Laie so eine Zucht vorstellen?“

„Ich habe eine separate Halle, in der sich die Drachen artgerecht bewegen können, ohne die Einrichtung zu zerstören. Wenn man mehrere Drachen hat, können die sich gut miteinander beschäftigen und müssen nicht von Menschen bespaßt werden. Aktuell besitze ich sechs Zuchtweibchen und drei Deckdrachen. Dazu noch drei Jungdrachen, die bald verkauft werden, und einen Drachen, der nicht für die Zucht geeignet ist.

Meine Drachen werden aber nicht untereinander gepaart, sondern mit den Tieren aus anderen Zuchten, um größtmögliche genetische Vielfalt zu gewährleisten. Nach der Paarung legt das Weibchen zwei bis acht Eier, die innerhalb von einem Monat schlüpfen.

Drachen sind Nestflüchter und können theoretisch schon nach einer Woche von der Mutter getrennt werden. Wer sich einen Drachen als Haustier zulegen will, nimmt aber meistens keinen ganz jungen Schlüpfling, sondern wartet lieber, bis er sozialisiert und erzogen ist. Deshalb fällt auch das in meinen Aufgabenbereich.“

„Und wie viel kostet so ein Schlüpfling?“

„Das hängt von der Zucht und der Farbe des Drachen ab. Aber mit einem guten Stammbaum und in reinem Schwarz kann so ein Schlüpfling schon um die 2000 Euro kosten. Bei anderen Farben variiert der Preis je nach Nachfrage. Grün-Braun ist aktuell am unbeliebtesten und kostet deshalb etwa die Hälfte.“

„Also sind Drachen eher Haustiere für wohlhabendere Menschen.“ Tessa versuchte es diplomatisch auszudrücken, dass Studierende nicht unbedingt Henrys Zielgruppe waren. Er schien den Hinweis zu verstehen.

„Ja, das stimmt. Aber mit Rassehunden ist das ja ähnlich. Die können auch mehrere hundert Euro kosten, manche sogar über tausend. Und ich bin ohnehin der Meinung, dass man sich Haustiere nur dann zulegen sollte, wenn man auch die entsprechenden finanziellen Möglichkeiten hat. Das betrifft nicht nur den Kauf und das Futter, sondern auch im Krankheitsfall die Tierarztkosten. Oder bei Drachen eher Versicherung und Schadensersatz.“

„Warum sind Tierarztkosten bei Drachen nicht so relevant?“ Tessa kannte die Antwort dank ihrer Recherchen schon, aber das Radiopublikum nicht unbedingt.

„Drachen sind aufgrund ihrer extrem widerstandsfähigen Haut und ihrer Magie nicht anfällig für Verletzungen. Dafür kann es passieren, dass ein Drache etwas beschädigt. Oder die Katze der Nachbarn frisst. Und das zahlen die Versicherungen nur, wenn man beweisen kann, dass man nicht fahrlässig mit dem Drachen umgegangen ist. Also praktisch nie.“

Tessa wechselte das Thema. „Auf deiner Website sieht man, dass du Drachen mit kupierten Flügeln verkaufst. Ist das richtig?“

„Ja, das ist richtig.“ Ein wenig Trotz schwang in Henrys Stimme mit. „Es gibt viele Leute, die das nicht so ästhetisch finden wie natürliche Flügel, aber es gibt auch genug Leute, die kupierte Flügel schöner finden. Das ist Geschmackssache und ich bediene einfach eine Zielgruppe.“

„Obwohl es in Deutschland nicht legal ist?“

„Das Kupieren ist in Deutschland nicht legal. Der Verkauf von kupierten Drachen allerdings schon. Ich lasse das ganz legal bei einem Tierarzt in Frankreich durchführen. Außerdem ist es mit kupierten Flügeln sehr viel einfacher, einen Drachen zu halten. Mit intakten Flügeln gibt es strenge Auflagen. Der Drache muss zum Beispiel in der Öffentlichkeit immer angeleint sein. Frei fliegen darf er nur in begrenzten Bereichen, zum Beispiel den Drachenhallen, oder wenn man seinen Garten komplett mit einem Netz überspannt. Ohne Flügelhäute können sie nicht fliegen, man muss seinen Garten also nicht umbauen und kann sie auch in normal eingezäunten Bereichen von der Leine lassen. Und da die Häute kurz nach dem Schlüpfen entfernt werden, vermissen die Drachen auch nichts.“

