Читать книгу Angriff der Keshani - Lina-Marie Lang - Страница 3
VERRAT
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Nadira lies sich erschöpft gegen die Wand des nächsten Hauses sinken. Der Kampf gegen die Wölfe und den Warg hatte sie erschöpft. Ihr Ashara war zwar nicht aufgebraucht, aber deutlich geschrumpft. Außerdem hatte sie sich bei dem Sturz von ihrem Pferd zahlreiche Prellungen zugezogen.
„Geht es dir gut?", fragte Darec.
Nadira nickte und versuchte zu lächeln. Ihre Gefährten befanden sich alle in der Nähe. Sie waren nur einige Meter vom Tor entfernt. Weiter die Straße hinunter hatten sich Menschen versammelt. Vielleicht waren es aber auch die Leute, die vor den Wölfen in die Stadt geflüchtet waren.
Wachen hielten die Menschen vom Tor fern und gleichzeitig versuchten sie herauszufinden, was eigentlich gerade passiert war. Auch zu den Gefährten kam eine Wache.
„Könnt Ihr mir erzählen, was hier gerade passiert ist?"
„Ihr habt es doch selbst gesehen", sagte Darec. „Wölfe haben angegriffen."
„Wölfe greifen keine Stadt an", sagte die Wache.
„Sie wurden von einem Warg angeführt", sagte Callanor.
„Ein Warg?", die Wache runzelte misstrauisch die Stirn. „Wenn Ihr irgendein Spiel mit mir spielen wollt …"
„Das wollen wir nicht", ging Nadira dazwischen. „Es waren sogar mehrere Warge."
„Mehrere?", fiel Callanor ihr ins Wort.
„Der Warg, der Lledar getötet hat, war nicht der, der auf dem Hügel stand", erklärte Nadira. „Er war kleiner, wahrscheinlich jünger.
„Und wer seid Ihr?", fragte die Wache nun.
„Ich bin Dyna Nadira."
„Eine Dyna? Uns wurde nichts von der bevorstehenden Ankunft einer Dynari mitgeteilt."
„Niemand wusste, dass wir kommen würden", sagte Nadira. Sie war erschöpft und wollte ihre Zeit und Energie nicht mit einer Wache verschwenden. „Wir müssen so schnell wie möglich zum Haus der Dynari und mit Dyna Sirdyna sprechen."
„Ich kann Euch nicht so einfach ins Haus der Dynari bringen. Ihr habt nichts, was euch als Dynari ausweist."
„Mein Diadem wurde zerstört", sagte Nadira.
Die Wache machte eine Geste zu seinen Kollegen und mehrere von ihnen lösen sich von der Menschenmenge und kamen auf sie zu. Würden sie sie zum Haus der Dynari begleiten?
Ehe die Wachen bei ihnen ankamen, drang ein Ruf von den versammelten Menschen hinüber. „Die waren es! Sie haben diese Bestien hergeführt."
Die Wachen zogen die Waffen und bildeten einen Kreis um Nadira und ihre Gefährten. Darec legte die Hand an den Griff seines Schwertes, Tinju tat dasselbe, aber Nadira hielt sie zurück.
„Das ist nicht wahr. Wir waren das nicht."
„Sie hat den Wald angezündet", rief jemand aus der Menschenmenge.
„Sie sind schuld, dass mein Mann tot ist", rief eine Frau.
Plötzlich riefen die Menschen wild durcheinander. Die einzelnen Rufe waren nicht mehr zu verstehen, aber es war deutlich, dass es Rufe des Zorns waren.
Brancus griff in die Satteltasche, seines Pferdes und zog sein Diadem hervor. Er setzte es auf und sande eine kleine Menge Ashara in den Kristall, um ihn zu leuchten zu bringen. Der Beweis dafür, dass er ein Dynari war. Die Menge verstummte nicht ganz, aber wurde zumindest ruhiger.
Die Wachen verneigten sich.
„Ich bin Dyn Brancus aus Seraint und verlange sofort zum Haus der Dynari gebracht zu werden. Ich bringe wichtige Nachrichten für Giagan und ganz Alluria", sagte er mit fester Stimme. Endlich war diese Diskussion zu Ende. Die Wache erkannte natürlich das Diadem und die Echtheit des Fokussteins, und würde sie zu den Dynari bringen.
„Wie ihr wünscht, Dyn", sagte die Wache. „Was ist mit den anderen?"
Brancus sah seine Gefährten einen nach dem anderen an. Nadira konnte in seinem Gesicht nicht ablesen, was in ihm vor sich ging. Er löste sich von seinem Pferd und kam auf Nadira zu.
Was dann passierte, kam so überraschend und schnell, dass Nadira keine Chance hatte zu reagieren. Er machte plötzlich einen Satz nach vorne, etwas metallenes blitze auf, berührte Nadira am Hals, ein Metallring schnappte zu. Darec, Aurel, Callanor und Tinju riefen erschrocken auf.
Nadiras Ashara entwich so plötzlich, dass ihr schwindelig wurde. Sie verlor die Kontrolle über ihren Körper und stürzte zu Boden. Darec sprang nach vorne und wollte sich zwischen Brancus und sie schieben, aber erst hielt Brancus ihn zurück, dann wurde er von mehreren Wachen gepackt und weggezogen.
Brancus beugte sich über Nadira, er sagte etwas, was Nadira aber nicht verstand. Dann spürte sie einen Ruck an ihrem Hals. Als Brancus sich wieder aufrichtete, hatte er ihren Fokusstein in seiner Hand.
Nadira kämpfe das Schwindelgefühl herunter, nur mit Mühe war sie in der Lage sich auf das zu konzentrieren, was um sie herum passierte. „Diese Frau ist eine Verräterin", rief Brancus. „Sie ist mit dem Feind im Bunde und sie ist gefährlich."
„Bist du verrückt geworden?", rief Darec.
„Sie ist eine Ashari", fuhr Brancus unbeirrt fort. „Dieser Mann ist mein Hüter und diese Frau meine Dienerin, aber die Verräterin hat sie mit Ashara kontrolliert."
„Wir können eine Ashari nicht gefangen halten", sagte die Wache. „Wir müssen sie sofort zu den Dynari bringen."
Brancus winkte ab. „Ihr werdet mich zu den Dynari bringen. Die Verräterin ist nicht mehr gefährlich. Der Ring um ihren Hals raubt ihr das Ashara. Sie ist jetzt nicht gefährlicher als eine Dienstmagd."
