Читать книгу Die Praktikantin und 12 andere heiße Erzählungen - Lisa Vild, Elena Lund - Страница 5

Das Gefühl von ihr

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Der Wald zieht unbemerkt vorbei. Kleine Ortschaften. Wollige Schafe in einer stummen Landschaft. Wenn mir zu schwindlig davon wird, die nahen Dinge anzusehen, kann ich den Blick auf etwas weiter Entferntem weilen lassen. Ich denke, dass das wie im Leben ist: darauf zu fokussieren, was einem zu dem Zeitpunkt am meisten Kraft gibt. Ab und zu werden wir in einer gleichen Bewegung herumgeschüttelt; wir wenigen Passagiere, wir, die irgendwo hinwollen. Der Waggon quietscht und jemand blickt auf. Ich strecke meinen Hals, versuche, in dem knarrenden Sitz eine bessere Position zu finden. Sie sind wie dafür gemacht, dass man nicht einschlafen kann; wahrscheinlich gehört das so. Wenn ich Zug fahre, sehe ich immer aus dem Fenster, was dazu führt, dass mein Hals steif wird. Aber ich kann es nicht lassen. Der Regen, der über die Weiten fällt, ist heute dünn und leicht, wie ein langsamer Kuss. Ich kann den schweren Regen wartend in den Wolken liegen sehen. Er ist schon fast blauschwarz vor lauter Warten, dass er endlich raus kann, dass er über uns herfallen kann, die wir in dem wattierten Stahlriesen eingesperrt sind. Ich will in dem Regen baden, meine Kleider ausziehen und unter dem Himmel liegen, wenn er sich öffnet. Lass ihn kommen, lass ihn fallen. Der Waggon quietscht wieder in seinem engen Gleis und diesmal bin ich es, die aufblickt.

Mein Blick landet zufällig auf einer Frau, die rückwärts fährt und somit mir zugewandt auf der anderen Seite des Ganges sitzt. Sie liest eine Tageszeitung, so eine, die raschelt, und trinkt etwas aus einem Pappbecher. Ich betrachte eine Weile lang ihre Finger um den Pappbecher, ehe ich den Schnipsel des Teebeutels und die Schnur über dem Rand bemerke. Die Teesorte kann ich nicht erkennen, sie sitzt zu viele Reihen entfernt. Ihre Finger sehen verfroren aus. Sie trinkt in kleinen, vorsichtigen Schlucken, und ich stelle mir vor, dass sie den Tee hauptsächlich gekauft hat, um sich aufzuwärmen. Es zieht im Waggon, aber ich bin wie immer zu dick angezogen und habe damit somit kein Problem. Ich würde ihr gern meinen Schal anbieten, der zusammengeknüllt und unbenutzt auf dem Sitz neben mir liegt. Wäre das komisch? Ich stelle mir vor, wie sie auflacht und zugibt, dass sie etwas fiert. Sie würde mich fragen, ob ich mich setzen will, ob ich nichts dagegen habe, rückwärts zu fahren. Habe ich nicht. In meiner Vorstellung setze ich mich neben die Frau und sehe zu dem Platz, auf dem ich gerade selbst noch gesessen habe, wo mein echter Körper noch immer sitzt. Wie sieht er aus? Wie sehe ich aus? Ich stelle fest, dass ich etwas zu intensiv die Frau anstarre und sehe schnell wieder aus dem Fenster, aber sie scheint nichts bemerkt zu haben. Wir fahren in einen Tunnel und ein scharfer Wind geht durch den Waggon. Ich werfe heimlich einen Blick zu ihr hinüber, sehe aber nicht mehr als unscharfe Umrisse. Dann sind wir plötzlich wieder im Hellen und ihr Blick trifft meinen. Ich sehe sofort weg. Das hätte ich wissen müssen. Sie kann schließlich im Dunkeln keine Zeitung lesen. Es dauert etwas, bis ich wieder wage, zu ihr zu sehen, und dann tue ich es unauffällig. Diesmal sehe ich sie etwas genauer an. Sie scheint etwa in meinem Alter zu sein, könnte aber auch etwas älter sein. Ihre dunklen Haare sind gedreht und in eine sorgfältige Frisur geflochten, die altmodisch erscheint. Sie sind zur Seite gerutscht, wo sie sich an die Kopfstütze lehnt. Ein warmer, weicher Bollen Haar, der sich an ihren Hals und ihr Ohr drückt. Ich versuche, mir meine eigenen, wuscheligen, wie immer etwas widerspenstigen Haare vorzustellen. Wie die wohl von ihr aus aussehen?