„Das klingt einleuchtend“, stimmte Tessa in ihrer Rolle als Journalistin zu. Innerlich fand sie diese Praktik immer noch verwerflich. „Gibt es sonst noch etwas, was du unseren Zuhörenden mitteilen möchtest?“

„Ich glaube, am besten sollte man sich selbst ein Bild davon machen. Es gibt Drachenausstellungen, die man für kleines Geld besuchen kann, und die Bielefelder Drachenhalle hat nächsten Monat Tag der offenen Tür. Da kann man Drachen beim Fliegen beobachten und auch mit Drachenhaltern vor Ort ins Gespräch kommen.“

„Vielen Dank. Ich bin Tessa Pandino und das war das Interview mit dem Drachenzüchter Henry Schlichtegroll.“

Tessa stoppte die Aufnahme.

„Hat das für dich gepasst?“, fragte sie.

„Ja, alles in Ordnung.“ Henry nahm erneut einen Schluck Wasser. „Auch wenn ich nicht glaube, dass einer der Zuhörer ein neuer Kunde von mir wird.“

„Wer weiß? Unsere Sendung wird nicht nur von Studierenden gehört. Auch viele ältere Leute schalten gerne ein, hab ich mir sagen lassen. Keine Ahnung, ob das mehr deiner Zielgruppe entspricht.“

„Ich habe jedenfalls mehr ältere Kundinnen als welche in unserem Alter. Wahrscheinlich aus finanziellen Gründen.“

Tessa grinste. „Kann man sich das so vorstellen wie die Omas mit ihren Schoßhündchen, nur dass sie dann einen kleinen, schrumpeligen Drachen auf dem Schoß haben?“

Auch Henry musste lachen. „So ähnlich.“ Dann wurde er wieder ernster. „Und wann wird dieses Interview gesendet?“

„Ich habe noch keinen festen Sendeplatz“, gestand Tessa. „Das Interview wird Teil einer Reihe, das heißt, es wird erst dann gesendet, wenn der Rest vom Kurs auch fertig ist. Sobald der Termin feststeht, wird er auf unserer Website eingetragen. Aber ich kann dir auch Bescheid sagen, sobald ich mehr weiß.“

Zur Sicherheit schrieb Tessa die Internetadresse auf einen Zettel und reichte ihn Henry.

Er nahm den Zettel, steckte ihn aber nicht direkt ein, sondern spielte mit den Ecken.

„Warum versteckst du dich eigentlich im Radio?“, fragte er dann.

Tessa schaute auf. „Wie meinst du das?“

„Es gibt doch dieses Gerücht, dass beim Radio hauptsächlich die Leute arbeiten, die, nun ja, zu hässlich fürs Fernsehen sind. Und das bist du sicher nicht.“

Einen Moment starrte Tessa Henry nur an.

„Das ist das furchtbarste Kompliment, das ich seit Langem bekommen habe“, sagte sie dann trocken.

„Oh Gott, tut mir leid, so war das nicht gemeint.“ Henry lachte entschuldigend. „Das sollte auch keine Beleidigung gegenüber deinen Kolleginnen und Kollegen sein. Ich wollte dir eigentlich sagen, dass du viel Potenzial hast, aber das habe ich wohl denkbar unglücklich formuliert.“

„In der Tat.“ Dennoch zuckten Tessas Mundwinkel leicht nach oben.

„Okay, dann versuche ich es nochmal. Du hast viel Potenzial. Und ich merke, dass du dich schon über Dachen informiert hast. Wenn dich das Thema also interessiert, dann mach doch einen größeren Bericht daraus. Fürs Fernsehen oder für die Zeitung.“

Das war ein Punkt, mit dem man Tessa ködern konnte, doch das wollte sie nicht zugeben. Vor allem nicht gegenüber Henry, von dem sie immer noch nicht wusste, ob sie ihn jetzt unsympathisch fand oder nicht.

Um sich einen Moment Bedenkzeit zu verschaffen, räumte sie das Aufnahmegerät in aller Ruhe weg.

