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Anne nimmt alle Hürden

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„Trrrr!“

„Anne, es klingelt!“

„Ich bin nicht da!“

„Trrrr!“

„Anne! So geh doch und mach auf!“

„Herrje, ich kann jetzt nicht.“

„Ich auch nicht. Ich bin noch nicht mal halb fertig.“

„Trrrrrrrr ...“

„Du, das sind bestimmt die ersten –“

„Bloß nicht! Zum Fasching kommt niemand pünktlich, geschweige denn eher. Mein einer Stiefel geht nicht ans Bein, ich weiß nicht, woran das liegt. Und mein Zylinder ist weg!“

Bava – eigentlich Barbara-Eva, Annes etwas ältere Schwester – stülpte die Perücke über und rannte selbst zur Flurtür. Zu acht Uhr war eingeladen, und jetzt war es zwanzig vor. Dann konnten es doch wahrhaftig noch keine Gäste sein!

Doch! Natürlich waren es Eingeladene, zwei Freunde von Harm, dem ältesten der Geschwister, der schon studierte. Sie hatten den elektrischen Klingelknopf der Etagentür heruntergedrückt und ein Streichholz hineingeklemmt und nun bekamen sie das nicht wieder heraus. Es schrillte gellend und ununterbrochen.

„Seid ihr wahnsinnig?“

„Ja, seit wir dich gesehen haben, o schönste aller Frauen!“

Bava reagierte auf dieses erste Kompliment des Abends nicht, sondern rannte schweigend in die Wohnung zurück, stöberte im Handwerkskasten und erschien dann mit einer Zange am Tatort. Gleich darauf schwieg die Klingel.

„Kommt rein“, sagte Bava atemlos, „wir sind noch lange nicht fertig. Wie könnt ihr auch so zeitig kommen!“

„Wir wollen mit Harm zusammen die Bowle ansetzen“, sagte der eine, der aussah wie ein Marsmensch. Er steckte in Papphülsen, die Metall vortäuschen sollten, und bewegte sich in der Manier eines schlecht geölten Roboters.

„Wie der tanzen will, ist mir schleierhaft“, dachte Bava. „Harm, los, wo steckst du?”, rief sie. „Eckart und Dieter sind da!“

Damit verschwand sie aus dem Korridor, um sich im Schwesternzimmer fertig zu schminken. Dort traf sie auch Anne und Heide, das Nestküken, das mit seinen 14 Jahren den ersten richtigen Hausball erleben sollte und entsprechend aufgeregt war.

Anne, die mittlere der Schwestern, größer als Bava, langbeinig und schulterschmal, mit ziemlich kurz geschnittenem Haar, stand vor dem Spiegel und sah sich prüfend an.

„Wie Fasching sehe ich eigentlich nicht aus“, murmelte sie. Bava hob den Blick und sah sie an.

„Nein, da hast du Recht. Kannst du nicht ...“

Anne trug Harms abgelegte schwarze Breecheshose, Reitstiefel, weißes Hemd und Zylinder. Sie sah hübsch und sauber, aber sehr sachlich und in keiner Weise dionysisch aus, wie Bava feststellte. Bava hatte schon das Abitur und studierte Philologie, sie musste es wissen.

„Was macht man denn da?“, fragte Anne kleinlaut.

„Pass auf.“ Bava wusste immer Rat. „Zieh das Hemd aus und meine Bluse an.“ Sie warf ihr ein weißes Etwas zu. Anne strahlte auf.

Bava besaß eine Bluse, um die sie sie immer beneidet hatte: vorn richtiger, klassischer Hemdblusenschnitt, hinten rückenfrei bis auf den Hemdkragen. „Darf ich wirklich?“, juchzte sie unterdrückt.

„Na klar. Schnell, und auf den Rücken –“

Bava stand hinter der Schwester und zückte den Lippenstift. „Halt still, sonst verwackelt es“, mahnte sie und malte.

„Was schmierst du mir denn da drauf?“

„Einen Steigbügel. Wundervoll! Hier, guck dich an!“

Anne nahm den Handspiegel und drehte und wand sich.

Wirklich, jetzt wurde die Sache schon besser. „Und nun noch – pass auf!“ Bava nahm ein paar bunte Papierschlangen und wand sie um Annes Zylinder, sodass sie hinten herunterwehten.

