Читать книгу Wenn der Selbstschutz fehlt - Linda Mohr - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеIch, Gerlinde, wurde 1959 als drittes Kind einer Arbeiterfamilie im Osten Deutschlands geboren, der damaligen DDR. Meine Familie lebte in einem Dorf mit etwa zweitausend Einwohnern in der Nähe eines großen Chemiewerkes. Wir hatten ein eigenes Haus. Meine Eltern sind gleich nach dem Krieg in dieses Dorf gezogen, nach dem zweiten Weltkrieg. Beide waren damals in russischer Gefangenschaft und durften nach Kriegsende unabhängig voneinander wieder nach Hause zurück kehren. Nicht alle Gefangene hatten wohl damals dieses Glück.
Meine Mutter hat uns Kindern später oft über diese Zeit im Krieg erzählt, wie alles angefangen hat und wie es Ihnen ergangen war beim täglichen Kampf ums Überleben in der Gefangenschaft. Doch wir durften in der Öffentlichkeit nichts davon erzählen, denn im Osten war die damalige Sowjetunion unser Bruderstaat und unser Befreier und dazu passte es nicht, was im Krieg alles geschehen war. Aber wir haben uns schon manchmal zurück halten müssen, wenn die rote Armee der Sowjetunion bei uns im Sozialismus nur hoch gelobt wurde und alles so dargestellt wurde, als wäre diese Armee in der Zeit des Krieges immer nur human gewesen. Nein, im Krieg sind alle Menschen gleich, zumindest die kleinen Leute, die Soldaten, denn da geht es nur ums Überleben. Und deshalb hatten auch die Soldaten der russischen Armee in diesem Krieg Ihre Schandtaten vollbracht, die meine Eltern selbst erleben mussten. Doch auch sie haben niemand Fremden etwas davon erzählt.
Nach dem Krieg zu Hause angekommen hat meine Mutter dann gleich meinen Vater kennen gelernt und sie haben schon bald geheiratet, denn es gab nicht mehr so viele Männer nach den schrecklichen Kriegsjahren. Und meine Mutter hat dann bald drei Kinder geboren. Wie sie mir später einmal erzählte, als ich groß war, wollte sie eigentlich kein drittes Kind. Ich glaube, das hab ich manchmal auch ein bisschen spüren müssen. Ich konnte mir nämlich im Nachhinein einige Verhaltensweisen meiner Mutter mir gegenüber erklären. Zum Beispiel, dass Sie immer um meine zwei Geschwister mehr bemüht war als um mich und in meinem Leben fast immer alles von alleine laufen musste. An mich wurden immer höhere Anforderungen gestellt als an meine Geschwister und ich bekam meist immer die Schuld, wenn etwas vorgefallen war.
Meine Schwester Margot übrigens war sieben Jahre älter und meine Schwester Rosalie zwei Jahre älter als ich. Beide lagen fast ständig im Streit miteinander. Denn Margot hat Ihre Schwester Rosalie von Anfang an richtig gehasst, weil Sie auf die Welt gekommen ist. So jedenfalls erzählte sie es mir später einmal nach einem Ihrer streitsüchtigen Ausbrüche mit Rosalie. Sie erzählte mir nämlich, dass sie eigentlich das einzige Kind bleiben wollte, nachdem sie bereits fünf Jahre mit Ihren Eltern allein verbracht hatte, die ihr all ihre Liebe schenkten und sie verwöhnten. Vor allem deshalb, weil Margot diese Liebe und Zuneigung dann teilen musste, konnte sie ihre Schwester Rosalie nicht leiden. Aber als dann zwei Jahre später nach ihrer Geburt auch noch ich auf die Welt kam, war es ihr angeblich egal, dass sie nun noch eine Schwester mehr hatte.
Margot benutzte mich deshalb schon in meinen frühen Kindesjahren oft dazu, um gegen unsere Schwester Rosalie vorzugehen. Zum Beispiel hob sie mich meist in den Himmel um Rosalie richtig schlecht machen zu können. Das tat sie aber nicht nur als wir noch Kinder waren, sondern auch als wir bereits erwachsen waren hörte das nicht auf. Rosalie hatte deshalb wenig Chancen voll und ganz im Leben zu bestehen, jedenfalls baute sich das im Laufe der Jahre so auf. Und obwohl sie eigentlich die Hübschere von beiden war und die besseren schulischen Leistungen und Erfolge hatte, oder gerade deswegen, hat Margot sie ständig gegängelt und verspottet. Nur wenn Rosalie sich Margot unterordnete, war alles in Ordnung. Sowie sie jedoch ihren eigenen Weg gehen wollte und etwas nicht nach dem Willen und unter der Kontrolle von Margot lief, war Rosalie der unfähigste Mensch in Margot‘s Munde. Doch angeblich wollte ihr Margot ja nur helfen, wie sie immer behauptete. Rosalie jedoch war aufgrund der ganzen Streitereien im Laufe der Jahre in all ihren Verhaltensweisen immer unsicherer geworden, was meine Eltern aber mit Schwäche von ihr deuteten. Sie traten ihr deshalb umso mehr wehleidig gegenüber, denn sie schienen nicht zu ahnen, was sich all die Jahre im Hintergrund abspielte. Margot verstand es nämlich immer wieder, sich nach außen hin als die besorgte Schwester aufzuführen, weil sie die Große war und sich in einigen Dingen ja auch um uns kümmerte. Dass sie dies aber extrem nur zu ihrem Vorteil tat, konnte anfangs noch keiner ahnen, denn das kam erst im Laufe der Jahre immer mehr zum Vorschein. Und ich denke Margot wusste selbst auch nicht was sie da tat, denn anscheinend hatten meine Eltern sie einfach zu selbstsüchtig erzogen und sie immer gewähren lassen.
Meine Kindheit aber lief ansonsten ziemlich reibungslos ab und wenn ich daran zurück denke, war ich eigentlich glücklich.
Nebenan in dem Haus wohnten übrigens die Mutter und die Schwester meines Vaters mit ihrer Familie. Sie hatten vier Kinder, drei Mädchen und einen Jungen und wir drei Schwestern hatten so immer jemand zum Spielen. Und ich und meine Cousine Moni waren sogar in einer Klasse. Sie war so lange meine Freundin, bis wir aus der Schule waren und in der Stadt eine Lehre aufnahmen. Von da an hatten wir nicht mehr so viel Zeit füreinander. Und außerdem ist Moni mit Ihrer Familie auch bald darauf in die Stadt in eine Neubauwohnung gezogen. Ihre Eltern hätten sonst an ihrem Haus so viel machen müssen, weil alles schon ziemlich alt war. Und für die Wohnung in der Stadt mussten sie nur wenig Miete bezahlen und hatten dafür allen Komfort. Zu der Zeit wurden nämlich bei uns im Osten viele neue Häuser gebaut,die hatten alle Zentralheizung und warmes Wasser. Es waren Blöcke aus Beton, die sehr einfach und nicht besonders schön aussahen, aber eben diesen Vorteil hatten.
Aber in den Jahren vorher traf ich mich fast jeden Tag mit meiner Cousine Moni und in der Schule waren wir ja auch immer zusammen. In fast allen Unterrichtsräumen saßen wir nebeneinander und ich musste ihr oft helfen, da sie nicht so gut in der Schule war wie ich. Da gab es einmal eine Begebenheit, die ich bis heute nicht vergessen habe, denn ich habe mich danach immer wieder gefragt, wie ich diese Sache so schnell hingekriegt habe. Das war in der vierten Klasse. Jeder sollte als Hausaufgabe in Deutsch einen Aufsatz über ein bestimmtes Thema schreiben, welches ich heute allerdings nicht mehr weiß. Der Aufsatz sollte als Leistungskontrolle am nächsten Tag von einigen Schülern vorgelesen werden, die noch Zensuren brauchten. Es kamen also nicht alle Schüler mit Vorlesen dran. Damals wusste Moni mal wieder nicht, was sie schreiben sollte und fragte mich am späten Nachmittag ob ich den Aufsatz schon fertig hätte und ob ich ihn ihr einmal zur Anregung geben könnte. Ich ahnte ja nicht, dass ihr überhaupt nichts einfiel und sie einfach meinen Aufsatz abschreiben würde! Sie dachte wohl nicht daran, dass wir beide mit vorlesen dran kommen könnten, denn unsere Nachnamen standen im Klassenbuch genau hintereinander. So dachte sie sicher, dass das ziemlich unwahrscheinlich war. Tatsächlich kam Moni dann mit Vorlesen dran und ich fiel aus allen Wolken, als sie vom Wortlaut her genau meinen Aufsatz vorlas. Sie bekam dafür eine zwei und war überglücklich. Als jedoch unsere Lehrerin danach den nächsten Namen aufrief, dachte ich, ich höre nicht richtig! Rief sie doch tatsächlich meinen Namen auf. In dem Moment schossen mir alle Gedanken durch den Kopf. Sollte ich die Wahrheit sagen, oder was sollte ich jetzt tun? Als ich dann aber mein Heft aufschlug, las ich plötzlich wie automatisch meinen Aufsatz so vor, dass die Sätze umgestellt waren, veränderte vor allem den Anfang und fügte immer wieder andere Passagen zwischendurch ein, etwas, was mir gerade noch einfiel zu diesem Thema. Ich muss das jedenfalls so perfekt hingezaubert haben, dass der Lehrerin nicht aufgefallen war, dass eigentlich zwei die gleichen Ausätze in unseren Heften standen und bekam auch eine zwei dafür. Ich war so stolz auf mich! Abgesehen davon natürlich, dass ich auf meine Cousine total sauer war. Aber wenn ich heute daran zurück denke, frage ich mich immer noch, wie ich so schnell reagieren konnte und muss immer noch über mich selber lachen.
Ein anderes schönes Erlebnis aus meiner Kindheit, welches ich nie vergaß, hatte ich, als ich in der fünften Klasse war. Es war kurz vor Weihnachten an einem Samstagvormittag. Wir Kinder waren gerade allein zu Hause, als die Postfrau bei uns klingelte und ein Paket brachte. Wir freuten uns jedes Mal riesig, wenn ein Paket kam, denn wir wussten ja, dass es nur von meinen Tanten aus dem Westen kommen konnte. Und da waren immer schöne Sachen für uns drin, vor allem vor Weihnachten. Aber aufmachen durften wir das Paket alleine nicht. Wir mussten also noch warten, bis unsere Mutter vom Einkauf zurück war. Und als ich so darauf schauen wollte, von welcher meiner Tanten das Paket eigentlich war, sah ich, dass es nur an mich adressiert war. Ich dachte, ich traue meinen Augen nicht! Und der Absender war von einem Mädchen, welches ich überhaupt nicht kannte! Was sollte das sein, dachte ich in dem Moment! Woher kam dieses Paket? Das konnte doch gar nicht meins sein? Nun konnte ich es natürlich erst recht kaum erwarten, bis meine Mutter endlich zurück war um das Paket zu öffnen. Und als es so weit war, war es so, als wäre schon Weihnachten. In dem Paket waren vor allem Dinge drin, die ich für die Schule gut gebrauchen konnte, Hefte, bunte Umschläge und eine Federmappe, die so ausgestattet war, wie es das bei uns im Osten noch nicht gab. Dann waren noch Malhefte drin, ein Füller und Filzstifte, die damals erst erfunden wurden und die man bei uns deshalb überhaupt noch nicht kannte. Und außerdem waren noch jede Menge weihnachtliche Süßigkeiten dabei und ein Brief. In dem Brief stand dann, dass das Mädchen mir dieses Paket geschickt hatte, weil sie in der Schule gerade gelernt hatten wie man ein Paket packt und dieses dann für mich zusammen mit Ihrer Klasse im Unterricht gepackt wurde. Darüber war ich sehr erstaunt und meine Freude war unbeschreiblich groß! Denn wer hatte schon das Glück so ein Überraschungspaket von fremden Menschen zu bekommen? Dieser Moment war so schön, dass ich bis heute nicht vergessen habe, welche Freude mir diese Kinder bereitet hatten. Und das Mädchen, welches als Absender auf dem Paket stand, war die Nachbarin einer Bekannten meiner Mutter, mit der sie im Krieg zusammen in Gefangenschaft war und mit der meine Mutter noch lange Jahre danach in Kontakt geblieben war. Dieses Mädchen, Christiane, erhielt meine Adresse von dieser Frau und sie war von da an meine Brieffreundin.
Ich gehörte übrigens in der Schule immer zu den besten Schülern der Klasse und wurde jedes Jahr am Ende des Schuljahres dafür geehrt. Meist gab es als Auszeichnung ein Buch, welches mir dann am letzten Tag des Schuljahres beim Fahnenappell zusammen mit den besten Schülern aus den anderen Klassen überreicht wurde. Und außerschulisch gab es zur Freizeitgestaltung verschiedene Arbeitsgemeinschaften, von denen jeder Schüler mindestens eine besuchte. Ich war immer im Schulchor, denn das Singen machte mir großen Spaß. Wir sangen meist Heimatlieder oder Wanderlieder und Jugendlieder, aber auch Kampflieder im Sinne unseres sozialistischen Staates. Da unser Chorleiter auch der Leiter der Blaskapelle in unserem Dorf war, sangen wir bei öffentlichen Auftritten auch in musikalischer Begleitung, wie zum Beispiel am 1. Mai, dem internationalen Kampftag der Arbeiterklasse, der bei uns immer groß gefeiert wurde. An diesem Tag versammelten wir uns jedes Jahr zur Demonstration mit Plakaten und musikalischer Umrahmung, bei der alle Einwohner durch das ganze Dorf marschierten. Und am Schluss wurde dann immer traditionell der Maibaum gesetzt, ganz feierlich mit Vorführungen untermauert. Wir Kinder waren davor immer mächtig aufgeregt, dass auch alles glatt geht, wenn wir unseren Chorauftritt hatten. Und alle mussten natürlich ihre Pionierkleidung anziehen, weiße Bluse und blaues Halstuch, und die Jugendlichen trugen ihr Blauhemd, so wie es von unserer Schule aus generell bei feierlichen Anlässen vorgeschrieben war.
Ansonsten war ich in meiner Freizeit noch im Geräteturnen. Hier war ich so gut, das ich bei Kreismeisterschaften einige Medaillen errang. Meine ganzen Erfolge waren mir damals allerdings nicht so bewusst, weil vor allem meine Eltern alle guten Leistungen von mir immer als selbstverständlich ansahen. Und deshalb war es wahrscheinlich auch für mich selbstverständlich immer das Beste zu geben. Wenn mir einmal etwas nicht so gelang, stürzten bei mir Welten zusammen. Ich selber stellte immer diese hohen Anforderungen an mich, ohne es zu merken. Aus diesem Grund erwartete ich das sicher von anderen genauso und es kam deshalb vor allem zwischen uns Geschwistern oft zu Streitigkeiten, so verschieden wie wir waren. Meine Mutter schlichtete diese dann immer nur mit den Worten: “streitet euch nicht“, ohne den Dingen auf den Grund zu gehen. Mein Vater allerdings bekam von den Streitigkeiten zwischen uns Geschwistern nicht viel mit, weil er immer viel arbeiten war. Er war so gut wie der Alleinverdiener in unserer Familie und ging deshalb noch oft nebenbei zu Leuten im Dorf privat arbeiten. Als Elektriker reparierte er defekte elektrische Geräte und Leitungen in den Häusern.
Meine Mutter dagegen ging nur drei Stunden am Tag auf der Poststelle sauber machen. Sie war also meist zu Hause und wir Kinder hatten deshalb immer einen Ansprechpartner und unser Essen, wenn wir aus der Schule kamen. Es war also immer jemand da, der sich um uns kümmerte.
Durch den Betrieb meines Vaters hatten wir sogar jedes Jahr einen Urlaubsplatz, denn mein Vater arbeitete in dem großen Chemiewerk, in dessen Nähe wir wohnten und in dem fast alle aus unserem Dorf arbeiteten. Großfamilien, wie wir mit drei Kindern dazu zählten, wurden damals im Werk mit Urlaubsplätzen bevorzugt. Deshalb fuhren wir fast jedes Jahr in den Sommerferien weg, meist ins Erzgebirge oder an die Ostsee. Die Zeiten an der Ostsee vergesse ich nie. Ich habe heute noch die Erinnerung an die Glücksgefühle, die wir als Kinder jedes Mal verspürten, wenn wir dort ankamen und die frische Meeresluft einatmeten. Damals war das Wasser noch tief blau und klar und der Anblick und das Rauschen des Meeres waren für uns so erhebend, dass wir das ganze Jahr davon gezehrt haben. Hier konnten wir zwei Wochen lang richtig entspannen. Und wir lernten fast immer andere Leute kennen, mit denen wir unseren Spaß hatten, denn im Urlaub waren alle immer gut gelaunt. Aber auch die Urlaube im Gebirge waren für uns jedes Mal erholsam. Denn schon allein die Waldluft dort war Balsam für unseren Körper und die Seele, da die Luft bei uns zu Hause durch das Chemiewerk nicht gerade die beste war. Und immer, wenn wir dann aus dem Urlaub wieder nach Hause kamen, konnten wir die düstere Dunstglocke über unserem Heimatort wahrnehmen, die durch die großen Schornsteine des Chemiewerkes verursacht wurde und die bei den hohem Temperaturen im Sommer richtig tief lag. Immer dann wurden wir wieder daran erinnert in welcher Luft wir eigentlich lebten und wir Kinder nahmen uns jedes Mal fest vor, dass wir einmal wegziehen würden, wenn wir groß sind. Aber es dauerte nicht lange und wir hatten uns im Alltag wieder daran gewöhnt und dachten nicht mehr daran.
Den Rest der Sommerferien spielten wir als Kinder dann meist auf der Wiese. Wir sammelten Marienkäfer und versuchten sie in unsere Schürzentaschen zu stecken, wo sie natürlich immer wieder heraus krabbelten und wir sie wieder einfangen mussten. Oder wir pirschten als Indianer durch das hohe Gras, kletterten auf Bäume und spielten im Wald Räuber und Gendarm.
Der Höhepunkt des Sommers in unserem Dorf aber war das alljährliche Gartenfest, bei dem man alle Leute antraf. Es begann immer Samstagabend mit Musik und Tanz und einem großen Feuerwerk. Und Sonntag war ganz zeitig der große Frühschoppen mit Musik und Bierzelt und Nachmittag war Tanz und Unterhaltung für die ganze Familie. Jeder kam auf seine Kosten und wir freuten uns das ganze Jahr darauf. Einmal hatte ich als Kind auf diesem Gartenfest ein so starkes gefühlsmäßiges Erlebnis, dass es mich all die kommenden Jahre nicht mehr losgelassen hat und in größeren Abständen immer wieder in mein Gedächtnis trat. Das war an so einem Sonntagnachmittag und wir Kinder standen immer auf der Tanzfläche ganz vorn, direkt vor der Kapelle, damit wir die Musikanten beobachten konnten. In diesem Jahr, ich muss so ungefähr zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, galt meine ganze Aufmerksamkeit dem Musikanten, der die Klarinette spielte. Nachdem ich ihn gesehen hatte, ließ mich dieser Mann nicht mehr los. Es war sein Aussehen, was mich faszinierte, obwohl er eigentlich ganz normal aussah. Aber was das Merkwürdige war, ich hatte so starke Gefühle beim Anblick dieses Mannes, dass ich diese nicht zuordnen konnte. Es waren aber weder nur Glücksgefühle als auch nur schlechte Gefühle, die meinen Körper ständig durchfuhren. Es waren eher gemischte Gefühle, die ich vorher noch nie kennen gelernt hatte und die so heftig waren, dass sie mich völlig irritierten. Irgendetwas muss mit diesem Mann gewesen sein, aber was? Ich musste ihn immer wieder anschauen, aber weshalb nur? Was war mit diesem Mann? Erst Jahre später konnte ich dieses Erlebnis zuordnen,woraus dann meine Meinung resultierte, dass es so etwas wie Schicksal oder einen vorbestimmten Weg für jeden Menschen gibt. Zumal das auch nicht mein einziges Erlebnis in Bezug auf dieses Thema im Laufe meines Lebens war.
Wir Kinder durften übrigens immer bis nach Mitternacht auf diesem Gartenfest bleiben, denn es war ja schließlich nur einmal im Jahr. Und jedes Mal, wenn das Fest zu Ende war, freuten wir uns schon auf das nächste Gartenfest, denn dann waren wir wieder ein Jahr älter und wir wollten so schnell wie möglich auch so sein wie die Jugendlichen bei uns im Dorf.
