Unter Vormundschaft
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Lisbeth Herger. Unter Vormundschaft
Inhalt
I. Die Zeit in den grauen Wänden
II. Keine Chance für Lina
III. Lina, das Dienstmädchen
IV. Die erstrittene Magd
V. Entmündigung auf eigenes Begehren
VI. Lina, die Schutzbefohlene
VII. Emma gibt nicht auf
VIII. Die Goldmarie – ein Millionengeschäft
IX. Ein Leben hinter dem Vorhang
X. Die Befreiung
XI. Rückkehr in die Welt
XII. Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit
Dank
Anmerkungen
Quellen und Literatur. Schriftliche Quellen
Mündliche Quellen
Literatur
Impressum
Отрывок из книги
An den Rändern zeigt sich,
wie die Mitte dreht.
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Die Ärzte in Wil sehen dies anders und ziehen dabei einen diagnostischen Helfer hinzu: Den Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene, den sogenannten HAWIE, mit dem Lina zwölf Tage nach ihrer Einweisung geprüft wird. In jener Krankheitsphase also, in der sie gemäss ärztlichen Protokollen «zeitweise vorbeiredet» und die grösste Zeit «fast vollständig mutistisch» dasitzt. Das Ergebnis des Tests lässt sich in der Absolutheit seiner arithmetischen Härtegrade nachlesen, im Ersteintrag von Linas Krankenakte, noch vor der Anamnese: «[…] Es ergibt der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest nur einen Intelligenzquotienten von 75, wobei der Verbalteil mit 69 wesentlich schlechter absolviert wurde als der Handlungsteil mit 82.» Eigentlich wissen die Psychiater, dass kognitive Leistungen bei einer Psychose oder schweren Depression völlig reduziert sein können. Sie schreiben dies denn auch ordentlich als Kommentar in die Krankengeschichte, und Dr. Rauheisen weist in seinem späteren Bericht an die zuständige Behörde explizit darauf hin: «Lina Zingg leidet an einer Geisteskrankheit (Schizophrenie) […]. Ob gleichzeitig bei ihr ein Intelligenzmangel (Schwachsinn im medizinischen Sinne) vorliegt, können wir erst nach Abklingen des jetzigen Schubs der Geisteskrankheit mit Sicherheit entscheiden, da eine verwertbare Intelligenzprüfung bei Fräulein Zingg erst durchgeführt werden kann, wenn die übrigen geistigen Störungen zurück gegangen sind.»
Leider geht diese verwertbare Intelligenzprüfung – aus welchen Gründen auch immer – bei Lina vergessen. Und so werden sämtliche gutachtenden Ärzte im Fall Lina Zingg stets wieder die erwähnten HAWIE-Resultate zitieren und als Beleg ihrer Debilität hinterlegen. Während über 50 Jahren. Überdies, auch das sei noch angemerkt, werden die Testwerte erst noch zu Linas Ungunsten ausgelegt. Denn bei einem Intelligenzquotienten zwischen 70 und 80 spricht man gemäss Lehrbuch von leichter Minderbegabung, aber noch nicht von Schwachsinn. Und im Handlungsteil des Tests liegt Lina mit ihren 82 Punkten sogar im Bereich der Normalität. Man hätte in die Krankenakte der psychisch erkrankten jungen Frau also ebenso gut schreiben können, dass das Mädchen mit seinem ärmlichen Hintergrund und trotz seiner akuten Psychose eine durchaus bemerkenswerte kognitive Leistung zeigt. Doch nun steht da das medizinisch autorisierte Verdikt der Debilität leichten Grades. Es wird sich künftig wie eine blutsaugende Zecke in Linas Leben festsetzen, unwiderruflich und therapieresistent. Wird später gar diagnostisch verschärft, in manipulativer Absicht, wie noch zu zeigen sein wird: Die Debilität leichten Grades wird zu einer Oligophrenie, also zu einem eigentlichen Intelligenzdefekt, sprich Schwachsinn erhoben.
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