„Fertig. Großartig. Was meinst du, Heide?“

„Ja wirklich! Und ich?“

„Du bist süß, mein Küken“, sagte Bava zärtlich, „mit Augenmaske erkennt dich keiner. Die Lebedame, wie sie leibt und lebt!“ Sie steckte der kleinen Schwester noch ein künstliches Sträußchen an die Schulter des urkomisch altmodischen Seidenkleides. „Du wirst uns alle abschießen mit deinem Kostüm.“

Eben donnerte es an die Tür. „Ja? Mach auf, das ist Roland.“

Er war es, der fünfte der Birkner-Geschwister. Sechzehn, ungeheuer groß – größer noch als Harm, was den cand. med. insgeheim ärgerte –, und noch mit der Tapsigkeit dieses Alters behaftet, stand er jetzt vor den Schwestern, etwas schüchtern, da er fürchtete, ausgelacht zu werden, gleichzeitig aber durch die Maskierung schon etwas kühn gemacht. „Kann ich so gehen?“

Er trug zur weißen Rennfahrerkombination, an der die Reißverschlüsse glänzten, eine rote Lederkappe mit Autobrille. Dadurch wirkte er noch größer. Anne lachte.

„Herrlich siehst du aus, zum Verlieben. Nimm dich in Acht!“ Sie rannte an ihm vorbei in den Flur. „Mutti, Muttiiiii, wo steckst du denn? Mutti, kann ich wirklich so gehen?“

Frau Birkner stand in der Küche und verteidigte den Salat, der das kalte Büffett und damit die Grundlage für die Bowle abzugeben hatte, gegen den Marsmenschen, einen Zirkusdirektor und ihren eigenen Ältesten, der in einem weißen Kittel steckte und sich irgendwo im Krankenhaus requirierte Abhörschläuche in die Ohren gesteckt hatte. Um den Kopf trug er ein Stahlband mit dem Rachenspiegel, der ihm fortwährend über die Augen rutschte. „Bis er in der Bowle liegt!“, jammerte Frau Birkner. „Nein, den Salat gibt’s jetzt noch nicht, erst wenn alle da sind. Machen Sie sich dünne, Herr Doktor!“

„Nur kosten! Nur prüfen! Ich bin vom Gesundheitsamt und beauftragt, nachzuforschen, wieviel Prozent Nitrit sich ...“

„Im Kartoffelsalat ist kein Nitrit“, fuhr Anne empört dazwischen, „Hering ist da drin, wenn du’s wissen willst. Raus mit euch aus der Küche, da klingelt es schon wieder! Los, macht auf!“ Sie trieb die Männer hinaus. „Mutter, du kannst dich ruhig anziehen, ich mach das hier schon fertig.“ Sie hatte nach der Uhr gesehen. Frau Birkner tat das auch.

„Ich weiß nicht, Anne, soll ich nicht doch lieber dableiben?“

„Aber Mutti! Soll Vater vergeblich auf dich warten? Fix, ins gute Kleid und ab durch die Mitte!“

Die „Kinder“ hatten Vater und Mutter gebeten, ihren Karneval allein feiern zu dürfen, und ihnen, um sie zu versöhnen, zwei Karten für eine Prachtaufführung der „Fledermaus“ spendiert. „Und hinterher geht ihr noch aus und trinkt einen, hört ihr? Oder zwei. Ihr sollt es doch auch lustig haben!“

Frau Birkner gab nach. Sie lief ins Schlafzimmer und zog sich um. Natürlich durfte sie ihren Mann nicht versetzen.

Ein Glück nur, dass er überhaupt drauf eingegangen war, an diesem Abend auszugehen. Sie hatte ihm zugeredet, soviel sie konnte.

„Die Kinder sind jung, und Jugend will unter sich sein. Ich begrüße noch die Gäste, und spätestens halb zwölf sind wir zurück. Das genügt. Dann wird noch ein wenig weitergefeiert, und wir beide tanzen ein-, zweimal herum, du mit Bava und ich mit Harm.“ Mutter tanzte sehr gern. Herr Birkner sah sie misstrauisch an.

„Muss ich das?“

„Du musst nicht, aber du wirst bestimmt gern wollen“, hatte sie das Gespräch geschickt und diplomatisch beendet, „und nun sag schon ja. Ich jedenfalls freu mich auf die ‚Fledermaus‘.“

Das tat sie wirklich, auch heute wieder, als sie sich in Windeseile umzog. Im Flur traf sie auf neu hereinströmende Gäste. Sie kannte und duzte alle Freunde ihrer Kinder. „Jaja, ich komme wieder. Ich bleibe euch nicht erspart!“, rief sie und entwand sich männlichen Armen, die sich kühn um sie zu schlingen versuchten. „Ihr wisst ja, dass ich gehe, da ist es leicht, mutig zu tun.“ Hinaus war sie. Die jungen Leute lachten.