Aber auch im Winter gab es bei uns im Dorf Erlebnisse, die die Erinnerung an meine Kindheit prägten. Wenn es ganz kalt und eisig draußen war, fuhren wir immer auf dem Hochwasser Schlittschuh, welches sich auf der Wiese hinten am Wald bildete, wenn der Fluss über die Ufer trat. Leider hatten wir damals nur Schlittschuhe zum Anschrauben, die an einigen Schuhen jedoch nicht hielten, weil die Sohle nicht robust genug war. Wir wechselten uns deshalb auch oft mit dem Fahren ab, wenn jemand dieselbe Schuhgröße hatte. Denn nicht alle Kinder hatten Skischuhe, welche dafür am besten geeignet waren. Und wenn es mal nicht mit der Schuhgröße hinhaute, kam es auch vor, dass wir unsere Füße in eine Nummer kleiner pressten oder größere Schuhe vorn mit Papier ausstopften, damit sie einigermaßen passten. Und am nächsten Tag taten uns dann immer mächtig die Füße weh.
Einmal ist meine Schwester Margot sogar direkt auf dem Fluss Schlittschuh gefahren und zwar ziemlich nah am Wehr. Sie ist dort mit einem Bein eingebrochen, weil das Eis an der Stelle viel dünner war. Genau in dem Moment hatte sie aber großes Glück, dass ihr Schulfreund unmittelbar in ihrer Nähe stand und sie wie automatisch gleich wieder heraus gezogen hat. Ansonsten wäre Margot vielleicht sogar ertrunken, weil die Strömung des Flusses an der Stelle so stark war, dass diese sie sofort heruntergezogen hätte. Margot traute sich danach mit dem nassen Bein nicht gleich nach Hause zu gehen und blieb noch eine Weile draußen, in der Hoffnung, dass die nassen Sachen etwas trocknen würden und keiner etwas bemerkt. Aber das klappte nicht, denn dafür war es viel zu kalt. Und meine Mutter hat natürlich gleich gemerkt was los war und ein riesiges Theater gemacht. Und Margot hat durch die Kälte einige Zeit später Rheuma im Bein bekommen und musste für mehrere Wochen ins Krankenhaus. Ich erinnere mich noch genau, wie wir jedes Wochenende mit der S-Bahn ins Krankenhaus fuhren um sie zu besuchen.
Doch viel zu schnell war meine unbeschwerte Kindheit vorbei und meine Erlebnisse waren nur noch Erinnerung. Aber ich zehre heute noch von diesen Erinnerungen an damals. Immer wenn ich daran denke oder davon träume, schöpfe ich wieder neue Kraft zum Leben. Wenn ich die Geborgenheit von Zuhause in meiner Kindheit nicht gehabt hätte, wäre ich später sicher nicht so stark gewesen und ich hätte die schweren Zeiten, die noch kommen sollten und mir so viel meiner Kraft abverlangten, nicht überstanden.
Wir Kinder waren jetzt also langsam in dem Alter, in dem wir anfingen uns für Jungs zu interessieren. Das war nach unserer „Jugendweihe“. Die Jugendweihe war bei uns im Osten in etwa das gleiche wie Konfirmation. Nur hatte das eben nichts mit der Kirche zu tun. Bei der Jugendweihe wurden alle Kinder der achten Klassen im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung mit allen Angehörigen in den Kreis der Jugendlichen aufgenommen. Der Ablauf dieser Veranstaltung wurde bereits Wochen vorher von der Schule organisiert und mit den Schülern eingeübt, denn es durfte nichts schief gehen vor den Augen unserer Eltern und Verwandten, die im Theatersaal an der feierlichen Zeremonie teilnahmen. Lange vorher hatten wir uns auch überlegt, was wir an diesem Tag anziehen wollten, denn die Kleidung musste schon festlich sein. Es war sozusagen das erste Mal, dass wir uns wie Erwachsene kleideten. Die Feierstunde war dann von einer langen Ansprache geprägt, über den Sinn des Lebens und was es bedeutete in den Kreis der Jugendlichen aufgenommen und im Sinne des Sozialismus ins Erwachsenenalter herangeführt zu werden. Und zum Schluss wurde uns dazu vom Direktor unserer Schule und von unseren Lehrern gratuliert und wir bekamen noch einen Strauß Blumen und als Geschenk das Buch „Weltall, Erde, Mensch“ überreicht, in welchem die Zusammenhänge des Buchtitels unter sozialistischen Aspekten erläutert wurden und welches ein Wegweiser für unsere Zukunft sein sollte.
Das war ja alles ganz schön und wir waren auch mächtig aufgeregt dabei. Doch noch mehr interessierte uns Jugendlichen an diesem Tag das, was danach kam, die eigentliche große Feier zu Hause. Bei jeder Jugendweihe und übrigens auch bei anderen Anlässen in unserer Familie, freuten wir uns immer auf die große Feier, weil dann jedes Mal unsere ganze Verwandtschaft aus dem Westen angereist kam und Geschenke mitbrachte, die es bei uns nicht gab. Vor allem waren das modische Kleider für uns, mit denen wir natürlich im Dorf immer aufgefallen sind, wenn wir sie an hatten. Wir wurden dann immer von den anderen bewundert und gefielen vor allem unseren Jungs umso mehr. Das war natürlich jedes Mal ein erhebendes Gefühl für uns.
Und da wir recht viel Verwandte im Westen von seitens unserer Mutter hatten, kamen auch viele Geschenke zusammen. Und alle Verwandten blieben dann immer gleich ein paar Tage bei uns, so dass wir in unserem Haus alles umräumen mussten für diese Zeit. Meistens reichten auch die Betten dann nicht aus und wir haben noch Liegen aufgestellt oder Luftmatratzen aufgeblasen. Das war manchmal ein Chaos! Und meine Mutter hat immer für alle das Essen gemacht, auch ohne elektrische Küchengeräte oder einen Geschirrspüler, denn so etwas gab es bei uns noch nicht. Und es war jedes Mal so schön, dass ich diese großen Familienfeiern von dieser Zeit, in der der Zusammenhalt innerhalb der Familie noch etwas bedeutete, heute noch so sehr vermisse.
Aus dem Nachbardorf kamen jetzt ständig einige Jungs in unser Dorf, die bereits ein tragbares Radio hatten, ein Kofferradio, was damals bei uns der neuste Schrei war und was noch nicht viele hatten. Die Jugendlichen, die so ein tragbares Radio besaßen, waren zu der Zeit die coolsten, vor allem, wenn sie die aktuellsten Hits ganz laut drehten und so durch die Straßen liefen. Nur die älteren Leute mochten das nicht und regten sich darüber auf.
Damals lernte ich so meinen ersten Freund kennen, er hieß Peter. Und Peter war ziemlich arm dran, weil er bei seiner Oma aufwuchs, denn seine Eltern waren schon zeitig bei einem Unfall ums Leben gekommen. Und darum hatte er auch nicht das Geld für modische Sachen und die Jungs in unserem Dorf nahmen das zum Anlass um über ihn zu lachen. Die mochten es sowieso nicht, wenn die Jungs aus den Nachbardörfern sich an die Mädchen in unserem Dorf ran machten. Aber trotz dem Peter eigentlich aus ärmeren Verhältnissen stammte, hatte er doch einige Sachen, die andere nicht hatten, wie eben dieses moderne Kofferradio. Er ging nämlich schon als Jugendlicher oft nach der Schule arbeiten und verdiente sich so das Geld für die Dinge, die er unbedingt haben wollte. Das taten zu unserer Zeit nicht viele Jugendliche, weil die meisten es nicht brauchten. Aber das war nicht das einzige, was Peter den anderen Voraus hatte. Denn für mich war er in seinem Wesen etwas ganz besonderes. Und egal was die anderen über ihn sagten, mir gefiel er. Er war immer fröhlich, sah niedlich aus mit seinen Locken, er war immer höflich und zuvorkommend und seine ganze Art war einfach lieb. Er strahlte für mich einfach Glück und Sonnenschein aus und ich wusste auch, dass er sich gleich in mich verliebt hatte. Darum verteidigte ich ihn auch immer, egal, was man über ihn sagte. Und eigentlich war auch ich gleich in Peter verliebt. Aber wegen den anderen wollte ich es nicht zugeben. Obwohl diese Leute vielleicht einfach nur neidisch auf ihn waren. Denn er hatte auch bald ein Moped und da hörte das Gelächter dann ein bisschen auf.
Ich traf mich mit Peter bald fast jeden Abend vor unserer Haustür, denn ich durfte in meinem Alter niemanden mit ins Haus nehmen. Und immer wenn es langsam Abend wurde und ich draußen laute Musik mit den bekanntesten englischen Liedern hörte, wusste ich, Peter war endlich gekommen und ich lief sofort nach draußen um ihn zu begrüßen. Wir lernten uns dann immer näher kennen und ich habe mich mit ihm das erste Mal geküsst. Und weil es so großen Spaß machte, küssten wir uns dann jeden Abend. Es waren immer ganz besondere Küsse und ich hing jetzt sehr an ihm und er auch an mir.
Aber als ich dann fünfzehn Jahre alt war, durfte ich am Wochenende mit meiner Cousine Moni das erste Mal zur Disco gehen. Ich freute mich riesig, als meine Eltern mir das gestatteten, denn das war meine Welt, Tanzen gehen. Das war das, was ich eigentlich schon lange wollte. Ich liebte das Tanzen. Und wir hatten beim ersten Mal natürlich auch sofort Tanzpartner und ich fand das alles einfach berauschend. Doch Peter war nicht so für‘s Tanzen gehen. Er war einfach zufrieden, dass er mich hatte. Aber jedes Mal, wenn ich jetzt beim Tanzen war, wurde ich von Peter durch das Fenster zum Tanzsaal beobachtet. Das fand ich natürlich nicht so toll, denn ich amüsierte mich dort jedes Mal prächtig. Zu der Zeit fing ich erst einmal an das Jugendleben kennen zu lernen und das war so interessant für mich, dass ich das auf keinen Fall so schnell wieder aufgeben wollte. Und deshalb ging das mit Peter auch nach fast zwei Jahren auseinander. Mir war diese Tatsache damals gar nicht so richtig bewusst, denn ich ging weiterhin am Wochenende tanzen und erfreute mich daran. Und Peter kam dann immer seltener zu mir. Aber einmal hatte er wieder versucht, sich doch noch einmal interessant zu machen um mich wiederzugewinnen. Er hatte sich jetzt sogar ein Motorrad gekauft, ein ganz schnittiges Model. Und er kam dann sofort zu mir und sagte, ich sollte einmal mitfahren. Doch ich traute mich damals nicht auf ein Motorrad, weil damit schon große Unfälle passiert waren, nach denen die Motorradfahrer dann fast immer gleich tot waren oder einen Schaden für ihr ganzes Leben hatten. Und irgendwie war das an dem Tag auch nicht so der richtige Zeitpunkt für mich. In dem Moment merkte ich gar nicht, wie enttäuscht Peter da war. Und das war auch so ziemlich die letzte Aktion, die er startete, um mich wieder zu gewinnen. Bald darauf kam er nicht mehr und ich wusste, er wird sich jetzt eine andere Freundin suchen.
Anfang der 10. Klasse dann musste ich mich für eine Berufsausbildung bewerben. Ich wollte eigentlich immer Lehrerin werden, denn das hatten wir als Kinder schon immer bei uns auf dem Hof gespielt. Und ich hatte sogar einmal einem Jungen aus unserem Dorf eine Zeit lang Nachhilfeunterricht gegeben und daher wusste ich, dass mir das großen Spaß machte. Meine Eltern jedoch kümmerten sich nicht so richtig um mein Weiterkommen und ich verpasste dadurch die Bewerbungstermine. Und ich selber war zu der Zeit viel zu schüchtern und diesbezüglich auch etwas unselbständig um das selbst in die Hand zu nehmen. Deshalb wurde ich letztendlich Kauffrau für Bekleidung, denn ich war mit meiner Bewerbung insgesamt viel zu spät dran und die besten Stellen waren bereits vergeben. Aber meine Mutter meinte, dies wäre ja so ein schöner Beruf und dazu noch in einem Kaufhaus, in dem Bekleidung für Jugendliche verkauft wurde und welches das Einzige davon in der Stadt war. Na ja, rund um die Uhr nur im Laden stehen, obwohl damals das Angebot in unseren Geschäften überhaupt nicht der Nachfrage der Bevölkerung entsprach, das muss doch ganz schön langweilig sein, dachte ich. Aber ich hatte jetzt keine Alternative mehr und lernte somit nur diesen Beruf, den ich übrigens auch mit einem weitaus schlechteren Zeugnis hätte bekommen können, denn ich hatte die Schule schließlich mit einem Durchschnitt von 1,4 abgeschlossen.
Als Lehrlinge im Kaufhaus veralberten wir damals oft die Kunden, die fast jeden Tag ins Geschäft kamen, um ein modisches Kleidungsstück zu ergattern. Wir bestellten sie immer wieder, indem wir ihnen Hoffnung auf neue Lieferungen von modischen Artikeln machten und amüsierten uns darüber, wie sie sich die Füße umsonst wund liefen. Denn zu der Zeit hatte der Durchschnittsbürger bei uns nicht viel andere Sorgen, als etwas Modisches zum Anziehen zu bekommen. Und so hatten wir wenigstens täglich unseren Spaß.
Ansonsten arbeitete ich mich aber in diesen Beruf gut ein, und mir gefiel es nach einiger Zeit sogar andere Menschen anzusprechen und mich um Ihre Wünsche zu kümmern. Dadurch lernte ich auch auf andere Menschen zuzugehen, was ich bisher durch meine zurückhaltende und schüchterne Art nicht konnte. Und so wurde ich auch durch diesen Beruf insgesamt viel selbstbewusster.
Als ich an einen Sommertag nach Geschäftsschluss nach Hause wollte und zur Straßenbahnhaltestelle lief, sah ich übrigens Peter mit seiner neuen Freundin. Ich hatte ihn jetzt über ein Jahr lang nicht mehr gesehen. Die beiden liefen Hand in Hand auf der anderen Seite des Boulevards und schienen sehr verliebt zu sein. Zum Glück hat er mich nicht gesehen. Denn mich durchfuhr in dem Moment ein Schauer von Traurigkeit. Ihn so zu sehen, mit einer anderen, das hatte ich nicht erwartet. Und ich wusste, wer Peter zum Mann hat, der konnte sich glücklich schätzen. Ich fing fast an zu bereuen, dass ich ihn nicht mehr hatte, obwohl ich mich damals mit ihm nicht mehr als nur geküsst hab. Aber ich hing trotzdem von meinem tiefen Inneren noch sehr an ihm, an seiner liebenswürdigen, zuvorkommenden Art. Und nun musste ich sehen, wie er genauso mit dieser anderen Frau erzählte und mit ihr lachte, wie er mit ihr einfach glücklich war. Ich lief dann aber einfach weiter und versuchte nicht mehr daran zu denken.
Etwa drei Jahre später aber stellte sich dann heraus, dass Peter genau diese Frau auch geheiratet hat. Er wohnte nämlich mit einer Arbeitskollegin von mir in einem Haus. Damals hatte Bonny, so wurde meine Arbeitskollegin von allen genannt, diesem Bekannten von ihr ein paar modische Sachen besorgt, die er im Kaufhaus erst einmal an probieren sollte und sich deshalb mit Bonny verabredet hatte. Und dieser Bekannte war Peter, den ich an diesem Tag plötzlich mit seiner Frau auf Bonny und mich zukommen sah. Da haben wir beide nicht schlecht geguckt! Und er hatte sogar schon eine kleine Tochter, die er bereits auf seiner Schulter trug. Trotz allem aber freute er sich damals ganz offensichtlich mich zu sehen und kam lachend auf mich zu. Wir sprachen dann kurz darüber wie es uns inzwischen so ergangen war. In dem Moment schob ich meine Betroffenheit beiseite, dass er bereits eine Familie hatte und freute mich einfach darüber ihn wiederzusehen und mit ihm reden zu können.
In den darauffolgenden Jahren übrigens sind Peter und ich uns in zeitlichen Abständen noch einige Male begegnet und immer ist er auf mich zu gegangen, höflich und zuvorkommend, und genau so lieb und fröhlich wie ich ihn immer in Erinnerung hatte.
An einem Sommerabend ging ich einmal mit meiner Cousine Moni, die mir ja in all meinen Schuljahren meist eine gute Begleiterin und Freundin gewesen ist, in die Stadt auf den Rummel. Wir trafen uns zu der Zeit nur noch selten, da wir beide aus unseren eigenen Verpflichtungen heraus nicht mehr so viel Zeit füreinander hatten und sie ja schon seit einiger Zeit nicht mehr bei uns im Dorf wohnte. Aber an diesem Abend waren wir verabredet und wollten uns amüsieren. Da lernte ich meinen ersten richtigen Freund kennen, er hieß Klaus. Er war auch mit seinem Freund unterwegs und wir lernten die beiden dann näher kennen. Meine Cousine war sich gleich einig mit dem Freund von Klaus. Aber mir gefiel Klaus erst gar nicht, da er nicht viel redete. Trotzdem verabredeten wir uns wieder mit den beiden und wir vier trafen uns dann öfter zu gemeinsamen Unternehmungen. Und nach einiger Zeit verliebte ich mich dann doch in Klaus, denn er hatte von seiner Art her so etwas Geheimnisvolles an sich und eigentlich war er doch genau mein Typ. Auch er verliebte sich in mich und stellte mich auch bald seinen Eltern vor. Deshalb war ich in der darauffolgenden Zeit oft bei ihm zu Hause, denn bei mir zu Hause hing der Haussegen schief, weil ich erst siebzehn Jahre alt war und nun bereits einen Freund hatte, bei dem ich nun auch schon übernachtete. Deshalb durfte Klaus bei mir zuerst nicht über Nacht bleiben. Und später auch nur ganz selten, weil ich mir ja mit Rosalie ein Zimmer teilen und sie dann immer woanders schlafen musste. Und das passte ihr dann natürlich auch nicht. Schließlich war sie ja auch die Ältere von uns beiden. Vor allem aber war mein Vater wegen Klaus nicht gut auf mich zu sprechen. Ich nehme an, weil er sicher nicht damit gerechnet hatte, dass ich in meinem Alter schon einen festen Freund hatte. Mein Vater hat zuerst vier Wochen lang nicht mehr mit mir gesprochen und später war das Verhältnis dann auch nicht mehr so wie vorher. Bestimmt war er eifersüchtig, aber er sprach ja nie richtig darüber. Und er erteilte mir auch keine Verbote, er war nur immer so komisch zu mir und machte ab und an mal eine Bemerkung. Na ja, schließlich war ich ja, als ich klein war, sein Nesthäkchen, so sagte er immer. Denn er hat mich immer ziemlich verwöhnt. Und später war ich dann öfter mit ihm bei den Leuten im Dorf oder hab auch manchmal die Geräte zurück gebracht, die er repariert hatte. Und ich habe mich mit ihm zusammen oft an handwerklichen Arbeiten beteiligt, denn mein Vater machte ja bei uns im Haus alles selber. So hab ich zum Beispiel die Wände mit ihm tapeziert und gestrichen, wenn es wieder einmal gemacht werden musste. Und dabei nannte mich mein Vater immer „Tapetenstift“. Oder er hat mir gezeigt, wie man einen Drachen baut und eine Fußbank aus Holz und wie man ein Stück Eisen in den Schraubstock spannt und es bearbeitet. Oder ich durfte Zement zum Verputzen mit ihm mischen und er zeigte mir auch alle Werkzeuge und sagte mir wie sie heißen. Aber mir fällt jetzt gar nicht mehr alles ein, was ich mit ihm machte, eben alles was handwerklich so anfiel! Und deshalb denke ich im Nachhinein schon, dass er wegen meinem ersten Freund ziemlich eifersüchtig war, aber er sagte ja nichts.