„Seid Ihr Euch sicher?" Natürlich hatte die Wache noch nie zuvor von diesen Halsbändern gehört. Auch Nadira hatte sie erst vor wenigen Wochen kennengelernt, auf die harte Tour.
Noch mehr Wachen tauchten auf und bildeten einen Ring um die Gruppe. Nadira wurde von zwei Männern in die Höhe gezogen, auch Darec wurde von zwei Männern in Schach gehalten, für Aurel reichte einer. So zog die Gruppe durch die Stadt. Am Rande konnte Nadira noch die Rufe der Menschen hören, voller Wut und Hass.
An einem großen Platz hielten sie an. Brancus unterhielt sich mit der Wache, doch Nadira konnte nicht verstehen, was sie sagten. Darec und Aurel konnten es offensichtlich, denn es machte sie wütend und ein Streit brach aus. Darec wurde von zwei Männern weggezerrt.
Schließlich führten die beiden Wachen, die Nadira eigentlich eher trugen als führten, sie nach vorne. Jetzt erkannte auch sie, was Darec und Aurel so wütend gemacht hatte. Mitten auf dem Platz stand ein hölzernes Podest und auf dem Podest ein Pranger. Brancus würde doch nicht … aber die Wachen schleppten sie genau dorthin.
„Der Pranger ist eine Strafe", protestierte die Wache. „Ich kann nicht einfach jemand ohne Urteil in den Pranger stecken."
„Wollt Ihr Euch meinen Befehlen widersetzen?", schrie Brancus die Wache an.
„Ich will Euch nur auf das Gesetz hinweisen."
„Ich kenne die Gesetze. Diese Frau ist schuld an einem Krieg, der gerade ausbricht. Sie hat es verdient."
„Ein Krieg?" Die Wache sah zu Nadira. Jede Spur von Widerstand gegen Brancus Befehle war aus seinem Gesicht gewichen. „Packt sie in den Pranger."
Nadira konnte nicht glauben, was sie da hörte. Aus den Augenwinkeln sah sie Brancus, der mit einem gehässigen Lächeln zusah, wie sie auf den Pranger zu geführt wurde.
Die Wachen klappten den oberen Teil auf und legten Nadiras Arme und ihren Kopf in dafür vorgesehenen Löcher, dann klappten sie den oberen Teil wieder herunter und setzten sie so fest. Die Höhe des Prangers war so gewähnt, dass Nadira sich nach vorne beugen musste. Eine extrem unbequeme Position.
„Lasst zwei Wachen hier, damit ihr niemand etwas antut", sagte Brancus. Wenigsten soviel Anstand besaß er noch. Wie befohlen blieben zwei Wachen bei Nadira zurück, die anderen zerrten Darec und Aurel fort.
Um das Podest herum versammelte sich langsam eine Menschenmenge. Nadira hatte keine Illusion, dass die beiden Wachen die Menschen davon abhalten könnten, sie zu lynchen, wenn die Menge das versuchte. Aber zumindest jetzt war es noch nicht soweit.
Die Menschen bildeten ein Kreis um das Podest und immer wieder erklangen Rufe wie, „Hängt sie", „Bringt das Miststück um" und ähnliche Nettigkeiten.
Wie schon in Miragar verlor Nadira bald das Zeitgefühl. Der ständige Entzug von Ashara schwächte sie so sehr, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Sie fühlte sich benommen und konnte sich nur mit viel Mühe konzentrieren. In dieser Situation war sie darüber aber nicht unglücklich, so wurden ihr die Schmerzen durch die unbequeme Position im Pranger erspart.
Irgendwann traf sie etwas am Kopf. Es tat weh und traf sie nur wenige Zentimeter neben ihrem Auge. Ein Stückchen weiter links, und sie hätte vielleicht ihr Auge verloren. Weitere Geschosse schlugen neben ihrem Kopf ein. Ein paar Mal wurde sie auch getroffen, aber diese Treffer waren weniger hart. Es dauerte eine Weile, bis Nadira realisierte, was sie da traf: fauliges Obst. Die Leute bewarfen sie mit fauligem Obst! Die beiden Wachen, die auf sie aufpassen sollten, machte keinerlei Anstalten, die Menschen davon abzuhalten.
Als es dunkel wurde lichtete sich die Menge langsam. Nadira konnte ihren Körper kaum noch fühlen. Sie hatte keine Kraft um sich zu heilen, die Haltung verkrampfte ihre Muskeln, dazu kamen noch die Prellungen von dem Sturz. Wie lange würde sie noch hier stehen müssen?
In der Menge entdeckte Nadira ein vertrautes Gesicht: Tinju. Würde er sie herausholen? Nein. Er ging. Er konnte sie doch nicht hier zurücklassen. Nadira wollte nach ihm rufen, aber ihr fehlte die Kraft dazu. Jemand musste ihr helfen. Brancus hatte sie verraten. Obwohl er schon immer ihr Feind gewesen war, hätte Nadira niemals erwartet, dass er zu solch einen Verrat fähig war. Irgendjemand musste ihn aufhalten. Er brachte nicht nur Nadira in Gefahr, sondern ganz Alluria, vielleicht sogar ganz Soria.
***
Darec konnte nicht glauben, was hier passierte. Zuerst beschuldigten die Bürger Nadira, schuld an den Angriff der Wölfe zu sein, dann bezeichnete Brancus Nadira als Verräterin und die Wachen glaubten ihm auch noch.
Immerhin war auch Brancus Ziel das Haus der Dynari. Dort würde sich die Sache aufklären. Dyna Sirdyna, das Oberhaupt der Dynari in Giagan kannte Nadira und würde Brancus sicher nicht so einfach glauben. Außerdem wusste sie, dass Nadira eine Dynari war und keine Betrügerin.
Aber Brancus lies die Sache nicht auf sich beruhen. Als sie auf einem großen Platz kamen, ließ er Nadira in einen Pranger stecken, wie eine billige Hure. Darec schwor sich, dass Brancus für das hier bezahlen würde.
Er versuchte sich loszureißen, um Nadira zu helfen, aber die beiden Wachen, die ihn festhielten, waren so gut ausgebildet wie er selbst und er hatte keine Chance zu entkommen. Immer wieder rief er den Wachen zu, dass sie einen schlimmen Fehler machten, aber sie hörten nicht auf ihn. Sie glaubten, Nadira hätte ihn und Aurel irgendwie beeinflusst.