„Frau Birkner ist in Ordnung!“

Das Motto dieses Faschingsabends hieß: „Du und ich in fünfzehn Jahren.“ Zwar fanden alle jugendlichen Gäste, dass sie nach Ablauf dieser unendlich langen Zeitspanne eigentlich schon uralt und sozusagen nicht mehr zu rechnen seien, aber man schwelgte trotzdem in Wunschträumen. Jeder hatte Berufspläne, die jetzt für ein paar Abendstunden Wahrheit werden sollten, und wenn es auch nur das Kostüm war.

Zunächst aber stürzten sich Chirurgen und Marsreisende, Lebedamen und Nobelpreisträger auf den Heringssalat, denn die meisten von ihnen waren Studenten und demnach chronisch hungrig, zumal jetzt gegen Ende des Semesters. Anne und Bava schleppten noch zwei große Holzteller voll Anschovis- und Käsebrötchen heran – einen dritten ließen sie vorsichtshalber versteckt in der Speisekammer –, und Harm füllte die Bowlengläser. Ehe aber der erste Schluck getrunken war, klingelte es, und Anne stürzte zur Tür. Ihr war im selben Augenblick eingefallen, dass ja Margot, ihr „Blutsbruder“ aus frühen Indianerspielen des Landlebens, noch fehlte. Richtig, sie war es.

Und ihr Erscheinen erweckte allgemeines begeistertes Bravo. Denn sie hatte, uneitel, wie sie war, als einzige der Damen gewagt, nicht auf hübsch, sondern auf komisch zu kommen. Jungen taten das eher, Mädel fast nie, was ja begreiflich ist.

Schon an sich nicht schlank, hatte sie die Breite ihrer Hüften noch übertrieben, „untermauert“, wie sie sagte, ein bäuerliches Kleid darüber gezerrt und ihr rotbackiges Gesicht mit einem knallbunten Kopftuch eingerahmt. Bäuerin – wer wollte heutzutage wohl noch Bäuerin sein? Margot. Unter einem Arm trug sie eine lebendige Gans, unter dem andern – kein Wunder, dass alles brüllte – ein ebenso lebendiges Ferkel.

„Deshalb komm ich ja so spät“, japste sie, „das Ferkel ist mir in der Straßenbahn ausgerückt. So ein Ferkel! Klar, ich hatte es in einer Kiste, aber ein Mitfahrender wollte unbedingt reingucken, und da musste ich auch noch nachzahlen!“

Margot stammte aus dem Dorf, in dem der Großvater der Birkner-Kinder, Muttis Vater, Arzt war. Dort hatte Anne drei unvergessliche Jahre ihrer Kindheit verlebt. Aus einem sechswöchigen Aufenthalt war so eine lange Zeit geworden. Anlass dazu war eine simple Grippe mit hartnäckigem Husten. Erfolg: eine solch wertbeständige Freundschaft wie die mit Margot und eine immer währende, nicht auszukurierende Sehnsucht nach dem Land.

Margot brachte sofort noch mehr Leben in die Bude. Sie ließ das Ferkel laufen und die Gans flattern. Allgemeines Gekreisch, das der Gäste aus Vergnügen, das der Gastgeber doch etwas erschrocken.

„Gut, dass Vater nicht da ist.“ Sogar Anne war nicht ganz wohl in ihrer Haut. Alles aber erwies sich als halb so wild. Das Ferkel kam in die Badewanne, die mit Holzwolle gepolstert einen schönen Behelfsstall abgab, und die Gans –

„Der hab ich eine Windelhose angezogen. Aus Billroth-Batist. Da kann nichts passieren“, beruhigte Margot und schob sich an den Tisch heran, „wie ist das, kriegt man hier was zu futtern?“

Als die Eltern Birkner kurz nach Mitternacht heimkamen, lief das Fest in vollen Touren. Der Plattenspieler dudelte, und im Jungenzimmer, zu diesem Zweck ausgeräumt und wild dekoriert, hopsten die Rock’n’Roll-Tänzer und -Tänzerinnen hin und her, dass man selbst Lust bekam, mitzumachen. Der Marsmensch hatte längst die unbequemen Umhüllungen abgeworfen und brachte der kleinen Lebedame, deren Backen ohne Schminke roter glühten als seine angemalte Nase, die ersten Tanzschritte bei. Anne und Margot hockten, in ein eifriges Geflüster vertieft, auf der Kinderbank im Flur. Die Bowle war noch nicht zur Hälfte ausgetrunken, man hatte anscheinend keine Zeit dazu. Auch geraucht wurde wenig, die meisten der jungen Leute waren entweder Sportler oder Nichtraucher von Natur oder aus Prinzip.

