Читать книгу Valla - Zwischen Hölle und Fegefeuer - Lisa Lamp - Страница 6

Оглавление

Kapitel 1


Warum regst du dich so auf? Wenn du mit mir schlafen willst, dann sag es einfach! Oder hör auf, dich zu beschweren, was ich mit anderen tue. Diese Show ist selbst für deine Verhältnisse lächerlich!«, schrie Elijah mir lachend entgegen und erntete von den umstehenden Mitschülern regen Zuspruch.

Die Mädchen um ihn kicherten, seine Freunde grölten und irgendwer gab ein anzügliches Pfeifen von sich. Sie fanden Elijahs Worte schlagfertig und feuerten ihn wie einen Helden an, der ein Monster in die Flucht geschlagen hatte. Leider war ich in diesem Fall das Monster. Waren sie nicht irgendwann davon genervt, ihn anzuhimmeln und mich wie eine Aussätzige zu behandeln?

Ich hatte für ihn nur ein müdes Lächeln übrig. Jeden Tag dieselbe Scheiße. Ich war es leid, mich mit dem Obermacker der Teufelsanwärter zu zanken. Es war vergeudete Zeit und vermieste mir den Tag. Immer wieder nahm ich mir vor, mich nicht provozieren zu lassen und ihn zu ignorieren, doch das war fast so wie zu versuchen, nicht mehr zu atmen. Ein paar Augenblicke war es erträglich, aber dann wurde der Drang, nach Luft zu schnappen, übermächtig und man musste ihm nachgeben.

Auch heute hatte ich es wieder nicht geschafft, meinen Mund zu halten. Ich hatte mich mit Silvania an einen der hintersten Tische im Klassenzimmer gesetzt, in mein Sandwich gebissen und es gleich darauf wieder ausgespuckt. Anfangs hatte mich Elijahs Anwesenheit nicht gestört. Natürlich war es zum Haareraufen, dass wir gezwungen waren, im gleichen Raum zu sitzen. Aber das war auszuhalten. Manchmal. Ich hatte ihn kaum bemerkt. Es geschah schließlich nichts Ungewöhnliches. Teufelsanwärter waren dafür bekannt, über die Stränge zu schlagen und sich der Wollust hinzugeben. Kein Wunder, sie nahmen an, sich alles erlauben zu können, nur weil sie von Luzifer persönlich abstammten. Dass Dämonen eigentlich die Arbeit in der menschlichen Welt erledigten, wurde dabei ignoriert.

Zur Abwechslung war es jedoch nicht seine Großkotzigkeit wegen seiner Herkunft, die mich in Rage versetzt hatte, sondern sein unerreichbarer Egoismus. Der Nacken einer schwarzhaarigen Dämonin, die rittlings auf seinem Schoß gesessen hatte, war von seinen Lippen liebkost worden. Ihre Hände waren auf seine Brust gestützt gewesen und den Kopf hatte sie genüsslich nach hinten gelegt. Ihre Krallen waren in sein Hemd gebohrt, dessen ersten drei Knöpfe weit offenstanden und eine gute Sicht auf seine rasierte Brust freigaben. Die Dämonin hatte wie eine Pornodarstellerin gestöhnt, als Elijah ihren Hals abgeschleckt und seine Lippen auf ihre gedrückt hatte. Grob hatte er seine Hand in ihrer Haarpracht vergraben und an den einzelnen Strähnen gezogen, um den Kopf beim Kuss zu navigieren. Liebevoll wirkte es nicht, dennoch erfüllte das Keuchen der Frau den Raum, sodass das Schmatzen der Essenden übertönt wurde. Wobei die meisten die Freistunde sowieso nicht mehr nutzten, um zu essen, sondern dem Geschehen folgten und gafften, als wären wir im Zirkus und die beiden Küssenden die Hauptattraktion. Widerlich!

Das rote Kleid der Schwarzhaarigen hatte zwar Elijahs offene Hose kaschiert, aber die Geräuschkulisse ließ keinen Zweifel daran, was die beiden trieben. Teufel sei Dank hatten die jüngeren Schüler gerade Unterricht. Besaß Elijah keinen Anstand? Oder zumindest Respekt vor seinen Mitschülern? Wieso fragte ich überhaupt? Natürlich nicht. Es war ihm egal, dass zwischen dem ersten Unterrichtsblock und dem Zweiten nur wenig Zeit zur Verfügung stand, in der ich versuchte, mein Käse-Salat-Sandwich hinunterzuwürgen, mich mithilfe einer Flasche Wasser vor dem Verdursten zu retten und mich auf die Überprüfung in der kommenden Einheit vorzubereiten. Und danach wollte ich auch noch pünktlich zum Unterricht erscheinen.

Als die Dämonin wieder gestöhnt und mich somit von meinen Notizen abgelenkt hatte, die vor mir ausgebreitet waren, riss mir der Geduldsfaden. Ich war aufgesprungen, auf das Pärchen zugegangen und hatte sie allerliebst gefragt, ob sie ihre Aktivitäten unterlassen könnten. Na schön, vielleicht hatte ich auch wütend geknurrt, dass sie den Scheiß gefälligst zuhause machen sollten. Und nun stand ich hier und wurde von diesem Gigolo beleidigt. Dieser Vollarsch! Als würde ich es auch nur in Erwägung ziehen, jemals mit ihm das Bett zu teilen. Oder in diesem Fall den Stuhl. Ob er wenigstens darauf achtete, immer denselben zu nehmen? Wenn nicht, hoffte ich, dass die Sitzgelegenheiten regelmäßig von irgendjemandem gereinigt wurden.

»Sei versichert, dass du der Letzte wärst, mit dem ich schlafen würde. Mach dich nicht lächerlich, du egomanischer Mistkerl. Ich möchte nur nicht dabei sein müssen, wenn du eine von deinen Schnallen auf dem Tisch knallst. Es gibt einige, die hier essen wollen. Habt so viel Anstand und verpisst euch!«, konterte ich und warf der Dämonin einen mitleidigen Blick zu.

Sicher, in mir loderte der Hass und sie war daran nicht unschuldig. Allerdings konnte ich ihr kaum böse sein. Nicht, wenn ich mir vorstellte, was ihr noch bevorstand und wie ahnungslos sie sein musste. Jeder wusste, dass Elijah Dämonen hasste. Für ihn waren sie nicht mehr wert als der Dreck unter seinen Fingernägeln. Zum Ficken reichten die wechselnden Mädchen ihm, doch aus ihnen wurden nie mehr als zufällige Bekanntschaften. Trotzdem versuchte jeden zweiten Tag eine von den beratungsresistenten Dumpfbacken, den Playboy zu belehren. Sie dachten wirklich, dass er sich nur für sie ändern würde, weil gerade sie die Eine waren. Als würde es die Richtige oder den Richtigen überhaupt geben. Na ja, das Ende vom Lied war aber immer das gleiche: Elijah änderte sich nicht und eine weitere meiner Rasse war gezwungen, mit der Schmach zu leben, sich wegen eines One-Night-Stands erniedrigt zu haben.

Die heutige Auserwählte kannte ich sogar, wobei kennen zu viel gesagt war. Ich wusste, wer sie war. Wir waren im selben Beschwörungskurs für körperlose Seelen und Monster der Unterwelt, da sie im letzten Halbjahr nie in ihrem Kurs erschienen war und nun die Stunden bei uns nachholen musste. Verflucht! Bildete ich es mir ein oder wurden die Mädchen immer unreifer? Hatte er sich schon durch unsere Altersgruppe gefickt, sodass er auf die nächsten Generationen zurückgreifen musste? Sie war beinahe drei Jahre jünger als ich und wusste noch nicht einmal, ob sie in der Hölle bleiben durfte. Hätte er nicht wenigstens bis zu ihrem siebzehnten Geburtstag warten können, wenn ihr der Dämonenstein umgehängt wurde und leuchtete? Strahlte er nicht in einer blutroten Farbe, würde ihr Gedächtnis gelöscht und sie auf die Erde gebracht werden, wo sie als normale Frau weiterleben musste, obwohl ihre Eltern zwei Höllenbewohner waren. Sie wäre allein, auf sich gestellt. Man würde ihr eine neue Identität verpassen. Vielleicht als Prostituierte in einem Bordell oder als Obdachlose, die unter einer Brücke hauste. Sie würde alles vergessen. Ihren Namen, ihre Familie, ihr Leben. Und dank Elijah auch noch ihre Entjungferung. Ein grausames Schicksal, vor dem ich mich immer gefürchtet hatte. Zum Glück war das vorbei.

»Der Letzte? Wohl eher der Erste, Schätzchen. Es gibt niemanden, der eine Beißzange wie dich freiwillig anfassen würde. Sei froh, dass ich dir gestatte zuzusehen, wie Leidenschaft aussieht! Näher wirst du dem Genuss nie kommen.«

Trotz der Wut in mir achtete ich darauf, dass meine Miene ausdruckslos blieb. Kein Gesichtsmuskel durfte auch nur zucken. Elijah sollte nicht wissen, dass seine Beleidigungen mich trafen. Er war der Grund dafür, dass sie der Wahrheit entsprachen, und ich hätte nicht erwartet, dass gerade er diesen Umstand gegen mich verwenden würde. Vor allem nicht nach dem, was zwischen uns vorgefallen war. Niemand wollte mich anfassen? Richtig. Aber vor ein paar Jahren war das noch anders gewesen. Da hatten die Männer bei mir Schlange gestanden und mich angeschmachtet, obwohl ich sie reihenweise verschmäht hatte. Bis auf einen. Und der machte mir nun das Leben schwer.

Elijahs Gesicht verzog sich zu einem gemeinen Grinsen, während er zwischen sich und die Schwarzhaarige griff, mit seinen Händen die Hose wieder über seinen Schwanz zog und die Dämonin anschließend von seinem Schoß schubste. Sie gab einen überraschten Ton von sich und sah mit rot gefärbten Wangen an sich herab, um ihr Kleid glatt zu streichen. Wovor hatte sie Angst? Dass irgendwer unbeabsichtigt ihren Hintern zu sehen bekam? Der Zug war abgefahren. Wahrscheinlich konnten sich alle im Raum bereits ein ungefähres Bild davon machen, wie die Schönheit nackt aussah.

Die Knöpfe von Elijahs Hose standen offen, sodass ich sofort wusste, dass er eine dunkelrote Boxershorts trug. Jedoch hielt ihn das nicht davon ab, aufzustehen und sich mir zu nähern, bis kaum noch Platz zwischen uns war. Er stand plötzlich so nah vor mir, dass ich jedes Detail an ihm betrachten konnte. Elijah sah attraktiv aus – was ihm nur allzu bewusst war –, aber der verklärte Schlafzimmerblick setzte nochmal eine Schippe drauf. Seine schwarzen Haare hingen zerzaust in sein gebräuntes Gesicht und bildeten einen warmen Kontrast zu den glühenden Augen, die wie Feuer zu lodern schienen. Sie waren nicht gänzlich rot, immer wieder mischten sich gelbe und orangene Funken in seine Iris, die seine Augen zu einem Spektakel machten. Seine kantigen Gesichtszüge und die gerade Nase passten zu seinem arroganten Gehabe. Sie bissen sich jedoch mit der Hose, die unter dem Arsch hing, als könnte er sich nicht richtig anziehen.