„Wir veröffentlichen manchmal weiterführende Artikel zu unseren Sendungen auf der Website“, sagte sie schließlich. „Das könnte ich also machen.“

„Dann brauchst du sicher auch Fotos, oder?“ Henry tat, als würde er für ein Shooting posieren.

Tessa grinste. „Ja, brauche ich, aber lieber von den Drachen als von dir.“

„Warum, bin ich nicht schön genug?“, scherzte Henry und jetzt musste Tessa gegen ihren Willen doch lachen. Henry nahm sich selbst nicht zu ernst, und das war etwas, was sie mochte.

„Nichts gegen dich, aber niedliche Drachen bringen mehr Klicks.“

„Okay, das kann ich verkraften. Wann hättest du Zeit?“

„Ich bin Studentin, ich kann mir theoretisch fast immer Zeit nehmen. Wann passt es dir am besten?“

Henry überlegte. „Die nächsten Tage sind relativ stressig. Was hältst du von Samstag?“

„Okay.“ Tessas Eltern würden es verschmerzen, sie ein Wochenende nicht zu sehen. Sie machte sich eine schnelle Notiz im Handy. „Soll ich dich nach draußen bringen oder findest du den Weg allein?“

„Ich würde den Weg sicher auch allein finden, aber mit deiner Hilfe geht es garantiert schneller. Diese Uni ist ein Labyrinth.“

„Und dabei hast du noch nicht einmal den Keller gesehen.“

„So schlimm?“

„Es geht das Gerücht um, dass ein Dekan nach der Eröffnung des Neubaus sich ein Bild von dem weitläufigen Keller machen wollte. Er wurde seitdem nie wieder gesehen und sein Büro steht bis heute leer.“ Tessa senkte ihre Stimme zu einem dunklen Raunen. „Es heißt, wenn abends alles still ist, kann man ihn manchmal noch hören, wie er um Hilfe ruft.“

„Wow. Dann nehme ich gerne deine Hilfe in Anspruch. Nicht dass meine Drachen sonst verhungern.“

Tessa brachte Henry wieder bis zum Haupteingang, wo sie sich getroffen hatten.

„So, von hier findest du den Weg hoffentlich.“

„Ja, danke. Dann bis Samstag. Ich freu mich schon.“

„Bis Samstag.“ Den letzten Satz erwiderte Tessa nicht. Im Moment konnte sie noch nicht mit Sicherheit sagen, ob sie sich freute oder nicht. Aber was sie sagen konnte, war dass dieser Bericht immerhin spannender war, als sie gedacht hätte. Und besser als ein Konzert von No Brine sowieso.

Tessa warf einen Blick auf die Uhr. Ihre Vorlesung hatte vor zehn Minuten angefangen. Sie könnte jetzt noch versuchen sich so unauffällig wie möglich dazu zu setzen, doch den Gedanken verwarf sie wieder. Sie hatte dieses Semester noch kein einziges Mal gefehlt, da konnte sie sich das erlauben.

Stattdessen freute sie sich auf einen unerwartet freien Tag.

Bella streckte neugierig den Kopf aus ihrem Zimmer, als sie Tessa in die Wohnung kommen hörte.

„Schon zurück?“

„Ja, das Interview hat so lange gedauert, dass es sich nicht mehr gelohnt hat, in die Vorlesung zu gehen.“

„Ah, okay. Und, wie ist es gelaufen?“ Jetzt verließ auch Bellas restlicher Körper ihr Zimmer und sie folgte Tessa in die Küche.

„Ganz gut. Aber ich weiß nicht, was ich von diesem Henry halten soll.“

„Noch schlimmer als befürchtet?“, fragte Bella.

„Im Gegenteil. Sympathischer als erwartet. So irgendwie jedenfalls.“

„Das ist doch gut?“

„Es hat auf jeden Fall dazu geführt, dass ich mir mehr Arbeit aufgehalst habe, als ich muss. Ich schreibe einen weiterführenden Artikel über das Thema und besuche nächste Woche seine Zucht.“ Tessa schaute in den Vorratsschrank, dann in den Kühlschrank und dann nochmal unschlüssig in den Vorratsschrank.