Mit Klaus war ich insgesamt drei Jahre zusammen. Ich war ihm zum Schluss irgendwie zu bieder, denke ich. Denn er mochte es lieber, wenn sich eine Frau schminkte und ich schminkte mich fast gar nicht. Außerdem war ich ihm insgesamt zu unauffällig und zu schüchtern von meiner Art her. Er fand die erfahrenen Frauen besser, wie ich das zum Schluss seinem Reden nach deuten konnte. Und vor allem passte ich auch nicht in seinen Karriereplan. Er hatte zwar eine Lehre als Elektriker gemacht, sagte mir aber jetzt erst, nach der langen Zeit unseres Zusammenseins, dass er nach seiner Lehre zur Staatssicherheit gehen wollte. Er ist darauf gekommen, weil er schon von Kind an bei Dynamo Handball spielte und Dynamo war der Sportverein der Staatssicherheit. Diesbezüglich hatte er also bereits einen Einblick. Einmal sagte er zu mir, ob ich vielleicht denken würde, dass er Lust hätte jeden Tag auf Arbeit zu gehen und immer wieder das gleiche zu machen. Dieser Trott käme für ihn nicht in Frage. Und bei der Staatssicherheit hätte er Abwechslung und das wäre für ihn interessant und genau das Richtige. Und aus diesen Zukunftsplänen heraus war ich auch als seine Partnerin politisch nicht tragbar, wegen unserer Verwandtschaft im Westen, die uns ja hin und wieder besuchte. Und außerdem hatte ich ja noch eine Brieffreundin im Westen, mit der ich ja schriftlich regelmäßigen Kontakt hatte. Ich sollte mich deswegen auch entscheiden, entweder er oder meine Westkontakte, was ja auch so viel hieß wie er oder meine Familie. Das wurde ihm wohl damals von der Staatssicherheit in einem Personalgespräch so angeraten, wenn er dort Karriere machen und mit mir zusammen bleiben wollte, wie er mir einmal erzählte. Eine Trennung von meiner Familie kam aber für mich überhaupt nicht in Frage. Und außerdem hatte ich das ganze damals gar nicht so für ernst genommen, weil ich mir einfach nicht vorstellen konnte, dass das in unserem Fall so krass praktiziert wurde. Wir waren doch viel zu jung für diese Sachen und meine Verwandten hatten doch mit der Politik in unserem Staat gar nichts zu tun! Ich kam in dieses Thema einfach nicht rein und dachte deshalb über so eine blöde Entscheidung überhaupt nicht erst nach. Aber Klaus zog sich dafür mehr und mehr zurück von mir, bis er dann schließlich eine andere Freundin hatte, eine die sicherlich tragbarer war für seine Karriere als ich. Und außerdem war sie anscheinend auch anderweitig genau nach seinen Vorstellungen. Denn als ich die beiden einmal in der Stadt gesehen hab, sah ich ihn mit einer „Schminkpuppe“, so wie es ihm wahrscheinlich gefiel. Aber trotzdem, ich war damals total unglücklich und dachte, ich komme nie darüber hinweg. Klaus war mein erster richtiger Freund, meine erste richtige Liebe und ich liebte ihn immer noch so sehr. Alles erschien mir in dieser Zeit sinnlos ohne ihn. Ich hatte nicht einmal mehr Lust mir früh die Haare zu machen, bevor ich auf Arbeit fuhr, denn ich fragte mich immer wozu! Das erste Mal in meinem Leben war ich richtig verlassen worden und das tat so weh!
Um mich abzulenken ging ich zu der Zeit mit meiner Arbeitskollegin Bonny viel weg, denn auch sie war gerade allein, weil ihr Freund bei der Armee war. Bonny war schon verlobt, denn sie hatte ihren Freund schon sehr jung kennengelernt. Und was Bonny noch war, sie war sehr belesen. Sie wälzte mit Leidenschaft die dicksten Bücher. Und vor allem hatte sie viele Bücher von Karl Marx und Friedrich Engels gelesen und war von deren Philosophie über den Sozialismus und Kommunismus vollkommen überzeugt. Bonny wusste alles, was in diesen Büchern stand und hatte die treffendsten Argumente, wenn jemand Nachteile und Ungereimtheiten unseres Staates vor ihr aussprach. Keiner war so redegewandt und aussagekräftig wie sie. Und deshalb war sie auch gesellschaftlich sehr engagiert, führte Versammlungen durch und war innerhalb der Jugendarbeit in unserem Betrieb stark eingebunden.
Eines Tages hieß es deshalb von der Leitung unseres Betriebes, sie sollte noch mehr ideologisch geschult und gefördert werden und aus diesem Grund die Kreisparteischule besuchen. Diese Schule war in einem anderen Ort etwas weiter weg und sie sollte dort ein viertel Jahr lang ganztags am politischen Unterricht teilnehmen. Für diese Zeit musste sie natürlich aus dem Arbeitsprozess ausscheiden und auch dort vor Ort wohnen. Bonny und ich sahen uns deshalb in dieser Zeit gar nicht. Aber was danach kam, hätte ich kaum zu glauben vermocht.
Als Bonny nämlich nach den drei Monaten wieder auf Arbeit war, war sie nicht mehr wie früher, um nicht zu sagen sie war völlig verändert in ihrem Verhalten. Ihr war auf einmal irgendwie alles egal geworden. Sie fing plötzlich an öfter krank zu machen und wurde dann während ihrer Krankheit abends in Discotheken gesehen, so dass sie mächtigen Ärger bekam. Und die Jugendarbeit ließ sie total schleifen und war völlig unzuverlässig. Mit der Zeit fing sie dann sogar an die Arbeit gänzlich zu schwänzen. Und als sie dann einmal längere Zeit nicht mehr auf Arbeit war, wurde ich als ihre Freundin von unserer Kaufhausleiterin zu ihr nach Hause geschickt. Ich sollte ihr letztmalig ins Gewissen reden und sie fragen, wie es mit ihr weitergehen soll. Ich traf sie dann an diesem Vormittag tatsächlich zu Hause an und sie öffnete mir auch die Tür. Endlich bekam ich die Gelegenheit sie persönlich zu fragen, wieso sie sich auf einmal so verhielt. Sie erzählte mir dann alles, was sie in letzter Zeit bewegte. Es ging um die Parteischule, die sie besucht hatte. Bonny sagte zu mir, dass sie noch nie so enttäuscht gewesen ist in ihrem Leben. Die ganze Philosophie von Marx und Engels, alles würde überhaupt nicht zutreffen im wahren Leben, denn es würde sich eh niemand daran halten. Bonny war auf dieser Schule mit allen Schichten von Menschen zusammen in einer Klasse. Sowohl sie als einfache Verkäuferin, als auch hoch angebundene Direktoren und Parteisekretäre aus allen möglichen Betrieben trafen dort aufeinander und haben gemeinsam an den Lehrstunden teilgenommen. Aber das war es ja nicht, was sie störte. Nach dem Unterricht und vor allem abends trafen man sich dann auch in den Bars und Kneipen. Und die Worte, die dort vor allem nach reichlich Alkoholgenuss geäußert wurden, waren politisch nicht tragbar und von Linientreue der hochgradig angebundenen Funktionäre war auf einmal keine Spur mehr. Ganz im Gegenteil, gerade diese Leute waren mit den Worten von Bonny die größten Hurenböcke und waren nur auf dieser Schule um von zu Hause raus zu kommen und sich zu amüsieren. Von Moral war da keine Spur und es stellte sich heraus, dass keiner am eigentlichen Unterricht Interesse hatte oder diesen politischen Kram überhaupt für voll nahm. Aber alle taten natürlich so als ob. Und geklaut haben diese Leute, sagte Bonny, alles das, was man so gebrauchen konnte. So erzählte sie mir, dass einmal nach so einem gemeinsamen Abend der eine Parteisekretär volltrunken aus der Kneipe stolperte und hin fiel und ihm doch dabei tatsächlich ein paar Silberbestecke, die er aus der Kneipe hat mitgehen lassen, aus der Innentasche seines Jacketts fielen, wie peinlich! Aber ihm war es überhaupt nicht peinlich. Denn da es bereits draußen vor der Tür geschah, steckte er alles wieder ein. Alles das und noch mehr hatte Bonny nun mit ihrer strengen Erziehung und den hohen Anforderungen von zu Hause aus und mit ihrem Glauben an diese Gesellschaft, so wie es in ihren Büchern stand, nicht verkraftet. Hier wurde ihr doch tatsächlich das krasse Gegenteil von dem, was Ihr immer gelehrt wurde, vorgeführt. Und dazu noch von Personen in führenden Positionen. Außerdem erzählte mir Bonny damals noch eine ganz komische Begebenheit. Sie erzählte mir, dass auch sie sich an einem Abend auf dieser Schule einmal politisch so staatsfeindlich ausgelassen hätte, um auch einmal wichtig zu sein und mit den anderen mithalten zu können. Und angeblich wurde dieses Gespräch, welches in ihrem Zimmer stattfand, von Jemanden auf ein Band aufgenommen. Zumindest behauptete das dieser Mann, der in seiner Funktion als Parteisekretär an dieser Schule war und Bonny mit diesem Band wohl einige Zeit später erpresste. Sie erzählte mir, dass dieser Mann von ihr immer wieder Geld haben wolle, ansonsten würde er dieses Band der Polizei übergeben, so sagte er. Wenn das stimmte, dann musste sie davor wirklich mächtige Angst gehabt haben, denn sie wusste ja, was politischen Gegnern in unserem Staat für eine Strafe erwartete. Ich selber konnte das ganze damals nicht so recht glauben, denn irgendwie klang das für mich so abenteuerlich, so wie in einem Film. Aber sie sagte mir einmal, dass dieser Mann sie genau an dem Tag im Geschäft besuchen käme, damit sie ihm mitteilt, wo sie sich nach Geschäftsschluss treffen könnten, um ihm wieder Geld zu übergeben. Und sie fragte mich, ob ich ihr etwas Geld borgen könnte, weil sie gerade nicht so viel hatte und ich tat das dann auch. Einen Mann sah ich dann tatsächlich im Geschäft auf sie zukommen und mit ihr ernst sprechen. Und ich glaube im Nachhinein, vom Typ her hätte alles genau auf ihn zutreffen können, denn für mich sind es meist diese nichtssagenden Personen, die betrügen, weil sie anderweitig nichts zustande bringen. Aber das klang trotzdem damals alles so abenteuerlich für mich! Ich wusste ja zu der Zeit gar nicht, was alles so passierte und ob es solche Machenschaften tatsächlich schon in unserem Umfeld gab. Deshalb wollte ich auch so richtig nichts davon wissen und sprach sie nicht mehr darauf an. Aber eins wusste ich! Wie sollte die alte Bonny nach all den Geschehnissen und ihren zerstörten Idealen wieder auf Arbeit erscheinen und alles so weiter machen, als wenn nichts gewesen wäre? Wie sollte sie jetzt ihre Jugendarbeit weiter gestalten? Sollte sie alles auf Lügen aufbauen? Außerdem sollte sie ja nach dieser Schulung eigentlich als Lehrkörper arbeiten und unsere Lehrlinge unterrichten und politisch ausbilden. Aber dazu war sie doch jetzt gar nicht mehr in der Lage! In ihr war eine Weltanschauung zerbrochen! Und keiner fragte sie danach, wie es in ihrem Inneren aussah. Denn sie wurde für ihr Fehlverhalten jetzt natürlich nicht mehr als Lehrkörper eingesetzt, sondern mit einer Abmahnung bestraft und in ihrem Beruf als Verkäuferin in ein anderes Kaufhaus versetzt. Und die gesellschaftliche Arbeit war für sie natürlich für immer tabu.
In ihrer Arbeit als Verkäuferin aber hatte sich Bonny dann nach einiger Zeit wieder beruhigt. Sie ging wieder regelmäßig dem Arbeitsalltag nach und traf sich sogar wieder ab und zu mit mir zu gemeinsamen Unternehmungen. Doch so ganz „die alte Bonny“ war sie seit diesen Vorfällen glaub ich nicht mehr, auch wenn sie sich nach außen hin immer so gab.
An einem Freitag dann wollte Bonny mit mir gleich nach der Arbeit zum Tanz fahren. Wir mussten bis dorthin mit der Straßenbahn fahren und Bonny machte in ihrer lustigen Art mal wieder die Leute an. Sie hatte sich eine ganz lange Zigarettenspitze gekauft und tat sich damit ein bisschen wichtig. Und in der Straßenbahn saß gleich vorn an der Eingangstür ein junger Mann, den sie richtig anbaggerte und der auch zu der gleichen Tanzveranstaltung wollte wie wir, wie sich dann herausstellte. Ich war davon gar nicht begeistert, dass Bonny sich so mit diesem jungen Mann befasste, weil ich ihn wegen seiner altmodischen Kleidung nicht so toll fand. Aber als wir dann beim Tanz angekommen waren, verloren wir ihn eh wieder aus den Augen und wir amüsierten uns anderweitig. Bis mich dieser Typ dann fast am Schluss vom Abend zum Tanz aufforderte. Ich fragte ihn, wo er auf einmal hergekommen ist, weil ich ihn überhaupt nicht mehr gesehen hatte. Und er sagte zu mir, dass er mich schon den ganzen Abend nicht mehr aus den Augen gelassen hätte. So tanzten wir noch bis zum Schluss zusammen und unterhielten uns angeregt dabei. Dann fragte er mich noch, ob ich ihn am darauffolgenden Tag zu einer Feier begleiten würde. Er erzählte mir, dass er bei Dynamo Fußball spielte und dass dort die Abschlussfeier von seinem Fußballverein war, an der alle mit seiner Partnerin erscheinen sollten. Und da Rudolf, so hieß er, zu der Zeit keine Freundin hatte, fragte er jetzt mich. Ich willigte ein, ihn am nächsten Tag zu dieser Feier zu begleiten, da ich ja zu der Zeit ohnehin nichts Besseres zu tun hatte. Obwohl es mir auf der anderen Seite eigentlich gar nicht so recht passte, dass es schon wieder jemand war, der bei Dynamo, dem Sportverein der Staatssicherheit, war. Aber als ich Rudolf daraufhin ansprach, erzählte er mir, dass er ja nur seine Armeezeit bei Dynamo verbringt, weil er danach eh studieren will. Damit gab ich mich dann zufrieden und ich dachte mir noch, warum sollte ich diese Einladung eigentlich abschlagen, es handelte sich ja eh nur um diesen einen Abend.
So gingen wir am nächsten Abend gemeinsam zu dieser Feier und waren dort ziemlich ausgelassen. Alle dachten wir gehörten schon eine ganze Weile zusammen. Das amüsierte uns und es ergab sich dann, dass ich mich mit Rudolf wieder verabredete und wir in nächster Zeit einiges gemeinsam unternahmen. Vom Äußeren her war Rudolf eigentlich genau mein Typ. Er war groß, kräftig gebaut, redegewandt und er gab sich immer charmant. Wahrscheinlich deshalb verliebte ich mich auch bald in ihn. Obwohl ich andererseits in meinem tiefen Inneren spürte, dass etwas nicht so ganz richtig war. Es stellte sich auch bald heraus, dass einige Lebensvorstellungen von ihm sehr widersprüchlich zu meinen waren. Zum Beispiel sagte er einmal etwas zu mir, was ich nie wieder vergaß, weil es mich ziemlich durcheinander brachte. Er sagte, dass ein Mann in der Ehe auch einmal eine Nacht wegbleiben könnte ohne daß seine Frau vorher davon wüsste. Das gehörte zum Beruf, wenn man etwas höher angebunden ist. Und Rudolf hatte ja schließlich große Pläne. Diese Einstellung vereinbarte sich natürlich überhaupt nicht mit meinen Vorstellungen von Gemeinsamkeit und Familie. Und trotzdem schob ich diese Gedanken beiseite und dachte, wenn wir erst einmal länger zusammen sind, würde er das später schon nicht machen. Und so war Rudolf also mein neuer Freund.
In dieser Zeit lernte ich auch Meike beim Tanzen kennen, ein Mädchen aus Rudolf‘s Klicke, welche sich immer nur am Wochenende zum Tanzen traf. Meike bot sich mir gleich an, dass wir uns doch auch einmal allein treffen und etwas unternehmen könnten. Irgendwie schien sie sich an mich zu hängen. Und da die anderen Mädchen aus der Klicke ziemlich komisch und hochnäsig zu mir waren und teilweise auch über mich lästerten, wandte ich mich eben Meike zu, die mir in dem Moment sehr sympathisch war. Wir trafen uns dann auch öfter und sie wurde im Laufe der Zeit meine engste Freundin.
Rudolf stellte mich dann bald seinen Eltern vor. Ich musste wohl doch die Frau seines Lebens für ihn gewesen sein. Zumindest merkte man deutlich, dass er mich richtig wollte. Rudolfs Mutter jedoch war nicht so begeistert von mir. Vor allem, weil ich nur einen einfachen Beruf gelernt und nicht studiert hatte. Denn Rudolf stand schließlich sein Studium noch bevor und er hatte damit noch einen langen Weg vor sich. Da störte ich natürlich auch ein bisschen in seinem Karriereplan. Und außerdem war ich politisch auch nicht so tragbar für diese Familie, weil ich kein Mitglied der führenden Partei unseres Landes war und ich durch meine Familie noch Kontakt zu unseren Verwandten im Westen hatte. Jetzt fing das alles doch wieder so an mit der Politik! Ich dachte damals als erstes, ich hätte mich also doch nicht mit Rudolf einlassen sollen! Rudolfs Vater war nämlich ziemlich hoch angebunden in seinem Betrieb und alles musste deshalb in dieser Familie seinen politisch tragbaren Weg gehen. Trotzdem bog das Rudolf letztendlich alles so hin. Ich musste Rudolf versprechen, wenigstens den Kontakt zu meiner Brieffreundin aus dem Westen abzubrechen, weil das von mir ein direkter Kontakt war und man das hätte herausbekommen können. So gab ich diese langjährige Brieffreundschaft mit Christiane doch tatsächlich auf, wenn auch schweren Herzens. Christiane wunderte sich natürlich sehr, warum ich ihr nicht mehr schrieb, denn ich konnte ihr das ja so auch nicht erklären. Sie schrieb mir deshalb noch mehrere Briefe, bevor sie es dann ganz aufgab. Ich fühlte mich gar nicht gut dabei und ins geheim wusste ich auch, dass es falsch war, was ich da tat.
Rudolf schaffte es außerdem mich zu überreden doch in die führende Partei unseres Staates einzutreten, damit ich besser zu ihm und seiner Familie passte. Eigentlich wollte ich das ja nie. Und meinen Eltern gefiel das auch nicht, denn wir waren eher eine Familie, die nicht auffiel und sich deshalb nicht politisch engagierte. Ich selber fühlte mich auch unwohl dabei, dachte aber gleichzeitig auch einmal an mein Weiterkommen im Leben. Denn ich hatte schon seit einiger Zeit vor mich weiterzubilden und ein Fernstudium aufzunehmen, weil ich nicht mein ganzes Leben nur Verkäuferin bleiben wollte. Und da ich mich diesbezüglich schon vor einiger Zeit in meinem Betrieb erkundigt hatte, wusste ich, dass eine Zusage für ein Fernstudium bei mir nur noch von einer Mitgliedschaft in der führenden Partei unseres Staates abhängen würde. Deshalb ging ich jetzt auch diesen Schritt und ich schlug so mit meiner Entscheidung gleich „zwei Fliegen mit einer Klappe“. Denn Rudolf‘s Familie war etwas zufriedener und ich selbst konnte mich endlich weiter qualifizieren.
Ich begann also ein viereinhalbjähriges Fernstudium. Das bedeutete, dass ich nach einem harten Tag im Geschäft abends noch viel lernen musste, denn ich hatte nur einmal in der Woche frei für die Schule und musste mir deshalb fast alles selber erarbeiten. Bei uns zu Hause aber konnte ich schlecht ungestört lernen, da ich mir dort zusammen mit meiner Schwester Rosalie ein Zimmer teilen musste. Und das war mehr oder weniger nur ein Schlafzimmer, welches im Winter eiskalt war, weil sich im oberen Stockwerk unseres Hauses nur ein Ofen für alle Zimmer zusammen befand. Aus diesem Grund war ich oft bei Rudolf zu Hause und lernte. Aber das klappte auf Dauer auch nicht, weil Rudolf bald darauf in einer anderen Stadt sein Studium begann und er meist nur am Wochenende da war. Außerdem gab es auch Ärger bei seinen Eltern. Sein Vater kam ständig sehr spät oder auch gar nicht nach Hause, weil er wohl wieder einmal eine Freundin hatte. Das war vielleicht eine komische Situation für mich. In dieser Zeit lernte ich hier eine Familiensituation kennen, die ich von zu Hause aus zum Glück nie kennen gelernt hatte. Rudolfs Vater ging wohl schon oft fremd, wie mir Rudolf dann später einmal erzählte und er hatte schon viele Freundinnen im Laufe seiner Ehe. Rudolf wurde sogar einmal als Kind von seiner Mutter zu eine dieser Freundinnen geschickt um darum zu bitten, dass sie seinen Vater in Ruhe lässt. Denn seine Mutter war jedes mal fix und fertig und drohte sich umzubringen, wenn ihr Mann sie verlässt. Doch Rudolfs Vater hatte keine Skrupel, machte was er wollte und spielte dazu immer den Unschuldigen, wenn er dann manchmal erst nach Tagen wieder zu Hause auftauchte. Ein paar Mal hab ich das sogar miterlebt. Und ich fand das so was von frech von diesem Mann, was er da mit seiner Frau veranstaltete, vor allem weil er dabei so kaltschnäuzig log. In dieser Zeit hab ich immer gedacht, wie froh ich doch sein konnte, dass mein Vater uns Kindern so etwas nie geboten hatte. Ich wäre ausgerastet! Aber Rudolf machte immer wieder Kompromisse mit seinem Vater, was ich allerdings gar nicht verstehen konnte. Anstatt seinem Vater zu sagen, dass er das entweder zu lassen hat oder es mit seiner Mutter endlich klären soll, schwieg er immer und tat seinem Vater gegenüber so als wäre nichts geschehen. Aber wahrscheinlich wollte sich Rudolf nur seine Vorteile von seinem Vater bewahren, denn schließlich hatte er ja seinen Studienplatz durch ihn in seinem Betrieb bekommen.