Trotzdem musste ich zugeben, dass er gut aussah. Besser als alle anderen Dämonen und Teufelsanwärter. Seine Erscheinung raubte mir den Atem. Er war sexy, böse und kümmerte sich nicht darum, was andere dachten. Und das störte mich. Es machte mir Angst. Ich sollte nicht so denken, sonst landete ich nächste Woche noch an der Stelle der Schwarzhaarigen und heulte mir hinterher die Augen aus, weil ich nicht auf meinen Verstand gehört hatte.

»Mein Fehler! Danke! Danke vielmals, oh großer, mächtiger Elijah, dass du zulässt, dass wir dir bei der einzigen Beschäftigung zusehen dürfen, die du draufhast«, sagte ich und war stolz, wie sicher meine Stimme klang.

Ich sprach mit Absicht eine Oktave höher, um meinen Sarkasmus zu verdeutlichen. Dennoch ging ich einen Schritt zurück, um mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Die Nähe zu ihm verwirrte mich. Ich mochte nicht, wie mein Körper auf ihn reagierte. Die Hitze, die von ihm ausging, benebelte meine Sinne und der Geruch nach ausgeblasenen Kerzen und glühenden Kohlen umgab mich, hüllte mich ein, bis ich nichts anderes mehr wahrnahm. Ich wollte mich an die Wärme schmiegen, auch wenn ich wusste, dass ich mich nur verbrennen konnte. Dem Teufel sei Dank hatte ich aber genug Selbstbeherrschung, um mich nicht vor allen zum Gespött zu machen.

»Sei vorsichtig! Sonst beweise ich dir eines Tages noch, dass ich mehr als das kann«, zischte er und seine Augen verengten sich zu Schlitzen, während er sich zu mir hinunterbeugte. »Oh, warte! Das habe ich ja schon«, flüsterte er, sodass nur ich es hören konnte.

Ich fühlte seinen Atem an meiner Ohrmuschel. Ein Schauer jagte durch meinen Körper. Für einen kurzen Moment vergaß ich, dass ich wütend auf ihn war, und lehnte mich der Berührung entgegen. Sanft nahm er mein Ohrläppchen zwischen die Zähne und biss hinein. Sofort stellten sich meine Nackenhaare auf und ich stieß ihn geistesgegenwärtig von mir, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Vielleicht hatte er die auch. Herpes oder Chlamydien.

Elijah taumelte rückwärts und konnte sich in letzter Sekunde an einem Tisch abfangen, um nicht mit dem Hintern auf den Boden zu knallen. Sein Grinsen verrutschte nicht einen Millimeter.

»Hübsche Kette übrigens«, stichelte er und mein anfänglicher Zorn verrauchte, um Trauer Platz zu machen.

Reflexartig griff ich zu meinem nackten Hals. Es war jetzt schon knapp zwei Jahre her und trotzdem hing mein Versagen an mir wie eine Klette, die ich nicht loswurde. Wie auch, wenn Elijah und sein Gefolge aus Dorftrotteln mich immer wieder daran erinnerten? Dabei war es nicht mein Fehler gewesen, auch wenn dank des Teufelsanwärters alle genau das dachten. Zumal es gut für mich angefangen hatte.

Dad hatte mir die Ehre zu Teil werden lassen, den Dämonenstein in der Woche vor der Zeremonie tragen zu dürfen. Als Beschützer des Steins durfte er selbst entscheiden, wo er ihn aufbewahrte. Und er hatte meinen Hals gewählt, weil er dachte, dass ich seine Nachfolgerin werden würde. Denn bereits sein Dad, sein Grandpa und dessen Dad hatten die Aufgabe bekommen, den Stein zu verwahren. Unter anderen Umständen hätte ich die Tradition bestimmt fortgeführt, doch das Schicksal hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die Engelsritter aus dem Himmel griffen an, töteten viele Höllenbewohner und versuchten, den Stein zu stehlen, um uns zu schwächen. Ohne den Dämonenstein würde Chaos ausbrechen. Niemand würde mehr wissen, was seine Bestimmung war und welchen Nutzen er für die Hölle hatte. Die ganze Hierarchie und das System der Unterwelt würden zusammenbrechen. Alles würde stillstehen. Nicht nur bei uns, sondern auch in der Menschenwelt. Es wären keine Todesdämonen mehr da, die alte oder sterbenskranke Menschen von ihrem Leid erlösten. Niemand würde die körperlosen Seelen von Verbrechern einsammeln, die nach ihrem Tod nicht wüssten, ob sie in den Himmel oder in die Hölle gehörten. Die verwirrten Geister von plötzlich aus dem Leben gerissenen Verkehrs- oder Mordopfern würden auf der Erde herumwandern. Und alle Emotionen wären von einem Tag auf den anderen bedeutungslos. Ohne Hass keine Liebe. Ohne Pech kein Glück.

Eigentlich wussten die Engel das, weshalb uns ihr Angriff überrascht hatte. Wir waren nicht vorbereitet gewesen und viele ließen ihr Leben. Ich hingegen hatte nur mein Ansehen verloren. Frustriert schloss ich die Augen, als die Erinnerung mich einholte und mich schmerzlich daran denken ließ, wie unfair das Leben sein konnte.

***

Ein Engel mit riesigen Schwingen flog auf mich zu, während ich mit Silvania im Schulhof aß und mich über menschliche Bands lustig machte. Er landete mit einem dumpfen Ton auf dem Boden und löste eine Druckwelle aus, die Staub aufwirbelte und Silvania von der Bank stieß. Sie schlug sich den Kopf am Untergrund auf und blieb ohnmächtig liegen. Geschockt schrie ich nach meiner Freundin und hoffte auf ein Lebenszeichen, doch noch bevor ich zu ihr eilen und ihren Puls messen konnte, war der Engel mit wenigen Schritten bei mir, riss an meiner Halskette und entwendete mir den Stein. In meiner Starre tat ich nichts, um ihn aufzuhalten. Ich war wie gelähmt, mein Kopf wie leer gefegt. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, was hier gerade passierte und als die Erkenntnis sich in mein Bewusstsein schlich, traf sie mich mit voller Wucht. Ein schriller Schrei löste sich aus meiner Kehle und ich lief dem Dieb nach. Unüberlegt, bedachte man, dass ich keine Waffe hatte und mir der ausgewachsene Engel körperlich überlegen war.

Ich warf mich gegen seinen Rücken und hielt mich an seinen Flügeln fest. Ich versuchte, ihn auf den Boden zu drücken, um ihn am Wegfliegen zu hindern. Hier und da lösten sich Federn aus seinen Schwingen und er keuchte vor Schmerz. Der Überraschungsmoment war auf meiner Seite. Aber es nützte nicht viel. Es dauerte keine halbe Minute, bis der Engel sich gegen meinen Griff wehrte und mich wie einen lästigen Käfer abschüttelte. Ich wurde weggeschleudert und kam hart mit dem Hinterkopf auf. Ich hörte ihn lachen, während meine Sicht verschwamm und ich das Schlagen von Flügeln vernahm. Der Schmerz explodierte in meinem Kopf und alles wurde schwarz.

***

Erst Stunden später war ich im Lazarett aufgewacht, wo meine Schädeldecke mit elf Stichen genäht worden war. Ich erfuhr, dass Elijah in der Zeit, in der der Engel mit mir beschäftigt gewesen war, den Stein an sich genommen hatte. Doch erzählt hatte er, dass ich vor Angst weggelaufen war und er allein kämpfen musste. Er wurde als Held gefeiert. Und ich? Ich war der Unglücksrabe, der seinem Dad nicht mehr unter die Augen treten konnte. Und auch sonst niemandem. Meine Schwester sprach nur noch mit mir, wenn es unvermeidbar war. Mom weinte, sobald sie mich sah, und meine früheren Freunde hatten sich über mich lustig gemacht. Bis ich einem von ihnen das Nasenbein gebrochen und zwei Zähne ausgeschlagen hatte. Danach waren sie dazu übergegangen, mich mit Ignoranz zu strafen.

Ich seufzte und öffnete die Augen wieder, nur um Elijahs überhebliches Grinsen zu sehen.

»Lass uns einfach gehen, Valla. Er ist es nicht wert. Keiner von denen«, mischte Silvania sich ein, holte mich aus meinen Gedanken und griff nach meinem Unterarm, um mich in Richtung des Ausgangs zu ziehen. Doch ich wehrte mich dagegen und stellte mich breitbeinig hin, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und stehenzubleiben. Sicher wäre es klüger zu gehen, aber ich war nicht bereit, es so enden zu lassen. Es sollte nicht sein, dass er sich alles leisten konnte, nur weil sein Dad mit dem Teufel verwandt war.

»Und deshalb soll ich ihm alles durchgehen lassen?«, fragte ich Silvania.

Sie ließ mich los, als ihr klar wurde, dass ich mich nicht wegbewegen würde. Mit einer schnellen Bewegung klemmte sie sich eine Strähne ihres blauen Haares hinters Ohr und seufzte frustriert.

»Nein, natürlich nicht«, murmelte sie entwaffnet, doch ihre gelben Augen funkelten mich flehend an.

Sie hasste Auseinandersetzungen mit Elijah, seit sein bester Freund Nikolai sie letztes Jahr auf einer Party gefickt hatte, ohne sie danach anzurufen. Gut, er kannte ihre Nummer nicht und ihren Namen wusste er wahrscheinlich auch nicht mehr – vielleicht hatte er ihn auch nie gekannt – trotzdem himmelte Silvania ihn noch an, als wäre er der Teufel höchstpersönlich. Dass gerade er nun neben Elijah stand und buhte, musste ihr schwer zusetzen.

»Hör lieber auf deine kleine Freundin! Verzieh dich in das Loch, aus dem du gekrochen bist! Ich bin hier noch beschäftigt«, meinte er achselzuckend und hielt seiner neuesten Eroberung auffordernd die Hand hin.

In einer perfekten Welt hätte sie seine Finger weggeschlagen, ihm ins Gesicht gespuckt und ihm irgendeine Beleidigung reingewürgt, bevor sie mit ihren hohen Stöckeln davongeeilt wäre. Aber die Welt war nicht perfekt. Elijah setzte sich auf den Stuhl zurück und die Dämonin kletterte brav wieder auf seinen Schoß, als hätte ich die beiden nie unterbrochen.

»Das Loch, von dem du redest, ist vermutlich eine Bibliothek. Aber es wundert mich nicht, dass du das nicht weißt. Du hast noch nicht oft eine betreten«, erwiderte ich, jedoch fehlte meinen Worten der übliche Biss.

Ich war so unendlich müde. Die ganze Nacht hatte ich mir um die Ohren geschlagen, um alle Beschwörungen auswendig zu lernen, die ich für die Prüfung brauchen könnte, und nun würde ich durchfallen, weil mir die Zeit fehlte, den genauen Wortlaut nochmal zu wiederholen. Mit etwas Glück schaffte ich es trotzdem, meinen Durchschnitt zu halten.

»Kann ja nicht jeder eine beschissene Streberin sein, wie ...«

Ich. Er sagte es nicht, aber die Worte schwebten im Raum und jeder konnte sich denken, was er sagen wollte. Einige versuchten, ihr Gelächter als ein Husten zu kaschieren, andere grinsten mich offen an, aber sie alle warteten auf meinen Konter. Für die anderen war es zu einem beliebten Spiel geworden. Valla gegen Elijah. Nachwuchsdämonin gegen Teufelsanwärter.