„Tu nicht so, als würdest du nicht liebend gerne jede Möglichkeit nutzen, deine Karriere voranzubringen.“

Bei jedem anderen Menschen, hätte Tessa das Wort „Karriere“ in diesem Zusammenhang für puren Sarkasmus gehalten. Aber Bella meinte es tatsächlich ernst. Sie war wahrscheinlich die einzige Person, die wirklich an Tessas Zukunft glaubte; mehr noch als Tessa selbst.

Das brachte sie aber nicht weiter in der Frage, was sie kochen sollte.

„Mach Spaghetti Bolognese“, schlug Bella vor, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.

„Isst du mit?“

„Gerne.“

Das bedeutete, dass Tessa nicht nur doppelt so viele Nudeln kochen würde, sondern auch, dass sie Soja-Hack statt normalem Hackfleisch benutzte. Bella ernährte sich vegetarisch und Tessa hatte kein Problem damit, beim gemeinsamen Kochen auch auf Fleisch zu verzichten. Ein weiterer Punkt, den sie sich erst in dieser WG angewöhnt hatte.

Tessa setzte das Wasser auf.

„Und wie war dein Tag bisher?“

Bella fing an zu strahlen und holte tief Luft. Das würde also ein längerer Bericht werden.

„Heute wurden in Wirtschaftsinformatik die Referatsthemen verteilt und wir wurden zufällig in Gruppen eingeteilt. Eigentlich hasse ich das ja, wenn ich mit fremden Leuten zusammenarbeiten muss. Aber mir wurde Leo zugeteilt, mit dem ich letztes Semester schon einen gemeinsamen Kurs hatte. Das ist also nicht so schlimm. Eigentlich war das sogar das Beste, was passieren konnte. Und ich glaube, er hat sich auch gefreut, mich als Partnerin zu haben.

Wir haben dann nach dem Kurs noch einen Kaffee getrunken und eine Weile geredet. Dann sind wir darauf gekommen, dass wir sogar gemeinsame Hobbys haben. Wusstest du, dass er auch malt? Er hat mir ein paar seiner Bilder gezeigt, die er auf dem Handy hatte, und die sind richtig gut. Und dann haben wir beschlossen, dass wir uns am Wochenende treffen. Also nicht nur für das Referat, sondern auch um einfach so Zeit miteinander zu verbringen.“

Tessa nutzte die Pause, in der Bella kurz Luft holen musste, um was zu sagen. „Oh wow, das freut mich echt für dich!“ Sie hatte zwar keine Ahnung, wer dieser Leo war, aber als introvertierte Person tat sich Bella oft schwer, neue Kontakte zu knüpfen. Wenn sie also jemanden gefunden hatte, mit dem sie sich gut verstand, dann war das schon mal viel wert.

Außerdem war Bella schon länger Single als Tessa und das wollte was heißen.

„Ja, ich glaube auch, dass das gut wird“, meinte Bella.

Während sie redeten, kümmerte sich Tessa um die Bolognese-Soße. Bella stand daneben und schaute ihr zu.

Sie war keine so gute Köchin wie Tessa, dazu ging sie mit den Gewürzen zu sparsam um. Dafür aber gelangen ihr Süßspeisen immer. Deshalb hatte es sich mit der Zeit etabliert, dass Tessa meistens das Kochen übernahm und Bella dafür gelegentlich süßes Gebäck oder andere Desserts zubereitete.

„Erzähl mal mehr von diesem Leo“, bat Tessa, während sie zwei Knoblauchzehen in feine Stückchen schnitt.

„Er ist eigentlich zwei Semester über mir und belegt Informatik nur als Nebenfach. Im Hauptfach studiert er Elektrotechnik. Und er zeichnet am liebsten mit Kohle, hat aber auch einige digitale Bilder. Hauptsächlich Pflanzen und Landschaften.“

Tessa grinste. Typisch Bella. „Gut zu wissen. Aber eigentlich wollte ich wissen, wie er aussieht.“

„Oh.“ Sie schien kurz zu überlegen. „Er ist viel größer als ich, ich glaube, sogar größer als du. Und weder dünn noch dick. Er sieht halt irgendwie weich aus. Und er hat blonde Haare. Augenfarbe bin ich mir nicht sicher.“

„Klingt gut“, bestätigte Tessa. Nicht ihr Typ, aber zu Bella konnte das durchaus passen. Sie selbst bevorzugte dunkelhaarig. Und Lederjacke …

Etwas zu energisch schütte Tessa die passierten Tomaten in den Topf. Soßenspritzer verteilten sich auf dem Herd.