Eigentlich sollten sie es besser wissen. Die Wachen lernten, dass Ashara den Geist von Menschen nicht dauerhaft beeinflussen konnte. Zwar waren manche Ashari in der Lage, die Sinne zu verwirren, aber keiner von ihnen konnte die Gedanken anderer Menschen kontrollieren. Wieso verhielten sie sich so, obwohl sie wissen mussten, dass sie falsch handelten?
Darec konnte es sich nur so erklären, dass sie durch das schreckliche Halsband, das Ashari ihre Kraft nahm, verunsichert waren. In Alluria hatte man von diesem Ding noch nie gehört. Wahrscheinlich wollten sie die Entscheidung den Dynari überlassen.
Sie ließen Nadira auf dem Platz zurück. Wie einen Verbrecher hatte man sie an den Pranger gestellt. Sie, die ihr Leben riskierte hatte, um anderen zu helfen, die jetzt ihr Leben riskierte, um Alluria vor einer schrecklichen Gefahr zu warnen. Es war ein Hohn, ein schrecklicher Hohn. Wenn das Ganze in einer Geschichte passiert wäre, hätte er darüber gelacht.
Darec erkannte, dass es keinen Sinn mehr machte, sich gegen die Wachen zu wehren. Er würde nicht entkommen. Und selbst wenn er die beiden überwinden konnte, wäre er nicht frei. Die kleine Gruppe wurde noch von sieben weiteren Wachen begleitet. Er konnte nicht entkommen, also wechselte er seine Taktik.
„Wie könnt ihr das zulassen?", fragte er die Wachen, die ihn festhielten.
„Wir befolgen nur Befehle", sagte einer der beiden.
„Ihr müsst doch wissen, dass Brancus euch Unsinn erzählt hat."
„Das ist Sache der Dynari. Wir bringen euch zu ihnen."
Es war ihnen offensichtlich egal, was sie taten. „Ihr habt eine Dynari an den Pranger gefesselt", rief Darec.
„Sei still", fauchte Brancus ihn an. „Wir werden das, was sie getan hat, rückgängig machen. Dann wirst du wieder wissen, wer du bist: mein Hüter."
„Ich bin Nadiras Hüter. Und du bist verrückt geworden", schrie Darec Brancus an.
Eine der Wache schlug Darec mit der Faust in den Bauch. Der Schlag war nicht einmal besonders fest gewesen, es war nur eine Warnung. „Sprich nicht so mit dem Dynari."
„Er ist verrückt geworden", rief Darec, der die Warnung ignorierte.
„Könnt ihr ihn bitte ausschalten?", sagte Brancus mit genervter Stimme. Darec hatte keine Chance zu reagieren, ehe er den Knauf eines Schwertes auf seinen Kopf zurasen sah. Der Treffer warf seinen Kopf in den Nacken und blies sein Bewusstsein aus.
***
Die Dunkelheit hatte sich über die Stadt gesenkt. Nadira stand noch immer im Pranger und versuchte verzweifelt, sich auf den Beinen zu halten. Wenn ihre Beine die Kraft verließ, würde sie sich selbst strangulieren.
Die beiden Wachen standen links und rechts von ihr, jeweils einige Meter von ihr entfernt. Die Menge, die Nadira beschimpft und mit fauligem Obst beworfen hatte, hatte sich inzwischen aufgelöst. Die Frau im Pranger war offensichtlich weniger interessant als ein gemütlicher Abend Zuhause am warmen Kamin.
Mit dem Abend war es auch deutlich kühler geworden. Da Nadira sich kaum bewegen konnte, traf die Kälte sie um so stärker. Sie fühlte, wie ihre Muskeln immer steifer wurden und so nur noch mehr Wärme und Kraft verloren. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese Nacht überstehen würde.
Eine Bewegung auf dem Platz vor ihr lenkte Nadiras Aufmerksamkeit von ihren Schmerzen ab. Es war inzwischen so dunkel geworden, dass sie nicht erkennen konnte, wer dort stand.
„Darf ich zur Gefangenen?", fragte eine männliche Stimme.
„Nein", rief eine der Wachen. „Verschwinde."
„Sie braucht etwas zu trinken", sagte der Mann und hielt etwas hoch.
„Na gut", sagte schließlich eine der Wachen. Nadira hörte Schritte, die die paar Stufen des Podestes hinaufstiegen und sich ihr dann auf dem Holzboden näherten. Eine Hand griff nach ihrer Hand und Nadira hob kraftlos den Kopf.
„Ich bringe dir etwas zu trinken", sagte ein Mann und ging vor Nadira in die Hocke. Sie konnte ihn nicht erkennen, da er eine Kapuze trug, die sein Gesicht verdeckte. Erst als der Mann den Kopf hob, erkannte Nadira ihn. Es war Tinju.
„Trink", sagte er und hielt Nadira einen Wasserschlauch an den Mund. Gierig trank Nadira das schale Wasser. Sie hatten ihr den ganzen Tag über nichts zu trinken gegeben.
„Das ist genug", rief eine der Wachen.
„Ist ja gut", sagte Tinju und zog den Trinkschlauch weg. Ehe er aufstand, flüsterte er Nadira noch zu: „Es wird alles gut."
Er ergriff noch einmal Nadiras Hand, doch diesmal war seine Hand nicht leer. Er legte ihr etwas hartes, glattes in die Hand, Nadira schloss ihre Hand darum, um es zu verbergen. Tinju drehte sich um und ging weg. „Ihr solltet eure Gefangenen besser behandeln", sagte er im Vorbeigehen.
„Kümmere dich um deine eigenen Probleme", sagte eine der Wachen. Tinjus Schritte entfernten sich.
Nadiras hatte noch immer massive Probleme sich zu konzentrieren. Die Energie, die ihr laufend entzogen wurde, schien auch ihre Gedanken aufzusaugen und ihr Kopf fühlte sich die meiste Zeit leer an.
Aber irgend etwas war anders. Da war ein kleiner Ort am Rande ihres Bewusstseins. Ein Ort, der dem Sog des Halsrings widerstand. Neugierig und mit unendlich großer Mühe, wandte Nadira sich diesem Punkt zu. Er war rund, er war voller Ashara. Nadira konnte das Strahlen der Kraft sehen, die von diesem Punkt ausging. Der Sog schien das Ashara in diesem Punkt kaum zu beeinflussen. Was war das?