Die Schaffnerin kommt in unseren Waggon und ich suche nach meiner Fahrkarte. Ich habe sie schon einmal vorgezeigt, aber ich finde, es ist gut, wenn man mitarbeitet. Ich weiß nicht mehr, wann die Frau zugestiegen ist, vielleicht in der letzten Station. Anscheinend war ich zu sehr damit beschäftigt, aus dem Fenster zu sehen, um sie zu bemerken. Ich zeige der Schaffnerin meine Fahrkarte, woraufhin sie weiter durch den Waggon geht. Sie bleibt bei der Frau stehen und sagt etwas, das sie zum Lachen bringt. Die Frau antwortet bejahend. Ich zucke zusammen. Kennen sie einander? Die Frau lächelt, als die Schaffnerin im nächsten Waggon verschwindet. Es ist ein stark ansteckendes Lächeln, und ich sehe wieder aus dem Fenster, um nicht zu zeigen, dass ich gelauscht habe. Ich lasse vergehen, was ich für mehrere lange Minuten halte. Wir gleiten in eine kleine Talsenke, die Zahl der Schafe steigt. Ich versuche sie zu zählen, und merke, dass ich eindöse. Eine Weile lang vergesse ich die Frau und ihre Zeitung. Als wir unten im Tal plötzlich anhalten, sehe ich zu ihr auf, aber sie sitzt da noch. Nichts in unserem Waggon rührt sich. Ich sehe nicht viel von den wenigen anderen Passagieren, nur einen Hut und einige Köpfe verschiedener Farben und Haarqualitäten. Auf dem kleinen Bahnsteig steht eine alte Frau und was ich für ihren Mann halte. Sie nehmen einen Jugendlichen in Empfang, der nicht älter als fünfzehn sein kann. Ich sehen sonst niemanden, der aus- oder einsteigt. Uns erwartet eine ruhige Fahrt durch die Berge. Ich bin die Strecke schon früher gefahren. Viele Tunnel liegen zwischen uns und der nächsten Haltestelle. Fast eine Stunde Tunnelsysteme und Aussichtsorte, Helligkeit und Dunkelheit. Das Tal war nur das kurze Abtauchen vor der Steigung. Die Frau und ich werden weiter im gleichen Waggon sitzen und die gleiche Luft atmen. Warum hat sie sich nicht woanders hingesetzt, sodass sie nicht rückwärtsfahren muss? Sieht sie, dass ich sie beobachte?

Der Zug rollt weiter, das gewaltige Monster, das die Landschaft durchteilt. Er startet langsam und rollt dann schneller, wie ein Tier, das sich nach mehreren Monaten in der Höhle streckt. Aber diesmal ist etwas anders. Ein Vibrieren in der Tiefe der Motoren, ein leises Surren in der Maschinerie, weich wie bei einer schnurrenden Katze. Ich weiß nicht, ob nur ich das bemerke. Es ist weniger ein Laut als ein Gefühl. Ich spüre es in den Zehen, ein Kribbeln, das durch alle Haare meines Körpers geht, sich an der Innenseite meiner Schenkel hochkitzelt, über das Steißbein und das Rückgrat hoch bis zu den Haarwurzeln. Ich erinnere mich an das Gefühl aus der Zeit, als ich zwölf war und auf dem Fahrrad über einen Schotterweg vor meinem Elternhaus fuhr. Der Schotter rief im Fahrrad ein Vibrieren hervor, durch den festen Sattel zu dem Weichen, Unentwickelten zwischen meinen Beinen. In dem Sommer bin ich viel auf dem Schotterweg geradelt, hin und zurück, und versuchte dabei so unauffällig wie möglich auszusehen. Im Sommer danach hatte es seine Faszination verloren, aber ich erinnere mich noch immer an das Gefühl des Genusses, dass sich bis in die Schenkel erstreckte. Ich löse meine Knie voneinander. Meine Beine waren auf der ganzen Fahrt übergeschlagen, jetzt habe ich mit Sicherheit rote Abdrücke unter der Kleidung. Die Beine aus der geschlossenen Position befreit, entspanne ich mich und rutsche etwas im Sitz hinunter. Ein leichtes, fast unhörbares Prasseln hat am Fenster eingesetzt. Vielleicht vernehme ich es nur aus dem Gedächtnis, als ich die Tropfen am Fenster runterlaufen sehe. Einer nach dem anderen, es regnet noch immer nur leicht. Ihre Farbe ist fantastisch, unglaublich. Ich fand schon immer, dass die Farbe von Regentropfen zu den magischen Wesen gehört: Engel und Einhörner. Und jetzt gerade mir und meinen Gedanken. Ein schwaches Licht scheint durch die kleinen Wasserbläschen und macht sie goldig, blau oder rosa. Das Surren ist bis zu meinem Schoß vorgedrungen, ich spüre, wie entspannt ich bin und überlege, wann ich das letzte Mal gemeinsam mit jemand anderem nackt war. Es war nach einem feuchtfröhlichen Abend in einer Bar, nichts Erinnernswertes. Ich spülte den Kater am nächsten Morgen mit einem Becher starken Kaffee an einer Tankstelle runter und nahm mir vor, so etwas nie wieder zu tun. Man sollte niemanden in einer Bar aufreißen, wo alle Beteiligten nicht ganz da sind und eine schlechtes Urteilsvermögen haben. So etwas sollte an deutlich sinnlicheren Orten geschehen. Spezielle Treffbereiche. Für Blicke und echten Kontakt. Im Zug. Ich sehe wieder zur Frau rüber. Sie macht sich Notizen in der Zeitung. Was schreibt sie? Ich berechne aus dem, wie weit sie mit der Lektüre gekommen ist, dass sie beim Kreuzworträtsel sein muss. Frage mich, ob sie eher über einem Wort brütet oder lieber Sudokus löst. Ich war immer schlecht in Kreuzworträtseln. Wenig Geduld, wenig Sprachgefühl. Aber es ist schön, anderen beim Lösen zuzusehen, wie ihre Augen sich konzentriert verengen, wie sie Buchstaben in verschiedene Richtungen zusammensetzen, um Wörter zu bilden. Wer das tut, hält den Schlüssel zu etwas Sensiblem und Intimem, der langsame Genuss des Jetzt, mit dem und gegen das Zeitungspapier. Das Kreuzworträtsel des Tages. Morgen das Kreuzworträtsel von Montag. Die Augen der Frau vergrößern sich, als sie den Kuli an ihre Lippen legt und darüber nachdenkt, ob sie sich mit ihrem letzten Eintrag in eine Ecke manövriert hat. Die Muskeln um ihre Augen bilden kleine Falten, schwer zu erkennende Rillen direkt unter den Augenbrauen. Ich sehe sie nicht, aber sehe sie trotzdem. Ich stelle mir vor, dass sie einen Platz weitergerückt ist, um mir Platz zu machen, und dass wir das Kreuzworträtsel zusammen lösen.