Groß war das Beifallsgeheul, als Frau Birkner jetzt, rasch aus Mantel und Hut geschält, mit Kaffee und Kuchen aufwartete. Anne und Margot waren aufgesprungen und reichten Tassen und Teller herum. Im Nu hatte sich alles um die große Kanne versammelt. Da der Tisch hinausgeräumt war, balancierte man Tasse und Kuchen mehr oder weniger geschickt in den Händen.

„Ihr Kuchen ist ein lyrisches Gedicht“, versicherte der Zirkusdirektor und machte kugelrunde Augen, während er ein unwahrscheinlich großes Stück in den Mund verfrachtete. Er konnte trotzdem weitersprechen. „Ich werde ihn zeit meines Lebens rühmen und nie vergessen, Frau Birkner!“

Mutter lachte.

„Bitte, Herr Birkner, Sie müssen auch eine Tasse trinken“, bat Margot und lief, um eine zu holen, als sie Annes Vater etwas unschlüssig an der Tür zum Jungenzimmer entdeckte. Alle Türen standen offen, das Fest wogte durch alle Räume. „Und hier, ein Stück Bienenstich, bitte, versuchen Sie doch mal!“

„Einen Moment, ich möchte mir erst die Hände waschen.“ Vater Birkner verschwand hinter der Badezimmertür. Margot, plötzlich an ihr lebendiges Requisit denkend, ließ vor Schreck beinah ihre Tasse fallen. „Was wird er jetzt sagen!“

Er sagte nicht viel. Dazu war die Stunde nicht angetan und die Fröhlichkeit zu groß und zu mitreißend. Und Margot erklärte wortreich, dass sie, sie allein schuld sei. Sie kannte Annes Vater.

Nein, er verdarb keine Stimmung. Es wurde fröhlich weitergefeiert, und als die andern gingen, blieb Margot noch da, räumte mit den Geschwistern das Nötigste zusammen, um später auf dem zerlegenen Diwan im Schwesternzimmer zu nächtigen. So war es immer, weil sie so weit entfernt wohnte. Auch Anne blieb stets bei ihr über Nacht, wenn sie dort zu Besuch war.

Am andern Vormittag gab es ein großes Katerfrühstück, es war Sonntag, die Sonne schien, und das ganze Fest wurde noch einmal erzählender- und lachenderweise mit vielen „Weißt-du-nochs“ durchgenommen.

„Ungeschminkt gefallt ihr mir besser“, sagte Herr Birkner und sah Töchter und Söhne der Reihe nach an, auch Margot. „Aber es gehört ja wohl dazu. Früher hatten wir allerdings immer ein Motto bei solchen Festen. Das gibt’s wohl jetzt nicht mehr?“

„Doch! Unseres hieß: Du und ich in fünfzehn Jahren!“, sagte Margot und biss in eine Gewürzgurke. „Ich hoffe nur, in fünfzehn Jahren nicht ganz so dick zu sein wie gestern.“

„Aber euer Gut bewirtschaften, das möchtest du doch“, sagte Harm vergnügt. „Mach dir keine Sorgen, so eine richtige dicke Doppelschulzin ist auch was wert!“

„Danke. Ich wollte nur, dass ihr alle günstig abstecht mit euren Figuren, daher nahm ich das Opfer auf mich.“

„Sicher! Nur!“

„Und du, Anne? Was bedeutete dein Kostüm?“, fragte der Vater. „Turnierreiterin? Eine zweite Helga Köhler?“

Anne wurde rot, so sehr sie es zu verhindern suchte.

„Nein. Nur Reitlehrerin“, sagte sie halblaut. Und damit war die Fackel im Pulverfass.

Übrigens – zur Explosion kam es nicht. In dieser Stunde nicht. Frau Birkner stand, wie ach so oft, als wachsamer Hellebardier Posten. Sie beruhigte und glich aus, verstand, das Thema zu wechseln und den Zorn ihres Mannes zunächst abzufangen. Trotzdem merkten alle die Gefahr, auch Margot. „Au backe, das rauchte“, sagte sie nachher zu Anne, als sie im Mädelzimmer stand und ihren Koffer packte. „Ich hatte mehr Angst als heute Nacht wegen des Ferkels. Ich dachte, er wüßte es schon!“

„Ach wo, er hat es nie für bare Münze genommen“, murmelte Anne. Es klang verzagt. „Immer meinte er, es wäre nur Luftschloss und Illusion bei mir. Dabei ist es doch heute gar kein aussichtsloser Beruf mehr!“