Dann plötzlich verstand sie. Das harte, runde etwas, das Tinju ihr in die Hand gegeben hatte. Vor Schreck über die Erkenntnis ließ sie den Fokusstein fast fallen. Aber nur fast, stattdessen griff sie fester zu.
Die Wachen schienen bemerkt zu haben. „Was ist das?", sagte einer von ihnen.
„Was ist was?", fragte der andere.
„Sie hat etwas in der Hand."
Bloß keine Zeit verlieren. Wenn sie ihr den Fokusstein wegnahmen, war alles vergebens. Nadira griff nach dem Ashara im Fokusstein, aber es funktionierte nicht. In dem Moment, in dem sie das Ashara zu sich heranzog, wurde es vom Sog erfasst und verschwand.
„Was ist das?", sagte die Wache. Schritte näherten sich ihr. Nadira lief die Zeit davon. Sie musste das Ashara nicht zu sich ziehen, sie konnte es auch direkt aussenden. Zwar konnte sie es dann nicht so gut kontrollieren, aber es müsste ausreichen. Nadira versuchte es, sie griff nach dem Ashara und sandte es von sich weg. Es klappte.
Jemand berührte ihre Hand, versuchte ihre Finger aufzubiegen. Nadira griff nach dem Ashara und schickte es gegen die Wache. Ein Schrei zeigte ihr, dass sie getroffen hatte, die Hand verschwand. Schritte eilten auf sie zu. Sie sah die zweite Wache vor sich. Ehe der Mann etwas unternehmen konnte, fegte sie ihm mit dem Ashara aus ihrem Fokusstein von den Beinen.
Als Nächstes sprengte sie den Pranger. Nur durch Glück verletzte sich dabei nicht selbst. Während Nadira vom Pranger weg stolperte, versuchte sie sich mit dem Ashara zu heilen, aber es klappte nicht. Die Energie wurde weggezogen, ehe sie ihr helfen konnte. Halb blind in der Dunkelheit, verwirrt vom Verlust all ihrer Kraft und mit schmerzenden Muskeln, stolperte Nadira davon. Plötzlich war kein Boden mehr da und sie stürzte. Hart schlug sie auf dem steinernen Boden des Platzes auf. Der Fokusstein fiel ihr aus der Hand, prallte mit einem singenden Laut auf den Boden und rollte weg. Von einem Augenblick auf den anderen war auch dieser winzige Punkt Stabilität im Sog des Halsrings verschwunden. Das Chaos stürzte über Nadiras Geist herein und für einige Augenblicke wusste sie nicht, wo sie war, nicht einmal wer sie war.
Hatte sie die Wachen ausgeschaltet, oder nur kurzzeitig aus dem Weg geschafft? Nadira stemmte sich auf alle Viere und suchte nach dem Stein. Er war nicht da. Schritte näherten sich. Panik stieg in Nadira auf, wo war dieser verdammte Stein?
Ein Schrei erklang und ein dumpfer Stoß. Schritte in ihrer unmittelbaren Nähe. Hände packten sie an den Hüften, zogen sie nach oben. Nadira schrie und versuchte sich zu wehren.
„Ich bin es, Callanor", rief eine Stimme. Nadira hörte die Worte aber verstand sie nicht. Eine Hand schlug ihr auf die Wange. Nadira hob den Blick und sah ein vertrautes Gesicht vor sich.
„Callanor", hauchte sie.
„Ja. Ich bin es. Und wir müssen weg hier."
„Der Fokusstein", keuchte Nadira.
„Ich hab ihn", rief jemand.
„Tinju hat ihn. Schnell jetzt." Callanor trug Nadira mehr, als dass sie selbst ging. Sie konnte immer noch kaum einen klaren Gedanken fassen, aber immerhin wusste sie eines: Sie war frei.
***
Nadira wusste nicht, wohin sie sie gebracht hatten. Aber sie wusste, dass der Weg ziemlich weit gewesen war. Wahrscheinlich wollten sie sie so weit wie möglich von dem Pranger wegbringen. Allerdings durften sie nicht riskieren die Stadt zu verlassen. Draußen lauerten wahrscheinlich noch immer die Wölfe.
Sie befand sich in einem kleinen Raum, der sich unter der Erde zu befinden schien. An den Wänden schien immer wieder die blanke Erde durch. Zwar waren Wände und Boden mit Steinen verstärkt, aber die Erbauer schienen keine talentierten Handwerker gewesen zu sein. Da sie unter der Erde waren, vermutete Nadira, dass sie sich in irgendeinem Keller befanden.
Nadira setzte sich auf. Sie hatte sich viel zu abrupt bewegt und die ganze Welt drehte sich plötzlich um sie. Nur mit Mühe konnte sie verhindern, wieder umzufallen. Sie krallte sich an irgendein Ding aus Holz, das ganz in ihrer Nähe stand.
„Geht es wieder?"
Nadira öffnete die Augen aber schloss sie sofort wieder, da die Welt sich immer noch drehte. Nach einer Weile versuchte sie es noch einmal. Jetzt war es etwas besser, die Welt hatte gebremst. Vor sich erkannte sie ein verschwommenes Gesicht, in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Aber trotzdem schaffte sie es. Es war Tinju.
„Geht es wieder?", fragte er noch einmal.
Nadira nickte, und bereute es sofort wieder, als die Welt sich wieder schneller zu drehen begann. „Nimm mir das Ding ab", sagte sie.
„Kann ich das so einfach?" Tinju schien von dem Halsring etwas abgeschreckt zu sein. Nadira konnte es ihm nicht verübeln. Eigentlich wusste sie nicht einmal, was passierte, wenn man es einfach abnahm. Aber es konnte nicht schlimmer werden, als es jetzt schon war.
„Nimm es einfach ab", sagte sie.
Tinju streckte die Hand nach dem Halsring aus, aber zögerte erst. Dann stahl sich ein Ausdruck von Entschlossenheit auf sein Gesicht und er griff zu. Er untersuchte den Ring genauer, aber schnell zeichnete sich Verwirrung auf seinem Gesicht ab.
„Was ist los?", fragte Nadira. „Nimm es ab."
„Ich … es hat kein Schloss. Es scheint einfach ein komplett geschlossener Ring aus Metall zu sein. Ich finde keinen Anfang und kein Ende."