Mein Schal ruht auf ihren Schultern, auf ihm wiederum ruht ihre lose Frisur. Ich frage mich, ob sich eine Haarsträhne an dem Stoff verfangen wird. Ich würde es mir wünschen. Ich spüre ihre entfernte Wärme durch den Sitz, auf dem sie gerade noch gesessen hat, und sehe auf die Buchstaben, die sie in das Kreuzworträtsel geschmiert hat. Wörter wie Festung, Albtraum und Runde prangen auf dem dünnen, fast grauen Papier. Wörter, die ich nicht im täglichen Leben benutze, aber wer tut das schon? Wir suchen erfolgreich gemeinsam nach einem längeren Wort und dann nach einem kurzen Wort, von dem sie noch nie gehört hat. Ursus. Bär auf Lateinisch. ((geändert, weil es im Deutschen keinen Fachausdruck für die Vordertatze gibt.)) Ich weiß nicht, warum ich mich daran erinnere, vielleicht ist das ein Rest aus der Unterstufe. Die Frau lächelt, genauso, wie sie die Schaffnerin angelächelt hat. Sie scheint froh zu sein, dass wir es gemeinsam lösen. Das Gefühl in mir erwacht erneut. Sie fragt nach einem anderen Wort, das sie noch nicht lösen konnte. Wie sie wohl klingt? Spricht sie Dialekt?

Ich zucke zusammen, versunken in meinen Blick auf ihren dünnen Fingern, die wieder den Pappbecher umklammern. Er muss jetzt leer sein, oder kalt. Ihre Fingernägel sind kurz, die Fingerspitzen fast durchsichtig, von der Kälte unnatürlich verfärbt. Es wird schlimmer, wenn wir in die Berge hochkommen. Ich frage mich, warum sie so dünn angezogen ist. Ein dunkler Rock, eine dunkelblaue Bluse und dünne Schuhe. Ich selbst trage eine Hose, Stiefel und einen Strickpulli. Es ist Sommer und keineswegs besonders kalt draußen, aber es geschieht immer etwas mit der Temperatur in Fahrzeugen, besonders in Zügen und Flugzeugen. Die Klimaanlage ist auf besseres Wetter ausgelegt. Ich sollte ihr meinen Schal anbieten.