Aus dieser schwierigen Situation heraus beschlossen Rudolf und ich uns jetzt dringend eine eigene Wohnung zu suchen. Im Normalfall bekam man bei uns im Staat aber erst nach einigen Jahren Wartezeit eine angemessene Wohnung, es sei denn, man war verheiratet, dann sollte es etwas schneller gehen. Und weil wir uns sowieso liebten und zusammen bleiben wollten, beschlossen wir aufgrund der ganzen Umstände bald zu heiraten. Und schließlich waren wir jetzt schon fast drei Jahre zusammen. Dieser Entschluss war natürlich ganz gegen den Willen von Rudolfs Mutter, denn sie meinte, wir wären noch viel zu jung, trotzdem damals bei uns im Osten sehr viele Leute heirateten, die noch viel jünger waren als wir und in unserem Alter bereits Kinder hatten.
Allerdings war Rudolf‘s Mutter nicht die Einzige mit ihrer Reaktion. Auch mir wurden von Freunden und Bekannten vor einer Hochzeit mit Rudolf arge Bedenken geäußert. Wahrscheinlich hatten sie bereits gemerkt, dass die Erwartungen an eine Ehe bei Rudolf und mir völlig unterschiedlich waren. Ich allerdings hatte immer noch Scheuklappen vor den Augen und wollte das nicht so sehen, denn irgendwie hat mich dieser Mann immer wieder angezogen und er war für mich inzwischen der Mann meiner Träume geworden. Außerdem wollte ich auch endlich von zu Hause ausziehen und selbständig sein, was ja meist der Wunsch von jungen Leuten ist. Und das war ja auch ein guter Anlass.
So bereiteten wir alles vor um heiraten zu können und Rudolfs Eltern gaben sich letztendlich geschlagen. Und meine Eltern konnten Rudolf sowieso gut leiden und kamen gut mit ihm aus, denn er verstand es schließlich mit seinem Charme sich gerade bei älteren Leuten immer wieder beliebt zu machen. So stand wenigstens meine Familie richtig hinter unserer Entscheidung und freuten sich mit uns auf die Hochzeit.
Wir heirateten dann im Wonnemonat Mai auf dem Standesamt in meinem Dorf. Am Tag vorher feierten wir dort auch Polterabend. Das war damals bei uns so üblich den Polterabend einen Tag vor der Hochzeit zu feiern. Da wir an diesem Abend jedoch bis zum nächsten Morgen in der Frühe feierten, und jeder von uns beiden bei sich zu Hause schlief, so wie es Tradition war, kam es zu einigen Pannen am Hochzeitstag. Rudolf kam nämlich zu spät zu unserer Hochzeit. Um Zwölf Uhr Mittag sollten wir getraut werden und um 12.05 Uhr war Rudolf immer noch nicht bei mir zu Hause angekommen. Alle Gäste waren bereits unruhig und flößten mir Angst ein, dass Rudolf sich diesen Schritt wohl doch noch einmal überlegt hätte. Aber ich wusste er kommt! Um 12.10 Uhr fuhr dann auch das Auto seiner Eltern vor, so dass wir alle in Eile zum Standesamt liefen. Unterwegs stellten wir noch fest, dass wir das Kleingeld zum Ausschmeißen für die Kinder nicht mithatten und meine Mutter lief noch einmal zurück. Dort angekommen wartete die Standesbeamtin schon ungeduldig auf die Hochzeitsgesellschaft. Und bei den Vorbereitungen für die Trauung merkte Rudolf dann auch noch, dass er seinen Personalausweis vergessen hatte. Das war die nächste Panne. Aber die Standesbeamtin schrieb alles auf und wir sollten das Dokument später nachreichen. Zum Glück war die Trauung dann sehr schön, genauso wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Und ich war überglücklich darüber den Mann zu heiraten, den ich liebte. Auch die Zeremonie war so feierlich, dass mir und vielen anderen natürlich die Tränen kamen. Es war so, wie man es in Filmen immer sieht. Aber als die Trauung zu Ende war und wir zur Gaststätte liefen, regnete es auf einmal. Das wurde uns natürlich von Rudolf‘s Mutter wieder gleich als schlechtes Omen gedeutet. Denn wenn es der Braut in den Schleier regnet, so sagte man früher, wird die Ehe nicht gut gehen. Rudolf und ich aber, wir waren uns ganz sicher, wir wollten gemeinsam ein Leben aufbauen und für immer verheiratet sein. Und deshalb gaben wir nichts auf solche Worte. Wir waren gut anzusehen und passten zusammen, wie kein anderes Paar. Und viele Leute bewunderten uns dafür.
Ungefähr ein Jahr nach unserer Hochzeit bekamen wir dann tatsächlich unsere Wohnung, eine Zweiraumwohnung im Neubaugebiet der Stadt. Ich erhielt die Wohnung durch meinen Betrieb, weil ich mich jetzt im Rahmen meines Studiums auch noch gesellschaftlich engagierte, was man mir damals ziemlich nahe legte. Ich wurde als Funktionär in die Gewerkschaft gewählt und man versprach mir für mein Engagement, dass man sich um eine eigene Wohnung für mich kümmert. Und das hat ja dann auch bald darauf so geklappt. Wie haben wir uns da gefreut! Endlich konnte ich selbständig sein in einem eigenen Zuhause und ich hatte sogar einen Mann, den ich liebte.
Meiner Schwester Rosalie allerdings fiel es irgendwie schwer, als ich zu Hause meine Sachen aus unserem gemeinsamen Zimmer räumte. Sie war in der Zeit so gar nicht wie sonst. Das fiel mir aber erst hinterher so richtig auf. Sie war so zurückhaltend, so innig, fast ein bisschen apathisch. Da ich aber schon über längere Zeit immer seltener und kürzer zu Hause war, spürte ich eigentlich nur in meinem Unterbewusstsein das etwas nicht stimmte.
Das Zimmer von Rosalie wurde nach meinem Auszug von meinem Vater frisch renoviert und sie hatte es sich mit neuen Möbeln so richtig gemütlich eingerichtet. Jedoch bei meinen nächsten Besuchen zu Hause war sie trotzdem sehr in sich gekehrt und schien irgendwie einsam und traurig. Es war ja auch kein Wunder. Von unseren Eltern wurde sie verhätschelt, damit sie noch recht lange zu Hause wohnen bleibt. Und von unserer Schwester Margot wurde sie immer noch ständig gedemütigt. Und das, obwohl Margot jetzt schon lange nicht mehr zu Hause wohnte, weil sie inzwischen auch verheiratet war. Sie lernte ihren Mann in dem Betrieb kennen, in dem sie arbeitete. Und zwar nachdem sie dort vorher mit einem verheirateten Mann ein Verhältnis hatte, der sich aber letztendlich für Margot nicht scheiden ließ. Kurz danach war Margot dann mit ihrem jetzigen Mann zusammen gekommen, den sie aber, so denke ich, nicht aus Liebe geheiratet hat, denn er war überhaupt nicht ihr Typ und er passte auch insgesamt nicht zu ihr. Ich fand, er war einfach viel zu schwach für sie. Und ich glaube, diese Heirat war damals nur so etwas wie eine Trotzreaktion von ihr dem verheirateten Mann gegenüber, dem sie ja im gleichen Betrieb noch ständig über dem Weg lief.
Jedenfalls schien sich Margot ganz offensichtlich mit ihrem Mann allein in ihrem gemeinsamen Zuhause überhaupt nicht wohl zu fühlen. Denn trotz dem die beiden schon länger ihre eigene Wohnung hatten, kam Margot immer noch ständig in ihr Elternhaus, und zwar fast jedes Wochenende zusammen mit ihrem Mann. Und dann tat sie jedes Mal so, als ob ohne sie sonst nichts laufen würde und nahm nach wie vor das Zepter in die Hand, so wie sie es früher schon immer tat. So putzte sie also weiterhin an diesen Wochenenden das ganze Haus und organisierte alle Abläufe. Und meine Eltern lobten sie und ließen sie gewähren, anstatt ihr zu sagen, dass sie auch ihr eigenes Leben führen muss, denn ihrem Mann passte das ganze „Theater“ auf Dauer überhaupt nicht.
Aber vielleicht hatte sie eben kein anderes eigenes Leben und meine Eltern spürten das irgendwie instinktiv. Hier zu Hause war sie eben schon immer wichtig. Sie war ja schließlich die Große, Diejenige, auf die wir beiden Kleinen immer hören mussten, denn sie hatte als die älteste Schwester bei uns zu Hause schon immer eine Vorrangstellung. Zum Beispiel wenn wir Besuch hatten, war sie die Einzige, die in die Erwachsenengespräche mit einbezogen wurde. Wir beiden Kleinen saßen meist immer nur dabei und durften zuhören oder wir hörten die wichtigen Sachen gar nicht, weil wir da nicht dabei waren. Und wenn wir Besuch von unseren Verwandten aus dem Westen bekamen, durfte Margot beim Auspacken der Koffer immer mit dabei sein, damit sie sich von den Geschenken zuerst etwas aussuchen konnte. Der Rest wurde dann an uns Kleinen verteilt. Und Ihr wurde immer am meisten mitgebracht, weil sie ja die Große war und schon höhere Ansprüche hatte.
Und so zog sich das Ganze durch all die Jahre hinweg, denn in allen Belangen wurde Margot immer mehr anerkannt als wir, die Kleinen. Und diese Vormachtstellung wollte sie wahrscheinlich nicht aufgeben, auch wenn sie jetzt ihren eigenen Haushalt hatte. Denn von ihren Eltern wurde sie eben richtig respektiert, hier zu Hause war sie wer! Sie wollte anscheinend so weiter regieren und kam deshalb so oft wie möglich in ihr Elternhaus.
Und Rosalie musste das alles über ihren Kopf hinweg ertragen. Denn sie betraf das ja eigentlich noch unmittelbarer als mich, weil sie ja die Zweitälteste war. Vielleicht zog es mich in den letzten Jahren deshalb immer seltener nach Hause, weil sich um mich nie so richtig jemand gekümmert hat. Für meine Eltern war sowieso Margot die Beste, weil sie sich eben um alles kümmerte. Und danach kam erst mal nur Rosalie, die ja ständig Hilfe brauchte und von meiner Mutter bemitleidet wurde, weil sie immer so verträumt war. Und ich? Ich lief immer alleine! Um mich brauchte man sich nicht zu sorgen und auf mich war immer Verlass. Nur merkte ich das alles damals gar nicht, weil ich ja trotz Alledem, im Grunde genommen wohlbehalten und geborgen aufgewachsen war.
Margot kam also, wie gesagt, fast jedes Wochenende um ihre Stellung weiter zu behaupten. Und ihr Mann musste das alles mitmachen und dulden. Anfangs hatte er sich ja ab und zu noch dagegen gewährt, doch nach ein paar Ehekrisen ließ er seiner Frau immer mehr ihren Willen und konnte sich bald gegen diese Frau, die sich mit den Jahren förmlich zum „Drachen“ entwickelte, nicht mehr durchsetzen. Er dagegen entwickelte sich nach und nach sprichwörtlich zum „Waschlappen“ und sagte zu allem, was von Margot angeordnet wurde, im Laufe der Zeit nur noch „ja und amen“. Natürlich hätte er sich ja auch trennen können von Margot. Aber anscheinend wusste er, dass er nie wieder in so eine Familie kommen würde, in der er so anerkannt und in den Himmel gehoben wurde, wie von meinen Eltern, die ihn immer als den idealen Schwiegersohn ansahen. Denn von meiner Mutter wurde er ständig mit Lobeshymnen geehrt, wie fleißig er doch wäre und was er doch alles kann und tut. Obwohl er alles, was er dann konnte, im Laufe der Zeit auch nur von meinem Vater gelernt hatte. Und bei den Leuten im Dorf galten die beiden als solides Ehepaar und beide waren natürlich die fleißige Unterstützung für ihre Eltern.
Selbst ich dachte damals das Gleiche und kam mir meist schuldig vor, dass ich immer so meinen eigenen Weg ging und ich meinen Eltern später nur ganz normale Besuche abstattete oder sie mir, was aber eher seltener war, denn selbst bei den Besuchen meiner Eltern war immer meine Schwester Margot dabei. Damals aber ahnte ich noch nicht, wie extrem sich Margot bereits zu diesem Zeitpunkt in alles einmischte, alles bestimmte und sogar die Rolle des Familienoberhauptes an sich riss. Und deshalb konnte bald keiner mehr gegen sie ankommen und irgendwie wollte das auch so richtig keiner, weil Margot ja nach außen hin immer als die „gute Seele“ erschien. Aber die Leute, die eine andere Meinung vertraten als sie, die konnte Margot natürlich nicht leiden und die, die ihr zu stark waren, schob sie ganz rigoros bei Seite. Denn diese Leute waren natürlich nicht in ihrem Sinne, weil sie ja Margot schnell hätten entlarven können. Deshalb tat sie immer nur mit denen gut Freund, die ihr nach dem Munde redeten, denn so wurde ihre Position nicht gefährdet. Und so verstand sie es auch jedes Mal die Dinge so geschickt in ihrem eigenen Sinne darzustellen, dass dies keiner merkte. Auch mein Vater sah komischerweise immer wortlos weg und Margot kam deshalb immer zu ihrem Recht! Anscheinend hatte selbst er später keine Chance mehr gesehen Margot noch in die richtigen Bahnen zu lenken. Denn er merkte erst als es bereits zu spät war, dass sie seine Position schwächte. Und später schien er einfach den Familienfrieden wahren zu wollen, womit Margot gleichzeitig uneingeschränkte Rückendeckung von unseren Eltern hatte und so in ihrem Verhalten natürlich immer mehr bestärkt wurde.
Doch vor allem hatte meine Schwester Rosalie durch Margot ihr egoistisches Verhalten nie so richtig ihre Ruhe zu Hause und konnte nie wirklich ihr eigenes Leben führen. Immer versuchte Margot sie in allem zu beeinflussen und zu befehligen. Auch die Beziehungen zu Männern waren bei Rosalie meist nicht von Dauer, weil sie insgesamt viel zu durcheinander war und so wohnte sie mit ihren 26 Jahren noch zu Hause. Durch die vielen Enttäuschungen und die rechthaberischen Vorwürfe aus ihrer Familie, was ihr eigenes Leben betraf, litt ihr Selbstbewusstsein enorm und sie bekam immer mehr Komplexe. Dadurch wiederum kam sie auch mit der Gesellschaft immer mehr in Konflikt. Und obwohl Rosalie auf Arbeit als Sekretärin einen guten Stand hatte, obwohl sie gut aussah und anständig war und im Privatleben auch Freunde hatte, konnte ihr keiner helfen sich Klarheit über ihr eigenes Leben zu verschaffen. Dabei hatte sie doch eigentlich ein schönes Leben! Aber wahrscheinlich sagte ihr das nur keiner und sie selber konnte das gar nicht sehen unter dem ständigen egoistischen Druck von Margot und ihrem verwirrenden Gezerre. Ich sagte Rosalie deshalb, dass sie von zu Hause ausziehen sollte, damit sie ihr Leben endlich selbst gestalten konnte, nur in ihrem Sinne. Und das wollte sie ja ihrem Reden nach auch tun, jedenfalls hatte sie das schon länger vor. Aber sie war von ihrem Willen her wahrscheinlich doch zu schwach und schob diese Entscheidung immer vor sich her. Sie hätte aber weg gehen müssen, weg von Margot, die sich ständig in ihr Leben einmischte, um endlich stärker zu werden und selbst über sich und ihr Leben bestimmen zu können. Aber sie hat es nicht getan!
So eskalierte die Lebenssituation von Rosalie im Alter von 26 Jahren soweit, dass ihre Mutter ihr geraten hatte zum Nervenarzt zu gehen, weil sie so durcheinander war. Das jedoch wollte sie nicht. Sie wollte auf keinen Fall zu den durchgedrehten Menschen gehören, die in den Nervenkliniken behandelt werden mussten um wieder normal zu werden. So wie es unserer Mutter selbst schon ein paarmal erging, wenn sie nicht mehr weiter wusste und keinen richtigen Sinn mehr in ihrem Leben sah. Margot meinte immer, bei ihr wären das die Auswirkungen der Kriegsgefangenschaft gewesen. Ich jedoch sehe das auch noch ein bisschen anders, denn bei unserer Mutter stellte sich diese Krankheit ja erst ein, nachdem sie bereits schon einige Zeit wieder zu Hause war. Natürlich hatte ihr der Krieg auch geschadet, aber der Auslöser für den Ausbruch dieser Krankheit bei ihr muss auch noch ein anderer gewesen sein. Denn ich konnte bei meiner Mutter immer wieder an bestimmten Verhaltensweisen feststellen, dass irgendetwas falsch lief in ihrem Leben. Und deshalb sagte mir mein Gefühl, dass da noch etwas anderes sein musste, ich wusste zwar noch nicht was, aber es musste mit ihrem jetzigen Leben zusammenhängen.
Rosalie jedenfalls wollte in kein Krankenhaus und zu keinem Arzt. Wie hätte sie denn da vor allen Leuten dagestanden? Und meine Mutter konnte sie an diesem einen Morgen nicht davon abhalten auf Arbeit zu fahren anstatt erst einmal zu Hause zu bleiben.
So verabschiedete sich Rosalie an einem sonnigen Morgen im Juli von ihrer Mutter, als sie früh wie gewohnt zur Arbeit wollte, mit den Worten „mach Dir keine Sorgen, ich komme ja wieder“! Doch sie kam nicht wieder nach Hause! Und sie war auch nicht auf Arbeit angekommen! Denn Rosalie stürzte sich ein paar Stunden später an diesem Vormittag in der Stadt unter die Straßenbahn und soll wohl sofort tot gewesen sein.
Meine Mutter erfuhr von diesem tragischen Selbstmord ihrer Tochter am gleichen Nachmittag, als sie nach dem Klingeln die Hoftür öffnete und die Polizei davor stand um ihr die Todesnachricht zu überbringen. Ich war damals froh, diesen Moment nicht miterlebt zu haben. Das muss ein furchtbarer Augenblick für meine Mutter gewesen sein, vielleicht sogar der schlimmste in ihrem Leben.
Als meine Schwester und mein Schwager ein wenig später dann vor meiner Tür standen, hatten wir gerade Besuch von einem Studienkollegen von Rudolf. Ich weiß noch, dass wir an diesem Morgen viel zusammen gelacht haben und das Fenster im Wohnzimmer dabei weit offen stand, weil die Sonne draußen so herrlich schien. Hätte ich da geahnt, was zur gleichen Zeit gerade passiert, ich glaube ich wäre durchgedreht.
Aber ich nahm die Nachricht vom Tod meiner Schwester in dem Moment so auf, als wäre sie nicht Wirklichkeit gewesen. Und danach ging es mir noch eine ganze Zeit lang so. Irgendwie konnte ich das Geschehene nicht richtig aufnehmen, wahrscheinlich, weil ich dieses schreckliche Ereignis einfach nicht wahrhaben wollte. Und meine Mutter redete sich in ihrer Trauer von Anfang an ein, Rosalie hätte nicht aufgepasst und hätte die Straßenbahn nicht gesehen, weil sie ja an dem Tag so durcheinander und generell immer so verträumt war. Dabei haben verschiedene Leute hinterher erzählt, dass Rosalie vorher ihre Handtasche abgestellt haben soll und dann gerufen hat „Hilfe ich sterbe“! Aber davon wollte meine Mutter nichts wissen. Ich hatte sicher nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie verzweifelt Rosalie in diesem Moment gewesen sein muss. Ich habe mich immer wieder gefragt, ob es denn keinen anderen Ausweg für sie gab! Sie hätte doch eigentlich keine Sorgen haben müssen, wenn sie nur an sich geglaubt hätte, sie war doch so patent! Was ist in ihr nur vorgegangen? Und warum hat sie sich nie richtig an mich gewandt, obwohl ich doch eigentlich zu ihr hielt? Eins aber wusste ich: Es war die erste große Entscheidung in ihrem Leben, die Rosalie für sich allein getroffen hatte, ohne dass ihre Familie ihr reingeredet hatte! Und ich konnte es richtig spüren, wie standfest sie das eine Mal ganz allein etwas entschieden hatte. Fast war ich stolz auf sie, wenn es nicht diese Entscheidung über Leben und Tod gewesen wäre!
