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3.1.2 Forschung kommunikativer Gattungen

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Gattungsforschung rückt seit der Entwicklung der Theorie kommunikativer Gattung von Luckmann (1986) zunehmend in das Interesse sowohl der soziologischen als auch der linguistischen Forschung. In zahlreichen Untersuchungen hat sich die soziologische Gattungsanalyse als fruchtbar erwiesen (Günthner/Knoblauch 1994).

Eine der ersten, auf natürlichen Gesprächen basierenden Untersuchungen stellt die Studie Bergmanns (1987) über Klatschgespräche dar. Mit ethnomethodologischer Konversationsanalyse wirft er einen neuen Blick auf diesen Gegenstand. Klatschgespräche als rekonstruktive Gattungen der alltäglichen Kommunikation werden in seiner Forschung als „Sozialform der diskreten Indiskretion“ zusammengefasst. Mit „Sozialform“ ist die Einbettung dieser spezifischen Interaktionsform in die Gesellschaft gemeint. Bergmann (1987) verdeutlicht anhand transkribierter Daten ein Muster der sequenziellen Organisation, in dem sich diese kommunikative Gattung realisiert und reproduziert. Eine Besonderheit dieser kommunikativen Gattung besteht in ihrer Mischung von Diskretion und Indiskretion.

Ulmer (1988) thematisiert Konversionserzählungen auf der Grundlage von 10 Gesprächen mit Konvertiten, in denen diese eine mündliche Darstellung ihrer eigenen Konversion geben. Ausgehend von der Hypothese, dass Konversionserzählungen eine rekonstruktive Gattung bilden, in der vergangene Ereignisse nach einem in der Gesellschaft formalisierten und verfestigten Muster nachgebildet werden, führt er eine empirische Untersuchung mit Hilfe der konversationsanalytischen Methode durch. In der auf rekonstruierten Beispielen basierenden Darstellung verdeutlicht er, dass die Konversionserzählung in drei zeitliche und thematische Teile gegliedert wird. Erstens bezieht es sich auf die Darstellung der vorkonversionellen Biographie. Im Anschluss daran wird das eigentliche Konversionsereignis produziert. Schließlich endet die Konversionserzählung mit der nachkonversionellen Lebensphase. Ferner weist Ulmer (1988) auch darauf hin, dass diese Dreigliederung der Konversionserzählung einem zentralen kommunikativen Problem in dieser Sozialsituation zugrunde liegt. Nach Ulmer (1988) besteht die Schwierigkeit für die Konvertiten darin, „die persönliche religiöse Erfahrung, die vom Erzähler als Ursache und Anlass der eigenerlebten Konversion geltend machen wird, auf plausible und glaubwürdige Weise darzustellen und intersubjektiv zu vermitteln“ (Ulmer 1988: 31). Die Struktur der Konversionserzählung, die gesellschaftlich sedimentiert und historisch gewachsen ist, gewährleistet die Lösung dieses Problems.

Eine umfassende und systematische Studie über informelle kommunikative Gattungen in der Alltagsinteraktion stellt Günthners (2000c) linguistische Arbeit zum Thema Vorwurfsaktivitäten dar. Das Ziel der Untersuchung besteht darin, „diejenigen Verfahren zu rekonstruieren, die von Interagierenden eingesetzt werden, um den Sinngehalt ihrer Äußerungen erkennbar zu machen bzw. zu erkennen“ (Günthner 2000c: 2). Ausgehend davon wird in ihrer empirischen gesprächsanalytischen Untersuchung anhand 58 aufgezeichneter Gespräche in Familien- und Wohngemeinschaften sowie Telefongesprächen unter Bekannten und Freunden hauptsächlich zwei Ebenen nachgegangen. Einerseits analysiert sie die sprachlichen Formen und Funktionen der alltäglichen Vorwürfe. Andererseits widmet sie sich der Untersuchung kontextuell instituierter interaktiver Herstellung von Gattungen. Das heißt, die Analyse sprachlicher Merkmale der Gattung (z.B. syntaktische, lexikosemantische, prosodische, rhetorisch-stilistische Phänomene) wird nicht isoliert und in dekontextualisierter Form, sondern in Zusammenhang mit der Konstruktion der kommunikativen Muster durchgeführt.