»Besser eine Streberin als ein Arschloch ohne Zukunft. Ich bin gespannt, wo du vom Teufel hingeschickt wirst, Elijah. Vielleicht so ein cooler Ort wie Hardegg. Achtzig Einwohner. Kein eigenes Krankenhaus, kein Bildungssystem, keine Partys. Ist sicher spannend, tote Seelen aus dem Altersheim abzuholen, in einem Dorf, wo sonst nichts passiert«, meinte ich, lächelte zuckersüß und drehte mich mit einem Hüftschwung um, den Silvania mir für alle Fälle gezeigt hatte.

Was sie mir damit hatte sagen wollen, wusste ich zwar bis heute nicht, weil ich mir nicht vorstellen konnte, ihn irgendwann für etwas Wichtiges zu brauchen, aber für einen arroganten Abgang war er perfekt. Außerdem hoffte ich, er würde überspielen, dass ich meine Worte selbst nicht glaubte.

Ja, Elijah war ein hochmütiger Faulpelz, der sich auf seinen Lorbeeren ausruhte, aber er war in so ziemlich jeder praktischen Disziplin der Beste, ohne sich anzustrengen. Wenn er seine Nase, wie ich, in Bücher stecken würde, wäre er mir um Längen voraus. Wahrscheinlich würde er sogar die Leitung über eine der Großstädte bekommen. Vielleicht New York, Las Vegas oder ein anderes Eck der Welt, in der die Laster den Alltag beherrschten. Das war der größte Unterschied zwischen Dämonen und den Teufelsanwärtern. Letztere bekamen einen Ort zugeteilt, den sie verwalten mussten. Sie waren die Bosse, während wir Dämonen von ihnen geleitet wurden und unseren Aufgaben nachzukommen hatten. Einige, wie Silvania, hatten dabei großes Glück. Sie durfte verheiratete Männer auf Abwege führen. Es musste ein riesiger Spaß sein, zuzusehen, wie die Ehen in die Brüche gingen und die Frauen aus verletztem Stolz wegen der Betrügereien ihren Gatten die Kehlen aufschlitzten.

»Lass uns gehen! Ich habe keinen Bock mehr auf die Scheiße«, sagte ich zu meiner Freundin und steuerte schnurstracks den Ausgang an.

Fast erwartete ich, dass Elijah noch etwas erwidern würde, um das letzte Wort zu haben, doch ich hörte nur das Klatschen von aufeinandertreffender Haut und die wiederkehrenden Stöhngeräusche.

»Ich fasse es nicht. Was denkt dieser Arsch sich dabei?«, fluchte Silvania und erinnerte mich wieder daran, weshalb wir befreundet waren.

Sicher, anfangs hatten wir nur miteinander Zeit verbracht, weil wir die gleiche Faszination für die sieben Todsünden empfanden, doch wir hatten irgendwann gelernt, zusammenzuhalten. Wir waren ein eingespieltes Team und das mochte ich an uns. Ich hasste Elijah und sie war loyal genug, ihn zu verachten. Aber auch so konnte ich immer auf sie zählen. Während alle anderen sich von mir abgewandt hatten, als mir der Ruf eines Feiglings zugeschrieben wurde, war sie an meiner Seite geblieben. Deshalb konnte ich ihr nicht böse sein, weil sie eine bessere Aufgabe für die Zukunft bekommen hatte als ich.

»Gar nichts. Es würde mich wundern, wenn Elijah überhaupt denken könnte. Geht ohne Gehirn ja schlecht«, schnaubte ich und blieb stocksteif stehen. Mir fiel wieder ein, dass ich meine Notizen auf dem Tisch im Klassenzimmer vergessen hatte.

»Zum Teufel nochmal!«, schrie ich, drehte mich um und wollte wütend kehrtmachen, doch Silvania hielt mich zurück, drückte mir einen Stapel Zettel in die Hand und sah mich mit einem schiefen Grinsen an.

»Hast du etwas vergessen?«, fragte sie kichernd, zwinkerte mir zu und wickelte spielend eine ihrer Haarsträhnen um ihren Finger.

»Du bist die Beste«, sagte ich euphorisch und meinte es auch so.

Ohne Sil wüsste ich nicht, was ich machen sollte. Ich konnte schlecht durch die Gänge laufen und mit mir selbst reden. Wobei mich die anderen nicht noch mehr meiden könnten, selbst wenn ich den Verstand verlor.

»Ich weiß«, erwiderte sie selbstüberzeugt und wurde von einem erneuten Lachanfall geschüttelt, der mich meine Mundwinkel leicht anheben ließ. »Du warst so wütend. Ich dachte, du würdest ihm eine scheuern und abhauen. Also habe ich in weiser Voraussicht alles, was wichtig aussah, zusammengepackt. Wäre ziemlich beschämend, nach diesem tollen Abgang nochmal zurückgehen zu müssen.«

»So toll war der nicht. Die Auseinandersetzung habe ich verloren. Ich habe nichts bewirkt, sondern ihn nur kurz unterbrochen. Er wird morgen wieder das Gleiche abziehen.«

Ich ärgerte mich darüber, wie viel Wahrheit in meinen Worten steckte. Schlussendlich hätte ich meine Argumente auch einer Wand erzählen können. Die hätte mich vermutlich mehr beachtet als Elijah. Zu seiner Verteidigung war zu sagen, dass es sich auch schlecht ohne Blut im Kopf diskutieren ließ.

»Wieso stört dich das so?«, fragte Silvania, als wir um die erste Ecke bogen.

Somit hatten wir genug Abstand zwischen uns und diesen Idioten gebracht, sodass uns niemand belauschen konnte. In diesem Teil des Schulgebäudes waren die Wände strahlend weiß, jedoch wurden sie dunkler, je näher wir dem nächsten Unterrichtsraum kamen. Zuerst verfärbten sie sich gräulich, bis die Mauern in einem satten Schwarz erstrahlten. Nirgendwo waren Fenster, allein die Fackeln an den Wandhalterungen, die auf magische Weise immer zu brennen schienen, boten genug Licht, um alles zu erkennen.

»Bitte?«, fragte ich nach, weil ich ihr nur mit einem Ohr zugehört hatte.

Ich sortierte die Blätter mit den Beschwörungsformeln und verschaffte mir einen Überblick, ob noch alle Seiten vorhanden waren. Das war natürlich nicht der Fall. Die Beschwörung eines Dschinns fehlte, genauso wie die eines Ghuls und eines Mantikors. Während ich bei den ersten beiden die Formeln noch im Kopf hatte, wusste ich bei einem Mantikor nur noch, dass man ihm ein Opfer bringen musste, das er verspeisen konnte: ein Schaf oder ein neugeborenes Baby. Die Opfergabe musste der Länge nach mit einem Dolch aus Kupfer aufgeschnitten und das Herz entnommen werden. Anschließend hatte der Beschwörer in das Organ zu beißen und drei Sätze in einer Sprache aufzusagen, die älter war als alle anderen dieser Welt. Doch diese Worte wollten mir nicht einfallen. So ein Mist! Wenn gerade das zur Prüfung kam, war ich erledigt. Nicht auszumalen, was mein Dad sagen würde, wenn ich durchfallen würde. Ich hatte ihm genug Schande gebracht. Noch einen Fehltritt würde er nicht durchgehen lassen. Das hatte er mir deutlich gemacht.

»Na, warum ärgert es dich, wenn Elijah Dämoninnen abschleppt?«, hakte sie ungeduldig nach und blieb abrupt stehen.

Einen Moment fiel es mir nicht auf, sodass ich einfach ohne sie weiterlief, doch das Fehlen der Schritte neben mir ließ mich von meinen Lernbögen aufsehen und innehalten.

»Das ist mir egal. Ich möchte es nur nicht mitbekommen«, erwiderte ich schnell und betete, dass die Diskussion damit beendet war. Doch das Glück war heute nicht auf meiner Seite.

Silvania neigte den Kopf und musterte mich, so lange, bis es mir unangenehm wurde. Ihr Blick war stechend, als würde sie etwas suchen, aber nicht finden. Ihre Züge verzogen sich unzufrieden und sie hob eine Augenbraue, wodurch sich ihre Stirn in Falten legte.

»Wieso nicht?«, wollte sie wissen und ihr Ton hatte eine seltsame Färbung angenommen. Misstrauen. Sie kaufte mir nicht ab, was ich sagte.

»Es stört mich beim Lernen.«

»Ah ja«, schnaubte sie und ließ keinen Zweifel daran, dass sie mir kein Wort glaubte. Doch es war die Wahrheit. Was wollte sie denn noch?

»Was?«, murrte ich. »Möchtest du irgendwas sagen?«

Die Art, wie sie mich ansah, gefiel mir nicht. Es erinnerte mich daran, dass sie glaubte, mich besser zu kennen als ich mich selbst, und dass sie sich anscheinend wieder in die Idee von mir und dem Großkotz gemeinsam, für immer vereint, verrannt hatte. Über Elijah zu sprechen war gefährlich, auch wenn Silvania das nicht wusste. Ich konnte nur hoffen, dass ich sie noch umstimmen oder ablenken konnte, egal, was sich ihr wirres Gehirn wieder ausgedacht hatte.

»Nein, ich finde es nur auffällig. Bei niemand anderem stört es dich, wenn sie Gefühle in der Öffentlichkeit zelebrieren. Nur bei ihm.«

Angespannt runzelte ich die Stirn und leckte mir über die Unterlippe. Ich wusste, was sie dachte, obwohl sie es nicht aussprach. Ich musste vorsichtig sein. Wenn ich es vehement abstritt, könnte sie das als Geständnis werten, und wenn ich nichts sagte, wäre es ebenfalls verdächtig. Um Zeit zu schinden, packte ich meine Unterlagen in meine schwarze Umhängetasche und kramte nach meiner Wasserflasche.

»Erstens, Sil, fühlen wir nicht. Zumindest nicht Liebe oder ähnlichen Schwachsinn. Nur Begierde, Verlangen oder welche Hormone auch immer uns Lust verschaffen. Und zweitens ist Elijah der Einzige, der über das Knutschen hinausgeht, wenn er außerhalb seiner eigenen vier Wände ist«, antwortete ich sachlich, schraubte den Verschluss der Flasche ab und setzte diese an meinen Mund. Ich spürte, wie das kühle Nass meine Lippen benetzte und meine Speiseröhre hinabfloss.

»Also liegt es nicht an dem Kuss zwischen ihm und dir?«, hakte Silvania nach, als ich noch einen Schluck trinken wollte. Doch noch bevor ich es schlucken konnte, spuckte ich die Flüssigkeit fontänenartig aus. Kein Tropfen landete wieder in der Flasche, die ich reflexartig von meinem Körper riss. Dafür ergoss sich das Wasser auf dem schwarz-grau marmorierten Boden.

»Kuss? Welcher Kuss?«, wollte ich panisch wissen und versuchte, mir das Ereignis wieder in Erinnerung zu rufen. Doch keiner hatte uns gesehen. Niemand konnte es ihr erzählt haben. Aber woher wusste sie es dann? Oder war das ein Test? Hatte sie nur spekuliert und ich war darauf reingefallen?

