Читать книгу 1 Dem Urvertrauen auf der Spur - Linda Vera Roethlisberger - Страница 7

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Urvertrauen – der Schlüssel zu einem Leben in Fülle

„Die irrationale Fülle des Lebens hat mich gelehrt, nie etwas zu verwerfen, auch wenn es gegen alle unsere Theorien verstößt oder sich sonst wie als unerklärlich erweist. Man ist dadurch zwar beunruhigt; man ist nicht ganz sicher, ob der Kompass richtig zeigt, aber in Sicherheit, Gewissheit und Ruhe macht man keine Entdeckungen.“

C. G. Jung

Vertrauen ist ein komplexes Gebilde. Wir wissen instinktiv, wie es sich anfühlt, vertrauensvoll auf das Leben und unsere Mitmenschen zuzugehen. Da weht Freiheit mit – Handlungsmöglichkeiten, Entscheidungsspielraum, Sich-Einlassen, Fülle. Und wir wissen auch, wie es sich anfühlt, wenn Vertrauen zerstört wird – wenn das Gebäude unserer Gedanken und Gefühle, das Konstrukt unseres Lebens im Bruchteil eines Augenblicks einstürzt. Es kann Jahre dauern, es wieder aufzubauen.

Vertrauen ist zukunftsbezogen und zugleich ein Ergebnis unserer Vergangenheit, ein Zustand zwischen Wissen und Nicht-Wissen, fragil bis unumstößlich, verwoben mit Urgefühlen und frühesten Erfahrungen. Mitunter ist es zerstörerisch, es macht uns angreifbar, lässt uns erkennen, dass wir das Außen nicht kontrollieren können und oftmals falsch einschätzen. Und doch sind wir in höchstem Maße auf Vertrauen angewiesen, wenn wir ein gelingendes Leben führen möchten und aus der Fülle, nicht aus der Angst agieren wollen.

Auf der Palette des Urvertrauens, dem wir uns weiter unten zuwenden, ist das Vertrauen eine der Grundfarben. Andere Nuancen sind das Sich-verlassen-Können, die Zuversicht, Hoffnung, das Zutrauen, der Glaube, Auf-etwas-Bauen und, feiner noch, das Selbstvertrauen. Entsprechend haben sich Philosophen, Soziologen, Psychologen, Pädagogen, Geistliche, Politologen und viele mehr intensiv mit dem Thema des Vertrauens auseinandergesetzt. Auf einer eher rationalen Ebene beschreibt Vertrauen die Erwartung, durch Handlungen anderer keine Benachteiligung zu erfahren, wobei mit „andere“ sowohl Menschen als auch Systeme gemeint sein können. Insofern geht Vertrauen mit der Verantwortung des anderen einher: Ich setze Vertrauen in den Staat, der seinen Verantwortungen nachkommen muss. Ich setze Vertrauen in einen Lehrer, meinen Partner, einen Mitarbeiter, mein Kind, die Autowerkstatt, den Gemüsebauer und, und, und … Dieses Vertrauen kann ein reines „Sich-Verlassen“ sein, es kann sich aber auch mit Erwartungen mischen und die Sache verkomplizieren – wie immer, wenn wir etwas erwarten und damit die Hoffnung in das Außen setzen, unsere (oft nicht mal formulierten) Wünsche zu erfüllen. Nicht erfüllte Erwartungen wie auch gebrochenes Vertrauen rufen das Misstrauen auf den Plan, und wenn wir zurückblicken, erkennen wir, dass Vertrauen und sein Gegenspieler, das Misstrauen, zwei Pole sind, zwischen denen wir uns in unserem von Unsicherheit und Wagnissen bestimmten Leben bewegen und immer wieder zum Wachsen aufgefordert werden.

Schon Seneca sagte:

Mangelndes Vertrauen ist nichts als das Ergebnis von Schwierigkeiten. Schwierigkeiten haben ihren Ursprung in mangelndem Vertrauen.