Konkret untersucht Günthners (2000c) Studie drei Realisierungsformen der Vorwürfe:

 Die kommunikative Gattung der in-situ-Vorwürfe. Das sind diejenigen Vorwürfe, die ein Sprecher im momentanen Gesprächsverlauf als Kritik am Verhalten des Gesprächspartners äußert. Bei der Interpretation spielen Intonation, Lautstärke, Stilisierungsverfahren usw. eine bedeutende Rolle.

 Die kleine Gattung der Frotzeleien. Damit sind spielerisch-spaßhafte Vorwurfsaktivitäten gemeint. Dabei wird zwar auch Kritik am Verhalten anwesender Personen geübt, aber die Kritik wird mit der Spiel- und Spaßmodalität geäußert.

 Die narrative Gattung der Beschwerdegeschichten. Hier handelt es sich um Rekonstruktionen vergangener Vorwurfsinteraktionen in Alltagserzählungen. Konfliktgespräche zwischen dem Erzähler und einer abwesenden Person werden wiedergegeben. Zur Markierung der Erzählereinstellungen und der fremden Reden werden unterschiedliche sprachliche Elemente und Stilisierungsverfahren eingesetzt.

Günthner (2000c) verdeutlicht in ihrer empirischen Untersuchung, dass die obengenannten kommunikativen Gattungen der Vorwurfsaktivitäten auf bestimmte Verfestigungen verweisen, sowohl auf der Ebene der sprachlichen Merkmale, als auch im Hinblick auf die interaktive Konstruktion der sprachlichen Handlungen. Diese formalisierten Formen gelten als Gattungen, die den Handelnden für die Lösung kommunikativer Probleme in der Alltagsinteraktion zur Verfügung stehen.

Während am Anfang der sprachsoziologisch orientierten Gattungsforschung vor allem sprachliche Handlungen in Alltagsinteraktion den Mittelpunkt bilden, werden später institutionelle kommunikative Vorgänge zunehmend ins Blickfeld genommen. Birkner (2001) widmet sich z.B. der Forschung der Bewerbungsgespräche zwischen Ost- und Westdeutschen. Mit den Methoden der Konversationsanalyse und der wissenssoziologischen Gattungsanalyse untersucht sie, ob sich in dem Bewerbungsgespräch rekurrente Unterschiede im sprachlichen Verhalten von Ost- und Westbewerbern feststellen lassen. Demzufolge führt sie zwei Forschungsstränge zusammen: die Analyse sprachlicher Merkmale bei der Realisierung des Bewerbungsgesprächs als eine institutionelle kommunikative Gattung einerseits und den Vergleich von Ost- und Westbewerbern andererseits. Ihr Korpus besteht aus 41 authentischen Bewerbungsgesprächen sowie Rollenspielen und Interviews mit Personalverantwortlichen.

In Anlehnung an Luckmanns (1986: 203) Differenz der drei Strukturen für die Gattungsanalyse (Binnenstruktur, Zwischenstruktur und Außenstruktur) analysiert Birkner (2001) zuerst das Bewerbungsgespräch als Gattung. Merkmale wie spezifische Strukturen, Formalität, kommunikative Ziele usw. werden anhand des vorhandenen Datenmaterials illustriert. Anschließend werden drei Punkte in Bezug auf Ost/Westdifferenzen besonders ins Auge gefasst:

 die Aushandlung von Gattungswissen

 Antworten auf typische Fragen

 der Umgang mit Nichtübereinstimmung im Gespräch.