Die Frau zieht den Schal enger um sich. Ich frage sie, ob sie friert, kann ich aber nichts weiter anbieten. Sie gibt etwas peinlich berührt zu, dass sie so schnell zum Zug gehetzt ist, dass sie ihre Jacke im Taxi vergessen hat. Ich lache auf und sie stimmt ein. Nennt sich selbst Wirrkopf. Ich sage, dass das jedem passieren kann. Wir reden ein wenig, wo wir herkommen und wo wir hinwollen. Über die Berge draußen und wie das Wetter wird, wenn der Regen richtig einsetzt. Sie sagt, wenn der Himmel sich öffnet, wird er alle kleinen einzelnen Tropfen am Fenster fortwaschen, zusammen mit den magischen Farben. Ich konzentriere mich ganz auf ihre Stimme, die warm und gurrend ist. Ich weiß weder, was sie fragt, noch, was ich antworte. Manchmal weiß ich nicht einmal, wer von uns spricht. Es ist nicht so wichtig.

Ich werde aus meinen Tagträumen geweckt, weil die Tante, die Süßigkeiten und Kaffee verkauft, in unseren Waggon kommt. Die Frau kauft einen weiteren Becher Tee und eine Schachtel Minzbonbons. Ich kaufe einen Kaffee und ein belegtes Brötchen, das ich auf dem Tisch vor mir lege. Die Tante verschwindet wieder und der Waggon füllt sich mit dem Geräusch der Verpackungen, die geöffnet werden. Die Kaffeeoberfläche ist das Gegenteil der Regentropfen an der Außenseite der Fenster: Sie ist trüb und matt und hat einen komischen Farbverlauf, wie Chemikalien oder Benzin in einer schmutzigen Pfütze. Er schmeckt sauer und etwas scharf, als werde der Behälter, in dem er schwappend herumreist, lange nicht mehr sauber gemacht wurde. Der scharfe Geschmack piekt etwas in der Nase, aber ich trinke den ganzen Becher aus, ohne die dreieckige Einwegpackung mit Milch, die ich dazubekommen habe, anzurühren. Eine Weile lang habe ich meine Müdigkeit überwunden und habe Zeit, die tief hängenden Wolken zu betrachten. Lange dauert es nicht mehr, möchte ich zur Frau sagen aber sie sieht mich nicht an. Sie blickt auf ihr Kreuzworträtsel, das wir zusammen lösen sollten.

Als wir mit dem Kreuzworträtsel fertig sind, blättern wir etwas zerstreut in der Zeitung. Lesen gemeinsam einen längeren Artikel oder einen Bericht, den wir leise diskutieren. Ich sage etwas Originelles über die Rezension eines neuen Restaurants, die Frau lacht auf. Und legt eine Hand auf mein Knie. Sie ist klein und von innen kalt, aber künstlich von außen durch den neuen Tee aufgewärmt. Ihre Finger sind noch dünner, als ich vorher gedacht habe. Wie kleine, helle Spinnen. Eine hält den heißen Pappbecher, die andere liegt wie ein kühler Stein an meiner Kniescheibe. Ich warte darauf, dass sie sie dort wegnimmt, aber das tut sie nicht.

Wir fahren in die erste Dunkelheit. Der Zug hat mit dem Aufstieg begonnen, und der erste von zahlreichen Tunneln legt sich um uns. Die weiche Decke der Dunkelheit ist dicht und sanft, und lässt mich an die schweren Samtvorhänge in einem alten Theater denken. Aber Theatervorhänge sind immer rot. Der Samt, in dem wir uns gerade befinden, besteht aus einem dunklen Grün, oder vielleicht Blau – wie die Bluse, die den Torso der Frau schmückt. Natürlich kann ich die gerade nicht sehen, natürlich stelle ich mir das nur vor. Aber ich glaube zwei Beine zu sehen, die in meine Richtung leuchten, nackt im Tunnel. Das Licht der Notausgangsschilder fliegt vor dem Fenster vorbei und erhellt die Silhouette ihres Gesichts: ein halboffener Mund, der Hals gebeugt. So kommt sie mir auf einmal dekadent vor. Mit ihren Kleidern und ihrer Frisur und dem, was nach einem nur leicht geschminkten Gesicht aussieht, könnte sie in ein anderes Jahrzehnt passen, in eine andere Ära oder einen anderen Zusammenhang. Sie könnte in einer französischen Luxusboutique arbeiten, in der man Parfüms und Seidenschals kaufen kann. Ich frage mich, woran sie wohl denkt, da sie nicht lesen kann. Daran, wohin sie fährt oder wo sie herkommt?