Was tun? Einfach so mal schnell vertrauen, um Schwierigkeiten zu vermeiden? Das klingt nach Wagnis, insbesondere in einer Zeit, in der Moral und Ethik an Wert verlieren und die offene Lüge eine Renaissance erlebt.

Eine „Ethik des Vertrauens“ hat denn auch Philosophen wie Aristoteles, Schopenhauer, Nietzsche, Locke und viele andere beschäftigt, sind es doch existenzielle Erfahrungen, mit denen die Philosophie sich auseinandersetzt. Und Vertrauen ist existenziell: Setzen wir unser Vertrauen in den Falschen, kann uns das unserer Lebensgrundlage berauben, uns die Gesundheit kosten, uns entwurzeln. Ohne jedes Vertrauen aber wären wir wie gelähmt, und das sogar im Wortsinn. Schon das Laufenlernen braucht Vertrauen, und so ist es mit der Philosophie und dem Leben an sich: Wir tun physische oder geistige Schritte, die uns weiterbringen, dem Unbekannten entgegen, auf dass uns etwas begegnet, das Halt gibt, Sinn stiftet.

Begeben wir uns tiefer in den Begriff des Vertrauens hinein, spüren wir, wie verwoben er mit all unseren Handlungen ist. Vertrauen durchdringt sämtliche Lebensbereiche. Viele unserer Entscheidungen erfordern Vertrauen: Wofür entscheiden wir uns, wenn wir eine Alternative haben – wohin gehen wir als Nächstes, wer begleitet uns, welchen Weg schlagen wir allein oder gemeinsam ein? Wir wollen im Leben Schmerz vermeiden und glücklich sein – das ist es, was unseren Handlungen zugrunde liegt und uns alle eint. Ist es nun unser Vertrauen, das an unseren Handlungen maßgeblich beteiligt ist, oder ist es die Angst, das Vermeiden-Wollen von Schmerz und Enttäuschung?

Wahrscheinlich beides – denn zwischen Angst und Vertrauen wächst unsere Persönlichkeit. Beide formen uns, wie den Klumpen Ton, der Gestalt annimmt; sie schaffen aus dem Spannungsfeld zwischen Vertrauen und Misstrauen das Individuelle, mit all seiner Schönheit und seinen Narben.

Mangelndes Vertrauen schränkt ein, Freiheit hingegen, ob persönliche oder die unserer Gesellschaft, bedingt Vertrauen und umgekehrt. Unsere persönliche Freiheit endet dort, wo sie anderen Schaden zufügt. Zugleich müssen wir uns verlassen können auf andere, dass sie uns nicht schaden wollen. Wir leben nach Regeln – wer diese außer Kraft setzt, greift nicht nur uns, sondern auch unsere Freiheit an. Gerade in diesem Bereich erleben wir in der heutigen Zeit immer wieder Angriffe, die uns zutiefst verunsichern. Im Straßenverkehr, der so viele Opfer fordert, lassen wir Vorsicht walten – aber wir sind nicht darauf vorbereitet (gewesen), dass ein Terrorist ein Auto absichtsvoll in die Menge steuert. Solche Taten sind ein Angriff auf das Leben und die Freiheit zugleich.

Diese Angriffe sind in ihrer Essenz nichts Neues. Erinnern wir uns an das Vertrauen, das viele Ureinwohner den Eroberern der Neuen Welt entgegenbrachten: Als naiv verschrien, wurden sie ausgebeutet und niedergemetzelt, während sie keine Vorstellung davon hatten, wie schändlich ihr Vertrauen missbraucht werden konnte.

Vertrauen und enttäuschtes oder gar missbrauchtes Vertrauen gehen mit starken Gefühlen einher. Und so wollen wir den Begriff des Vertrauens eben auch auf einer emotionaleren Ebene betrachten.

Ein Vertrauensmissbrauch hohen Ausmaßes schürt Angst, und doch ist die Angst ein schlechter Ratgeber.