Die Analysen zeigen, dass es im Bewerbungsgespräch zwischen einem Ostdeutschen und einem westdeutschen Interviewpartner häufig eine interaktive Bearbeitung von Gattungswissen gibt. Für die Ostdeutschen, die Neulinge auf dem westdeutsch dominierten Arbeitsmarkt sind, bedeutet das Bewerbungsgespräch in westdeutscher Prägung eine große Menge von neuen kommunikativen Normen und Regeln. Probleme, die durch das Fehlen des Gattungswissens entstehen, werden dann im Bewerbungsgespräch durch die interaktive Aushandlung sowie die Deutung des westdeutschen Interviewpartners bewältigt. Bei den Anworten auf typische Fragen im Bewerbungsgespräch (z.B. Selbstattributierung, Gehalt) verweisen Ost/Westdifferenzen nicht nur auf das Gattungswissen, sondern auch auf die konversationellen Stile. Während Westdeutsche zu einer direkten Anwort tendieren, zeichnen sich Ostdeutsche dagegen durch ihre Indirektheit aus. Im Umgang mit Nichtübereinstimmung bestehen auch auffällige Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Die westdeutschen Bewerbenden wählen häufig einen dissensorientierten Gesprächsstil. Im Gegensatz dazu zeigen sich die ostdeutschen Bewerber eher als konsensorientiert.

Im deutschsprachigen Raum beschränkt sich die linguistische Gattungsforschung nicht auf Gattungen in der deutschen Kultur. Das Forschungsinteresse richtet sich auch auf kommunikative Vorgänge in anderen Kulturen. Kotthoff (1999) analysiert beispielsweise Trinksprüche im Kontext der sozialen Veranstaltung des geselligen Beisammenseins in Georgien. Mit gesprächsanalytischer Methodik zeigt sie das Ritual dieser spezifischen kommunikativen Gattung auf. Die georgischen Trinksprüche sind von einer Abfolge von Handlungen, die in gleicher oder ähnlicher Weise mündlich aufgeführt werden, geprägt. Diese kommunikativen Handlungen sind kulturspezifisch sedimentiert. Zugleich weist die Autorin in ihrer Studie auch darauf hin, dass die Trinksprüche als eine spezifische kommunikative Gattung innerhalb einer Kultur neben den obligatorischen Elementen auch Variationen erlauben (Kotthoff 1999). Nach ihren empirischen Untersuchungsergebnissen können die Trinksprüche „Gebetsformeln, Narrationen, Scherze, Segnungen, Anrufungen an Gott usw. integrieren und dadurch eine je spezifische Nähe zu anderen Gattungen herstellen“ (Kotthoff 1999: 28). Bezogen auf die Funktion zieht sie aus ihrer Untersuchung die Schlussfolgerung, dass die Trinksprüche eine relevante Gattung der „moralischen Kommunikation“ (Kotthoff 1999: 35) sind. Anhand transkribierter Daten weist Kotthoff (1999) auf die implizite oder explizite Vermittlung moralischer Werte in den Trinksprüchen hin.

In Anbetracht der bisherigen Gattungsforschung ist zu beobachten, dass das Konzept der „kommunikativen Gattung“ sich in der linguistischen Forschung auf uneinheitliche Dimensionen bezieht. Während es bei Bergmanns (1987) Klatschgesprächen, Ulmers (1988) Konversionserzählungen und Birkners (2001) Bewerbungsgesprächen um das ganze Gespräch geht, handelt sich es bei Günthners (2000c) in-situ-Vorwürfen, Frotzeleien und Beschwerdegeschichten um Vorwurfsaktivitäten, die ein Sprecher im momentanen Gesprächsverlauf verwendet. Ob unter dem Konzept der „kommunikativen Gattung“ das ganze Gespräch oder ein Teil des Gesprächsverlaufs zu verstehen ist, hängt von der begrifflichen Definition des sprachwissenschaftlichen Gattungskonzepts ab.

In der vorliegenden Arbeit wird eine besondere kommunikative Gattung, „Tandemgespräche“, die zwischen alltäglichen Gesprächen und Unterrichtsinteraktionen stattfindet, untersucht. Dabei stütze ich mich auf ein umfangreiches Datenmaterial. Bevor ich die Tandemgespäche thematisiere, seien im Folgenden die Merkmale der Alltagsgespräche und der Unterrichtsinteraktionen dargestellt.

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