Rosalie muss zu dieser Zeit aber außer diesem grundlegenden Problem noch ein anderes Problem gehabt haben, welches dann in Bezug auf ihr seelisches Chaos der Auslöser für die Entscheidung über ihre Tat gewesen sein musste. Wie wir nämlich im Nachhinein erfuhren, muss sie wohl vorher noch mit Christian, einem jungen Mann aus dem Nachbardorf, zusammen gewesen sein. Das war einer, der den ganzen Tag nichts Besseres zu tun hatte, als mit seinem Hund unterwegs zu sein, denn er ging nicht arbeiten und hatte auch keine Lust dazu. Solche Leute waren in unserem Staat Ausnahmefälle, so dass diese sofort auffällig waren. Außerdem stammte dieser Christian ganz sicher aus sehr einfachen, um nicht zu sagen niederen Verhältnissen. Und das muss das Problem von Rosalie gewesen sein. Denn dieser Christian suchte schon länger immer die Nähe von Rosalie. Und ich nehme an, dass sie sich inzwischen zu ihm hingezogen fühlte. Er nahm sie sicher so wie sie war und kritisierte sie nicht, so dass sie sich bei ihm in gewisser Weise bestimmt frei fühlte. In Wirklichkeit denke ich aber, hat er sie in ihrer Naivität nur ausgenutzt bzw. für sich benutzt. Rosalie aber hatte Angst, dass ihr Verhältnis zu diesem Mann heraus kommt, wo er doch so verpönt war bei uns im Dorf. Oder er hat sie an diesem Tag sitzen lassen, als das mit ihr passiert ist, denn ganz in der Nähe des Geschehens hatte dieser Christian seine Wohnung. Irgendetwas musste es jedenfalls mit ihm zu tun gehabt haben, denn wo war sie in den Stunden vorher bis zu diesem furchtbaren Geschehen? Sie war doch schon zeitig aus dem Haus gegangen und auf Arbeit war sie doch nicht! Ich denke, Rosalie stand in ihrem Inneren so richtig allein mit ihrem Problem da. Aber eins wusste sie genau, hätte sie das mit diesem Christian ihrer Familie erzählt, wäre das für Margot „das gefundene Fressen“ gewesen. Sie hätte sie angeprangert und fertig gemacht, so wie Margot eben immer zu ihr war, wenn irgendetwas vorgefallen war. Rosalie wusste, das würde sie nicht schaffen! Sie muss an einem Punkt gewesen sein, wo sie nichts mehr einstecken konnte. Und zum Austeilen war sie auch nicht mehr in der Lage, dazu fehlte ihr nach all den Jahren Stress mit Margot einfach die Kraft und die Standfestigkeit. Sie war in einer Sackgasse angekommen und war seelisch wahrscheinlich ganz weit unten.
Ich habe damals so viel nachgedacht, so viel gegrübelt über das Geschehene, aber ich kam zu der Zeit einfach noch zu keinem richtigen Ergebnis. Nur mein Gefühl sagte mir damals immer wieder, dass hier irgendetwas nicht stimmte, dass sie ein grundlegendes Problem in der Familie hatte, welches ihr aber sicher selber nicht bewusst war. Viel später erst wusste ich, es war mein Glück, dass ich die wahren Zusammenhänge in diesem Moment nicht kannte. Denn hätte ich damals gewusst, wie andere Menschen jemanden fertig machen können aus Neid und Missgunst, ich denke, ich hätte diese Situation zu der Zeit nicht so unbeschadet überstanden. Für mich war es damals wohl besser so unwissend zu sein. Doch eins stand für mich fest, der Selbstmord von Rosalie war nicht aufgeklärt, doch irgendetwas musste sie ja da hinein getrieben haben.
Auf der Beerdigung von Rosalie konnte ich deshalb nicht richtig weinen. Ich war wie apathisch, nahm alles gar nicht so richtig wahr und alles lief wie automatisch für mich ab. Ich konnte das Ganze nicht richtig einordnen. Es passte einfach alles nicht zusammen. Keiner wusste, was wirklich geschehen war und niemand schien sich instinktiv so richtig mit den Hintergründen befassen zu wollen. Wahrscheinlich war es die Ohnmacht der Situation oder auch die Scham, die vor allem auf meinen Eltern schwer lastete. Doch ich selber konnte das Puzzle ja erst einmal nicht zusammensetzen.
Da ich meine Trauer in dieser ganzen Zeit nicht so richtig ausleben konnte, hatte ich sprichwörtlich „alles in mich hineingefressen“ und kam eine Zeitlang in psychische Konflikte. Ich war teilweise so weit, dass ich zu einem Psychologen gehen wollte. Ich konnte das aber niemandem sagen außer Rudolf. Und er konnte das gar nicht verstehen, denn er ging seinem normalen Leben nach und schien sich nebenbei zu amüsieren. Es kam jetzt öfter vor, dass er allein weg ging. Und er sagte zu mir, dass er es gar nicht verstehen kann, dass meine Schwester sich umgebracht hat, weil das Leben ja viel zu schön ist um es zu beenden. Er hat nicht einmal versucht, das mit mir gemeinsam zu klären, das Geschehene mit mir gemeinsam aufzuarbeiten oder hinter die Ursache des Ganzen zu kommen. Er dachte wie immer nur an sich und daran, wie gut es ihm doch ging. Und so wie er mir immer gegenüber trat, hätte er sich anscheinend gar nicht so viele Gedanken gemacht, wenn er an meiner Stelle gewesen wäre. Ich stand also ziemlich allein da
mit meinen Konflikten. Aber meine Schwester Margot meinte, ich hätte kein Herz, da ich überhaupt keine Trauer empfinden würde, und dass ich mich mit Rosalie ja bereits im Leben schon nicht verstanden hätte. Ich wusste gar nicht, wie sie das meinte. Nur weil wir uns auch mal gestritten haben, was so gut wie in allen Familien vorkommt? Sie hat wohl vergessen, was sie gemacht hat all die Jahre, und das kommt nicht in allen Familien vor! Sie war doch Diejenige, die mit Rosalie ständig Streit hatte und nicht ich. Ich war doch in den letzten paar Jahren gar nicht mehr so oft zu Hause und meist mit mir beschäftigt. Natürlich hatte ich mich, als ich noch zu Hause wohnte, auch mal mit Rosalie gestritten, denn wir hatten ja zusammen ein Zimmer, da gibt es immer mal Sachen über die man streiten kann. Aber das war doch nicht tiefgreifend und außerdem schon ewig her. Aber Margot wollte wahrscheinlich mit ihren Beschuldigungen instinktiv nur ihr Gewissen rein waschen. Ich wusste es damals nur nicht. Sie wollte sich schützen, indem sie von sich ablenkte und mir jetzt sogar noch Gewissensbisse machte, dass ich Rosalie nicht geholfen habe. Ja, eigentlich war ich ja auch die Einzige, die ihr hätte helfen können! Ich fragte mich deshalb tatsächlich immer wieder warum sich Rosalie nicht an mich gewandt hatte. Ich war zeitweise ziemlich verzweifelt.
Auf jeden Fall spielte Margot in dieser Zeit mächtig die Trauernde und für meine Begriffe in einer total überzogenenArt und Weise. Und sie ließ allen Verwandten und Bekannten wissen, dass sie das Geschehene niemals in ihrem Leben verkraften wird und wie sehr sie Rosalie geliebt hat. Damit kam ich einfach nicht zurecht, das war alles ein bisschen zu viel, was da auf einmal „unter den Tisch gekehrt wurde“. Denn Margot tat doch tatsächlich so, als hätten ihre mehr als giftigen Ausbrüche gegen Rosalie nie existiert. Rosalie war auf einmal so perfekt in ihrem Leben und der beste Mensch.
Alle Kritiken von Margot an ihrem Leben hat es auf einmal nie gegeben. Und zu mir sagte Margot ständig, dass sie ja jetzt nur noch mich hätte und wir müssten doch jetzt richtig zusammenhalten. Das wäre ja im Normalfall auch eine liebe Bemerkung gewesen, doch in dem Moment merkte ich sofort, dass sie mir damit den Freiraum nahm, um erst einmal die Sache mit Rosalie zu verarbeiten und sie mich gleich für ihre Interessen vereinnahmen wollte. Als wäre ich jetzt ein Ersatz. Und ich spürte auch, dass sie das nur zu ihren Bedingungen meinte. Sie suchte jetzt einen neuen Sündenbock für ihr unerfülltes Leben. Sicher meinte sie das nicht bewusst so, aber sie war eben so egoistisch, das war bei ihr alles instinktiv, und das sagte mir einfach mein Gefühl.
Nach diesem schlimmen Vorfall in unserer Familie plätscherte ich jetzt eine Zeit lang nur so dahin, ging schwarz angezogen zur Arbeit und war mit meinen Konflikten ziemlich allein. Im November darauf begann dann die Faschingszeit und Rudolf meinte, ich bräuchte endlich Ablenkung und sollte übers Wochenende zu ihm nach Dresden an die Hochschule zur großen Faschingsfeier kommen. Dann würde ich endlich mal wieder auf andere Gedanken kommen. Da hatte er ja auch recht. Aber ich wusste allerdings nicht, ob ich schon zum Feiern bereit war, und außerdem war genau an diesem Wochenende Totensonntag. Was ich aber auch wusste, war, dass ich mir das Gerede unserer Familie und Verwandten über das Geschehene nicht mehr mit anhören konnte, weil es nicht der Wahrheit entsprach und dass ich dringend meinen Kopf frei kriegen musste.
Und als kurz vor diesem Wochenende meine Schwester Margot vor meiner Tür stand, um mir etwas vorbei zu bringen, faste ich mir den Mut und erzählte ihr, dass ich zum Totensonntag nicht mit auf den Friedhof kommen werde, da ich zu Rudolf nach Dresen fahren würde. Ich wusste ja nicht, was mich in dem Moment erwartete, nachdem ich das ausgesprochen hatte. Meine Schwester hat mich nämlich daraufhin so lautstark attackiert, dass dabei bestimmt das ganze Haus Zeuge dieser Unterhaltung war. Sie machte mir wieder nur Vorwürfe und hat nicht einmal danach gefragt, wie es eigentlich in meinem Inneren aussah und versprühte wie immer nur Gift. Sie schimpfte so auf mich ein, als hätte ich ganz allein die Schuld am Tod unserer Schwester. So sagte sie zum Beispiel, dass ich ja Rosalie sowieso bereits vergessen hätte. Und sie erwähnte wieder, das ich mich ja mit ihr noch nie verstanden hätte und dass ich sowieso kein Herz hätte. Ich würde überhaupt an Niemanden denken und was ich überhaupt für eine bin. Sie hat mich an diesem Abend so lahm gelegt, dass ich fast anfing an mir zu zweifeln und das Gesagte fast selber glaubte. So hatte sie mich in dem Moment durcheinander gebracht.
Aber gerade deshalb fuhr ich dann trotzdem mit zu Rudolf zum Fasching, weil ich nach diesem Vorkommnis erst recht nicht imstande war mit den anderen zusammen am Grab zu trauern und die Wahrheit wieder zu verdrängen. Und Margot hätte mich dann eh wieder nur „links liegen“ gelassen, so dass es alle gemerkt hätten und ich wieder schief angeguckt worden wäre. Und letztendlich tat mir meine Entscheidung dann gut, da mich die paar Tage wirklich ablenkten und mir etwas Abstand verschafften.
Und so nach und nach kam ich in nächster Zeit wieder ins normale Leben zurück, indem ich versuchte das Geschehene allmählich hinter mir zu lassen. Aber in meinem Hinterkopf saß es trotzdem immer noch ganz tief.
Doch ungefähr ein Jahr später wurde ich dann schwanger. Ich freute mich riesig und Rudolf auch, denn es war ein Wunschkind von uns. Schließlich liebte ich Rudolf ja, trotz einiger Ausbrüche und Alleingänge von ihm und er liebte mich auch und er versprach mir deshalb ab jetzt nach dem Fußball am Wochenende immer gleich nach Hause zu kommen, anstatt noch ausgelassen zu feiern, denn er wollte an seinem Verhalten einiges ändern. Und schließlich war das Kind ja von uns beiden gewollt. Ich wusste sogar genau, wann es passiert war. Es war am Abend des siebenten Oktober, als wir mit dem Tapezieren unseres Schlafzimmers fertig waren. Rudolf lachte natürlich nur über mich, aber ich wusste es nun mal so genau, weil ich ein paar Tage danach, als ich in der Wanne saß, genau gemerkt habe wie sich in meinem Unterbauch etwas tat, ja, sich etwas kribbelnd bewegte. Ich war mir ganz sicher.
Als ich dann beim Arzt zur Feststellung war, sagte dieser nach der ersten Untersuchung, dass ich nicht schwanger wäre. Aber ich wusste es besser. Deshalb ging ich noch zu einer zweiten Untersuchung, bei welcher die Schwangerschaft dann auch festgestellt wurde. Ich war überglücklich! Ein Kind hatte ich mir schon lange sehnlich gewünscht. Und als ich dann im dritten Monat das erste Ultraschallbild in der Hand hatte, auf dem ich zwar fast nichts erkennen konnte, außer die Ansätze der Arme und Beine an einem körperähnlichen Gebilde, da war ich endlich wieder richtig glücklich. Ich bin an diesem Tag mit dem Bild in der Hand förmlich nach Hause geschwebt.
Und am 03. Juli 1985 war es dann so weit, unsere Tochter Felicitas wurde geboren! Ich hatte vorher mächtige Angst vor der Geburt, denn ich konnte mir bis zuletzt nicht vorstellen, wie so ein großer Kopf aus meinem Bauch heraus kommen sollte. Wie sollte das gehen? Aber es ging! Zum Glück hab ich nur zwei Stunden in den Wehen gelegen, denn länger hätte ich die Schmerzen auch nicht ausgehalten. Ich fragte mich nur, wie die anderen Mütter das aushalten können, die etliche Stunden mit einer Geburt verbringen müssen!
Als Felicitas dann geboren war, war ich im ersten Moment als ich sie sah, etwas überrascht und zugegeben, etwas enttäuscht. Ich dachte nämlich immer, wenn ich ein Mädchen bekomme, dann wird es auf jeden Fall so aussehen wie ich. Anders hätte ich mir das gar nicht vorstellen können. Aber das Gegenteil war der Fall. Felicitas sah im ersten Moment aus wie mein Schwiegervater. Das war jedenfalls bei der Ähnlichkeit mein erster Gedanke, als ich sie sah und ich war sogar ein bisschen geschockt. Aber nach und nach, als ich sie dann so beobachtete, gefiel sie mir immer mehr. Und als Rudolf sie dann sah und zu mir sagte wie niedlich sie doch sei, da war ich das erste Mal richtig stolz und nach und nach liebte ich unser kleines Baby immer mehr.
Als ich noch im Schwangerschaftsurlaub war, ging ich, wie so oft, an einem Nachmittag mit dem Kinderwagen in unserem Wohngebiet spazieren. Ein Stück von unserer Wohnung entfernt, traf ich an diesem Tag ganz überraschend Peter, meine erste Jugendliebe. Er war mit seiner Tochter unterwegs, die inzwischen schon zwölf Jahre alt war. Ich habe mich mächtig gefreut Peter wieder zu sehen und er sich sichtlich auch. Und er war wieder so wie früher, freundlich, lebensfroh und hübsch, genau wie seine Tochter. Ich fand, sie sah genauso aus wie er. Sie hatte das gleiche niedliche Gesicht, die Locken und das strahlende Lachen, denn auch sie war sehr freundlich zu mir. Ich dachte damals im ersten Moment als ich sie sah, sie sieht aus wie eine Prinzessin! Aber Peter hatte auch mein Kind bewundert, was ich ihm natürlich stolz im Kinderwagen präsentierte. So erzählten wir ein bisschen wie es uns erging und verabschiedeten uns danach in der Hoffnung, dass wir uns sicher bald wieder sehen würden, weil wir ja nicht weit voneinander entfernt wohnten, wie sich in unserem Gespräch herausstellte. Aber wir trafen uns dort leider nicht mehr!
Dafür hörte ich wieder etwas von meiner Freundin Bonny. Sie hatte inzwischen einen Mann geheiratet, von dem sie drei Kinder fast hintereinander bekommen hat. Sie war eben ein Familienmensch. Und da wir wieder in Kontakt kamen, nachdem sie ja nun schon lange nicht mehr arbeiten ging, konnte ich sie jetzt ab und zu mit Felicitas besuchen, da ich ja auch erst einmal zu Hause war. Wir machten uns dann immer einen schönen Nachmittag und plauderten über alte Zeiten.
Aber Bonny hatte bald große Probleme. Ihr Mann wollte eigentlich gar keine drei Kinder und fühlte sich in seiner Situation gar nicht wohl. Er entzog sich deshalb immer mehr seiner Familie, kam oft erst in der Nacht nach Hause oder teilweise gar nicht, wie mir Bonny erzählte. Er arbeitete als Gastronom in einer Gaststätte, die immer lange geöffnet hatte. So stand sie also meist mit ihren drei Kindern allein da. Zum Glück hatte sie aber noch Hilfe und Unterstützung von ihren Eltern. Doch schlecht ging es ihr in dieser Situation trotzdem. Sie klammerte sich aus den Umständen heraus damals an eine Familie aus ihrer Nachbarschaft, die ebenfalls drei Kinder hatten und mit denen sie und ihr Mann schon eine Weile befreundet waren. Da Bonny eine ziemlich attraktive Frau war, verliebte sich dieser Nachbar nach einiger Zeit in sie und wollte sie dann unbedingt ganz für sich haben. Aus diesem Grund erzählte er die ganze Affäre Bonny’s Mann, der natürlich gleich die Gelegenheit für sich nutzte und dies zum Anlass für die Trennung nahm. Denn auch er hatte bereits schon lange vorher eine Freundin, so wie Bonny es bereits ahnte. Deshalb war Bonny bald darauf geschieden und lebte dann mit dem anderen Mann aus der Nachbarschaft zusammen, was sie eigentlich gar nicht so richtig gewollt hatte, denn diese andere Frau litt sehr unter dieser Trennung von ihrem Mann. Und da die Situation dort für alle Parteien sehr kritisch war, zog Bonny mit diesem Mann und ihren Kindern in ein anderes Stadtviertel und ich hörte dann wieder lange nichts mehr von ihr.
Bis ich eines Tages in der Stadt ihren Lebensgefährten traf, der mich damals bei einem Besuch auch kurz kennen gelernt hatte. Er sprach mich gleich an und erzählte mir, dass Bonny von ihm noch ein Kind bekommen hat und sie also damit vier Kinder hatten. Jedoch war das ganze Familienleben jetzt von einem schlimmen Ereignis überschattet. Bonny hatte wohl ohne sein Wissen ihr Konto um ungefähr viertausend Mark überzogen. Und bei uns im Osten war das damals so, dass solch ein Delikt als Bereicherung galt und man dafür ins Gefängnis kam. Und dort befand sich Bonny wohl zu der Zeit auch. Ich war natürlich mächtig geschockt von dieser Nachricht. Und da erinnerte ich mich auch an einen Zeitungsartikel auf den mich Bonny’s Lebensgefährte jetzt aufmerksam machte. Den hatte ich tatsächlich einige Zeit vorher mal gelesen und wusste nicht, dass es sich bei der Frau, von der man da schrieb, um Bonny handelte, weil kein Name da stand. Demnach soll sie sich mit dem Geld bereichert haben, mit dem ihr Konto überzogen war und dafür neue Möbel und sonstige Sachen gekauft haben, die über den Lebensstandard von einem „Normalbürger“ im Osten hinaus gingen. Doch gestimmt hat das wohl nicht. Jedenfalls erzählte mir das der Lebensgefährte von Bonny so. Er sagte nämlich, dass sie ganz normal gelebt haben und es fehlte eben manchmal an Geld, wie das bei anderen Leuten eben auch vorkommt. Aber seiner Meinung nach hätten sie wohl so viel nicht verbraucht, denn zu Ostzeiten war das ja ganz schön viel Geld, um das es hier ging. Und neue Möbel hätten sie auch nicht. Ich fragte ihn natürlich gleich, warum sie denn so etwas sagte! Doch das wollte er mir nicht sagen. Bonny muss jedenfalls ohne sein Wissen einfach immer Geld von der Bank geholt haben. Man konnte damals wohl sein Konto eine Weile überziehen, denn es gab bei uns im Osten noch keine Chipkarten, so dass eine aktuelle Angabe des Kontostandes immer erst einige Zeit später möglich war. Jedenfalls hatte sich das Gericht wohl damals nicht einmal davon überzeugt, wofür sie das Geld gebraucht hatte und unterstellte Bonny deshalb diese Bereicherung, die sie komischerweise auch zugegeben hatte. Und das mit den Möbeln erzählte sie wohl von sich aus so. Bonny wurde daraufhin im Schnellverfahren zu einer Gefängnisstrafe von über einem Jahr verurteilt. Ich war entsetzt und fragte mich wozu sie denn so viel Geld brauchte! Und ich dachte in dem Moment daran, was sie mir damals mit dieser Erpressung von diesem Mann auf der Parteischule gesagt hatte. Hatte das vielleicht damit etwas zu tun? Sollte das vielleicht doch wahr gewesen sein? Vielleicht wollte dieser Mann immer wieder Geld und ließ sie nicht in Ruhe und sie hatte diese große Angst, dass alles ans Tageslicht kommt? Vielleicht war es ja doch so, denn mit viertausend Mark konnte man damals bei uns schon viel anfangen! Aber es wusste ja angeblich keiner wo das Geld geblieben war und Bonny blieb auf dem Gericht bei der Version mit den neuen Möbeln. Ich denke im Nachhinein trotzdem das hing mit diesem Mann zusammen!