»Oh, bitte, leugne es gar nicht erst. Nik und ich haben euch damals gesehen, als wir ...« Sie stoppte, wie so oft, wenn es um Nikolai Pyron ging. Ich hatte noch nie Sex gehabt, geschweige denn einen One-Night-Stand, aber ich kannte das Konzept. Rein, raus, rein, raus. Dass dieser Vorgang so besonders sein sollte, konnte ich mir nicht vorstellen. Und schon gar nicht konnte ich glauben, dass eine intelligente Dämonin wegen einer Nacht einem Typen über zwei Jahre hinweg nachtrauerte. Doch sie tat es und kam einfach nicht von ihm los. Dabei hatte ich alles versucht, um sie auf andere Gedanken zu bringen: Blind Dates, Partynächte, Doppeldates, die vor allem für mich ein Horror gewesen waren, und ich hatte ihr sogar eine Einladung für die Schülerorgien zum Jahresabschluss besorgt. Nichts hatte funktioniert. Immer noch ging es Nikolai hier, Nikolai da. Es war frustrierend.

»... als wir auf dem Weg ins Bett waren. Du weißt schon, an Samhain«, beendete sie ihren Satz und mir wurde schlagartig eiskalt.

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und meine Zunge fühlte sich taub an, als würde jemand dafür sorgen, dass ich nicht sprechen konnte. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper. Ich zitterte. Das war Folter. Es war, als würde eine unsichtbare Hand nach meinem Herzen greifen und es zerquetschen. Wie konnten wir so unvorsichtig sein? Wenn sie uns gesehen hatten, wer wusste schon, wer sonst noch? Es könnte jeder mitbekommen haben. Aber es war so lange her, richtig? Wenn es mehr Beobachter gegeben hätte, dann hätten sie uns schon damit konfrontiert. Alles war gut. Ich durfte nur nicht die Nerven verlieren. Schön, Sil hatte es mitbekommen, aber es war kaum etwas passiert. Diese Geschichte würde meinem Ansehen nicht weiter schaden. Er würde mir nicht weiter schaden.

»Nein«, antwortete ich, als ich meine Stimme wiederfand. Allerdings verbesserte ich mich, da mir klar wurde, dass es keinen Zweck hatte, es abzustreiten. »Ich meine, ja.«

Ich bemühte mich, meine Gedanken zu ordnen und das Chaos zu bekämpfen, das in meinem Innersten wütete. Es gelang mir nicht. Hunderttausend Szenarien gingen mir durch den Kopf. Von Silvania, die mich anklagend ansah und wissen wollte, weshalb ich es ihr nicht gesagt hatte. Von Nik, der mit seinen Freunden über die dumme Dämonin lachte, die dachte, dass ein betrunkener Kuss auf einer Party eine tolle Idee war. Von Elijah, der erzählte, dass ich nicht küssen konnte. Von meinem Dad, der mich enttäuscht fragte, warum ich nichts richtig machen konnte. Da hatte ich einen Teufelsanwärter an der Angel und ließ ihn ziehen. Es würde nicht helfen, ihm zu erklären, was Elijah für ein Mann war. Ich wäre schuld. Und vermutlich hatte er damit auch Recht. Hätte ich auf der Party die Beine breit gemacht und das Kondom abgezogen, ohne dass Elijah es mitbekommen hätte, wäre ich bei dem Angriff der Engel schwanger gewesen. Ich hätte sein Baby erwartet und hätte ausgesorgt gehabt, ob der Kindsvater weiter etwas mit mir zutun haben wollte oder nicht. Aber das hatte ich nicht gewollt. Berechnende Frauen, die Männern ungewollte Kinder unterschoben, um nicht mehr arbeiten gehen zu müssen, war eher eine menschliche Masche. Und ich wollte nicht menschlich sein. Ich war stolz, eine Dämonin zu sein, und ich wollte der Hölle dienen.

»Der Kuss war vor dem Angriff der Engel«, nuschelte ich erklärend, sodass es mich wunderte, dass Silvania mich verstand. Doch da sie mir antwortete, hatte sie wohl keine Probleme, mein Gemurmel zu entziffern.

»Und das ist wichtig, weil ...?«, fragte sie und setzte sich wieder in Bewegung, als das Ende der Freistunde durch einen Schrei verkündet wurde. Es klang wie das Flehen eines Mannes, bevor er starb, aber an einer Schule, die sich selbst die Akademie der sieben Todsünden nannte, störte sich niemand daran. Nichtsdestotrotz hatte ich mir nicht nur einmal die Frage gestellt, wo die gequälte Stimme aufgenommen worden war, die den Schulalltag einteilte.

»Weil Elijah Dämonen hasst und der Kuss unbedeutend war. Es war nichts. Wir waren betrunken und es stand niemand anderer zur Verfügung.«

Lüge. Viele Schüler in meinem Alter hatten die Party besucht, immerhin war es die Letzte gewesen, bevor wir unsere Aufgaben zugeteilt bekommen hatten. Deshalb war auch ich dort gewesen, obwohl ich Feten sonst wie Krankheiten mied. Von allen Dämonen war ich wohl diejenige, die am wenigsten in das Klischee der saufenden, drogennehmenden Nutten-Dämonin im schwarzen Lederkostüm passte, das sich die Menschen zurechtgelegt hatten. Ich trank nicht, Drogen waren mir suspekt und Leder war schrecklich unpraktisch. Doch an diesem Tag war alles anders gewesen.

***

Ich trug ein schwarzes Sommerkleid, das knapp meine Knie verdeckte und genug Ausschnitt zeigte, um den Ansatz meiner Brüste nicht zu verstecken. Außerdem sparte es den Rücken großzügig aus, sodass meine Haut nur durch meine Haarpracht geschützt wurde, die zu einem Zopf zusammengebunden war.

Sil war schon vor Stunden mit einem gut aussehenden Teufelsanwärter verschwunden und seitdem nicht mehr aufgetaucht. Dennoch fehlte sie mir nicht. Ich amüsierte mich auch ohne sie gut, obwohl ich am Anfang des Abends Sorge hatte, dass ich allein in einer Ecke enden würde. Doch so war es nicht.

Irgendeine Dämonin hatte mir einen Drink, der in grellen Farben leuchtete, in die Hand gedrückt, mich am Arm gepackt und ins Getümmel gezogen. Ich wusste nicht, ob wir uns kannten, aber so schnell, wie sie aufgetaucht war, verschwand sie auch wieder und ließ mich auf der Tanzfläche stehen. Also hatte ich zwei Möglichkeiten: gehen oder mitmachen. Als auch noch mein Lieblingslied Schöne Grüße aus der Hölle erklang, war klar, dass ich nicht den Schwanz einziehen würde. Ich bewegte meinen Hintern im Takt der Melodie, sodass die Flüssigkeit in meinem Glas gefährlich hin und her schwappte, doch ich schaffte es, nichts zu verschütten. Ich warf meine feuerroten Haare zurück, schloss die Augen und gab mich den Klängen hin.

Ich wusste nicht, wann ich beschlossen hatte mitzusingen, und ich bemerkte auch kaum, dass die Tanzfläche immer leerer wurde, während ein Song nach dem anderen spielte. Langsam wurde mir heiß. Ich spürte, wie ein Schweißtropfen über meine Schläfe lief und dass ein feuchter Film meine Haut benetzte. Trotzdem hörte ich nicht auf. Ich war wie im Rausch, und zwar im doppelten Sinne. Der Alkohol zeigte endlich seine Wirkung. Er zirkulierte in meinen Blutbahnen und benebelte meinen Verstand. Es war, als würde jemand einen Filter über mein Gehirn legen. Das Denken fiel mir plötzlich schwer und mein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Die Farben um mich schienen heller zu strahlen und die Musik dröhnte lauter in meinen Ohren. Doch ich war zufrieden. Es war fantastisch, als wäre ich zum Tanzen geboren. Selbst die großen Hände, die auf einmal von hinten meine Hüfte umfingen und mich an einen anderen Körper zogen, machten mir nichts aus. Ich schwang den Hintern schneller und rieb meinen Rücken an der nackten Brust meines Tanzpartners. Mir war nicht klar, wann er sein Shirt verloren oder ob er überhaupt eines getragen hatte. Doch ich war unendlich dankbar, ihm so nahe sein zu können. Ich spürte die Muskeln, die sich an meine Wirbelsäule schmiegten, und das kalte Eisen der Gürtelschnalle, die sich fast schmerzhaft in mein Steißbein drückte. Der Geruch nach Lagerfeuer hüllte mich ein und weiche Lippen, die noch hitziger waren als mein glühender Körper, küssten meine Schulter. Die Berührung war flüchtig, als würde er abwarten wollen, wie ich reagierte. Doch ich tat nichts, außer mich näher an ihn zu drängen, um mehr von dem Gefühl zu bekommen, das sich in mir ausbreitete. Es ließ mich schweben.

Ein undefinierbares Kribbeln durchzog meinen Magen, meine Hände zitterten vor Aufregung und dennoch war jeder meiner Muskeln entspannt. Ich schloss die Augen und blendete die Tanzenden um uns herum aus, während der Unbekannte sich eine Spur von meiner Schulter zum Hals küsste. Seine Hände wanderten in der Zwischenzeit vom Becken zu meinem Bauch und umschlangen mich, sodass ich mich nicht mehr von ihm lösen konnte. Ich wollte es auch gar nicht. Ein Stöhnen kam über meine Lippen, das ich nicht unterdrücken konnte, und ein tiefes Lachen erklang. Ein Schauer jagte über meinen Rücken, als ich seinen Atem an meinem Nacken fühlte, und ich genoss die Wärme, die sich in meinem Schoß ausbreitete.

»Würde ich den Teufel betrügen, wenn ich eine Schönheit wie dich mit einer Göttin vergleichen würde?«, fragte eine rauchige Stimme, die ich unter tausenden wiedererkannt hätte.

Elijah Reaver. Sport-Ass, Beschwörungsgenie und begehrtester Junggeselle der Hölle. Niemand kannte sich so gut mit Geistern, Tötungsarten und Teufelsanbetungen aus wie er.

Mein Körper versteifte sich und das Lächeln auf meinem Gesicht gefror. Geistesgegenwärtig hielt ich mein Getränk fester, um es nicht fallenzulassen. Das Hochgefühl verschwand und ich riss überrascht die Augen auf. Dass Elijah Partys mochte, war bekannt, aber normalerweise hielt er sich bedeckt. Er tanzte nicht und knutschte nicht mit irgendwelchen Mädchen in dunklen Ecken, geschweige denn mitten auf der Tanzfläche. Sein Verhalten verwirrte mich. Wieso war er hier, bei mir, anstatt mit seinen Freunden zu feiern? Und weshalb hatte er mich wie eine Geliebte liebkost?

Seine Arme gaben mich frei, als hätte er meine veränderte Stimmung bemerkt. Er löste sich von meinem Körper, jedoch stand er immer noch nah genug hinter mir, dass ich seinen Geruch wahrnehmen konnte.

»Stimmt etwas nicht?«, raunte er mir ins Ohr und ich fühlte, wie seine Fingerspitzen meinen Unterarm entlang strichen. Es kitzelte, aber war nicht unangenehm.

Er nahm meine Hand in seine und drehte mich zu sich, sodass ich ihm ins Gesicht sehen konnte. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als meine gelben Augen in seine roten starrten. Ein unsicheres Lächeln umspielte seine Lippen, als er meine starren Züge bemerkte.

»Was machst du da?«, fragte ich leise und wiederholte die Frage lauter, nachdem Elijah mich verwirrt ansah.

Da meine Stimme wieder von den hohen Tönen der Musik verschluckt wurde, beugte ich mich näher zu ihm, um nicht schreien zu müssen, wodurch meine Brüste gegen seinen Oberkörper drückten.