Wo Angst ist, ist kein Vertrauen, und wo kein Vertrauen ist, kann nichts gedeihen, sich nichts bewegen.

Wer aber vertraut, verzichtet zu einem gewissen Maß auf Kontrolle – etwas, das der sicherheitsbedürftige Teil ins uns gar nicht mag. Und dennoch entscheiden wir uns immer wieder, zu vertrauen, denn wir wissen instinktiv oder aus Erfahrung, dass Vertrauen uns weiterbringt. Uns stehen mehr Möglichkeiten offen, die mehr Fülle versprechen. Das Prinzip von Versuch und Irrtum, Erfolg und Nichterfolg eröffnet uns das weite Feld des Ausprobierens, um zu neuen Lösungen zu gelangen, und die Evolution lebt es uns vor.

Was den rein emotionalen Bereich betrifft, eröffnet uns das Vertrauen die wundersame Welt der Beziehungen zu anderen Menschen: sich vorwagen, sich fallen lassen, Geborgenheit, Liebe … Stellen wir uns für einen Moment eine Gesellschaft vor, in der wir bedingungslos vertrauen können – uns selbst, unseren Entscheidungen, den Menschen, die uns nahestehen, Fremden, Institutionen – ein Paradies, gegründet auf Empathie, Mitgefühl, gegenseitiger Verantwortung …

Und wie so oft liegt dieses Paradies in uns.

Das Vertrauen ist etwas so Schönes, dass selbst der ärgste Betrüger sich eines gewissen Respektes nicht erwehren kann vor dem, der es ihm schenkt.

Marie von Ebner-Eschenbach

Doch unsere Erde ist ein Lernplanet, und oft entwickeln wir uns dann am meisten, wenn wir herausgefordert werden. Plötzlich erleben wir die Schattenseiten der menschlichen Natur – Betrug, Arglist, Zweifel, Neid … – und müssen erkennen, dass unser Vertrauen missbraucht wurde.

Wir fühlen uns hintergangen, verletzt, in unserem Selbstwert, unserem Kodex, unserer Weltsicht erschüttert. Das gilt für gebrochenes Vertrauen jeder Art: in Lebenspartner, in Geschäftspartner, in uns selbst, unsere Gesundheit, unsere Talente. Der Missbrauch unseres Vertrauens wird Narben hinterlassen, und die Widerstandskraft unserer Persönlichkeit bestimmt mit darüber, ob wir uns von diesem Schlag erholen oder ob in unserem Leben fortan die Angst vor Schmerz und Enttäuschung (mit-)regiert. Oft verlieren wir in solchen Situationen das Vertrauen in uns selbst, denn wir erkennen, dass wir Vorstellungen hatten, die nicht der Realität entsprachen, dass wir Anzeichen und Vorboten missachtet, überhört, falsch eingeschätzt haben. Wenn wir aber uns selbst und unseren Wahrnehmungen nicht mehr trauen (können), sehen wir unseren Weg nicht mehr und wissen nicht, wohin wir unsere nächsten Schritte setzen sollen. Wir wollen uns in unseren Kokon zurückziehen, und manchmal müssen wir das auch, um unseren eigenen Anteil am Scheitern zu erkennen, um Wunden heilen zu lassen und unsere Optionen neu zu überdenken. Das Maß unseres Urvertrauens entscheidet darüber, ob wir diesen Kokon fester mit den Fäden der Angst verweben oder ihn sprengen und – verwandelt – ins Leben zurückkehren. Ob wir Alchemisten sind, die all die zerbrochenen Träume, die Enttäuschungen, die Resignation verwandeln und eine wahre Metamorphose erleben.

Der Begriff des Urvertrauens (basic trust) wurde geprägt von dem Psychoanalytiker Erik H. Erikson, ein Schüler Freuds, der 1933 in die USA emigrierte und in Harvard und Berkeley lehrte. Insofern ist es ein recht neuer Begriff, wenngleich seine spirituelle Ebene, wie wir in Kapitel 2 sehen werden, seit Jahrtausenden von Bedeutung ist.