„Bist du gereizt?“, fragte Bella vorsichtig.

„Nein.“ Doch. „Ich bin nur abgerutscht.“

Sie würde jetzt nicht anfangen, nach nur einer Begegnung von diesem Kerl zu schwärmen. Vor allem wenn er ihr nur zu 50% sympathisch war.

Am nächsten Morgen saß Tessa in der Vorlesung für Kommunikationswissenschaft und versuchte verzweifelt, dem Dozenten zuzuhören.

Doch das war leichter gesagt als getan, wenn ihre Augenlider schwer wie Blei waren – eventuell hatte sie gestern noch viel zu lange mit Bella vorm Fernseher gesessen.

Und wenn es mal klare Gedanken in ihren Kopf schafften, dann drehten die sich nicht um sequenzielle Analysen, sondern um den anstehenden Beitrag über Drachenzucht.

Inzwischen hatte Tessa es auch mit Mia abgeklärt, dass sie diesen Bericht schreiben würde. Die Redakteurin hatte so viel Eigeninitiative und Engagement wohlwollend zur Kenntnis genommen. Immerhin etwas.

Tessa schielte zum wiederholten Male auf die Uhr an der Wand des Hörsaals. Aus unerfindlichen Gründen hatte sich der Zeiger in den letzten 300 Minuten kaum vorwärts bewegt. Es konnte unmöglich erst 8:36 Uhr sein.

Schließlich gab sie den Kampf gegen ihre Müdigkeit auf und legte den Kopf auf die Tischplatte. Nur kurz die Augen schließen.

Sie schreckte auf, weil alle auf die Tische klopften – der Applaus der Studierenden – und schaute sich orientierungslos um. Was sich angefühlt hatte, wie nur wenige Sekunden dösen, war in Wirklichkeit eine komplett verschlafene Vorlesung. Jetzt war sie zwar matschig, aber immerhin ausgeruhter. Und nach einem starken Kaffee konnte sie dann auch dem nächsten Seminar einigermaßen folgen.

So gut sogar, dass sie anschließend noch zum Campusradio ging. Sie musste immer noch das Interview mit Henry schneiden und konvertieren. Je eher sie damit fertig war, desto besser.

Die Redaktion lag im Erdgeschoss und hatte große Fenster, doch die Aussicht war bescheiden. Man schaute nur auf das benachbarte Gebäude und rund 200 Fahrräder.

Der Raum war vollgestopft mit mehreren Schreibtischen, einem Sofa und diversen Schränken, in denen unter anderem die ganzen Aufnahmegeräte gelagert wurden. Rechts lag die Sendekabine, die durch ein Fenster und eine Tür schalldicht vom Rest der Redaktion getrennt war. Und links ging es in den Schneideraum, den Tessa nun ansteuerte.

Im Grunde genommen unterschieden sich die einzelnen Schneideplätze nicht voneinander, doch Tessa nahm am liebsten den dritten auf der linken Seite, wenn sie die Wahl hatte. Sie bildete sich ein, dass die Tastatur dort nicht ganz so vollgekrümelt war und die Maus nur halb so sehr klebte. Wie auch immer das passieren konnte, wo doch im gesamten Schneideraum Ess- und Trinkverbot herrschte.

Sie schloss ihr Aufnahmegerät an den Computer an, zog sich die Datei rüber und setzte die Kopfhörer auf.

Das Schneiden war der unangenehmste Teil der Arbeit. Vor allem, weil Tessa dabei wieder und wieder ihre eigene Stimme hören musste, die vollkommen anders klang als in ihrem Kopf.

Wie ertrugen andere Menschen es nur, ihr zuzuhören, wenn sie sprach? Und warum machte sie diese kleinen Schmatzgeräusche, wenn sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen?

Zum Glück war es kein Problem, diese Geräusche rauszuschneiden, ebenso wie zu lautes Atmen oder zu lange Pausen. Doch es sorgte dafür, dass Tessa sich unwohl fühlte, wenn sie daran dachte, irgendwann einmal live zu moderieren.

In solchen Momenten half es ihr, sich vor Augen zu führen, dass bei Incis Bericht niemand auf die Nebengeräusche geachtet hatte. Das war vollkommen nebensächlich.