»Wonach sieht es denn aus?«, antwortete er und sein Grinsen wurde breiter, während er seine Hände wieder um mich schlang und sie auf meinem Hintern platzierte.

»Als würdest du mich anbaggern«, entgegnete ich und biss mir auf die Unterlippe, um ein Stöhnen zu unterdrücken.

Sanft streichelte sein Daumen über meinen Po, wodurch der seidige Stoff meines Kleids an der Haut rieb.

»Und ist das schlimm? Ich wüsste nicht, was dagegen sprechen ...« Bevor er seinen Satz beenden konnte, wurde er von einem Dämon unterbrochen, der ihn von der Seite anrempelte.

Elijahs Stirn knallte schmerzhaft auf meine und ich ließ geschockt mein Glas fallen, das auf dem Boden aufschlug und in hundert kleine Teile zersplitterte. Die Flüssigkeit verteilte sich unter meinen Füßen und einige Spritzer fielen auf meine Unterschenkel. Der betrunkene Dämon nuschelte eine Entschuldigung, die nur aus zusammenhanglosem Gebrabbel bestand, bevor er mit einem dümmlichen Grinsen an uns vorbei torkelte und in der Menge verschwand.

»Alles in Ordnung?«, fragte Elijah, scannte mich jedoch trotz meines Nickens auf Schnittverletzungen, bevor er weitersprach. »Lass uns an einen anderen Ort gehen. Schon peinlich, dass einige ihre eigenen Grenzen nicht einschätzen können.«

Seine Miene war grimmig und seine Stimme klang angespannt, als müsste er sich zurückhalten, dem Typen nicht nachzulaufen, um ihm eine zu verpassen. Ein harter Zug lag auf seinen Lippen und ich konnte sehen, wie sich sein Kiefer anspannte. Einen Moment schaltete sich mein Gehirn wieder ein und teilte mir mit, dass es keine gute Idee war, die Party zu verlassen, um mit Elijah allein zu sein. Nicht, weil ich glaubte, dass er mich in seinem Zorn auf den Betrunkenen verletzten würde, sondern weil mein Unterleib sich bei dem Gedanken daran freudig zusammenzog. Nichtsdestotrotz ließ ich mich von ihm durch den Saal dirigieren und ignorierte die Stimme in meinem Kopf, die wie mein Dad klang und mir erklärte, dass Spaß der größte Feind von Pflichtbewusstsein war.

»Alles gut? Du siehst nervös aus«, meinte Elijah, nachdem er mich in einen leeren Raum geschleppt hatte, der große Ähnlichkeit mit einem Weinkeller aufwies. Unzählige Flaschen stecken in runden Öffnungen an der Wand und warteten darauf, getrunken zu werden. Vermutlich würden die Feiernden die Hälfte heute vernichten.

»Gibt es einen Anlass dafür?«, wollte ich wissen und war mir bewusst, wie naiv meine Frage klang.

Natürlich gab es einen Grund dafür, dass mein Herz gegen meine Brust hämmerte und meine Unterlippe zitterte. Seit Wochen war mir Elijah immer wieder über den Weg gelaufen. Wir hatten geredet, zusammen gegessen und das eine oder andere Mal gemeinsam gelernt. Das Ergebnis davon war, dass ich ihn nicht so abstoßend fand wie den Rest der Teufelsanwärter und Dämonen, die um meine Aufmerksamkeit buhlten. Vielleicht, weil er genau das nicht tat. Er versuchte nicht, sich unter scheinheiligen Vorwänden aufzudrängen. Elijah sagte direkt, was er dachte und was er wollte. Bei ihm musste ich keine Angst haben, etwas falsch zu machen, weil er es mir sofort mitteilte, wenn ihm etwas nicht passte. Anders als andere, die hinter meinem Rücken über mich lästerten. Die Zeit mit ihm war einfach schön. Aber noch nie war es so wie heute. Zwischen uns herrschte eine Spannung, die greifbar war, ich aber nicht zuordnen konnte.

»Ich bin nervös«, gestand er und seine Miene erhellte sich. Das zornige Glitzern verschwand aus seinen Augen und er fuhr sich mit der Hand durch die Stirnfransen, sodass sie ihm ins Gesicht fielen.

»Warum?« Mein Mund war staubtrocken. Hier war es noch wärmer. Dabei war es auf der Tanzfläche schon beinahe unerträglich gewesen. Trotzdem hatte ich nicht das Bedürfnis, gleich wieder zu gehen.

»Ich stehe mit der schönsten Frau, die ich je gesehen habe, allein in einer Kammer. Sie scheint nichts dagegen zu haben, wenn ich sie anfasse. Ich will sie um den Verstand küssen. Das ist alles, woran ich denken kann. Wie sollte ich da nicht nervös sein?«

Elijahs Stimme klang rau, als hätte er Rasierklingen verschluckt, und er löste seine Finger von meinen, um seine Hand in den Nacken zu legen. Er umschloss sanft mein Genick und streichelte mir über die Wange, die vom Alkohol und der Hitze knallrot sein musste. Doch diesen Umstand ignorierte ich. Er fand mich schön. Egal, ob mit rötlichen Wangen oder nicht.

»Wieso tust du es dann nicht?«, fragte ich atemlos und presste meine Unterschenkel näher aneinander, um das Pochen zu stoppen, das in meiner Mitte immer schlimmer wurde.

»Ich will sichergehen, dass sie es auch so sehr möchte wie ich. Aber lange kann ich nicht mehr warten. Der Drang, ihr nahe zu sein, wird immer stärker.«

Elijah übte leichten Druck auf mein Genick aus, sodass er mich näher zu sich ziehen konnte. Die Stirn legte er an meine und seine freie Hand wanderte an meinem Rücken hinab. Ich spürte seinen Atem an meinen Lippen und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, während er seine schloss und tief die Luft einsog, als würde er meinen Geruch aufnehmen. Noch nie war ich so froh, auf Sil gehört und vor der Fete geduscht zu haben.

Elijah neigte den Kopf, bis seine Nase neben meiner ankam und unsere Gesichter noch näher beieinander waren. Aus dieser Entfernung konnte ich jedes Detail seines Gesichts sehen. Die kleine Narbe über der Augenbraue, das Muttermal auf der Schläfe, das nicht mehr war als ein stecknadelgroßer Punkt. Nichts blieb mir verborgen. Aber am meisten faszinierte mich der zufriedene Gesichtsausdruck, den er zur Schau stellte. Grübchen zierten die Mundwinkel und seine Lippen waren leicht geöffnet. Ein wenig sah er aus, als würde er schlafen, auch wenn ich wusste, dass er wach war.

»Und ich bin schwach. Ich weiß nicht, wie lange ich noch widerstehen kann«, murmelte er und senkte sein Kinn, sodass sein Mund über meinem schwebte.

Uns trennten nur noch wenige Millimeter. Ich brauchte nur eine winzige Bewegung zu machen und wir würden uns küssen. Doch wollte ich das auch? Jetzt waren wir Freunde. Oder zumindest freundschaftliche Bekannte. Aber wie würde es morgen sein? Noch konnten wir tun, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen, solange wir nicht weitergingen. Doch wenn er mir meinen ersten Kuss stahl, war ich mir sicher, dass ich nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen konnte. Jedes Mal, wenn ich ihn ansehen würde, würde ich an diesen Moment denken. Wie seine Lippen sich auf meinen angefühlt hatten, meine Hände seinen Körper erkundet und welche Gefühle er in mir ausgelöst hatte. Aber war das so schlimm?

Hin und hergerissen seufzte ich und versuchte, das Klopfen meines Herzens, das mir befahl, ich solle ihn küssen, zu ignorieren, um klar denken zu können. Ich musste eine Entscheidung treffen. Am besten sofort. Er wartete bereits viel zu lange auf eine Antwort. Die Stille lag wie ein Damoklesschwert über uns. Sie war grausam, beinahe erdrückend. War es immer so? Wenn ja, verstand ich endlich die Menschen, die sich tagelang weinend einschlossen oder ihrem sinnlosen Leben ein Ende bereiteten, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sahen, um über eine missglückte Liebesbeziehung hinwegzukommen. Doch die Frage erübrigte sich von selbst. Elijahs Augen öffneten sich, als von mir keine Reaktion kam, und seine Lachfältchen glätteten sich. Das Glühen in seiner Iris verschwand und ein grauer Schleier legte sich über sie, sodass das rote Flimmern den Glanz verlor.

Er löste sich von mir und wollte sich zurückziehen, doch ich legte meine Hand auf die Mulde, in welcher der Rücken in seinen Hintern überging, und atmete einmal tief durch. Es war nicht schwer. Eigentlich war es ganz einfach. Ich war diejenige, die es unnötig verkomplizierte. Ich mochte ihn. Ich wollte ihn. Was sollte passieren? Wen kümmerte es, was morgen geschah?

»Dann widerstehe dem Drang nicht«, säuselte ich.

Kaum hatte ich meinen Satz beendet, überbrückte Elijah das letzte Stück und seine Lippen prallten auf meine, als würden sie magnetisch voneinander angezogen werden.

Der Kuss war nicht zärtlich. Er war von Anfang an wild. Hungrig. Als würden alle Emotionen, die wir zurückgehalten hatten, herausbrechen und uns verzehren. Ich keuchte, stöhnte, als seine Hände meinen Körper erkundeten. Überall fühlte ich seine Fingerspitzen, die unendlich sachte meine Haut berührten. Am Rücken, auf meinem Hintern und an den Armen. Gierig küsste er mich, sodass es beinahe schmerzhaft war. Ich spürte seine Zähne, die meine Lippen streiften, und hörte ihn animalisch knurren. Es war wie ein Grollen, das tief aus seiner Kehle aufstieg. Jedoch ängstigte mich das Geräusch nicht. Es stachelte auch mich an, alle Hemmungen fallenzulassen.

Fahrig fuhr ich mit den Händen über seine Muskeln, während seine Zunge fragend über meine Unterlippe strich, bis ich ihm Einlass gewährte. Sofort nahm sein Geschmack mich in Beschlag. Die Mischung aus kühlem Bier, Schokolade und einer Komponente, die ich nicht benennen konnte, machte süchtig. Jedes Härchen auf meinem Körper stellte sich auf. Ich war wie elektrisiert. Ich wollte mehr. Alles. Aber auf keinen Fall wollte ich, dass er mich je wieder losließ.

***

Ironisch, oder nicht? Es war der perfekte Augenblick gewesen. Ich hatte mich nie so wohl gefühlt wie in diesem Moment. Noch nie hatte ich davor meinen Verstand abgeschaltet und meine Existenz einfach genossen. Ich hatte die Frage, was morgen sein würde, mit einem Schulterzucken abgetan und mich von meinen Gefühlen leiten lassen. Und was hatte es mir gebracht? Ich war nie wieder auf eine Party gegangen. Mich hatte auch niemand mehr eingeladen, während Elijah es sich zur Aufgabe gemacht hatte, an jeder Zusammenkunft teilzunehmen und jedes Mal ein anderes Mädchen abzuschleppen. Ich war die Erste gewesen, aber im Grunde eine von vielen. Und danach hatten wir nicht mehr miteinander gelernt, gegessen oder uns auch nur unterhalten. Alles war anders geworden. Elijah hatte mich verraten und ich musste erkennen, dass die Liebe trügerisch war und sie unsere Herzen vergiftete.