Die Wurzeln des Urvertrauens nach Erikson reichen zurück in die früheste Kindheit. Eine gesunde Persönlichkeit braucht Urvertrauen, um sich zu entwickeln: emotionale Sicherheit, das Erfüllen von Bedürfnissen, Verlässlichkeit und Ermutigung.

Als Neugeborene sind wir hilflos und völlig auf andere angewiesen. Die Evolution hat einiges hervorgebracht, um die Versorgung von Säuglingen und Kleinkindern zu gewährleisten – biologisch vorprogrammierte Signale, die einerseits vom Kind selbst ausgesendet und andererseits vom Erwachsenen beantwortet werden. Vom Kindchenschema über sein Geschrei bis hin zum Lächeln verfügt das Baby über ein ganzes Paket von Eigenschaften, um das gewünschte Verhalten in Erwachsenen hervorzurufen. Doch nicht immer wird das Baby entsprechend gehört.

Zwischen den frühkindlichen Bedürfnissen und der Welt außen besteht eine Schnittstelle – aus der Art und dem Maß heraus, wie die Außenwelt auf die Bedürfnisse des Kindes antwortet, entsteht eine Grundhaltung, die sich auf das gesamte weitere Leben auswirkt und es fortan durchzieht. Werden die Bedürfnisse von der Außenwelt erfüllt, erlebt das Kind Geborgenheit und wachsendes Vertrauen. Nahrung, Wärme, Schutz, körperliche Nähe, ein liebevolles Ambiente, Sicherheit – all das befeuert das Urvertrauen und lässt es gedeihen. Erlebt ein Kind hingegen Vernachlässigung, Unzuverlässigkeit, Drohungen und Versagungen und hat keine stabilen Bezugspersonen, wird das Wachstum von Vertrauen behindert, und Misstrauen, Ängste, Unsicherheit bis hin zu Verhaltens- und Entwicklungsstörungen entstehen. Beides hat Folgen. C. G. Jung wies darauf hin, dass das Leben die „Geschichte einer Selbstverwirklichung des Unbewussten“ ist: „Alles, was im Unbewussten liegt, will Ereignis werden.“ Ob Vertrauen oder Angst – das spätere Leben ist Ausdruck dessen, was früh angelegt wurde. Jedes Kind wird im Laufe seines Heranwachsens immer wieder mit enttäuschten Erwartungen konfrontiert werden – wichtig ist jedoch, dass das Vertrauen überwiegt: Dann lernt es, mit Frustration umzugehen, eigenständig zu werden, sich gesund abzugrenzen und das eigene Ich zu entwickeln.

Urvertrauen ist wie ein Samen, der durch menschliche Wärme und Sorgfalt zum Keimen gebracht wird und die Persönlichkeit zum Erblühen bringt.

Doch kann wirklich nur derjenige Urvertrauen entwickeln, der es als kleines Kind auch kennengelernt hat? Die Metapher eines Samenkorns, das zum Keimen gebracht wird, beinhaltet die Vorstellung, dass „etwas“ bereits da war – und somit in uns allen angelegt ist: eine tiefere Schwingung, ein „Ur“-Urvertrauen als Teil unserer menschlichen Anlagen. Auf dieser Ebene bewegen wir uns in den Bereich des Spirituellen, der geistigen Anerkennung des Seins.

Der trilogische Ansatz vereint das Rationale (IQ), das Emotionale (EQ) und das Spirituelle (SQ). Wenden wir uns also im nächsten Kapitel dem spirituellen Aspekt des Vertrauens zu.

Vertrauen ist eine Oase im Herzen, die von der Karawane des Denkens nie erreicht wird.

Khalil Gibran

1 Dem Urvertrauen auf der Spur

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