In der Dunkelheit sitzen wir schweigend nebeneinander. Der Luftsog vom Zug im Tunnel verursacht einen sirrenden Durchzug, es dröhnt vor dem Fenster. Aber wir sitzen schweigend da. Ihre Hand auf meinem Knie. Ich schlucke. Wenn ich mich anstrenge, kann ich das Geräusch meiner klingenden Ohrringe in dem Geräusch der Luft hören, durch die wir uns drücken. Es quietscht im Waggon, und eine halbe Sekunde lang drückt die Frau ihre Fingerkuppen in meine Haut. Nicht stark, aber genug, dass ich es bemerken muss. Mich überkommt ein Schauer. Ich nehme erneut die Vibrationen im Zuginnern wahr. Den Kies. Die kleinen, flachen Steine, auf denen die Schienen liegen, über die wir nun fahren, zittern mit mir. Ich spüre die Steine, den Berg, seine gesamte Existenz, durch den dunklen, schmutzigen Stahl. Er erreicht meine Haut durch die Dunkelheit, wie ihre Hand mich durch den Stoff meiner Hose erreicht.

Das Licht erhellt den Waggon, dass es fast wehtut. Einige Sekunden bin ich geblendet und denke an alles, was ich über das Licht am Ende des Tunnels gehört habe. Einige Passagiere richten sich auf, genau wie ich von dem schnellen Stimmungswechsel gestört. Wir sind ein Stück weiter den Berg hochgekommen, aber bevor wir den Abstieg auf der anderen Seite angehen können, müssen wir noch ein Stück fahren. Von meinem Platz aus sehe ich über einen See, der so glatt und unberührt aussieht, als wäre ein Stück Himmel auf die Erde gefallen. Die weitere Steigung bedeutet, dass wir in die Regenwolke fahren müssen und ein Teil der Nässe und Dunkelheit werden. Ich frage mich, wie viele Schafe dort unterwegs sind, ob es regnet und wie schwer in dem Fall ihre Wolle wird. Ich würde gern einmal auf einem Bauernhof arbeiten, und wenn es nur dafür ist, das Regenwasser aus der öligen Schafswolle zu wringen und den Geruch zusammen mit dem Duft der Natur nach dem Regen zu riechen. Der Duft der Wetterniederkunft, von Äckern und Erde, die erwachen. Aber bisher scheint kein richtiger Regen über dem Tal zu fallen. Das Licht verschwindet wieder, und schon sehe ich das Tal nicht mehr. Die zweite Dunkelheit kommt mit einer deutlicheren Vorwarnung über uns. Ein paar Hundert Meter im Tunnel ist das Gleis von Lampen erhellt, wahrscheinlich wegen Bauarbeiten. Im Halbdunkel wage ich wieder, einen Blick auf die Frau zu werfen. Sie könnte noch lesen, das tut sie aber nicht. Sie lächelt über etwas, woran ich nicht teilhabe. Ich suche in ihrem Gesicht nach einem Zeichen, woran sie denkt. Sieht sie mich? Sieht sie auch sich selbst, ohne Kleidung in meinen Gedanken?

Ich habe mittlerweile angefangen, ihr Lächeln zu jagen, und es gibt mir immer einen kleinen Kick, wenn ich es hervorrufen kann. Sie hat einen kleinen Haken an mir befestigt und zieht ihn näher zu sich, und ich frage mich, ob nur ich das merke, oder ob sie es mit Absicht tut. Als die Lichter im Tunnel verschwinden, kann ich ihr Lächeln nicht mehr sehen, aber ich spüre es an meiner Wange. Ihr warmer Atem sucht sich seinen Weg durch die kühle Luft und legt sich wie eine Bestätigung über mein Gesicht, breitet sich wie ein Stromfeld aus. Sie beugt sich vor, ich spüre sie durch die Dunkelheit auf mich zukommen. Sie legt ihre Lippen am meinen Kiefer und macht einen kleinen Abdruck. Ich sitze ganz still, während ihre Lippen einen schmalen Weg aus kleinen, leichten Küssen zu meinem Ohr bauen. Die unglaubliche Sanftheit und die Langsamkeit ihrer Bewegungen hypnotisieren mich. Sie bewegt sich kontrolliert und durchdacht in der Dunkelheit und ich kann nur still dasitzen und warten. Sie saugt an meinem Ohrläppchen, lässt ihre Zunge darüber wandern, flüstert etwas, das ich nicht verstehe. Draußen surrt es im Tunnel, oder befindet sich der Tunnel vielleicht in mir drin? Ein kleiner Biss ins Ohrläppchen und etwas in mir wird gespannt und entspannt sich; ein Punkt tief in meiner Brust, der nach mehr verlangt. Sie lehnt sich von mir weg, ändert ihre Position im Sitz. Erst da bemerke ich die Hitze, die sich wie eine Decke über unsere Sitze gelegt hat. Der Rest des Zuges ist kalt und zugig, aber wir haben uns eine eigene Blase vibrierender warmer Feuchtigkeit geschaffen. Sie hängt über uns wie die Wolken über den Bergen, droht, sich zu öffnen. Ich erhasche ihren Blick in der Dunkelheit, das Weiß der Augen und die dunkle Iris darin. Die Pupillen sind nicht zu erkennen, aber trotzdem merke ich, dass sie mich mit ihrem Blick fixiert.