Die Kinder von Bonny waren in dieser Zeit übrigens alle verstreut. Zwei waren im Heim, der große Junge war bei Ihren Eltern und das kleinste Kind hatte ihr Lebensgefährte und brachte es täglich in die Kindereinrichtung, weil er ja arbeiten musste. Ich fand das schrecklich, wo sie doch so an ihren Kindern hing und ihnen immer alles gegeben hatte. Wie musste sie ihre Kinder vermisst haben! Und ich durfte gar nicht daran denken, wie es ihr wohl selber dort erging, wo sie gerade war. Deshalb schob ich in nächster Zeit diese Gedanken bei Seite und dachte erst einmal nicht mehr darüber nach. Und Rudolf wollte ja aufgrund seines Karriereplanes sowieso nichts mit „solchen Leuten“ zu tun haben, die sprichwörtlich nicht linientreu waren, egal aus welchen Umständen heraus auch immer. Er machte da keine Kompromisse, denn das hätte ja seinen Ruf und seiner Karriere schädigen können. Und so verlor ich Bonny einfach aus den Augen. Ich wusste später nur, dass sie einige Zeit später aufgrund einer staatlich angeordneten Amnesty nicht die ganze Strafe im Gefängnis verbüßen musste und deshalb bald wieder bei ihren Kindern sein durfte. Und das beruhigte mich damals etwas.
Rudolf, so wusste ich, liebte seine Tochter genau so sehr wie ich. So aufgeregt, wie er schließlich kurz vor der Geburt war und wie er sich dann gab, konnte man das deutlich erkennen. Aber trotzdem kam es nicht dazu, dass sich bei ihm der Familiensinn jetzt positiver entwickelte, wie er es anfangs versprach. Er ging weiterhin seinem Hobby Fußball spielen nach, was ja auch nicht schlimm gewesen wäre, wenn nicht ständig die Trinkereien danach gewesen wären. Rudolf war immer der letzte, der nach Hause ging, egal von wo. Er musste sich immer erst noch anderweitig amüsieren. Und ich musste mich immer um alles allein kümmern, Haushalt, Kind und nach fast einem Jahr ging ich auch wieder arbeiten. Aber ab diesem Zeitpunkt war Felicitas dann auch noch sehr oft krank, seitdem sie in der Kindereinrichtung war. Sie hatte jedes Mal, wenn sie ein paar Tage dort war, so starke Bronchitis, dass sie keine Luft mehr bekam und ich zu Hause bleiben musste. Das waren sicher auch die Auswirkungen der schlechten Luft, in der wir leben mussten, denn die Zahl der bronchitiskranken Kinder in unserer Gegend wurde immer mehr. Die Luft wurde durch das große Chemiewerk förmlich verpestet. Ich bin damals von Arzt zu Arzt gerannt, doch keiner konnte mir generell helfen. Einmal wäre Felicitas sogar fast erstickt. Sie musste schon in der Ambulanz mit Sauerstoff versorgt werden und kam dann ins Krankenhaus. Das vergesse ich nie. Ich hatte solche Angst um sie. Und trotzdem wurde ich auch in der darauffolgenden Zeit von allen Ärzten immer abgespeist, wenn ich sie auf eine Therapie oder generelle Heilbehandlung hin ansprach. Jedes Mal bekam ich nur zur Antwort, dass Felicitas noch zu klein wäre für eine Kur. Und man verschrieb ihr dann immer wieder Antibiotika, sogar in ganz kurzen zeitlichen Abständen, so dass ich dann manchmal für mich selber entschied, dies als Heilmittel auch einfach mal wegzulassen, weil ich der Meinung war, dass diese Mengen von starken Arzneimitteln ihren Körper mit der Zeit vergiften würden.
Nach langem Hin und Her kam ich dann einmal zu einer ganz anderen Ärztin, bei der ich bis dahin noch nicht war. Zu der Zeit hatte ich bereits fast all meine Hoffnung auf eine generelle Heilbehandlung aufgegeben. Da fragte mich diese Ärztin doch tatsächlich, ob ich mein Kind nicht einmal zur Kur schicken möchte, weil sie sofort merkte, wie krank sie war. Diese Frage konnte ich jetzt überhaupt nicht verstehen! Wo doch alle anderen Ärzte mir bisher eine Kur für Felicitas aus Altersgründen verweigerten! Plötzlich erfuhr ich aber doch von einer Einrichtung, die Kleinkinder aufnahm und die nicht einmal so weit entfernt war von uns. Und das, obwohl die Existenz einer solchen Einrichtung von den anderen Ärzten auch auf mein Drängen hin immer verneint wurde. Es kam also doch darauf an, an wen man geriet. Die Ärztin gab mir an diesem Tag gleich einen Antrag mit und ich war überglücklich, dass es jetzt doch eine Chance auf Heilung der schon fast chronischen Bronchitis bei Felicitas gab.
So fuhr sie bald darauf für sechs Wochen zur Kur und wir sahen unsere Tochter in dieser Zeit gar nicht, da wir sie dort nicht besuchen durften. Aber danach konnten wir schon bald darauf feststellen, dass diese Kur wohl doch der Durchbruch für die Heilung ihrer Bronchitis gewesen sein muss, denn Feli, so nannten wir sie jetzt immer, ging es schon bald viel besser.
Rudolf jedoch wurde inzwischen vom Studium in Dresden entlassen, weil er zweimal durch die Prüfung geflogen war. Er war einfach kein Lerntyp und feierte lieber Party‘s, als zu den Vorlesungen zu gehen, was er vor mir allerdings nicht zugab. Aber ich wusste ganz genau, dass er lieber jede andere Veranstaltung besuchte, so, als würde er in seinem Leben etwas verpassen.
Und nun, nach seiner Exmatrikulation, sollte er jetzt jeden Tag bei uns zu Hause leben, denn bisher kam er ja nur am Wochenende. Das war für ihn natürlich eine große Umstellung in seinem Leben und auch in meinem. Wir sollten jetzt also eine richtige Familie zu Hause sein. Und in diesem Sinne freute ich mich schon auf die kommende Zeit.
Und eine Arbeitsstelle hatte Rudolf jetzt auch, und zwar in dem Betrieb, wo auch sein Vater arbeitete. Er durfte sogar aufgrund der Fürsprache und der beruflichen Position seines Vaters sein Studium im Fernstudium fortsetzen, also dort weitermachen, wo er aufgehört hatte. So eine gesetzliche Regelung gab es normal eigentlich gar nicht. Rudolf hatte also wieder einmal großes Glück seinen Vater in seiner hohen Position als Fürsprecher zu haben! Und ungefähr zwei Jahre später schaffte er es dann auch mit „Ach und Krach“ tatsächlich noch seinen Hochschulabschluss zu erlangen. Sein Zeugnis war zwar nicht überragend, aber er hatte jetzt immerhin sein Diplom. Von da an war er Abteilungsleiter, natürlich in dem Unternehmen, in dem auch sein Vater schon jahrelang arbeitete.
So beschlossen wir jetzt auch in eine größere Wohnung umzuziehen, damit Felicitas ein Kinderzimmer bekam, denn wir wohnten ja immer noch in unserer Zweiraumwohnung. Wir fanden sogar bald eine Tauschwohnung. Unsere neue Wohnung lag direkt am Park am Rande der Stadt und war deshalb von viel Grün umgeben. Wir fühlten uns dort gleich wohler, weil wir bisher im Neubaugebiet meist nur Beton als Umgebung hatten. Der Umzug sollte übrigens gleichzeitig auch ein Neuanfang für unsere Ehe sein. Rudolf nahm sich jetzt wieder einmal vor zukünftig mehr Zeit mit der Familie gemeinsam zu verbringen. Ich selber aber hatte in meinem Hinterkopf kein so gutes Gefühl, denn ich hatte immer diesen Traum von der neuen Wohnung vor mir, dass ich dort sehr einsam bin und immer eine Pflanze gieße, die in der einen Ecke des Wohnzimmers stand. Das gab mir sehr zu denken und ich hatte ein wenig Angst vor dem was kommt.
Und so zeigte es sich dann auch. Nach einiger Zeit in unserer neuen Wohnung musste ich erneut feststellen, dass Rudolf sein Leben kein bisschen im Sinne der Familie geändert hatte. Ganz im Gegenteil, es kam noch schlimmer wie bisher. Denn es dauerte nicht lange und Rudolf lernte auf seiner Arbeit eine andere Frau kennen, mit der er sich regelmäßig traf. Sie war alleinstehend mit Kind. Rudolf kam zu der Zeit ständig spät nach Hause, so dass ich mir bald denken konnte, was los ist. Und als ich ihn dann noch mit meinen Fragen bedrängte, blieb er noch öfter weg. Er wollte mir sicher nicht Rede und Antwort stehen und ging mir so wieder mal aus dem Weg. Erst als es dann ernst wurde und ich von Trennung sprach, beichtete er mir das Verhältnis mit dieser Frau und beendete es und ich verzieh ihm sehr schnell. Denn er sagte reuevoll zu mir, dass er festgestellt hat, dass er nur uns liebt und er uns deshalb als seine Familie brauch. Er versprach mir ganz fest, sich in Zukunft mehr um uns zu kümmern und beteuerte immer wieder, dass er jetzt ganz genau wüsste, dass ich die Frau für sein Leben bin und er auch sein Kind nie verlassen würde.
Diese Worte von ihm ließen mich natürlich wieder nach vorn schauen. Aber irgendwie war ich trotzdem noch unruhig denn ich hatte in letzter Zeit noch einen anderen Traum. Ich träumte von der Scheidung, die auf uns zukommt. Ich spürte im Traum meine Verzweiflung um diesen Mann und meine Traurigkeit. Und ich sah mich, wie ich unter Tränen das Gerichtsgebäude verließ und wie Rudolf das Gebäude mit seinem Aktenkoffer als starker Mann verließ. Ich erlebte alles so wirklich, so, dass ich Angst davor hatte, dass es doch so kommen wird.
Und alles ging tatsächlich nicht lange nach dem ersten Betrug wieder von vorn los. Rudolf’s gute Vorsätze hielten wieder nicht lange an. Nach ungefähr einem dreiviertel Jahr erlebte ich dasselbe Dilemma noch einmal, denn Rudolf kam wieder ständig in der Nacht nach Hause. Zuerst schloss ich es aus, dass er schon wieder eine Freundin hatte, weil ich mir nicht denken konnte, wo er schon wieder jemand kennen gelernt haben sollte. Doch es war so! Er hatte ein Verhältnis mit seiner Sekretärin, die mächtig um ihn bemüht war, weil sie geschieden war und mit ihrem Kind allein lebte. Ich machte also die gleiche Misere wie schon einmal durch, nur diesmal viel heftiger, auch, weil ich mächtig wütend war. Nie hatte sich Rudolf richtig um etwas gekümmert, nie hat er etwas richtig in die Hand genommen, immer zählte nur sein Leben. Und jetzt machte er mir auch noch Vorwürfe, dass an allem nur ich schuld wäre. Warum aber, das hatte er mir nie richtig begründen können. Er erwähnte ständig nur lapidare Sachen, die für ihn angeblich ausschlaggebend waren. Alles war so komisch und es nahm kein Ende. So konnte ich nicht leben! Ich kam mir auf einmal vor, wie seine Mutter, die so etwas schon jahrelang mit ihrem Mann durchgemacht hatte. Und immer war sie froh, wenn ihr Mann nach einiger Zeit wieder zu ihr zurückgekehrt war, nach einer seiner üblichen Ausbrüche zu einer anderen Frau. Aber was sie dabei immer ertragen musste, das hatte ich ja einmal miterlebt, als wir noch keine eigene Wohnung hatten und ich meist mit bei Rudolf‘s Eltern war. Und genau das, was ich da erlebte, wollte ich selbst nie mitmachen, das wusste ich ganz genau! Ich wollte meine Leben auf keinen Fall mit einem Mann verbringen, dem ich nicht vertrauen kann und dem ich ständig hinterher rennen müsste. Denn es gab für mich auch noch andere Beschäftigungen und schöne Dinge in meinem Leben, denen ich mich eigentlich widmen wollte.
Deshalb zwang ich mich nach einiger Zeit auch dazu, mich mit dem Gedanken der Trennung von Rudolf vertraut zu machen und teilte es Rudolf in einem heftigen Streit mit. Er stellte von da an mal wieder noch mehr auf stur und ging nur noch seiner Wege. Und wie er sich dabei immer verhielt, hatte totale Ähnlichkeit mit seinem Vater, als er damals eine Freundin hatte und immer spät oder gar nicht nach Hause kam. In jeder Gestik von Rudolf, jeder Antwort und überhaupt in seiner gesamten Art und Weise, spiegelte sich sein Vater jetzt wider. Zumal Rudolf ihm ja auch von seinem Äußeren her sehr ähnlich war. Und genau deswegen wusste ich, das wird nie aufhören und sagte mir, ich muss weg von diesem Mann! Trotzdem hatte ich in dieser schwierigen Situation immer Angst, dass ich doch noch nachgeben und ihn betteln würde bei mir zu bleiben und ich dann so leben müsste wie seine Mutter mit seinem Vater lebte, immer dieses Fremdgehen ertragen müsste, wenn ich mich weiter für Rudolf entschied. Immer wieder hatte ich mir deshalb vorgestellt, wie es mir dann wohl ergehen würde, wenn ich erst älter bin. Dass ich dann erst recht ganz allein sein werde, weil Rudolf mich sowieso wegen einer jüngeren Frau verlassen würde, weil ich ihm dann vielleicht nicht mehr attraktiv genug bin. Oder dass ich durch die vielen Enttäuschungen krank werden würde, wie die Frau von Rudolf‘s Chef, die bei uns gegenüber wohnten. Diese Frau hatte damals unter dem ständigen Fremdgehen ihres Mannes so gelitten, dass sie das krank gemacht hat. Sie ist im Alter von fünfzig Jahren an Nierenkrebs gestorben.
Alle diese Gedanken schossen mir nun durch den Kopf und sagten mir, ich muss das mit der Trennung unbedingt durchziehen, ich darf Rudolf nicht betteln, denn dann würde er eh nur zum Schein zu mir zurück kommen und hätte dann zwei Frauen. Rudolf war wie sein Vater und das würde mich immer verrückt machen.
Aber trotzdem behielt ich mir in meinem Hinterkopf vor, Rudolf zu verzeihen, wenn er voller Reue zu mir zurückkommen würde und um mich kämpft. Doch so lange ich auch hoffte und wartete, er kam nicht!
So nahm ich mir jetzt für die Scheidung einen Anwalt, da ich wusste wie stur Rudolf sein konnte und ich dachte, ich hätte es so mit einem Beistand etwas leichter. Ich konnte mir das zu der Zeit finanziell auch leisten, weil ich kurz vorher etwas Geld geerbt hatte. Und zwar von einem Onkel von mir, einem alleinstehenden Bruder meiner Mutter. Der kam uns früher öfter besuchen, weil meine Mutter für ihn immer die Wäsche gewaschen hat. Dieser Mann war noch nie verheiratet, hatte immer allein gelebt und sein ganzes Geld gespart. Aber gelebt hat er wie ein Bettelmann und so sah er auch aus. Er lief meist nur in Arbeitssachen herum, gönnte sich selber nichts und sammelte in seinem Haus alle möglichen Sachen. Vor allem Holz, weil er immer Angst hatte mal nichts mehr zum Heizen zu haben und frieren zu müssen. Er lagerte davon so viel ein, dass man bald nicht mehr alle Zimmer betreten konnte, weil sie so voll gestopft waren. Und in den letzten Jahren sammelte er auch noch andere Sachen dazu, weil ihm alles zu schade zum weg schmeißen war. Meine Mutter hatte vorher zwar ab und zu dort aufgeräumt, aber er ließ sich nichts sagen und wurde voll wütend, wenn sie mal etwas in seinem Beisein wegschmeißen wollte. Bis meine Mutter es dann nach und nach aufgegeben hatte etwas zu ändern, weil er ihr das gar nicht mehr gestattete. Im Laufe der Jahre hatte sich so die Situation bei ihm im Haus dann immer mehr verschlechtert. Zum Schluss konnte man nirgendwo mehr treten und es war auch für meine Mutter eine Zumutung sich dort aufzuhalten. Deshalb kam ihr Bruder dann nur noch aller paar Wochen kurz zu uns um mal eine Unterhaltung zu haben und wegen der Wäsche. Bis er eines Tages mit dem Fahrrad im Dunkeln überfahren wurde, weil er ohne Licht gefahren ist. Dabei hatte er ein paar Jahre vorher bereits eine schwere Magenoperation überstanden. Man stellte damals fest, dass er Magenkrebs hatte und nahm ihm ein Drittel seines Magens heraus. Meine Mutter hatte ihn zu der Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt in unser Haus aufgenommen bis er wieder gesund war. Aber lange danach dachte er immer noch, dass er eh sterben wird. Doch das war nicht der Fall, er hatte den Krebs überstanden und ging dann sogar wieder arbeiten. Und jetzt wurde er also an einem späten Abend auf seinem Fahrrad von einem Lkw erfasst, weil er ohne Licht gefahren ist und ließ so sein Leben. Und sein gespartes Geld hatte er meiner Mutter vererbt und ihren Kindern zu gleichen Teilen, so hieß es in seinem Testament. Wir Erben mussten nun natürlich auch sein Haus ausräumen. Das war total eklig. Wir haben dort zum Teil mit Mistgabeln gearbeitet und die alten Sachen förmlich herausgeschaufelt. Es kamen dabei auch ein paar Ratten zum Vorschein, die mich fast ansprangen. In dem Moment wurde mir richtig schlecht und ich musste mich fast übergeben bei der Vorstellung, wie der Mann hier gelebt haben muss. Wie einsam dieser Mann all die Jahre gewesen sein muss. Er hatte nur die Leute, für die er gearbeitet hat und meine Mutter, die ein bisschen für ihn sorgte. Wie ein Mensch doch verkommen kann, wenn er allein ist, dachte ich. Aber es half ja alles nichts, das Haus musste jetzt ausgeräumt werden. Und als wir es geschafft hatten waren wir überglücklich. Denn schließlich wurden wir ja dafür mit dem Erbe auch gut belohnt.
Und so hatte ich also zu der Zeit genug Geld, um mir bei meiner Scheidung von Rudolf Unterstützung durch einen Anwalt leisten zu können, denn ich war ja der Meinung so wäre für mich vieles leichter. Es war ja auch das erste Mal, dass ich mit Gericht und Anwalt zu tun hatte und ich hatte deshalb nur positive Erwartungen an die Justiz. Wie ich dann allerdings erfahren musste, war dieser Anwalt alles andere als eine Unterstützung für mich. Es fing damit an, dass ich von ihm aus etliche Kompromisse machen sollte, was die Teilung unserer Möbel betraf, obwohl das meiste davon ich mit in die Ehe gebracht hatte, da Rudolf ja damals noch studiert hat. Ich machte also trotzdem diese Kompromisse, aber was zu viel war, war zu viel. Da Rudolf ja jetzt wusste, dass ich Geld geerbt hatte, wollte er regelrecht „absahnen“. Er wollte ein neues Leben mit seiner Freundin anfangen, das war nicht schwer zu erraten. Und obwohl ich ja in Zukunft für unsere Tochter aufkommen musste, nahm Rudolf keine Rücksicht und stellte überhöhte Ansprüche. Doch das wollte ich mir auf keinen Fall gefallen lassen!
Hinzu kam dann noch das Problem mit der Verschiebung unseres Scheidungstermins, da ich zu der Zeit eine Reise nach dem Westen genehmigt bekam und sich die Termine überschnitten hatten. Zu bestimmten familiären Anlässen konnte man zu der Zeit mit behördlicher Genehmigung in die BRD reisen. Ich hatte einen Antrag gestellt, weil meine Tante und mein Onkel Goldene Hochzeit hatten. Und ich wollte die Gelegenheit auf jeden Fall wahrnehmen, in den Westen reisen zu können, um endlich einmal zu sehen wie es dort aussieht. Nach Überprüfung durch Polizei und Staatssicherheit konnte ich zu meinem Erstaunen dann tatsächlich fahren, obwohl ich in Scheidung lag. Das hatte man dabei bestimmt übersehen oder nicht rausgekriegt. Die eine Frau aus unserem Haus, in dem ich wohnte, erzählte mir nämlich später einmal, dass sie vor meiner Reise von einem Mann der Staatssicherheit Besuch hatte und er ihr Fragen in Bezug auf unsere Ehe gestellt hat. Sie hat ihm aber nichts von einer bevorstehenden Scheidung gesagt, obwohl sie das von mir wusste. Und so war man sich wahrscheinlich sicher, dass ich von meiner Reise auch wieder zurückkehren würde. Und außerdem durfte ich ja nur ohne mein Kind fahren, so dass das ja auch noch ein Aspekt für meine sichere Rückkehr in den Osten war.