»Schade eigentlich, dass es nichts bedeutet hat. Du bist immer so steif, Valla«, sagte Silvania, stibitzte sich die Flasche aus meiner Hand und nahm einen kräftigen Schluck.

Zeitgleich gingen wir auf das große, rote Pentagramm zu, das den Eingang zum Klassenzimmer kennzeichnete. Der fünfzackige Stern war mit Blut von Verbrechern an die Wand gemalt worden und wurde einmal jährlich erneuert, damit er nicht verblasste. Gerade an den ersten Tagen stank es deshalb im ganzen Gebäude nach Eisen, weil die Belüftungssysteme nichts gegen die Aromen tun konnten, die das veraltete Blut verströmte. Doch das letzte Mal musste schon eine Weile her gewesen sein. Ich roch Schwefel, Weihrauch und Myrrhe – der typische Geruch der Hölle.

»Steif? Wie darf ich das verstehen?«

Verwirrt sah ich sie an, während ich mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf die Mitte des Pentagramms drückte und ein Klicken erklang. Kurz darauf rumorte das Gebäude. Die Wand vor uns ächzte und weißer Rauch schien von den Mauern aufzusteigen. Es knarrte. Putz löste sich an der Stelle, an der die Wand mit dem Boden verwachsen war, und zwei parallele Risse, die einen Durchgang markierten, wurden sichtbar. Vor unseren Augen bröckelte die Mauer weg, bis auf dem Marmor ein Haufen Gestein lag und das Loch groß genug war, um ins Klassenzimmer zu gehen. Wir passierten den Eingang und hinter uns wurden die Brocken auf magische Weise angehoben, um wieder eine Wand mit dem Pentagramm darauf zu formen.

»Gefühllos, kalt, hart – such dir eins davon aus. Wir fühlen, Valla. Ja, auch Liebe, obwohl wir Dämonen sind. Finde dich damit ab und kämpfe nicht dagegen an. Denk nur mal an den Teufel. Selbst er hat seine große Liebe in Eva gefunden«, argumentierte Silvania und ging nach hinten ans Ende des Zimmers, um so weit wie möglich von unserem Prüfer, Meister Asmodäus, entfernt zu sein.

Sie ließ sich auf einem Stuhl aus menschlichen Knochen nieder und legte ihre Tasche vor sich auf den Tisch, der ebenfalls aus Überresten der Menschen bestand. Zum Glück hatten wir heute älteres Mobiliar erwischt. An den Neueren waren manchmal noch Fleischrückstände zu finden, weil sich niemand die Mühe gemacht hatte, die Knochen vor dem Zusammenbauen zu säubern, wenn die Leichenteile aus dem Folterkeller der Hölle geliefert wurden. Es schien sich auch niemand über den süßlich-faulen Geruch zu beschweren, wenn das Fleisch zu verrotten anfing. Doch ich hasste es, wenn ich meine Notizen auf den Tisch legte und sie anschließend mit Blutresten besudelt waren.

»Die er aus Gier Adam stahl, um mit ihr Lilith zu zeugen, mit der er dann hunderte Nachkommen fabrizierte«, erwiderte ich und verdrehte die Augen, um Sil zu zeigen, dass ich ihre Argumentation lächerlich fand.

Der Teufel hatte sicher Wichtigeres zu tun, als Liebesverse zu verfassen und Frauen zu umgarnen. Und ich bezweifelte, dass ein Mann, der seit einer Ewigkeit täglich eifersüchtige Mörderinnen, Pädophile, Betrüger und Vergewaltiger bestrafte, sich für die Liebe öffnen könnte. Wenn man die tiefsten Abgründe sah und wusste, was einige unter dem Deckmantel der Liebe bereit waren zu tun, war das abschreckend genug, um nie wieder jemandem seine innersten Gefühle zu offenbaren.

»Aber er hat sie geliebt. Außerdem ist das Jahre her und seit über einem Jahrhundert hat er kein Kind mehr bekommen. Es wird gemunkelt, dass er sich wieder verliebt hätte. So, wie ich Nikolai liebe. Aber du denkst immer nur an die Arbeit.«

Ich zuckte bei Silvanias Worten zusammen und erntete von ihr einen entschuldigenden Blick, der mir zeigte, dass sie sehr wohl wusste, was sie damit in mir auslöste. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und eine seltsame Leere machte sich in mir breit, die immer Besitz von mir nahm, wenn die Kinder des Teufels zur Sprache kamen. Musste Sil gerade heute auch noch in dieser Wunde bohren? Reichte es nicht, wenn Elijah mir wieder einmal vor Augen geführt hatte, dass er mein Leben zerstört hatte? Ich hatte so eine große Zukunft vor mir gehabt und dann, von einem Tag auf den anderen, hatten alle gehofft, dass der Dämonenstein mir keine Aufgabe zuteilen würde, damit ich von der Bildfläche verschwand. Wenn es nur so gewesen wäre. Na gut, das war übertrieben, immerhin liebte ich es hier und hätte mir nicht vorstellen können, zwischen all den Menschen zu leben, ohne mich an meine Familie zu erinnern. Aber war die Alternative besser? Ich hatte noch den enttäuschten Gesichtsausdruck meines Dads vor Augen, als mir der Stein umgehängt und meine Aufgabe verkündet wurde. Seine Augen waren aus der ersten Reihe starr auf mich gerichtet gewesen, während er aufgestanden war und die Bühne betreten hatte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst gewesen. Sein Gesicht war rot angelaufen. Zeitgleich hatte ich ihm mit Tränen in den Augen entgegengesehen und gedacht, dass er meine Schmach beenden wollte. Aber ich hatte mich geirrt. Der restliche Saal hatte gelacht.

»Das hat sie verdient«, »Tja das war es mit der Familienehre« und »Ich wusste gar nicht, dass man für nichts gut genug sein konnte«, waren noch die netteren Beleidigungen, die im Raum ertönt waren.

Doch die Stimmen verklangen erst, als mein Dad bei mir ankam, den Stein von meinem Hals riss und mit seiner freien Hand zuschlug. Ich hörte das Klatschen, bevor ein Kribbeln meine Wange durchzog und der Schmerz einsetzte. Trotz des Brennens meiner linken Gesichtshälfte hatte ich noch einige Augenblicke gebraucht, um zu realisieren, dass mein Dad mich nach siebzehn Jahren meines Lebens zum ersten Mal geschlagen hatte. Davor war ich immer seine Kleine gewesen.

Doch seit diesem Tag war jedes nette Wort, das er an mich richtete, eine Besonderheit. Konnte Silvania nicht verstehen, dass ich deshalb so hart arbeiten musste? Mit etwas Glück würden sie mir doch noch eine andere Aufgabe zuteilen, um meine Talente nicht zu vergeuden, wenn ich als Jahrgangsbeste abschloss. Sonst war das mein Schicksal. Ich würde die Beschützerin vom letzten Sohn des Teufels sein, den es gar nicht gab, und würde für die körperliche Unversehrtheit von jemandem zuständig sein, der nicht existierte. Ich durfte zwar in der Hölle bleiben, hatte aber keinen Nutzen.

»Dafür gibt es uns auch«, murmelte ich und versuchte, die Erinnerungen an diesen Tag abzuschütteln. Es reichte, wenn alle anderen mir immer wieder vor Augen führten, dass ich eine Schande war, da musste ich mich nicht auch noch selbst geißeln.

»Wenn nur das unser Lebensinhalt ist, kann mir die Ewigkeit gestohlen bleiben«, sagte Sil ernst und griff nach meiner Hand, damit ich sie ansah.

Die Atmosphäre schlug um. Bis jetzt war es nur ein Gespräch zwischen Freundinnen gewesen. Spontan, leicht, wenn auch nicht immer schmerzfrei. Doch plötzlich schien es viel mehr zu sein. Der Ausdruck auf Silvanias Gesicht passte nicht zu ihrem fröhlichen Wesen. Sie wirkte bedrückt, als würde sie etwas beschäftigen, und sie schaute mich mit tränengefüllten Augen an. Ob sie sich Sorgen um mich machte?

»Wir sollten uns auf die bevorstehende Prüfung konzentrieren«, murmelte ich, entzog ihr meine Hand und blickte starr geradeaus, um sie nicht ansehen zu müssen. Sil und ich sprachen immer über unsere Probleme, aber noch nie zuvor hatte ich den Verdacht, dass sie etwas zurückhielt, um mich mit ihren Worten nicht zu verletzen. Hatte ich mich so stark verändert, dass es besorgniserregend war? Sicher, ich hatte mich in den letzten Monaten zu einer Stubenhockerin entwickelt, die ihre Zeit in der Bibliothek oder ihrem Zimmer verbrachte. Aber ich dachte nicht, dass sich mein Charakter ebenfalls von früher unterschied.

Nachdenklich senkte ich den Kopf und betrachtete meine Hände, die auf der Tischplatte lagen. Vielleicht hatte Sil Recht und ich musste wirklich wieder mehr auf mich achten. Meine Haut war durch die Hitze in der Hölle ausgetrocknet, weil ich sie nicht mehr pflegte, und meine Fingernägel waren so weit abgekaut, dass ich stellenweise Blut sah. Sie waren nicht lackiert, während Sil richtige Muster auf ihren Nägeln hatte. Ihre blauen Haare fielen ihr geglättet über die Schultern und eine Spange, auf der eine schwarze Rose angebracht war, hielt ihre Stirnfransen aus ihrem Gesicht. Meine Haare hingen wirr und zerzaust an mir herunter. Ich hatte sie gestern gewaschen, doch seitdem war keine Bürste mehr in ihre Nähe gekommen. Ich seufzte deprimiert. Mir sollte es nichts ausmachen, keinen Schönheitswettbewerb gewinnen zu können, aber leider tat es das doch.

»Es ist schon ziemlich spät. Vielleicht hat er die Prüfung vergessen«, sagte Silvania und erlöste mich damit von meinen elendigen, sinnlosen Gedanken. Ich würde mich nicht schminken oder früher aufstehen, um mich aufzutakeln. Das war das Einzige, das mir an meinem neuen Leben gefiel.

»Eigenartig. Ich könnte mich nicht erinnern, dass Meister Asmodäus jemals zu spät gekommen wäre«, erwiderte ich und starrte auf das Gestell aus abgetrennten menschlichen Fingern, das eine Uhr darstellen sollte. Unpünktlichkeit passte nicht zu ihm. Ganz und gar nicht. Selbst nach dem Angriff der Engel hatte er am nächsten Tag zur normalen Zeit den Unterricht gestartet und dabei war seine Frau während des Kampfes ums Leben gekommen. Er war sogar so streng gewesen, dass er trotz der Katastrophe Schüler von der Lerneinheit ausgeschlossen hatte, weil sie nicht rechtzeitig gekommen waren oder angefangen hatten zu weinen. Und nun kam er an einem Tag wie jedem anderen zu spät?

»Ist er auch nicht«, stimmte Sil mir zu und folgte meinem Blick zur Uhr. Irritiert fuhr sie sich über das Gesicht, bevor sie den Kopf aufmerksam in die Richtung des Nebentisches drehte, an dem sich zwei Schüler unterhielten.

»Wisst ihr, wo der Meister bleibt?«, fragte Sil freundlich und unterbrach damit das Gespräch der beiden.