Wahrscheinlich war es einfach zu dunkel hier, um das Scharnier und das Schloss zu sehen. Immerhin war sich ziemlich sicher, dass Brancus es ihr einfach umgelegt hatte und dass er keinen Schlüssel hatte, mit dem er es abschließen konnte. Hoffentlich schloss es sich nicht von selbst ab und ließ sich nur mit dem Schlüssel öffnen, dann würde Nadira das Ding nie mehr loskriegen.
Tinju drehte den Ring langsam an Nadiras Hals und schien ihn dabei mit den Fingerspitzen abzutasten. „Ich finde einfach nichts. Das ist alles total glatt."
„Wo ist Callanor?", fragte Nadira um das Thema zu wechseln. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was es bedeutete, wenn man das Ding wirklich nicht mehr entfernen konnte.
„Er schläft dort hinten", sagte Tinju und deutete auf einen dunklen Umriss auf der anderen Seite des Raumes. Nadira hatte nicht erkannt, dass es sich dabei um einen Menschen handelte.
„Ich fürchte, ohne genug Licht, kann ich Euch nicht helfen", sagte Tinju. „Ich finde einfach das Schloss nicht."
Nadira seufzte. „Schon gut. Ich werde versuchen ein wenig zu schlafen." Sie war sich ziemlich sicher, dass das nicht wirklich klappen würde, aber das musste Tinju nicht wissen. Und vielleicht reichte die Erschöpfung ja doch, um sie einschlafen zu lassen. War es ihr in Miragar auch so schwer gefallen, sich an den Halsring anzupassen? Sie hatte den Eindruck, dass es damals nicht so schlimm gewesen war.
„Könnt Ihr nicht den Fokusstein nutzen, um das Ding irgendwie … aufzubrechen?"
Die Idee hatte was. Aber sie hatte auch einen Schwachpunkt. „Der Stein hat nur begrenzte Energie und ich weiß nicht genau, was ich versuchen sollte. Außerdem glaube ich, dass er Ring das Ashara einfach absorbieren würde."
„Oh", machte Tinju.
„Versuchen wir zu schlafen", sagte Nadira und legte sich hin. Wie erwartet klappte das Einschlafen nicht. Zwar wollte ihre Erschöpfung sie immer wieder in den Schlaf ziehen. Aber der Sog in ihrem Geist und das dadurch entstehende Chaos waren zu groß, als dass sie sich hätte entspannen können.
Irgendwann musste sie dann doch noch eingeschlafen sein, denn das Nächste, woran sie sich erinnern konnte, war Callanor, der sie weckte. Es war nicht mehr ganz so dunkel hier drin und Nadira konnte endlich mehr erkennen, als nur schattenhafte Umrisse.
Sie waren tatsächlich in einem Keller, und wie Nadira schon vermutet hatte, bestand er aus Erde und Lehm, die mit einigen Steinen verstärkt worden waren. Sie waren nicht in einem reichen Haus. Das hölzerne Ding, an dem sie sich festgehalten hatte, war ein Fass. Es standen noch mehrere solche Fässer hier unten. Was sich darin befand war nicht zu erkennen.
„Gut geschlafen?", fragte Callanor.
Nadira schüttelte den Kopf. Zu ihrem Erstaunen wurde ihr davon nicht schwindelig. Sie schien sich doch ein wenig erholt zu haben. Sie fühlte sich auch mehr ganz so schlapp und hatte mehr Kontrolle über ihre Gedanken. Trotzdem fühlte sie noch immer den Sog. Ein tiefes Loch in ihrem Inneren, das alle Energie aufsog. Es war ein grauenhaftes Gefühl. Wer auch immer diese Dinger geschaffen hatte, war grausam gewesen. Allerdings konnte sie auch verstehen, dass solche Dinger erschaffen worden waren. Es gab sonst kaum eine Möglichkeit, einen Ashari unter Kontrolle zu halten.
„Kannst du mir dieses Ding abnehmen?", fragte Nadira und griff dabei an den Halsring.
„Ich kann es versuchen", sagte Callanor. Wie auch bei Tinju stahl sich schnell Verwirrung auf sein Gesicht. „Es ist ein geschlossener Metallring", sagte er. „Ich finde nichts, womit man ihn öffnen kann."
Wie hatten die Keshani die Dinger dann geöffnet? Es musste irgendeinen Trick geben, eine Technik. Oder waren nur Ashari in der Lage, dieser Dinger wieder zu entfernen? Aber Nadira wagte es nicht, das Ashara aus ihrem Fokusstein zu verwenden. Die Energie war begrenzt. Und solange der Sog in Nadiras Geist vorhanden war, konnte der Fokusstein seinen Vorrat auch nicht auffüllen.
Der Fokusstein nahm eine kleine Menge des Ashara seines Besitzers auf und speicherte es. Diese Menge war so gering, dass sie kaum ins Gewicht fiel. Es war weniger, als die Menge Ashara, sie ein Ashari regenerierte. Zwar wurde der Vorrat langsam aufgefüllt, aber ein Ashari konnte auch bewusst Energie in den Stein leiten, um ihn aufzufüllen. Mit dem Stein stand eine zweite Quelle von Energie zur Verfügung.
Jeder Ashari konnte nur eine begrenzte Menge von Ashara speichern. War diese Grenze erreicht, war die Energie die sich regenerierte, verloren. Der Fokusstein fing diese überschüssige Energie auf und speicherte sie für später. Die Hauptaufgabe eines Fokussteins war es aber, die Energie zu fokussieren und somit zu verstärken.
Im Moment war Nadira aber nicht in der Lage, ihren Fokusstein aufzuladen. Das Ashara im Stein war also alles, was sie hatte. Sie musste sehr vorsichtig damit umgehen. Das hieß, sie würde den Ring noch eine Weile tragen müssen.
***
Darec erwachte in einem Bett. Im ersten Moment dachte er, er wäre zu Hause in Seraint, in seinem Bett. Aber das schmerzhafte Pochen an seiner Schläfe rief ihm schnell wieder in Erinnerung, wo er wirklich war. Als er sich auf setzte, verstärkte sich das Pochen noch weiter. Er befand sich in einem einfach ausgestatteten Zimmer. Wahrscheinlich war er irgendwo im Haus der Dynari untergebracht.