So war ich damals erst einmal überglücklich dorthin fahren zu können, wo aus unserem Land überhaupt nur in diesen Ausnahmefällen jemand hinkam und ich endlich erst einmal weg kam von meinen Problemen, weg in eine bessere Welt, so wie ich das damals empfand.
Natürlich hatte auch meine Schwester Margot einen Antrag für diese Reise gestellt, denn ohne sie konnte ja nichts stattfinden. Und auch sie bekam von den Behörden die Genehmigung dafür.
Ich fuhr also zusammen mit Margot in den Westen. Und wenn man von dem Schönen der ganzen Reise absah, war es mit Margot eigentlich die Hölle. Ich dachte sie reißt sich in ihrer Art und Weise wenigstens für diese zehn Tage etwas zusammen, aber nein, es war so wie immer mit ihr. Sie hatte wieder das Kommando und alles musste nur nach ihrer Nase gehen. Und alles, was ich mir für mein bisschen Geld dort kaufte, wir durften damals nur einen bestimmten Satz Geld umtauschen, passte ihr nicht und sie schikanierte mich, obwohl sie das gar nichts anging. Zumal sie ja sowieso einen ganz anderen Geschmack als ich hatte. Aber egal, ich nahm mir jedenfalls fest vor, mir die Reise nicht verderben zu lassen und hielt deshalb Ruhe.
Aber das Schlimmste war noch, dass sie dort allen Verwandten hinter meinem Rücken erzählte, das ich Rudolf abschiebe, obwohl er doch so ein toller Mann wäre und sie hat mich als die Schuldige an unserer Scheidung vor meiner ganzen Verwandtschaft hingestellt. Ich wusste das nur, weil mir meine eine Tante das alles erzählte und mich gleichzeitig vor Margot warnte. Sie sagte, ich sollte mich vor ihr in Acht nehmen, weil sie mich bei den anderen nur schlecht macht und außerdem Rudolf alles erzählt, da sie ständig in Kontakt mit ihm ist. Dass ich mir einen Anwalt genommen hatte, wusste er wohl auch schon, obwohl ich ihm das nicht erzählen wollte. Ich war natürlich stocksauer darüber, ließ mir aber trotzdem nichts anmerken, denn ich wollte mich ja vor meinen Verwandten dort nicht streiten. Schließlich haben wir ja bei Ihnen die ganze Zeit gewohnt.
Im Übrigen hatte sich meine Tante zu mir damals auch schon über die Boshaftigkeit von Margot gegenüber meinen Eltern geäußert. Sie sagte mir nämlich, dass Margot meinen Eltern die gesamte Selbstständigkeit entzieht, wenn sie weiter so mit ihnen umgeht. Sie würde immer die gute Seele spielen indem sie ihnen einredet, sie müssten sich schonen. Mein Vater durfte nicht einmal mehr Auto fahren, weil sonst etwas passieren könnte. Er durfte nicht mehr auf die Leiter steigen, weil er fallen könnte und lauter solche Dinge.
Meine Tante sagte, dass sie aus dem Reden von Margot heraus hört, dass bei meinen Eltern zu Hause nichts ohne ihr Wissen geschehen durfte und sie den Eindruck hat, der gesamte Tagesablauf meiner Eltern würde nur noch von ihr bestimmt werden. Sie würde ihnen eben Vorschriften machen. Und meine Mutter war inzwischen tatsächlich so auf Margot geeicht, dass ihr das auch gefiel, dass ihr so viele Arbeiten abgenommen wurden. Wahrscheinlich war das ja auch eine Art Bequemlichkeit von ihr. Meine Tante aber hatte das Spiel von Margot durchschaut. Sie sagte mir damals schon, dass sie mit ihrem Verhalten alles an sich reißen will und ich da aufpassen sollte. Aber wie immer nahm ich diese Worte gelassen und fühlte mich erst einmal dort wohl, wo ich gerade war, weit weg von meinen anderen Problemen, die mich erst nach meiner Reise wieder zu Hause erwarten würden.
Und als ich dann nach diesen zehn Tagen wieder zu Hause ankam, war ich erst einmal froh Felicitas wieder zu haben, die in der ganzen Zeit bei meinen Eltern war, da Rudolf ja angeblich zeitlich immer so eingebunden war. So hat er Feli auch nur zweimal bei meinen Eltern abgeholt, um mit ihr etwas zu unternehmen. Na was soll‘s, er hatte eben mal wieder nur andere Interessen. Ich jedenfalls freute mich jetzt riesig wieder bei ihr zu sein, denn ich brauchte nach der Tortur mit Margot dringend wieder Geborgenheit und vor allem meine Selbständigkeit in meinem eigenen Zuhause. Und Feli war im Moment mein einziger großer Halt.
Ansonsten aber hatte ich das Gefühl jetzt wieder da anfangen zu müssen, wo ich aufgehört hatte und alle Probleme waren mit einem Mal wieder in meinem Kopf. Es war diesbezüglich wie eine kleine Ohnmacht, in dem Moment als ich Zuhause die Tür öffnete und eintrat, denn alles stürzte plötzlich wieder auf mich ein. Und was das Schlimmste war, mein Scheidungstermin stand jetzt unmittelbar bevor. Und ich war schon wieder unendlich traurig darüber, dass es keine andere Lösung als die Trennung gab.
Am Tag der Scheidung betrat ich dann das gigantische Gerichtsgebäude mit großem Respekt, denn ich hatte, wie schon gesagt, zuvor noch nie etwas mit einem Gericht zu tun gehabt. Ich wusste also nicht, was mich dort erwartete und hatte deshalb großes Vertrauen in die Justiz. Was ich dann aber erlebte, war alles andere als das, was ich erwartet hatte. Viel schlimmer noch, es ließ mich allen Respekt vor der Justiz verlieren. Es fing damit an, dass Rudolf der uns zugeteilten Richterin sehr sympathisch zu sein schien. Zumal ich in meinem Ansehen ja schon vorher verloren hatte, da ich nicht zum ersten Gerichtstermin erschienen war, weil ich ja unbedingt eine Reise ins kapitalistische Ausland antreten musste, wie die Worte der Richterin dazu waren. Das kam daher, weil mein Anwalt versäumt hatte, die Verschiebung des ersten Scheidungstermins wegen meiner Reise zu erwirken, obwohl er mir versicherte, er würde sich darum kümmern und das würde so klar gehen. Und er hatte mir ja auch den zweiten Termin schon vorher mitgeteilt. Warum nun der erste Termin dann auf einmal doch stattfand ist mir völlig unklar. Auf jeden Fall war ich da ja nicht im Gerichtssaal erschienen und das waren natürlich alles Pluspunkte für Rudolf. Und mein Anwalt hielt es nicht einmal für nötig sich für dieses Versehen bei mir zu entschuldigen. Und genauso wurde die ganze Verhandlung dann auch im Zeichen der Sympathie für Rudolf fortgesetzt. Alles was von mir kam wurde ganz lapidar abgehandelt und Rudolf konnte sich so schön heraus reden und stellte alles so dar, als hätte ich eh nie hinter ihm und seinen Interessen gestanden als seine Frau. Und was das Schlimmste war, mein Anwalt trat fast gar nicht in Aktion. Ich musste mich so gut wie selbst verteidigen. Er beruhigte mich lediglich zwischendurch mit einem Händedruck und mit den Worten „ich sollte Ruhe bewahren“. Keiner erhörte mich, wie es mir ging! Für mich war alles so schlimm, dass ich während der Verhandlung in Tränen ausbrach. Und es war so, wie in meinen vorherigen Träumen. Die Gefühle, die ich hatte, als ich das Gericht verließ und wie Rudolf als Gewinner aus dem Gebäude lief. Es war haargenau so!
Ich jedenfalls war nach dieser Scheidung auch von Gericht und Anwalt erst einmal kuriert. Nichts hatte bei dieser Verhandlung „Hand und Fuß“. Von Respekt vor dem Gericht konnte bei mir danach keine Rede mehr sein. Schon allein die Verhandlungsführung war mehr als billig und enttäuschend. Und Rudolf freute sich jetzt natürlich, dass er so schnell aus der Sache bzw. aus seiner Ehe ohne jegliche Verpflichtungen herausgekommen war und konnte nun nach vorn blicken zu seiner neuen Freundin. Nicht allein, dass er sogar auf das Sorgerecht für Feli verzichtet hatte, und nicht einmal den kleinsten Versuch unternahm um sie zu kämpfen, nein, er hatte nicht einmal darauf bestanden sein Besuchsrecht gerichtlich festlegen zu lassen. Das wurde lediglich so nebenbei erwähnt. Es war eine Farce! Dieser Mann war einfach verantwortungslos und die Richterin deckte das auch noch! Und was hatte ich jetzt eigentlich für eine Zukunft? Ich stand ganz allein da. Aber vor allem tat mir Feli leid. Sie vermisste ihren Papa ja schon die ganze Zeit. Dabei zeigte er nicht ein bisschen Interesse. Für ihn stand das mit dem Sorgerecht von Anfang an fest, da er ja angeblich beruflich immer so eingespannt war. So jedenfalls begründete er das auf dem Gericht. Und das wurde auch noch akzeptiert, obwohl andere Väter auch arbeiten müssen. Man redete ihm nur nach dem Munde! Wie sollte das jetzt alles weitergehen für uns und wie sollte ich Felicitas die Situation jetzt erklären, wenn sie ihren Papa so vermisste?
Ob sich Rudolf in Zukunft überhaupt noch Zeit für sie nehmen würde, war auch ungewiss. Alle diese Gedanken schossen mir jetzt durch den Kopf. Ich war am Boden zerstört, denn Feli hatte ihren Vater verloren und ich den Mann, den ich liebte.
Rudolf jedenfalls hatte jetzt das erreicht, was er zu der Zeit wollte, weg von mir zu einer anderen Frau und alles hinter sich lassen. Und diese Frau versprach ihm alles! Denn er erzählte mir einmal, dass es ihr sogar egal wäre, wenn er fremdgeht, wenn er nur bei ihr bleiben würde. So soll sie ihm das gesagt haben. Ich war natürlich völlig entsetzt, als mir Rudolf das erzählte. Wie einsam musste diese Frau damals wohl gewesen sein! So konnte sie Rudolf natürlich für sich gewinnen, denn anscheinend wusste er ja selber von sich, dass er nicht treu sein kann und da konnte ihm ja nichts Besseres passieren. Und von mir wusste er inzwischen, dass ich dafür keine Toleranz aufbringen würde. Wieso sollte ich auch, für mich war das Betrug, Betrug an unserer Liebe!
Einige Zeit nach der Scheidung hatte ich allmählich das Gefühl in ein tiefes Loch zu fallen. Ich fragte mich immer wieder, wie mein Leben weitergehen sollte ohne Rudolf, ohne diesen Halt. Ich liebte ihn doch immer noch so sehr! Und er war doch auch immer stolz auf uns. Wie konnte er das alles nur so fertig bringen? Ich konnte sein Verhalten einfach nicht nachvollziehen.
Und was das Schlimmste in dieser Zeit für mich war, dass ich nach der Scheidung eigentlich niemanden hatte, von dem ich echte Hilfe und moralische Unterstützung bekam. Meine Eltern und Margot wiesen mir immer nur Schuldgefühle zu und konnten oder wollten mich nicht verstehen, wobei Margot ja sogar teilweise behauptete ich hätte Rudolf verjagt.
Das Komische war auch, dass ich damals immer diese Eingebung hatte, dass mit dieser Scheidung von Rudolf mein Schutzschild weg wäre, mein Schutzschild vor meiner eigenen Familie. Ich konnte diese Eingebung damals noch nicht deuten und wusste deshalb nicht so richtig warum ich das dachte. Ich weiß nur, dass Margot zu der Zeit extrem damit anfing sich in mein Leben einmischen zu wollen und ich hatte deshalb oft Streit mit ihr. Aber ich sollte später noch genauer erfahren, was es mit dieser Eingebung auf sich hatte.
So ging ich also alleingelassen und mit leeren Gefühlen meinem Alltag wieder nach. Und ich hatte Sehnsucht, große Sehnsucht nach Rudolf und nach einer Familie in Liebe und Harmonie.
Und in dieser Situation traf ich einige Zeit später in der Stadt meinen ersten Freund Peter wieder. Ich stand gerade an der Straßenbahnhaltestelle und wollte nach der Arbeit in die Kindereinrichtung fahren um Feli abzuholen. Da lief auf einmal Peter an mir vorbei und sah mich in dem Moment. Er sprach mich wieder mit seinem Lächeln von früher an und ich freute mich trotz meiner Misere ihn zu sehen. Als er mich fragte, wie es mir denn so geht, erzählte ich ihm von meiner Scheidung, die gerade hinter mir lag und dass ich jetzt einige Probleme hatte. Peter war entsetzt, und konnte es nicht verstehen, wie sich jemand von so einer Frau wie mir trennen kann. So jedenfalls waren seine Worte, die in dem Moment wie beruhigend auf mich wirkten. Und er tröstete mich weiter, indem er sagte, dass er das überhaupt nicht verstehen kann und das ich das doch gar nicht verdient hätte. Und wenn er mit mir verheiratet sein würde, dann würde er für immer bei mir bleiben. Das waren Worte, auf die ich sehr viel Wert legte, weil ich wusste, alles das, was Peter jemals zu mir sagte, das meinte er auch so. Am liebsten hätte ich ihn dafür umarmt. Aber da er ja verheiratet war, begegnete ich ihm mit Achtung und Zurückhaltung und dachte mir wieder, was seine Frau doch für ein Glück hat so einen Mann zu haben.
Wir hatten uns dann wieder verabschiedet, in der Hoffnung uns bald wieder einmal zu treffen. Doch zu Hause angekommen weinte ich mich dann erst einmal aus. Ich dachte noch einmal an die Worte von Peter zurück. Er wusste mich eben schon immer zu schätzen. Und genau so ein Mensch fehlte mir jetzt. Ich hatte jedenfalls im Moment das Gefühl immer nur von den falschen Leuten umgeben zu sein.
Übrigens war auch meine Freundin Meike, die ich damals aus Rudolfs Klicke kennen gelernt hatte und mit der ich inzwischen ein sehr enges freundschaftliches Verhältnis aufgebaut hatte, in diesen schweren Zeiten nicht für mich da. Sie kümmerte sich gerade nur um ihre Angelegenheiten, obwohl sie genau wusste wie es mir jetzt ging. Aber inzwischen war sie auch verheiratet und hatte ganz andere Probleme. Denn ihr immer stärker werdender Kinderwunsch konnte ihr wegen einer zurückliegenden Bauchhöhlenschwangerschaft nicht erfüllt werden und das machte ihr mächtig zu schaffen. Es hieß von den Ärzten sie könnte keine Kinder bekommen. So jedenfalls wurde es ihr damals im Krankenhaus nach einer genauen Untersuchung bescheinigt. Deshalb hatte sie inzwischen einen Antrag auf Adoption eines Kindes gestellt. Normalerweise musste man da schon einige Jahre warten, weil die Wartelisten so lang waren.
Doch der Vater von Meike hatte Beziehungen zur Adoptionsbehörde und deshalb ging bei Meike alles ganz schnell mit der Adoption. Sie sollte also in den nächsten Tagen ganz kurzfristig einen Säugling, einen Jungen, bekommen. Und das war wirklich so kurzfristig, dass sie nicht einmal Sachen zu Hause hatte und von mir all die Babysachen bekam, die ich noch aufgehoben hatte. Sie freute sich jetzt riesig auf das Kind. Und deshalb hatte auch sie in dieser Zeit gerade Wichtigeres zu tun, als mich zu besuchen oder Besuch zu empfangen. Obwohl man sicherlich beides hätte in Einklang bringen können, denn mich interessierte ihr neues Familienmitglied ja schließlich auch. Ein bisschen war ich da schon enttäuscht.
Als Meike es dann einige Zeit später bei einem Spaziergang endlich doch einmal schaffte mit ihrem Kind zu mir zu kommen, stellte ich fest, dass sie so was von gereizt war, dass so richtig kein persönliches Gespräch zustande kam. Und als ich dann doch mal von meiner Situation anfing zu erzählen, gingen ihr meine Gespräche über Rudolf und die Scheidung total auf die Nerven. Da war ich noch mehr enttäuscht, denn ich fand zu einer richtigen Freundschaft gehörte doch auch, dass einer dem anderen in schwierigen Zeiten zuhört und dass man sich gegenseitig unterstützt! Denn ich befasste mich doch in dem Moment auch mit ihrem Sprössling. Ich fragte mich, warum sie so eingleisig fuhr und nicht auch mal mir zuhörte! Vor allem nach all dem Verständnis, was ich in der Vergangenheit immer für sie aufgebracht hatte, hatte sie jetzt für mich kein Gehör, jetzt wo ich nun auch mal ein Problem hatte. Dabei war sie doch Diejenige, die in der Vergangenheit mehr als genug Probleme hatte und damit zu jeder Zeit zu mir kommen konnte und immer erhört wurde. Wie oft hatte sie zum Beispiel mit ihrem jetzigen Mann bei uns übernachtet, weil sie ihn nicht mit nach Hause bringen durfte und er von weit her kam! Wie oft hatte ich in dieser Zeit beide auch bei uns zum Essen eingeladen! Wie oft hatte ich mir ihre Probleme mit ihrem Kinderwunsch anhören und sie trösten müssen. Und wie oft mussten wir uns das „Gequatsche“ von ihrem Mann anhören, jedes Mal, wenn er zu viel getrunken hatte? Und jetzt das! Was hatte sie denn jetzt nur wieder für ein Problem mit sich? Ihre Gereiztheit ging mir an dem Tag jedenfalls mächtig auf die Nerven. Und ich wusste auch nicht, was das sollte. Schließlich hätte sie doch jetzt mit ihrem neuen Familienmitglied glücklich sein müssen! Es war jedenfalls nicht das erste Mal, dass ich feststellen musste, dass unsere Freundschaft eigentlich ziemlich einseitig war. Deshalb wollte ich auch in nächster Zeit erst einmal auf Meike verzichten, zumindest nahm ich mir das vor. Denn so hatte das ja keinen Zweck für mich!
Aber es war in den kommenden Jahren immer das Gleiche mit ihr. Immer wenn ich gerade nicht mehr an Meike dachte, kam sie wieder an und stellte mich als „die treulose Tomate“ dar. Und ich war dann natürlich wieder froh einfach nur Gesellschaft zu haben und schob das Geschehene erneut beiseite. Und so war es immer, alles war dann wieder schnell vergessen.
Erst viel später erkannte ich, dass dieses Verhalten von mir sehr unkonsequent war, denn ich hätte meine Probleme mit ihr erst klären müssen. Und dazu kam ja noch, dass Meike in manchen Dingen immer sehr eigensinnig und stur war und stets nur ihren Kopf durchsetzte. Aber ich, anstatt ihr meine Meinung darüber zu sagen, was ich überhaupt nicht akzeptieren konnte an ihr, verhielt mich immer wieder zurückhaltend und passte mich stets der Situation in ihrem Sinne an. Ich weiß bis heute nicht, warum ich das immer so machte und dazu ihr zickiges Verhalten ertrug. Das lag wohl doch an meiner strengen und unterwürfigen Erziehung von zu Haus aus. Ich hatte das so in mir, mich anzupassen und den anderen immer alles recht zu machen. Und das, obwohl für mich niemand so richtig da war, wenn es darauf ankam. Aber wahrscheinlich war es einfach auch die Angst ganz allein dazustehen und ich konnte deshalb allen immer schnell verzeihen.
Dank meiner vielen Kompromisse, die ich also immer machte, war es dann so, dass ich in all den Jahren der Freundschaft mit Meike auch sehr schöne Stunden erlebt habe. Denn wenn es ihr gut ging, dann war sie gut drauf. Und dann waren wir meist am Wochenende tanzen und hatten dabei immer unseren Spaß. Darüber gäbe es eine Menge Geschichten zu erzählen, die wir erlebt haben, wie wir da immer die Männer verrückt gemacht haben und sie dann veralberten, wenn sie uns auf einen Drink eingeladen haben. Was haben wir immer gelacht! Und damals waren uns die Männer darüber auch nicht böse. Sie freuten sich schließlich auch einen netten Abend mit netten Leuten gehabt zu haben und wollten nicht immer gleich noch mehr. Das war zu der Zeit eben noch anders als jetzt, weil die Menschen da noch sorgloser waren. Es wurde damals nicht immer gleich jedes Wort für übel genommen und es wurde allgemein noch mehr gelacht. Und wie verrückt wir immer getanzt haben und wie gern! Was haben wir für schöne Abende erlebt! Solche Erlebnisse vergisst man nie und wir haben uns immer gesagt, „wir sind nur einmal jung“. Und da wir noch ziemlich lange jung aussahen, dauerte die Jugend bei uns eben länger als normal an. Und das war unbeschreiblich schön! Ich erinnere mich gern an diese Zeit zurück.