Sie musterten erst meine Freundin und sahen daraufhin mich abschätzig an, was ich gekonnt ignorierte. Dennoch traf mich der Hass in ihren Augen und die Arroganz, mit der sie über mich urteilten. Ich wagte zu bezweifeln, dass sie selbst am Tag des Angriffs gekämpft hatten. Aber es war leichter, über mich zu richten, als sich selbst einzugestehen, dass man auch nichts beigetragen hatte, um den Schaden abzuwenden.

»Nein, aber in den anderen Klassen hat der Unterricht auch noch nicht begonnen. Niemand hat jemanden vom Lehrpersonal gesehen«, antwortete eine der beiden, nachdem ich ihr Starren unkommentiert ließ und mich auch auf kein Starr-Duell einließ. Doch ihre Worte waren unbedeutend, weil in diesem Moment die Wand krachte und zu bröckeln begann. Im Eingang erschien Meister Asmodäus, der stehen blieb, seinen Blick über die Schüler schweifen ließ und laut verkündete:

»Die Prüfung fällt heute aus. Der restliche Unterricht ebenfalls. Packen Sie zusammen und verlassen Sie umgehend das Schulgelände.«

Dann machte er kehrt, lief den Gang entlang und verschwand hinter der nächsten Ecke. Verwirrtes Gemurmel brach unter den Schülern aus und auch ich schüttelte irritiert den Kopf. Was zum Teufel war das? Abgesehen davon, dass ich mir umsonst die Nacht um die Ohren geschlagen hatte, um zu lernen, war sofort klar, dass irgendetwas geschehen war. Meister Asmodäus war ein hochgewachsener Mann, der auf sein Aussehen wert legte. Er trug jeden Tag einen Anzug, die grau melierten Haare waren mittels Gel perfekt nach hinten gekämmt und schwarze Lackschuhe rundeten das Outfit ab. Doch heute standen seine Strähnen wirr in alle Richtungen ab. Sein Hemd war zerknittert und anstatt der Anzugshose hatte er eine Jogginghose an, die auf dem Schenkel einen Fleck aufwies. Es sah aus, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Außerdem waren tiefe Sorgenfalten in seinem Gesicht zu erkennen, die ihn zehn Jahre älter wirken ließen. Er war blass, wodurch die Augenringe noch mehr hervorstachen.

»Was ist denn los? Weißt du, was passiert ist?«, fragte Silvania mich beunruhigt und sah immer noch auf die Stelle, wo Asmodäus verschwunden war.

In der Zwischenzeit hatte sich die Wand wieder aufgebaut, aber dahinter waren deutlich Stimmen zu hören. Andere Schüler, die wie wir spekulierten. Allem Anschein nach wurde das gesamte Gebäude geräumt.

»Keine Ahnung, aber irgendwas stimmt hier nicht und Meister Asmodäus’ Abgang ist kein gutes Omen, wenn du mich fragst.«

Auf Silvanias Züge legte sich ein hinterhältiges Grinsen und sie blickte mich verschwörerisch an, als hätte sie vor eine Dummheit zu begehen. Und dumm war noch untertrieben. Wahnsinnig, geisteskrank, todesmutig.

»Also bleiben wir und versuchen herauszufinden, was hier gespielt wird?«, wollte sie mit gesengter Stimme wissen, während ich meine Sachen zusammenpackte, aufstand und meine Tasche schulterte. Sil tat es mir gleich, blieb aber demonstrativ stehen, anstatt wie die anderen den Raum zu verlassen. »Komm, ich weiß, dass es dich genauso interessiert wie mich.«

Das entsprach der Wahrheit. Natürlich war ich neugierig. Wer würde das in so einer Situation nicht sein? Doch ich konnte es nicht riskieren, wieder negativ aufzufallen. Es gab sogar bei den Meistern einige wenige, die trotz meiner Leistungen kaum mit mir sprachen und mich bei jedem Fehltritt absichtlich zu hart bestraften, um ein Zeichen zu setzen. Für sie wäre es die perfekte Gelegenheit, mich doch noch von der Akademie zu schmeißen.

»Nein. Bist du verrückt? Wir stehen kurz vor unserem Abschluss. Ich habe keine Lust, mir noch Ärger einzuhandeln«, meinte ich und bereute, dass meine Stimme so harsch klang.

Sil war meine Freundin. Sie hatte es nicht verdient, dass ich sie anschnauzte. Aber ich konnte nicht anders. Verstand sie nicht, dass uns das in Teufels Küche bringen könnte? Was wäre, wenn das Gebäude drohte einzustürzen und wir wären noch drinnen, weil wir nicht auf den Meister gehört hatten?

»Schön, wie du meinst. Du kannst ja verschwinden. Ich will erst sichergehen, dass alle anderen Klassen auch Bescheid wissen. Nicht, dass diejenigen, die gerade eine Freistunde haben, nicht informiert werden«, sagte Sil bestimmt und ging erhobenen Hauptes auf den Ausgang zu, ohne auf mich zu warten.

Eigentlich war ihre Idee nicht schlecht, obwohl ich bezweifelte, dass die Meister diese Klassen vergessen würden. Dennoch war an der Sache etwas faul. Silvania war nett zu allen, die ihr auf den Schulgängen begegneten, auch wenn sie ihr unbekannt waren. Aber extra loszuziehen, um Fremde über die Schließung der Schule zu informieren? Das klang gar nicht nach Sil.

»Halt! Du bist nicht so pflichtbewusst. Welche Klasse hat gerade keinen Unterricht?«, wollte ich vorwurfsvoll wissen und eilte ihr hinterher.

»Ist das wichtig? Wir sollten uns nicht mit solchen irrelevanten Details aufhalten, oder?«, erwiderte sie, drehte sich aber nicht zu mir um. Somit konnte ich ihr Gesicht nicht sehen. Doch ich hörte das unterdrückte Lachen in ihrer Stimme. Ich hatte also Recht.

»Es ist Nikolais, richtig? Von keiner anderen der knapp dreißig Klassen kennst du die Stundenpläne auswendig. Sil, bitte! Vergiss den Typen endlich«, stöhnte ich genervt und legte ihr eine Hand auf die Schulter, damit sie stehenblieb. »Du bist zu gut für ihn. Jemand wie er hat dich nicht verdient. Du brauchst einen Mann, dem du nicht wie ein räudiger Köter nachlaufen musst. Wenn du dich für immer auf Nikolai versteifst, wirst du allein bleiben, bis du alt und vertrocknet bist.«

Ich wusste zwar nicht, was daran so schlimm sein sollte, sein Leben allein zu meistern und nur sich selbst Rechenschaft ablegen zu müssen, aber Silvania schien es Angst zu machen. Wie die menschlichen Mädchen jagte sie der Illusion eines perfekten Gegenstücks hinterher und wurde nur enttäuscht.

»Für immer«, hauchte sie mit melancholischer Stimme und drehte sich zu mir um, sodass ich das Zucken ihrer Mundwinkel sah, die ein Lächeln andeuteten. »Das will ich. Aber ich erwarte nicht, dass du das verstehst.«

Sie machte eine kurze Pause, doch es kam mir vor, als würde sie noch viel mehr sagen wollen. Ihr Mund öffnete und schloss sich wieder. Sie verzog die Lippen zu einem dünnen Strich.

»Kommst du mit oder nicht? Mehr will ich nicht wissen. Wenn nicht, suche ich ohne dich. Doch ich werde nicht einfach gehen, ohne zu wissen, wo er ist.«

»Ehrlich, was findest du an ihm?«

Verzweifelt sah ich sie an, doch sie reagierte nicht auf meine Frage, was mich seufzen ließ. Es war auch niemand mehr da, um mir zu helfen, sie zu Vernunft zu bringen. Was sollte ich tun? Einfach gehen? Das stand nicht zur Debatte. Sil würde mich auch nicht allein lassen, wenn ich drohte, in mein Verderben zu laufen, und ich war mir sicher, dass es nicht gut für sie enden würde. Im schlimmsten Fall wäre Nikolai schon mit seinen Freunden draußen und wir würden umsonst alle Räume absuchen. Im besten Fall würden wir ihn finden und er würde Sil auslachen, weil sie ihn gesucht hatte.

»Wenn wir jemandem in die Arme laufen, wälze ich die Schuld auf dich ab«, entschied ich und hoffte, dass die Meister verstehen würden, dass ich es als sicherer empfunden hatte, mit Silvania zu gehen, statt sie allein durch die Akademie streifen zu lassen.

»Danke«, sagte sie und ihr Gesicht erhellte sich. Sie strahlte mich an, als hätte ich ihr erzählt, dass sie zum Teufel persönlich eingeladen wurde, legte ihre Arme um mich und drückte mich fest an sich. Die Umarmung war für mich so ungewohnt, dass ich wie angewurzelt dastand, statt meine Arme um sie zu legen. Wann war es das letzte Mal vorgekommen, dass ich jemand anderem so nah gewesen war? Sofort konnte ich nichts anderes mehr riechen als ihr süßliches Parfüm, das ihren gesamten Eigengeruch überlagerte und mich husten ließ. Ihr Griff war so fest, dass ich Angst hatte zu ersticken, doch die Geste löste in mir ein Gefühl der Wärme aus, obwohl mir gar nicht klar war, dass sich in mir die Kälte eingenistet hatte.

Es dauerte nur wenige Atemzüge, bis sie mich wieder losließ und in Richtung Cafeteria rannte, doch die Sekunden zogen sich ins Unendliche. Langsam folgte ich ihr durch die gespenstige Leere. Niemals war es hier so still gewesen. Das Gebäude war wie ausgestorben. Meine Schritte hallten von den Wänden wider und als die Fackeln an den Mauern, die für Licht sorgten, nach der Reihe erloschen, beschlich mich das Gefühl, dass es doch besser gewesen wäre, nach draußen zu gehen.

»Silvania!«, rief ich, bekam aber keine Antwort. Ich setzte einen Fuß vor den anderen und tapste durch die Dunkelheit, während ich meine Hand zur Orientierung ausstreckte und mit den Fingern an der Wand entlangfuhr. Die Mauer fühlte sich rau unter meiner Haut an und stellenweise löste sich durch meine Berührung der Putz. Sie blätterte ab und bröselte zu Boden.

»Sil! Wo bist du?«

Wieder keine Antwort, doch vor mir wurde es heller, als hätte jemand vergessen, ein paar Fackeln auszumachen. Schnell lief ich auf die Lichtquelle zu, jedoch war Silvania auch hier nicht zu sehen. Ich war wieder im Gebäudetrakt angekommen, an dem die Wände weiß waren, und trotz der dämmrigen Beleuchtung war mir klar, dass etwas anders war als sonst. Irgendetwas stimmte hier nicht. Meine Fingerspitzen fühlten sich feucht an. Schmierig. Irritiert zog ich die Hand ein und besah sie genauer. Meine Fingerkuppen waren rot verfärbt. Die Flüssigkeit war warm. Auch an den Mauern klebten rote Spritzer. Blut. Mit angehaltenem Atem sah ich auf die Kleckse, die unregelmäßig verteilt waren und dennoch wie ein Kunstwerk aussahen. Was war hier passiert? Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Wir sollten von hier verschwinden. Sofort!

»Sil!«, versuchte ich es noch einmal und konnte die Panik in meiner Stimme nicht unterdrücken. Wo war sie? Wieso antwortete sie nicht. War das Blut von ihr?

»Valla! Hilfe! Valla!«, hörte ich Silvania kreischen und rannte, ohne nachzudenken, dem Klang ihrer Stimme hinterher, die mich wieder in die Dunkelheit führte.