Er stieg aus dem Bett und ging zur Türe. Es war an der Zeit Brancus zur Rede zustellen und mit Dyna Sirynda zu sprechen. Sie musste dafür sorgen, dass Nadira befreit wurde, und Brancus seine Strafe erhielt.
Darec griff nach der Türklinke und wollte die Türe öffnen, aber sie war verschlossen. Wütend schlug er gegen die Türe und verlangte, dass jemand öffnete, aber seine Forderung wurde nicht einmal einer Reaktion gewürdigt.
Darec trat an eines der Fenster. Er brauche keine Türe, um aus diesem Zimmer zu entkommen, ein Fenster würde es auch tun. Aber auch diesen Plan musste er schnell wieder verwerfen. Er befand sich mindestens zehn Meter über dem Boden, und es gab nichts, an dem er herunterklettern konnte. Darec saß fest.
Einige Stunden später, die Darec damit verbracht hatte auf dem Bett zu liegen und ein Loch in die Decke zu starren, wurde plötzlich ein Schlüssel im Schloss umgedreht. Darec setzte sich blitzschnell auf und wollte nach seinem Schwert greifen, aber natürlich hatte man ihm seine Waffen abgenommen. Die Türe wurde geöffnet und Aurel trat, in Begleitung zweier Wachen, in das Zimmer.
Aurel lächelte ihm zu. In den Händen trug sie ein Tablett, auf dem ein Teller mit dampfenden Eintopf stand. Beim Anblick des Essens fing Darecs Magen an zu knurren.
„Wie geht es dir?", fragte Aurel, während sie das Tablett auf dem kleinen Tisch am Fenster abstellte.
„Nicht mit dem Gefangenen sprechen", ging einer der Wachmänner dazwischen.
„Das ist kein Gefangener, das ist Darec, der Hüter von Dyna Nadira", sagte Aurel in einem belehrenden Ton, der so gar nicht zu ihr passen wollte.
Darec stand auf und setzte sich an den Tisch. Er schaufelte den Eintopf regelrecht in sich hinein. Er erkannte zwar, dass nicht Aurel ihn gekocht hatte, aber er hatte Hunger. Großen Hunger.
„Brancus ist außer sich vor Wut", sagte Aurel mit einem Schmunzeln. „Nadira ist entkommen."
Darec hielt mitten in der Bewegung inne. Der volle Löffel schwebte einige Zentimeter vor seinem Mund und er starrte Aurel darüber ungläubig an. Auf ihrem Gesicht lag ein zufriedenes Grinsen, aber nur bis sie einige Sekunden später von den Wachen gepackt und weggezogen wurde.
„Ich sagte: Nicht mit dem Gefangen sprechen", sagte er und stieß Aurel aus dem Raum. Aber Aurel hatte die wichtige Nachricht schon überbracht: Nadira war entkommen. Keiner von beiden wusste von dem Problem, dem Nadira gegenüberstand, und keiner in der Stadt wusste von dem Chaos, das noch vor Tagesfrist über Giagan hereinbrechen würde.
***
Callanor und Tinju suchten in den Fässern und Kisten, die im Keller herumstanden, nach etwas Essbaren. Finden taten sie jedoch nichts. Sie konnten aber sowieso nicht bis in alle Ewigkeiten hier unten bleiben. Irgendwann würden die Hausbewohner in den Keller gehen und sie entdecken. Im Moment war es besser, nicht entdeckt zu werden.
Nadira versuchte ihren Geist zu beruhigen. Sie nutzte dazu eine der Grundtechniken, die die Dynari in der Ausbildung aller Ashari und Dynari verwendeten. In dieser Übung setzte man sich gemütlich hin und versuchte seinen Geist auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren. Das war überraschend schwierig, wenn man nicht darin geübt war. Aber mit genügend Übung schaffte man es fast automatisch.
Ohne diese Kontrolle über die eigenen Gedanken und Gefühle war es sehr schwierig das Ashara zu kontrollieren. Deshalb war diese Fähigkeit eine der ersten, die junge Ashari und Dynari in Alluria erlernten.
Durch den Halsring war Nadiras Geist in Aufruhr. Mit dieser Übung schaffte sie es, zumindest ein wenig Ruhe zu schaffen. Sie schaffte es, einen Platz in ihrem Geist zu schaffen, in dem ihre Gedanken nicht von dem Sog in ein unkontrolliertes Chaos verwandelt wurden.
„Was machen wir jetzt?", fragte Nadira. Obwohl sie eigentlich die Anführerin der Gruppe war, befanden sie sich in einer Situation, die ihr komplett fremd war. Sie hoffte das Callanor oder Tinju mehr Erfahrungen mit Situationen wie dieser hatten. Oder dass sie zumindest eine Idee hatten, was sie tun konnten. Aber die beiden sahen erst Nadira ratlos an, dann einander.
„Wir wollten Euch erst mal da runterholten", sagte Tinju.
„Das habt ihr auch geschafft, und ich bin euch wirklich dankbar dafür", sagte Nadira. „Aber wir können hier nicht bleiben."
„Der Schlaf scheint Euch gut getan zu haben", stelle Callanor fest. „Ihr wirkt nicht mehr so verwirrt wie gestern."
Nadira nickte. „Es hat geholfen. Aber das Ding entzieht mir immer noch mein Ashara und es fällt mir schwer mich zu konzentrieren."
„Wir müssen herausfinden, wie wir das Ding abbekommen", sagte Tinju.
„Nur wie?", fragte Callanor. „Die Einzigen, die etwas darüber wissen könnten, sind die Dynari. Und wir wissen nicht, ob sie uns nicht sofort in den Kerker stecken würden."
Mit Sicherheit wissen taten es nur die Keshani. Die würden Nadira aber sicher nicht den Gefallen tun und ihr das Ding abnehmen. Die Einzigen hier in der Stadt, an die sie sich wenden konnten, waren die Dynari. Aber vermutlich wussten die auch nicht mehr als Nadira, denn vor ihrer Reise hatte sie noch nie von diesen Halsringen gehört.
„Wir sollten hier verschwinden", sagte Nadira. „Vielleicht hören sie uns zu, wenn sie erfahren, in welcher Gefahr Alluria schwebt."
„Das müssten sie inzwischen wissen", sagte Callanor. „Und sie werden wahrscheinlich jede Hilfe brauchen, die sie bekommen können."