Ohne die Sache wirklich durchdacht zu haben, stehe ich aus meinem Sitz auf und gehe in ihre Richtung, an ihren Augen vorbei und weiter wie in Trance zur Toilette am Ende des Waggons. Als ich gerade die Tür schließe, höre ich, wie das Rauschen vom Zug ablässt und wir kommen wieder ans Licht. Ich stehe weiterhin in der dunklen, schmutzigen Zugtoilette, die Stirn an die wacklige Schiebetür gelehnt. Ich mache das Licht nicht an. Das Pulsieren des Zuges ist in mir drin und ich kann es nicht von meinem eigenen Herzschlag unterscheiden. Mein Ohrläppchen kitzelt noch etwas von ihrem Biss, den sie mir noch nicht gegeben hat, und ich führe meinen Finger dorthin. Denke an die Frau auf ihrem Platz, an die Person in der Bar letzten Winter, wie es sich anfühlte, angefasst zu werden. Ich drücke die Stirn härter an die Tür und schließe die Augen, öffne den obersten Knopf meiner Jeans und dann den Reißverschluss. Meine Finger sind warm, als ich sie einen nach dem anderen in mein Höschen führe, und ich stöhne auf, ehe ich mich daran hindern kann. Ich hoffe, dass man das im Waggoninneren nicht hört. Meistens, wenn ich auf der Arbeit auf der Toilette masturbiere, ist es reine Routine, ich spiele ein altbekanntes Stück wie einen Filmausschnitt im Kopf ab, oder etwas, was ich gelesen habe, und lass die Finger eine Weile ihre Routine ausführen. Jetzt bin ich feuchter als sonst, und es geht so schnell, dass ich staune. Das Gefühl überwältigt mich, und ich drücke den Daumen fester als sonst an die Klitoris, bis ich einen Krampf im Daumen bekomme und stattdessen meine ganze Spalte gegen meine Knöchel presse. Einer nach dem anderen, wie Perlen an der Schnur, gleiten sie über die Klitoris. Als ich komme, muss ich mich festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Verschwitzt stehe ich da, noch immer fest mit der Tür verankert. Wie lange bin ich hier schon drin? Als ich die Hände gewaschen habe und zurück zu meinem Platz gehe, ist es wieder dunkel, genau wie als ich gegangen bin. Zuerst wage ich nicht, die Frau anzusehen, aus Angst, dass sie mich durchschaut. Aber nach einer Weile entspanne ich mich wieder in der Dunkelheit und schließlich suche ich ihr Gesicht im Dunkeln. Ich sehe ihre Konturen. Ich sehe sie. Und ich möchte, dass sie mich durchschaut.

Es ist wieder hell. Unsere Blicke treffen sich. Der Zug kommt wieder mit so einer Geschwindigkeit aus dem Tunnel, dass niemand so schnell reagieren kann. Sämtliche Seelen im Waggon erstarren da, wo sie gerade waren, ertappt bei dem, was sie im Dunkeln beschäftigte, und mein Blick fixiert den der Frau. Sie sieht zurück, sieht mich an, aber es ist kein unfreundlicher Blick. Ich kann ihn nur schwer deuten, und ich habe es meiner vorteilhaften Haut zu verdanken, dass ich nicht rot werde. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie in mich hineinsehen, meine Gedanken lesen, meinen Puls unter dem nun zu warmen Strickpulli spüren kann. Ich denke an die Schafe unten im Tal, die im Regen und untere ihrer nassen Wolle gefangen sind. Ich fühle mich im Griff des Wolfs gefangen, und unter dem Pulli bin ich feucht vom Schweiß, ich bin mir sicher, dass man das merkt. In den Augen der Frau blitzt etwas auf, ein cleverer Funke in dem so freundlichen Gesicht, und ich erschauere vor Wohlbefinden, mit einem vor Spannung trockenen Hals. Keine von uns muss den Augenkontakt unterbrechen, denn schon sind wir wieder im Tunnel. Irgendein Passagier, der lesen wollte, stößt einen mussmutigen Laut aus, aber ich bin erleichtert, wieder in das matte Schwarz gespült zu werden. Diesmal gibt es keine Lampen, die Gleisarbeiten beleuchten, nur kompakte Dunkelheit und rasselnde Zugräder. Ich spüre sie erneut im Körper.