Also atmete Tessa noch einmal bewusst durch und nahm sich dann die nächste Minute des Interviews vor.

Der Donnerstag war der erste Tag in dieser Woche, an dem Tessa nichts fürs Radio tat. Verschont wurde sie davon aber trotzdem nicht. Denn nach dem ersten Kurs ging sie zusammen mit Djalisa in die Mensa.

Hatte ihre Kommilitonin schon im Seminar unkonzentriert und ruhelos gewirkt, so war das nichts im Vergleich zu jetzt. Entgegen ihrer sonst so ruhigen Art war Djalisa wie ein menschlicher Flummi. Ihre Schritte waren ausladender und schneller, ihr Blick huschte hin und her und etwa einmal pro Minute schaute sie auf ihr Handy. Auf Nachfragen hatte sie nur nichtssagend mit den Schultern gezuckt.

Tessa würde aber nicht lockerlassen. Doch zunächst mussten sie sich entscheiden, was sie essen wollten. Nach einem kurzen Blick auf den Mensaplan entschieden sich beide Frauen für die Falafel-Bällchen mit Fladenbrot und Chili-Minz-Joghurtdip.

Mit den Tabletts suchten sie sich einen freien Platz in der Nähe der Fenster.

Während Tessa das Fladenbrot aufschnitt und mit den Falafel und dem Joghurt-Dip füllte wie einen improvisierten Döner, rupfte Djalisa ihr Brot abwesend in kleine Stücke.

„Jetzt sag schon, was ist los?“, drängte Tessa.

Djalisa seufzte, tunkte ein Stück Brot heftiger als notwendig in den Dip und schaute Tessa dann verzweifelt an.

„Heute ist das Konzert“, hauchte sie, kaum hörbar durch die Geräuschkulisse der sich füllenden Mensa. „Und ich bin so nervös! So kann ich doch kein vernünftiges Interview führen!“

Tessa stutzte; ihr Essen verharrte auf halbem Weg zwischen Teller und Mund.

„Dein Ernst?“

Der verzweifelte Ausdruck in Djalisas Augen machte einem wütenden Funkeln Platz.

„Wehe du ziehst mich damit auf!“

Tessa hob beschwichtigend die Hände – und ihren Döner. „Würde ich nie tun!“ Doch, würde sie. Normalerweise. Aber jetzt ausnahmsweise nicht.

Djalisa schien ihr zu glauben. Sie seufzte erneut.

„Ich weiß ja selbst, dass das albern ist. Aber ich muss nur daran denken, wie ich nachher vor Noah stehe und schon krieg ich Muffensausen. Was, wenn ich mich verhasple? Wenn ich meine Fragen vergesse? Wenn ich-“

„Ganz ruhig“, unterbrach Tessa sie, bevor sie sich noch weiter reinsteigern konnte. „Erstens: Ist der Kerl überhaupt schon volljährig? Du bist eine ausgewachsene Studentin. Das ist wie mit Spinnen. Der hat garantiert mehr Schiss vor dir, als du vor ihm.“

„Er ist zwanz-“

„Zweitens.“ Tessa ignorierte den empörten Einwurf einfach. „Du hast deine Interviewfragen dabei. Wenn du nicht mehr weiterweißt, kannst du sie ablesen. Und wie ich dich kenne, hast du sie sogar schon ausgedruckt und laminiert.“ Tessa grinste bei Djalisas ertapptem Blick und fuhr etwas sanfter fort. „Und drittens: Ich habe schon gesehen, wie du Referate hältst. Du bist souverän und professionell. Egal wie viele Leute vor dir sitzen. Das wird auch heute nicht anders sein. Ich bin mir sicher, du packst das.“

Djalisa atmete tief durch und entspannte sich sichtlich. „Du hast wahrscheinlich recht. Danke.“

„Kein Ding. Und jetzt iss endlich was. Sonst kippst du heute Abend vor Aufregung vielleicht noch um. Außer das ist dein Plan?“

„Was?“

„Ohnmächtig zu werden und dich von Noah auffangen zu lassen.“

Wenn Blicke töten könnten, dann würde Djalisa in diesem Moment jedem Nekromanten Konkurrenz machen.

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