Aber trotzdem änderte das alles nichts an der Tatsache, dass Meike allgemein nicht zu mir stand. Denn es war weiterhin so, immer wenn ich mal Hilfe und Unterstützung brauchte, was jedoch eher selten vorkam, war sie leider nie für mich da!
Rudolf ist dann nicht lange nach der Scheidung endgültig zu seiner Freundin gezogen. Er kam nur noch einige Male zu uns. Und obwohl wir immer auf ihn warteten, machte uns das angespannte Verhältnis, wenn er dann mal da war, immer sehr zu schaffen. Ich erinnere mich noch, dass er einmal am 1. Mai zu uns kam, dem Kampftag der Arbeiterklasse, an dem bei uns jedes Jahr alle Arbeiternehmer demonstrieren mussten. Dabei zogen die Massen von Menschen an diesem Tag mit Fahnen und Plakaten durch die Straßen und ehrten damit die Errungenschaften der Arbeiterklasse in unserem sozialistischen Staat. Und am Schluss zogen wir an der Tribüne vorbei, auf der die Ehrenbürger der Stadt sowie politisch hochrangige Führungskräfte und Gäste anwesend waren. Diesen mussten wir im Vorbeigehen durch unser Winken und Grüßen symbolisch danken für die Sozialpolitik in unserem Staat.
Ich war also an diesem 1. Mai mit Feli demonstrieren Und als wir nach der Demonstration auf dem Nachhauseweg aus der Straßenbahn ausstiegen, sah ich Rudolf aus der gleichen Bahn aus dem letzten Hänger aussteigen. Er schien zu uns nach Hause zu wollen und lief ziemlich weit vor uns und ich wusste nicht, was ich machen sollte, denn ich hatte mal wieder ein starkes gefühlsmäßiges Tief. Dann sagte ich doch zu Felicitas, die ihn ja noch nicht gesehen hatte, dass da vorn ihr Papa läuft. Sie hat sich so gefreut, dass sie ihn gleich gerufen hat und auf ihn zugelaufen ist. Er wollte tatsächlich gerade zu uns und wir liefen dann gemeinsam nach Hause, so wie früher. Ich wusste jedoch nicht so richtig wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Vor allem, weil ich ständig vor Augen hatte, wie er die andere Frau lieben muss, für die er seine Familie aufgegeben hatte, die er doch eigentlich auch liebte. Seine Kumpels beim Fußball übrigens sagten damals immer zu ihm, ob er verrückt sei so eine Frau wie er hatte zu verlassen und sein Kind noch dazu. Aber Rudolf ließ sich ja auf seinem Weg nicht beirren.
Jedenfalls war ich an diesem Tag ziemlich durchgefroren, als wir zu Hause ankamen, denn es war ein kalter 1. Maitag, und ich wollte gleich etwas Warmes zu Mittag kochen. Ich rechnete aber nicht damit, dass Rudolf länger bleiben wollte. Und da ich ihn ärgern wollte, kochte ich sein Lieblingsgericht, Linsensuppe. Und als die Suppe fertig war, setzte ich mich mit Felicitas an den Tisch und aß ihm etwas vor. Und Feli fragte ihn dann noch, ob er nicht auch etwas von der Suppe abhaben wollte. Doch er lehnte ganz verlegen ab, weil er wusste, dass es eigentlich nicht meine Art war jemanden allein etwas vor zu essen ohne ihm auch etwas davon anzubieten. Und da ich ihn nicht gefragt hatte, traute er sich nicht zu sagen, dass er eigentlich auch Hunger hatte. Aber innerlich war mir diese Situation in dem Moment so was von unangenehm, weil ich wusste, dass Rudolf gern etwas von der Suppe gegessen hätte. Doch ich wollte ihm auch ein bisschen wehtun, nachdem, was er uns alles angetan hatte. Nur meine Gefühle gingen in dem Moment hoch und runter. Auf der einen Art tat er mir jetzt leid, dass ich ihn in so eine unangenehme Situation gebracht hatte, denn ich glaube er hatte sich an dem Tag nach uns gesehnt. Und auf der anderen Seite schoss mir immer wieder diese andere Frau durch den Kopf und was er mit uns die ganze Zeit gemacht hat, dieser Betrug! Und deshalb blieb ich bei meiner unhöflichen Gestik, ihm nichts abzugeben von der Suppe, obwohl ich sah, dass er etwas darunter litt. Nach dem Essen wollte ich dann noch mit Feli zum Karussell gehen, welches bei uns in der Nähe gerade aufgestellt war. Und als wir dann losgingen spürte ich, dass Rudolf bestimmt gern mitgekommen wäre. Ich aber tat gar nicht dergleichen und verabschiedete mich vor dem Haus von ihm, was ihm wiederum sehr unangenehm war und ihn fast traurig machte. Das alles tat mir in dem Moment selber so weh, dass es mir schwer fiel meine Tränen vor Feli zurück zu halten. Und ich merkte, wie sie selber ihre Traurigkeit an diesem Tag tapfer überspielte, so wie sie es meistens tat. Vielleicht war es ja auch falsch, dass ich mich jetzt so stur verhielt, doch ich war einfach verletzt, tief verletzt von den Geschehnissen der letzten Monate.
In dieser Zeit der Trennung hatte ich übrigens immer diese starken Gefühle zwischen Liebe und Hass und wusste eine lange Zeit keinen Weg da raus. Das waren Gefühle, die man nicht beschreiben kann. Auf der einen Art habe ich immer auf Rudolf gewartet, dass er uns besuchen kommt und auf der anderen Art konnte ich ihn nicht mehr sehen, weil ich ihn nicht liebevoll gegenübertreten konnte, so wie ich es am liebsten getan hätte. Da war immer diese andere Frau zwischen uns und das machte mich innerlich wütend und zermürbte mich. Was aber eigentlich komisch war, war das, daß ich diese andere Frau trotzdem nie als meine Konkurrentin angesehen hatte, obwohl sie es ja war. Aber ich hatte immer das Gefühl diese Frau konnte mir nicht „das Wasser reichen“. Ich war mir dessen sogar ganz sicher! Es musste also noch einen anderen Grund für das Handeln von Rudolf gegeben haben, irgendetwas war doch da nicht logisch und ich nahm deshalb nicht an, dass er diese Frau mehr liebte als uns. Und doch blieb er bei dieser anderen Frau. Sie muss sich ihm angeboten haben, wie sonst keiner. Denn Rudolf erzählte mir manchmal so einiges über sie, wenn er mal da war. Zum Beispiel das mit dem Fremdgehen, denn sie sagte zu ihm, dass sie damit leben könnte, wenn er das macht. Das war für mich nicht normal und ich konnte darauf nur erwidern, dass so etwas wohl keine Frau auf Dauer toleriert und ich deshalb nicht glauben würde, dass diese Frau die Wahrheit sagt. Und außerdem sagte ich damals noch zu Rudolf: „Wenn diese Frau dich wirklich liebt, dann hält sie das nicht aus!“ Rudolf jedoch meinte nur, dass ich da eine völlig falsche Vorstellung hätte und es wären ja nicht alle Frauen so wie ich!
Dann konnte ich noch aus seinem Reden entnehmen, dass mich diese Frau auch noch schlecht machte, obwohl sie mich gar
nicht kannte. Und Rudolf „blies immer in ihr Horn“ Ich war manchmal schon entsetzt darüber, was in der Zeit unserer Trennung von ihm rüber kam. War Rudolf wirklich so naiv und glaubte dieser Frau alles was sie zu ihrem Vorteil zu ihm sagte? Waren wir etwa gar nichts mehr wert für ihn? Und dann kam immer wieder diese „Hassliebe“ in mir auf, die ich ständig spürte und mit der ich einfach nicht fertig wurde. Wenn Rudolf gerade bei uns zu Besuch war, war ich nicht in der Lage lange vernünftig mit ihm zu reden. Doch jedes Mal, wenn er wieder weg war, war meine Sehnsucht nach ihm so unbeschreiblich groß, dass sie mich fast verzweifeln ließ. Am liebsten hätte ich die Uhr zurück gedreht, bis dorthin, wo alles noch so schön war.
In dieser Zeit der Trennung wusste ich übrigens die Gefühle zu deuten, die ich damals als Kind auf dem Gartenfest in unserem Dorf bei dem Anblick dieses Mannes aus der Kapelle hatte. Diese gemischten Gefühle, die mich all die Jahre nicht los gelassen hatten, an die ich mich immer wieder erinnerte, das waren genau dieselben Gefühle, die ich jetzt erlebte. Und es mag gespenstisch klingen, aber dieser Mann von der Kapelle damals war genau der gleiche Typ wie Rudolf. Ja, er sah ihm sogar sehr ähnlich. Ich fragte mich jetzt, wie so etwas nur möglich sein konnte! Aber ich wusste nur, dass ich das nicht erfunden hatte, sondern, dass es wirklich so war! Wahrscheinlich war dieses Schicksal, was mich mit Rudolf und dieser Scheidung traf, für mein Leben vorprogrammiert. Und deshalb ließen mich jetzt solche Begebenheiten und alles das, was ich in meinen Träumen vorher bereits sah, noch tiefer glauben, dass es für jeden so etwas wie einen vorbestimmten Lebensweg oder auch Schicksal gibt.
Auf jeden Fall aber wollte ich so ein Ereignis wie meine Scheidung, was der zweite große Gefühlseinbruch in meinem Leben nach dem Tod von meiner Schwester Rosalie war, nie wieder erleben. Und ich nahm mir fest vor, meinen Weg jetzt so bewusst zu gehen, dass mir so etwas nie wieder passiert.
Nun litt Feli ja sehr darunter, dass Ihr Vati nicht mehr bei uns wohnte und es zerriss mir fast das Herz. Sie versuchte es manchmal vor mir zu verbergen und tröstete dafür sogar mich, obwohl sie damals erst vier Jahre alt war. Rudolf war nach der Scheidung so ungefähr noch vier oder fünfmal insgesamt in großen Abständen bei uns und kam dann auf einmal nicht mehr wieder. Er hatte später noch eine Weihnachtskarte geschickt und Feli versprochen, dass er ihr ein Geschenk mitbringt, wenn er das nächste Mal kommt. Aber ein nächstes Mal gab es nicht, sie wartete vergebens auf ihren Papa und auf ihr Geschenk.
Feli hat eigentlich meistens versucht ihre Trauer zu verbergen. Aber sie hat auch ein paarmal ganz laut geweint. Dazu kam noch, dass sie wahrscheinlich bei mir auch immer gespürt hat, wie sehr ich selber Ihren Papa noch liebte und auf ihn wartete. Ganz sicher machte es ihr das noch schwerer, denn ich bin von diesem Mann ewig nicht losgekommen. Vier Jahre habe ich immer geglaubt er kommt zurück zu seiner Familie und ließ deshalb niemanden an mich heran, obwohl ich doch eigentlich so schnell wie möglich wieder eine Familie haben wollte. Und vor allem für Feli wollte ich einen neuen Vati. Einen, der sich endlich um sie kümmerte und sie auch lieb hat. Denn nur so hätte sie ihren Vati ein bisschen vergessen können. Deshalb schrieb ich in nächster Zeit auf Partnerschaftsanzeigen und traf mich auch mit einigen Männern. Doch alles klappte nicht, immer war etwas anderes was mir nicht passte, denn ich hatte immer nur Rudolf in meinem Kopf.
Eigentlich hatte ich es damals ja schon geahnt, dass sich Rudolf nach der Scheidung auch von seinem Kind trennt, aber so etwas will man ja immer nicht richtig wahr haben. Und doch bekamen wir in den kommenden Jahren nicht ein Lebenszeichen von ihm, was uns beiden noch lange Zeit sehr wehtat.
Feli ist den Gedanken an ihren Vati, dass er eines Tages zurückkommt, trotz allem nie losgeworden. Sie hat in ihrer gesamten Kindheit immer auf ihn gewartet. Sie war ja etwas ganz besonderes für mich und ich hätte ihr den Wunsch so gern erfüllt, wenn ich gekonnt hätte. Ich hätte ihr jeden Wunsch erfüllt, sogar die Sterne hätte ich ihr vom Himmel geholt, so sehr liebte ich sie. Sie war schon immer das Beste, was mir in meinem Leben passiert war.
Meine Freundin Meike riet mir damals nach der Scheidung, ich sollte doch im Sommer einmal eine Urlaubsreise über Jugendtourist machen, damit ich unter Leute komme und meine Sorgen einmal vergessen kann. Und vielleicht, so sagte sie, lernst Du ja auch aus der Reisegruppe Jemanden kennen. Ich wollte erst nicht so allein verreisen und für Feli war das ja nicht das richtige. Aber ich entschied mich dann doch dafür und flog in meinem Sommerurlaub nach Rumänien. Ich ließ Feli für diese Zeit bei meinen Eltern. Warum ich das damals so gemacht habe, weiß ich allerdings heute auch nicht mehr. Denn eigentlich hatte ich doch Feli nur ganz selten weg gegeben. Wahrscheinlich hatte ich vor der Reise wirklich so große Hoffnung Jemanden kennen zu lernen, um endlich diese traurigen Gefühle los zu werden und wieder richtig leben zu können. Oder ich wollte mich jetzt wirklich einmal frei machen von allem, denn ich bekam Rudolf einfach nicht aus meinem Kopf.
Als ich dann vor der Reise auf dem Flughafen stand, bekam ich ganz schön Angst, denn ich sollte ja das erste Mal fliegen und dann noch allein. Doch es ging alles gut und ich lernte auch zwei Mädchen kennen, die sich eigentlich schon zusammen getan hatten. Ich hielt mich trotzdem etwas an sie. Die eine hieß Sandra und schien es etwas bereut zu haben, dass sie der anderen bereits versprochen hatte mit ihr im Hotel ein Zimmer zu teilen. Denn ich spürte, dass sie mich irgendwie sympathischer fand. Ich hatte dann ein Mädchen im Zimmer, die bei der Aufteilung auch übrig geblieben war. Aber da Sandra und ich uns so gut verstanden, unternahmen wir dann meist zu viert etwas. Sandra war in Bezug Verständnis genau wie ich. Sie konnte auch mal für den andern zurückstecken oder verzichten, sie konnte auf den anderen eingehen und zuhören und war nicht egoistisch und launisch, wie unsere Zimmerkommilitoninnen. Es war schlimm mit den beiden. Sandra und ich gingen deshalb schon bald nur noch allein aus und wir lernten uns dabei näher kennen. So wurde der Urlaub dann doch schön und ich hatte viel Spaß, auch ohne den Mann für’s Leben kennen gelernt zu haben. Für Sandra und mich stand deshalb fest, dass wir uns auch nach dem Urlaub noch sehen wollten. Allerdings sagte sie mir dann nach dem Rückflug auf dem Flughafen, dass sie mich, was ihre Arbeitsstelle anging, etwas belogen hatte. Sie arbeitete in Wirklichkeit nicht als Sekretärin bei der Polizei, wie sie sagte, sondern bei der Staatssicherheit. Und sie fragte mich jetzt, ob mir das etwas ausmachen würde oder ob wir trotzdem zusammen bleiben könnten. Ich hatte ja nun mit diesem „Verein“ schon genug Erfahrung gemacht, vor allem durch Rudolf, weil ja seine Familie schon damit zu tun hatte und er ja auch. Deshalb sagte ich ihr, dass es mir nichts ausmacht, auch, weil ich nichts zu verbergen hatte und wir uns ja so gut verstanden.
Zuhause angekommen freute ich mich, endlich Feli wieder zu haben. Ich hatte eigentlich ein schlechtes Gewissen und vermisste sie im Urlaub sehr. Sie war immer wieder genau das Kind, was ich mir wünschte.
Wir beide haben uns dann nicht lange nach dem Urlaub oft mit Sandra getroffen und viel mit ihr gemeinsam unternommen. Sandra wohnte zwar in einer anderen Stadt, aber sie konnte mit dem Bus zu uns kommen und wir besuchten sie auch einmal. Es passte alles zusammen, wir drei verstanden uns mehr als gut. Denn Feli war ja schließlich auch kein launisches oder bockiges Kind. Mit ihr hatten wir immer unseren Spaß und wir waren ein richtiges Dreiergespann.
Bis die Zeit der Wende kam und die Leute bei uns im Osten auf die Straße gingen und demonstrierten. Das war im Herbst 1989. Damals musste Sandra, weil sie ja als Sekretärin bei der Staatssicherheit arbeitete, oft an den Wochenenden zum Einsatz und hatte deshalb nicht mehr so viel Zeit. Sie musste dort immer die Protokolle zu den Festnahmen von Demonstranten schreiben, denn es wurden in dieser Zeit ganz viele Leute festgenommen und die Gefängnisse füllten sich immer mehr mit politischen Gefangenen. Aber leider waren auch viele Leute darunter, die gar nicht unmittelbar an den Demonstrationen beteiligt gewesen sind, sondern nur schaulustig in Bezug auf die Menschenansammlungen waren. Oder es waren ganz normale Passanten, die von der Arbeit kamen. Bei uns war es nämlich in den Städten mitunter nicht möglich nach der Arbeit nach Hause zu gelangen ohne am Demonstrationszug vorbei zu müssen. Denn zu dieser Zeit hatten noch nicht viele Menschen ein Auto und waren deshalb auf die öffentlichen Verkehrsmittel in der Stadt angewiesen. Und viele dieser Leute gerieten offensichtlich in die Demonstrationszüge, ohne es zu wollen und waren so von den Festnahmen mit betroffen. Vor allem aus den Reaktionen von Polizei und Staatsführung insgesamt eskalierte damals die politische Situation im Osten immer mehr. Es war nämlich nicht die Schuld der Massen von Menschen, die eigentlich nur eine Veränderung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage in der DDR herbeiführen wollten und deshalb so friedlich demonstrierten, dass diese Demonstrationszüge später vor allem aus diesem Blickwinkel heraus in die Geschichte eingegangen sind. Nein, die gesamte politische Situation eskalierte vor allem deshalb, weil Staat und Regierung die Beherrschung verloren und plötzlich gegen das Volk schlugen, gegen „Ihr eigenes Volk“ und damit die Ausbreitung der Demonstrationszüge noch provozierten. Vor allem deshalb kam es später dazu, dass die Forderungen zur Verbesserung der Lage im Land dann die Öffnung der Grenzen zwischen Ost und West nach sich zog.
Und das war im November 1989. Die Politik der DDR war nicht mehr aufrecht zu halten. Die Grenzen der Teilung Deutschlands wurden zuerst am „Brandenburger Tor“ in Berlin geöffnet. Und mit solch einem Ausmaß, mit einer derart gewaltigen Revolution hatte allerdings bis zuletzt Niemand gerechnet.
In der Zeit dieses politischen Umschwungs konnten Sandra und ich mit unseren politischen Auffassungen nicht zusammen
kommen. Wir führten teilweise heftige Diskussionen und ich wollte das ja eigentlich nicht mehr, weil ich das mit Rudolf schon immer durch hatte. Sandra war nämlich der Meinung, die Menschen bei uns im Osten wüssten gar nicht, wie gut es ihnen ginge und sie wüssten das Leben bei uns nicht zu schätzen. Ich sah das etwas anders, denn ich dachte immer an die vielen Menschen, die in den Gefängnissen saßen, nur weil sie Ihre Meinung nicht offen sagen durften, denn schließlich stimmte es ja, dass es bei uns in den letzten Jahren wirtschaftlich immer mehr bergab ging. Und aus diesen unüberwindlichen Ansichten heraus brach der Kontakt zwischen Sandra und mir bald ab. Ein paar Monate später schrieb sie mir aber zu meinem Geburtstag noch eine Glückwunschkarte, über die ich mich zwar freute, für die ich mich jedoch nicht einmal bedankte, weil ich dachte, dass unsere Beziehung so eh keinen Sinn hätte. Ein paar Jahre später allerdings bereute ich meine Entscheidung sehr und ich kam mir im Nachhinein schäbig vor, weil ich nicht einmal Dankeschön gesagt hatte. Denn ich wusste, dass Sandra ein Mensch war, der vom eigentlichen Charakter her genau zu mir gepasst hat. Ich hatte vorher noch nie so eine Freundin, die nicht nur immer an sich dachte. Heute weiß ich, in dem Moment, wo man so etwas hat, weiß man das Gute scheinbar nicht zu schätzen. Meist ist es zu spät, wenn man es erkennt.
Ich habe später einmal einen Spruch gelesen, der besagte, dass es sehr schwer ist das Glück fest zu halten und zu leben, was man gerade besitzt, weil man es nicht erkennt!
Die schwer wiegende Bedeutung dieses Spruches konnte ich jetzt ermessen!