In der dritten Dunkelheit zittere ich. Die Frau legt eine Hand an mein Gesicht. Sie ist noch immer kalt, aber nicht so kalt, wie ich erwartet habe. Vielleicht hat sie sich in unserem gemeinsamen Kraftfeld zwischen unseren Sitzen aufgewärmt. Ihre dünne Hand formt sich wie die linke Seite meines Kopfes, sinkt auf meinen Wangenknochen, unter den Kiefer, in die Augenhöhle unter den Augenbrauen. Die Berührung ist nicht empfindlich, aber auch nicht unempfindlich. Sie beugt sich näher, streicht mit ihrem Daumen über meine Unterlippe. Erst sanft, dann intensiver. Als ob sie mir Lippenstift aufträgt. Sie fährt damit fort, mir über die Oberlippe zu streichen und steckt dann den Daumen in meinen Mund. Ich bin so erstaunt, dass ich zubeiße. Sie ringt nach Atem, kommt aber noch näher zu mir, ihr Gesicht an meinem. Ich sauge an ihrem Daumen und beiße wieder zu, sanfter diesmal. Sie zieht ihn mir aus dem Mund und ersetzt ihn durch ihre Zunge. Sie hat nun ein Feuer in sich, das man auf die Entfernung nicht sehen konnte, einen Biss, der nicht zu ihrem restlichen Auftreten passt. Ihre Lippen öffnen meine, und der Kuss, den ich bekomme, ist intensiv. Normalerweise bin ich draufgängerischer in dieser Art von Situationen, aber sie ist mir immer einen Schritt voraus, denkt immer schon etwas weiter. Ich hinke hinterher. Sie greift nach meinem Strickpulli und zieht ihn mir über den Kopf, ohne, dass er in meinen Ohrringen hängenbleibt, und zieht mir ohne weitere Umschweife das Unterhemd herunter, das ich darunter trage. Ohne unterstützenden BH habe ich keinen Schutz, und mit einer Bewegung hat sie meine rechte Brust entblößt. Sie streichelt an ihr nach oben, über die Brustwarze, die sofort hart wird. Ich klappe die Armlehne, die wie eine Grenze zwischen unseren Körpern lag, nach oben, und ziehe die Frau näher zu mir. Ihr nackter Schenkel zwischen meinen bekleideten, mein einer zwischen ihren. Die Reibung macht mich wuschig, und ich ziehe sie noch näher zu mir. Mein Schal gleitet von ihren Schultern und auf den Boden. Sie macht Anstalten, ihn aufzuheben, aber ich halte sie ab. Ohne einen Laut von uns zu geben, reiben wir uns aneinander, ich kann die Haut ihres Schenkels durch zwei Lagen Stoff an meinem Unterleib spüren. Die Frau auf meinen Knien kratzt an meiner Brust und atmet konzentriert. Sie beugt sich über mich, um über die Sitze hinweg nicht gesehen zu werden, und ich umarme ihren Hals, feucht von der Anstrengung. Bei einer Gelegenheit erhebt sie sich und zieht ihr Höschen herunter, führt meine Faust zu ihrem Unterleib und reibt sich noch mehr. Als ich zwei Knöchel zu ihrer Klitoris führe, keucht sie laut auf, und ich bekomme Angst, dass jemand die Schaffnerin ruft. Aber im Waggon rührt sich nichts, das Rauschen des Tunnels erstickt unsere Geräusche, und die Frau gibt sich so hin, dass ich sie nicht unterbrechen will. In ihren Bewegungen gleitet sie ein paar Zentimeter von mir weg und ich finde einen härteren Punkt bei ihrem Knie, an den ich mich drücken kann. Ich merke, dass sie kurz vor dem Höhepunkt ist, ohne, dass sie einen Laut von sich geben muss. Ich werfe einen Blick in die Dunkelheit. Ein grünes Notausgangsschild fliegt so schnell vorbei, dass ich es kaum erkennen kann. Um uns herum der harte Zugkörper, der gegen den Bergkörper anfährt, ein pulsierendes Dröhnen, eine einzige brennende Kraft. Das Rauschen ist jetzt nahezu ohrenbetäubend, ich weiß nicht, ob es zu mir oder dem Berg gehört. Der Berg ist in mir drin, und ich bin in ihr drin, und als sie kommt, lege ich meine Hand um ihren Hals und drücke sie zu einem so innigen Kuss an mich, dass die Welt stehenbleibt. Eine Sekunde lang gibt es nur uns, in einem lautlosen Vakuum, und ich spüre ihre Muschi, die halb von meiner Faust umschlossen ist, ihre Zunge, die meine umschlingt, und ihre Atmung, die mitten im Atemzug gestoppt hat. Ihr Herz schlägt wie das des Hasen bei der Fuchsjagd, und meins ebenso. Sachte beruhigen wir uns wieder, sie gleitet von mir weg. Sinkt keuchend wieder in ihren Sitz. Knöpft langsam ihre Bluse zu und zieht sich ihr Höschen hoch. Streicht sich über die feuchte Stirn und steckt einige Haarsträhnen zurück in ihre vorher so perfekte Frisur. Ich beobachte sie, brauche meine entblößte Brust nicht zu verstecken. Ich bin kein Teil mehr vom Ganzen, nur Zuschauerin. Ich bin nicht wirklich da.

