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PROLOG

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Duncan MacDougall saß am Krankenbett und starrte ohne Unterlass auf die Skala der am Bett installierten Waage. Der Patient war bereits sehr schwach. Sein Brustkorb hob und senkte sich kaum sichtbar. Er würde heute noch an seiner Tuberkulose sterben. MacDougall konnte nichts mehr für ihn tun, nur warten und die Waage beobachten. Nach dem Tod des Patienten würde der Physiker MacDougall seine Versuche an sterbenden Menschen abgeschlossen haben.

Sechzehn Uhr. MacDougall sah, wie der Zeiger der Waage plötzlich mit einem Ruck um einundzwanzig Gramm fiel. Er stand auf, fühlte den Puls des Patienten und stellte fest, dass Carl Muller, so hieß der Patient, am 14. Februar 1902 um Punkt sechzehn Uhr verstorben war. In der Sekunde seines Todes hatte der Körper des Sterbenden genau einundzwanzig Gramm Gewicht verloren. Es war das, was der Physiker erwartet und was er auch bei anderen Patienten zuvor bereits festgestellt hatte. Er schloss daraus, dass Carl Mullers Seele ebenso wie die der anderen Patienten ein Gewicht hatte, nämlich einundzwanzig Gramm. Bei seinem Tod hatte sie den Körper verlassen und befand sich nun irgendwo außerhalb, befreit von weltlicher Materie.

Ob der Tote aus Bad Reichenhall, der jetzt bei Professor Armbruster in der Rechtsmedizin in München lag, ebenfalls einundzwanzig Gramm seines Körpergewichts verloren hatte, als seine Seele in die Freiheit entwich, ist nicht bekannt, denn es wurde nicht untersucht. Kein Wunder, denn die Forschungsergebnisse des Physikers MacDougall waren von Anfang an umstritten, und seine 21-Gramm-These wurde von späteren Wissenschaftlern nicht mehr aufgegriffen. Und auch der Christi-Himmelfahrt-Tag drei Tage zuvor war keine Garantie dafür, dass die Seele den Ermordeten verlassen und dem in den Himmel aufgefahrenen Christus gefolgt war.

Der Tote auf Professor Armbrusters Tisch war am 1. Juni 2019 um 20.15 Uhr verstorben. Die Bad Reichenhaller Fußgängerzone war an diesem Samstagabend nicht mehr voller Menschen gewesen, aber doch noch belebt, es war ein warmer Frühlingsabend. Ein Pärchen eilte Hand in Hand zum Park-Kino in die Axelmannstein-Kolonnaden, um den Beginn des Films nicht zu verpassen. Sie hatten sich so auf den »Rocketman« gefreut, Elton Johns Lebensgeschichte als Musical. Und nun waren sie schon fast zu spät dran. Als sie auf den Eingang des Kinos zuliefen, hörten sie ein Geräusch, einen seltsam unpassenden Knall. Gleichzeitig brach auf der Terrasse des in unmittelbarer Nähe gelegenen Hotels Axelmannstein helle Panik aus. Menschen schrien, warfen sich zu Boden. Ein Wunder, dass außer dem Opfer kein weiterer Mensch zu Schaden kam. Der Tote war ein angesehener Mediziner aus Berlin. Doch das hatte ihm offenbar auch nicht geholfen, der Tod war selbst für ihn unausweichlich gewesen.

Es klirrte, als Professor Armbruster den Fremdkörper, den er gerade aus der Brust des Opfers entfernt hatte, von seiner Pinzette in eine Petrischale fallen ließ: die Kugel, die ein Unbekannter abgefeuert hatte. Sie wog genau elf Gramm und hatte mitten ins Herz getroffen. Alles deutete auf einen extrem guten Schützen und auf einen exakten Plan des Täters hin, der wie ein Uhrwerk funktioniert hatte. Ein Rädchen hatte ins andere gegriffen und dem Opfer keine Chance gelassen, seinem Mörder zu entkommen. Der Schütze musste weit weg gestanden haben, sonst hätte das Projektil den Körper durchschlagen und wäre nicht mitten im Herzen stecken geblieben. Jede Hilfe war für ihn zu spät gekommen.

Kurschatten-Affäre

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