Nadira war sich nicht sicher, ob sie als Hilfe angesehen wurde. Wenn Brancus die örtlichen Dynari davon überzeugt hatte, dass Nadira eine Verräterin war, dann würde man sie eher als Gefahr einschätzen. Aber hier im Keller zu warten, bis die Guul kamen um sie zu fressen, war auch keine Alternative.
Sie zogen Umhänge mit Kapuzen an, in der Hoffnung, dass man sie nicht sofort erkennen würde und so schlichen sie aus dem Keller heraus. Der Zugang des Kellers befand sich außerhalb des Hauses. Diese Methode war eigentlich ziemlich unpraktisch, weil man das Haus verlassen musste. Außerdem war es leichter für Einbrecher in den Keller zu kommen, wie Callanor und Tinju bewiesen hatten. Genutzt wurde diese Methode dann, wenn im Haus kein Platz für einen Zugang war. Möglicherweise auch, wenn der Keller erst nach dem Haus gebaut wurde. Allerdings führte das nicht selten zum Einsturz des Hauses. Nadira wusste das, weil dann die Dynari geholt wurden, um die Opfer zu bergen.
In der Stadt war alles friedlich. Die Menschen schienen unbesorgt ihrem Alltag nachzugehen. Es sah nicht so aus, als befände sich die Stadt in Vorbereitungen für einen Krieg.
Offenbar waren die Wölfe wieder abgezogen, denn das Tor stand wieder weit offen. Selbst auf große Entfernung - sie wagten es nicht näher heranzugehen, aus Angst erkannt zu werden - war das zu erkennen.
„Es sieht nicht aus, als bereite sich die Stadt auf einen Angriff vor", sagte Tinju.
„Nein. Tut es nicht", bestätigte Nadira.
„Was geht hier vor?", fragte Tinju.
Es gab nicht viele Möglichkeiten, was der Grund dafür sein könnte. Entweder hatte Brancus die Dynari noch nicht gewarnt oder die Dynari glaubten ihm nicht.
„Denkt Ihr, Brancus würde die Stadt gefährden, um seinen Arsch zu retten?", fragte Callanor.
„Ich weiß es nicht", sagte Nadira. „Bis gestern hätte ich es nicht einmal ihm zugetraut so etwas zu tun."
***
Gegen Mittag war Darecs Geduld endgültig erschöpft. Er hämmerte unablässig gegen die Türe. Zu Anfang wurde er ignoriert. Sie gingen wahrscheinlich davon aus, dass er dem schnell überdrüssig werden würde, aber diesen Gefallen tat er ihnen nicht.
Sie ließen sich fast eine halbe Stunde Zeit. Eine halbe Stunde gegen eine Türe hämmern war anstrengend, und Darec war schon kurz davor aufzugeben. Aber schließlich flog die Türe plötzlich auf. Darec musste sich mit einem Sprung in Sicherheit bringen, um nicht von der Türe getroffen zu werden.
„Es reicht", schrie ein Wächter ihn an. „Hör sofort auf dem Lärm."
„Beantworte mir nur eine Frage", sagte Darec.
Der Wächter zögerte kurz. „Was willst du wissen?"
„Hat Dyna Sirdyna die anderen Städte schon informiert?"
Der Wächter sah Darec an, als hätte dieser den Verstand verloren. „Worüber sollte sie die anderen Städte informieren?"
„Ihr wisst es immer noch nicht?" Jetzt war es an Darec zu starren, aber vor Ungläubigkeit. Konnte es wirklich sein, dass Brancus sie noch nicht gewarnt hatte? Sie waren nun bereits seit einem Tag in der Stadt. Sie hatten keine Zeit zu verlieren.
„Was sollen wir wissen?", fragte der Wächter, seine Stimme hatte einen lauernden Unterton. War es möglich, dass die Dynari nur die Wächter noch nicht informiert hatten? Aber das war sehr unwahrscheinlich. Die Wache musste sich auf die Verteidigung der Stadt vorbereiten. Sie hatten keine Zeit für Verschwiegenheit.
„Der bevorstehende Krieg?", fragte Darec.
Der Wächter lachte. „Krieg? Mach dich nicht lächerlich. Es gibt keinen Krieg." Der Wächter drehte sich um, um das Zimmer wieder zu verlassen. „Was hat diese Verräterin nur mit dem armen Kerl gemacht?", murmelte er. Dabei machte er einen großen Fehler. Er wandte Darec den Rücken zu.
Für eine Sekunde zögerte Darec. Es missfiel ihm, einem Kameraden in den Rücken zu fallen. Aber ging hier um wichtigere Dinge als Respekt innerhalb der Wache, es ging um die ganze Stadt, vielleicht um ganz Alluria. Mit einem schnellen Schritt sprang Darec nach vorne. Er riss beide Arme nach oben, legte die Fäuste ineinander und ließ sie dann mit aller Kraft in den Nacken des Wächters krachen. Der fiel um wie ein Getreidesack, der von einem Wagen geworfen wurde.
Darec nahm dem Wächter das Schwert und den Dolch ab. Er hoffte, dass er keine der beiden Waffen einsetzen musste, aber falls doch, wollte er vorbereitet sein. Es blieb keine Zeit auch die Rüstung des Mannes anzuziehen. Er musste verschwinden, ehe er bemerkt wurde.
Das größte Problem vor dem Darec stand, war, dass er das Gebäude nicht kannte. Er wusste nicht, wo er war, wo Aurel und Brancus sich befanden, und auch nicht, wo der Dyna Sirdyna finden würde.
Darec eilte durch die Gänge und rannte dabei fast in eine Gruppe Diener. Anstatt wie erwartet um Hilfe zu rufen, machten sie nur Witze darüber, dass er aufpassen sollte, wen er umrannte. Offenbar wussten die Menschen hier nicht, dass er ein Gefangener war. Oder sie gingen davon aus, dass man ihn wieder freigelassen hatte und er somit keine Gefahr darstellte.
Das Haus der Dynari in Giagan war ganz anders als das in Seraint. Während das Haus von Dyn Arthos eine Anlage war, die aus mehreren Gebäuden bestand, schien das Haus der Dynari in Giagan ein einziges, großes Gebäude zu sein. Darec hatte bei der Ankunft in der Stadt ein riesiges Gebäude gesehen, einen Turm, der sich weit über die anderen Gebäude erhoben hatte. War er in diesem Turm?
Es dauerte nicht lange, bis er auf die nächste Gruppe von Dienern stieß. „Entschuldigt bitte", sagte er. „Wisst ihr, wo ich Dyna Sirdyna finden kann? Ich habe eine wichtige Nachricht für sie."