Mein Herz schlägt noch immer stark, als ich die Augen schließe. Es schlägt in den Schläfen, in den Fingerspitzen und zwischen den Beinen, aber nun ist mir der natürliche Kontakt zum Zug abhandengekommen. Das Fahrzeug, in dem ich unterwegs bin, fühlt sich vor allem wie ein mechanisches Bauwerk an, seine Seele ist fort. Der Strickpulli klebt zwischen meinen Schulterblättern und am Rücken fest. Wenn ich ihn jetzt auszöge, würde sie sehen, dass ich an sie gedacht habe. Oder es riechen. Irgendwie bin ich sicher, dass sie diese Art von Fähigkeit hat. Das Einzige, was ich tun kann, solange wir noch im Tunnel sind, ist, meine Augen zu schließen und mich wieder zurückzulehnen. Meine Atmung macht mich nicht leichter, eher fühlt es sich an, als ob ich die Luft hinaus- statt hereinpumpe. Nie habe ich mich so schwer gefühlt. So schwer auf dem Sitz. So schwer.

Ich glaube, ich schlafe. Es ist die Art von Halbschlaf, wo man weiß, dass man schläft, aber nicht zeigen kann, dass man das weiß. Ein Traumgefängnis. Es ist noch immer dunkel. Ich höre das Geräusch des Zuges nicht, nur ein Rauschen wie vom Wind über den Bergspitzen. Aber das kann nicht sein. Wir müssen auf dem Weg nach unten sein, der nächste Halt kann nicht weit sein und der ist weiter im Tal. Hinter dem Rauschen kann ich Schritte hören, weit weg, wie von Tausenden Füßen, die in die gleiche Richtung gehen. Ein kalter Ring hat sich auf meiner einen Stirnseite gebildet. Die Schritte werden lauter und jemand flüstert mit einer Stimme, die ich noch nie gehört habe: „Danke fürs Ausleihen.“ Ich versuche zu antworten, aber bevor ich es schaffe, bin ich wieder im Traumland.

Jemand klopft mir vorsichtig auf die Schulter und ich zucke zusammen. Merke, dass der kalte Fleck an meiner Stirn von dem Fenster herrührt, an das ich im Schlaf gerutscht bin. Die Schläfe fühlt sich gefroren an. Die Schaffnerin steht vor mir. Sagt, dass sie vorbeikam und mich wecken wollte, falls ich aussteigen muss, sodass ich meine Station nicht verpasse. Muss ich hier raus? Ich sehe durch das beschlagene Fenster. Draußen ist ein schmutziger Bahnsteig, vom Regen aufgelöst. Die Wolken wurden aufgeschnitten und der Himmel hat sich geöffnet, schwerer Regen prallt auf die Erde wie Tausend nasse Füße, rasender Elfentanz auf dem Flachdach des Zuges. Ich sehe zum Platz der Frau hinüber, aber er ist leer. Weder der Pappbecher, noch ihr Gepäck sind zu sehen. Ich werde ihre Silhouette niemals draußen im Regen erkennen, sie ist wie alles andere vom grauen Nass aufgelöst. Ich antworte der Schaffnerin, dass das hier nicht meine Haltestelle ist und danke ihr fürs Wecken. Die Schaffnerin nickt kurz und lässt mich in Ruhe. Zwei neue Passagiere haben hinter dem Sitz der Frau Platz genommen. Sie unterhalten sich fröhlich und teilen sich eine kleine Chipstüte. Der Zug fährt weiter und ich bereite mich darauf vor, an der nächsten Haltestelle auszusteigen, indem ich meine Sachen zusammensuche. Da entdecke ich den Schal auf dem Platz neben mir. Ich kann mich nicht erinnern, ihn zusammengelegt zu haben. Meistens gehe ich sorglos mit ihm um, stopfe ihn in meine Tasche oder lasse ihn zusammengeknüllt herumliegen, und ich dachte, das hätte ich auch diesmal gemacht. Aber nun ist der Schal sorgfältig zusammengelegt, mit einer Seite offen zum Betrachter – zu mir. Es macht einen einladenden Eindruck. Ich stelle mir vor, dass sie die Schals so in französischen Luxusboutiquen zusammenlegen, solche, in denen man auch Parfüm kaufen kann.

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