Ich spürte, wie mein Herz raste. Adrenalin pumpte durch meine Adern und ich schwitzte, obwohl mir eiskalt war. Hastig sog ich Sauerstoff in meine Lungen und ließ die Luft wieder entweichen. Dennoch hatte ich das Gefühl, zu ersticken. Meine Kehle war wie zugeschnürt. In meiner Seite stach es, doch ich beschleunigte meine Schritte und flehte stumm zum Teufel, dass es Sil gut ging. Ich lief weiter und weiter, ohne stehenzubleiben, obwohl meine Beine nach kurzer Zeit schmerzhaft brannten und ich komplett orientierungslos war. Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen Teil des Gebäudes kannte, aber selbst wenn, war er kaum wiederzuerkennen. Es war einfach zu dunkel und die sporadischen Feuer an der Wand trugen nur dazu bei, dass sich meine Augen nicht an die Schwärze gewöhnen konnten.

Nachdem ich Silvania endlich erreichte, atmete ich, als würde ich eine Sauerstoffflasche benötigen. Mehr Cardio-Training zu machen, wäre nicht schlecht gewesen. Das sollte ich dringend ändern. Schmerzhaft keuchend stemmte ich die Hände in die Hüften und bemühte mich, meinen Herzschlag zu beruhigen. Sil schien es gut zu gehen. Sie stand mit dem Rücken zu mir und starrte auf den Boden. Über ihr brannte eine Fackel, sodass ich eine perfekte Sicht auf ihre Kehrseite hatte. Stocksteif stand sie da und ... Schluchzte sie etwa?

»Sil?«

Keine Reaktion.

»Silvania?«

Ein Wimmern.

»Ist alles in Ordnung?«

Kräftig schüttelte sie den Kopf und bedeckte mit den Fingern ihr Gesicht, während ich nähertrat und meine Hand auf ihren Oberarm legte. Doch ich hatte nicht das Gefühl, dass sie meine Berührung wahrnahm. Ihr Blick blieb starr gesenkt.

»Beim unheiligen Teufel, wer tut so etwas Schreckliches?«, fragte sie und schniefte, sodass ich ihren Schmerz beinahe fühlen konnte. Es tat mir weh, sie so leiden zu sehen und nicht zu wissen, was ich tun konnte, um das zu ändern.

»Sil? Was ist los?«, flüsterte ich, um sie nicht zu verschrecken. Ich erreichte jedoch nur, dass sie die Arme sinken ließ und sich zu mir drehte. Tränen liefen über ihre Wangen und legten einen feuchten Glanz über ihr bleiches Gesicht. Wortlos zeigte sie nach vorne und forderte mich mit einem Nicken auf, hinzusehen. Ich kniff die Augen zusammen, um den Fleck, auf den ihr Finger deutete, besser betrachten zu können. Der Boden schien sich vor uns zu wölben und Wasser breitete sich über dem Flur aus. Kälte ging von den Buckeln aus und schien von der Umgebung aufgenommen zu werden, sodass ich fröstelte. In der Hölle war es warm. Immer. Deshalb war ich kühle Temperaturen nicht gewohnt. Eigentlich war dies niemand, der noch die Akademie besuchte. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper und ich rieb mir die Unterarme. Ich trat einen Schritt nach vorne, um besser sehen zu können. Und stolperte prompt rückwärts.

»Verdammte Scheiße!«, schrie ich und riss die Augen auf.

Da lag jemand. Es war nicht der Untergrund, der uneben war, sondern eine Gestalt, die in sich zusammengesunken auf dem Boden schlief. Wobei ich mir nicht sicher war, ob er wirklich nur bei Morpheus im Land der Träume war. Sein Brustkorb hob und senkte sich nicht. Seine Haut war seltsam bläulich und seine Lippen hatte jede Farbe verloren. Seine blonden Haare waren nass und tropften den Boden voll, genau wie seine Kleidung. Jedoch klebte sie nicht feucht an seinem Körper, sondern wirkte steif, beinahe tiefgefroren. Kleine Kristalle überzogen den Stoff, die sich langsam auflösten. Je mehr ich erkannte, desto sicherer wurde ich mir, dass sich der Junge nicht freiwillig hier positioniert hatte. Sein Kopf lag auf der Seite und er blickte in unsere Richtung, ohne wirklich etwas zu sehen. Seine Iris war weiß und in den Augen fehlte jedes Leben. Sie waren ausdruckslos. Tot.

Instinktiv packte ich Silvanias Hand. Ich hatte genug. Egal, wo Nikolai war, er konnte dortbleiben. Aber Sil und ich mussten hier raus!

»Lass uns von hier verschwinden!«, befahl ich und zog meine beste Freundin am Arm, um sie zum Gehen zu animieren. Doch sie bewegte sich nicht.

Ihr Finger war immer noch auf den Toten gerichtet und sie weinte stumm um das Leben, das beendet worden war. Als Dämonin hatte ich schon in jungen Jahren Leichenteile von Menschen gesehen. Eine ausgehöhlte Zunge war sogar der Aufsatz für mein Fläschchen gewesen. Doch es war etwas anderes, einen von uns so zu erblicken und zu wissen, dass er nie wieder sprechen würde. Er würde sich nie wieder bewegen. Ich kannte den Jungen nicht, aber irgendwo in der Unterwelt würde ein Bruder, eine Mom oder ein Dad um einen Dämon trauern, der dem Teufel gestohlen wurde. Kein Wunder, dass Sil weinte. Auch ich fühlte eine Beklommenheit in meiner Brust, die mit jeder Sekunde stärker wurde.

Ein Geräusch hinter mir ließ mich herumfahren. Es klang wie ein Rascheln, wie das Aneinanderreiben von Stoffen. Und dazu kamen schnelle Schritte. Jemand lief auf uns zu. Zwei. Nein, drei. Oder waren es mehr? Gehetzt sah ich mich um und suchte nach einer Gelegenheit, uns zu verstecken. Doch hier war nichts. Wir standen in einem langen Gang, in dem ich mich nicht auskannte. Hier ein Pentagramm zu suchen, würde uns kostbare Minuten kosten. Zeit, die wir nicht hatten.

Ein Schnaufen, nicht weit von uns entfernt, erklang. Ich konnte niemanden sehen. Der Gang sah leer aus, doch ich wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach.

»Sil! Wir müssen hier weg«, flehte ich und zerrte stärker an meiner Freundin, sodass ich sie hinter mir herzog. Trotz ihres dünnen Körpers und meiner Panik, die mir neue Kraft gab, reichte es nicht, um zu laufen. Wir waren zu langsam.

Die Schritte kamen näher. Ich hörte das bedrohliche Schnauben unserer Verfolger und versuchte, die aufkommenden Bilder von Messern, die mir die Kehle durchschnitten und Kugeln, die mich durchbohrten, auszublenden. Sie klangen erschöpft. Wie lange preschten sie schon durch das Gebäude?

»Silvania! Bitte«, bettelte ich weiter und hoffte, sie würde aus ihrer Starre erwachen und den Ernst der Lage begreifen. Egal, wer uns verfolgte, sie waren nicht begeistert, dass wir sie gestört hatten.

»Schnappt sie euch!«, schrie eine tiefe Stimme.

Sie war nah. Zu nah für meinen Geschmack. Und hart. Sie ließ keine Emotionen erahnen, als wäre der Sprecher ein Roboter, oder er würde jeden Tag zwei Schülerinnen verfolgen, um ihnen Unaussprechliches anzutun. Ob er selbst Teil der Akademie war?

»Haben sie uns gesehen?«, fragte eine andere Stimme. Sie klang höher, weiblicher und ein Hauch von Unsicherheit schwang in ihren Worten mit. Hatte sie Angst, erkannt worden zu sein? Ob ich sie schon einmal gesehen hatte? Oder Sil?

Ein Schrei ertönte. Die Schulglocke. Doch ich war nicht darauf vorbereitet gewesen. Ich zuckte zusammen und geriet ins Straucheln. Silvanias Arm rutschte mir durch die Finger und ich hörte ein dumpfes Geräusch, während sie wie ein nasser Sandsack auf dem Boden aufschlug. Ein überraschter Ton kam über ihre Lippen. Gezwungen, stehen zu bleiben, tastete ich blind nach Sil. Schon lange hatten wir den Lichtkegel der letzten Fackel hinter uns gelassen. Das Geräusch der Schritte unserer Angreifer hatte mich fast erreicht, als ich mit der Hand gegen Widerstand stieß. Silvania. Ich wollte ihr aufhelfen und weiterlaufen, doch es war zu spät.

Etwas Hartes traf meinen Hinterkopf. So fest, dass ich das Gleichgewicht verlor und nach vorne fiel. Instinktiv versuchte ich, meinen Fall mit meinen Händen zu bremsen. Jedoch erreichte ich nur, dass ein schmerzhafter Stich durch meine Handgelenke ging. Mir wurde schwindelig. Mein Magen zog sich zusammen und die Dunkelheit vor meinen Augen flackerte. Die Schwärze wurde von kleinen Lichtpunkten durchzogen, die verschwammen. Tränen füllten meine Augen.

»Ist das wichtig? Wir nehmen sie beide mit und fertig. Zwei mehr werden keinen Unterschied machen. Und jetzt beeilt euch. Die Mission dauert schon zu lange. Wir werden noch erwischt und dann war alles umsonst. Ich habe zu hart hierfür gearbeitet, um alles wegen zwei Mädchen über den Haufen zu werfen.«

Ich fühlte etwas Nasses an meinem Kopf und meine Arme zitterten gefährlich, bevor mich die Kraft verließ und sie unter mir wegbrachen. Mein Schädel schlug auf dem Untergrund auf und meine Augen fielen zu. Nur mit Mühe konnte ich sie wieder aufdrücken. Ich war plötzlich unheimlich müde. Fremde Hände berührten meinen Körper. Ich strengte mich an, mich zu bewegen, mich zu wehren, doch mehr als ein Keuchen brachte ich nicht zustande. Der Raum um mich schien sich zu drehen und mein Magen zog sich krampfartig zusammen. Finger tasteten meinen Rumpf ab. Suchten sie nach Waffen?

»Ah, verdammt!«, fluchte jemand und die Hände auf mir verschwanden.

»Was ist los? Warum dauert das so lange?«, brüllte der Anführer. Er schrie, da war ich mir sicher. Aber dennoch wirkte die Stimme weit weg und es fiel mir schwer, zu verstehen, was er sagte. Alle meine Sinne schienen sich zu verabschieden. Ich roch kaum noch den Gestank nach Blut und Schweiß, der in der Luft lag. Ein Kribbeln zog sich durch meine Gliedmaßen, bevor ich meine Arme nicht mehr spürte.

»Wir können sie nicht mitnehmen.«

Das qualvolle Pochen in meinem Kopf verschwand und machte einer wohltuenden Leere Platz.

»Wieso nicht?«

Ich verlor das Gefühl in den Beinen und ich schaffte es nicht mehr, meine Augen offenzuhalten.

»Sie glüht.«

Die Stimmen wurden immer leiser, bis sie kaum noch zu hören waren und Schwärze mich umhüllte.

»Was soll das heißen?«

Pause. Neben mir bewegte sich etwas.

»Verfluchte Scheiße! Dann lassen wir sie hier. Nehmt die andere mit und raus.«

Schwärze umhüllte mich. Ich verlor das Bewusstsein.

Valla - Zwischen Hölle und Fegefeuer

Подняться наверх