„Sie ist im Audienzzimmer", sagte einer der Diener.
„Wo finde ich das?", fragte Darec.
Die Diener schmunzelten. „Du bist neu hier, oder?"
Darec nickte.
„Am Anfang kann man sich hier leicht verirren", sagte einer der Diener. „Ich zeige dir den Weg."
„Das wäre sehr nett", sagte Darec.
Sie verließen die anderen und Darec folgte seinem Führer durch die verwirrenden Gänge des Hauses. Es ging über mehrere Treppen nach oben. „Was für eine Nachricht hast du für die Dyna, wenn es nicht geheim ist?", fragte der Diener schließlich.
„Ihr werdet es sowieso bald erfahren", sagte Darec. „Alluria steht ein Krieg bevor."
Der Diener blieb stehen. „Ein Krieg?", fragte er. Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Überraschung und Schrecken, zu denen sich bald auch noch Misstrauen gesellte.
„Ja. Deshalb muss ich so schnell wie möglich mit der Dyna sprechen", sagte Darec.
Der Diener zögerte noch eine Sekunde. Er wusste nicht, was er von diesem fremden Krieger halten sollte, aber er wusste auch, dass die Dyna in der Lage war, sich zu schützen, sollte der Mann ein Attentäter sein. Außerdem war die Dyna nie alleine. Also führte er Darec bis vor den Audienzsaal. „Hier ist es. Warte, bis man dich hereinholt."
Aber Darec wollte nicht warten. Sie hatten schon einen ganzen Tag hier verbracht, einen ganzen Tag verloren. Hoffentlich war es nicht schon zu spät. Er trat an die Türe und stieß sie einfach auf. Der Diener stieß ein schockiertes Keuchen aus und rief Darec etwas nach, was dieser aber ignorierte.
Hinter der Türe lag ein langer Saal, gegenüber der Türe stand eine Art Thron und daneben ein Tisch mit mehreren Stühlen, von denen einer ein kleinerer Thron war. Auf diesem kleineren Thron saß seine Frau in mittleren Jahren. Sie unterhielt sich gerade mit einem Mann, der in feine Klamotten gekleidet war. Als Darec die Türe aufstieß, sah sie auf und wandte sich ihm zu.
Außer den beiden vorne am Thron, die Frau musste Dyna Sirdyna sein, befanden sich noch mehrere andere Leute hier, die in kleinen Gruppen im Raum verteilt standen, außerdem gut ein Dutzend Wachen. Zwei davon traten nun in Darecs Weg und hielten ihn auf.
„Du wurdest nicht hereingebeten", sagte eine der Wachen.
„Ich habe eine äußerste wichtige Nachricht für Dyna Sirdyna und ganz Alluria", sagte Darec. „Sie kann nicht warten."
„Das sagen alle", sagte die Wache.
Als Darec ihm erklären wollte, was auf dem Spiel stand, flog hinter ihm plötzlich wieder die Türe auf. Ein wütender Brancus stampfte in den Saal. „Ihr da", rief er den Wachen zu. „Nehmt den Mann fest. Er ist ein entlaufener Gefangener."
Die Wachen gingen sofort in Kampfhaltung und sahen Darec grimmig an. „Keine Dummheiten", sagte einer zu Darec.
Darec drehte sich langsam zu Brancus um. „Du Verrückter hast sie nicht gewarnt."
„Hüte dich, in diesem Ton mit mir zu sprechen", sagte Brancus. „Ich bin ein Dynari, du bist nur mein Hüter."
„Ich bin Nadiras Hüter", schrie Darec.
„Ihr seht, er steht noch immer unter Einfluss der Verräterin", sagte Brancus. „Nehmt ihn endlich fest und sperrt ihn weg."
„Was ist hier los?" Alle drehten sich gleichzeitig um. Direkt hinter den Wachen stand Dyna Sirdyna.
„Nur ein kleines Problem mit meinem Hüter", sagte Brancus. „Bitte ignoriert ihn und entschuldigt die Störung."
„Ich möchte hören, was er zu sagen hat", sagte die Dyna. Und Darec tat genau das. Er erzählte ihr alles, was er wusste.
Als er mit einer Erzählung geendet hatte, wandte sich die Dyna Brancus zu. „Ist das wahr?"
Brancus stammelte. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Die Anschuldigungen gegen Nadira waren eine Kurzschlusshandlung gewesen. Seit dem befand er sich in der Zwickmühle und wusste immer noch nicht, wie er dort wieder herauskommen sollte.
„Es stimmt also", sagte Dyna Sirdyna. „Ihr habt wegen Eurer kleinlichen Rache meine ganze Stadt gefährdet, sogar das ganze Land. Das ist unverzeihlich. Wache, nehmt ihn fest."
Für einen Moment war Brancus wie gelähmt. Als ihn dann aber die Wachen packten, um ihn zu verhaften, zerbrach etwas ihn ihm. Mit einem Mal flogen die beiden Wachen durch den Saal. Kurz darauf flutete heißes Feuer den Raum. Wandteppiche fingen Feuer, der kostbare Teppich verschmorte. Aber die Flammen trafen nicht die Menschen. Weitere Dynari hatten sich zu Dyna Sirdyna gesellt, und jetzt gingen sie zum Gegenangriff über.
Darec wusste nicht genau, was passierte, aber die Luft war plötzlich voller Energie, voller Feuer, Dampf bildete sich, die brennenden Wandteppiche füllten den Raum allmählich mit Rauch. Dann war es ganz plötzlich vorbei. Ein Lichtblitz blendete sie alle und als Darec wieder sehen konnte, lag Brancus auf dem Boden.
Er schien nicht verletzt zu sein, aber er war bewusstlos. „Wir müssen sofort die Stadt abriegeln und die anderen Städte warnen", rief Dyna Sirdyna. „Und wir müssen Dyna Nadira suchen. Wir brauchen sie."
Die Dynari und Wachen schwärmten aus um ihre Befehle auszuführen. „Ich danke dir, dass du uns gewarnt hast, Hüter", sagte die Dyna zu Darec.
In nächsten Moment zerfetzte eine Explosion die Stille, die sich über den Saal gesenkt hatte. Schreie aus der Stadt drangen bis hinauf in den Turm der Dyna. Es war zu spät, die Keshani waren da.