„Gar nicht. Reiten ist wieder modern. Jeder sieht das“, sagte Margot eifrig. „Überall werden Reitvereine gegründet, überall Reitlehrer gesucht. Reiten ist als Gegengewicht gegen das Managertum und die Motorisierung jetzt die Masche. Außerdem gibt es wieder Gestüte, die Bereiterinnen suchen. Mein Onkel hat eins, bei Oldenburg. Der nimmt viel lieber Frauen als Männer.“

„Natürlich.“ Anne saß auf einem kleinen Fußbänkchen, die Arme auf die Knie gestützt und die Hände um die Wangen gelegt. „Aber sag das mal Vater! Der will am liebsten, dass wir alle Beamte werden, mit Pensionsberechtigung.“

„Ach Quatsch, dein Bruder wird doch auch Arzt, und was ist das heute für ein schwerer Beruf!“, sagte Margot. „Mein ältester Bruder studiert auch Medizin, ich weiß, wie schwer es ist, da hineinzukommen. Wenn er das durchgesetzt hat –”

„Ja, aber Arzt ist was anderes. Das ist etwas Seriöses, und das hat es immer schon gegeben. Wenn Vater mich wenigstens jetzt Ostern mit der mittleren Reife aus der Schule gehen ließe!“, seufzte Anne. „Denn Vater als Landgerichtsrat will eben mit seinen Kindern auf Nummer Sicher gehen.“

Dasselbe sagte in diesem Moment Annes Mutter zu ihrem Mann, freundlich, vorsichtig, auf die ihr eigene, nette Art.

„Es gibt in jeder Generation neue Berufsmöglichkeiten. Und je weniger üblich ein Beruf ist, desto eher hat man Chancen, etwas darin zu leisten und hochzukommen“, sagte sie. „Anne ist nun einmal für die Stadt verdorben, sie gehört aufs Land. Ich fände es sehr vernünftig, wenn wir sie diese Ostern aus der Schule nähmen.“

„Und Reitlehrerin werden ließen! Wo soll ich denn nur das Geld für so einen Wahnsinnsberuf hernehmen?“, fragte Herr Birkner aufgebracht. „Teure Ausbildung, überhaupt keine Aussichten, und wer sagt denn, dass sie sich überhaupt dafür eignet?“ Sein Gesicht war vor Zorn gerötet. „Ich finde, du solltest Vernunft annehmen und das Mädel in seinen unreifen Ideen nicht auch noch unterstützen. Lehrerin soll sie werden, das ist etwas Solides, und da kann sie auch aufs Land. Die Ausbildung ist nicht lang und verhältnismäßig billig. Dazu braucht sie aber das Abitur.“

„Sie möchte aber gern ...“

Vater ließ sie nicht ausreden. „Reitlehrerin! Ihr seid von allen guten Geistern verlassen!“

Das Letzte sagte er so laut, dass man es auf dem Flur hörte. Dort gingen gerade Anne und Margot vorbei, leise, nicht um zu lauschen, sondern um das Ferkel aus dem Bad zu holen und wieder zu verpacken. Anne fasste unwillkürlich nach Margots Hand.

Margot packte mit ihrer fest zu.

„Still!“, flüsterte sie leise, aber energisch. „Das tritt sich alles fest, sagte Kornelius, als ich das erste Mal vom Satan sauste ...“

Anne stand am Zugfenster, sie brachte es einfach nicht fertig, sich hinzusetzen, so kribbelte es in ihr vor Ungeduld und Spannung. Sie steckte das ganze Abteil an. Und zwei Stationen vor Lauterbach hatte sie schon die Mütze auf dem Kopf, den Mantel an, die beiden Koffer bei Fuß und die Fahrkarte in der Hand. Endlich quietschten die Bremsen.

Der kleine Bahnhof lag friedlich und still im Schein der Aprilsonne da. Niemand außer Anne stieg aus. Sie fühlte eine plötzliche Beklommenheit und sah sich Hilfe suchend um, da winkte es auch schon beidarmig über den Zaun. So winkte nur eine: Margot. Nun war alles gut.

„Ja, da staunst du, aber ich konnte dich doch nicht allein hier in der Landschaft stehen lassen“, sprudelte Margot hervor und stemmte die beiden Koffer auf den kleinen, leichten Wagen hinauf, „da bin ich einfach eine Stunde eher aufgestanden und hab vorgearbeitet. So was erlaubt die Königin, die ist überhaupt ein Prachtkerl. Und hier auf dem Bock, das ist der Hermann, der ist auch einer, und das hier ist Harras.“

Sie war vorn vor das Pferd getreten und streichelte seinen Kopf. Anne grub bereits heftig in den Taschen nach Zucker.

„Da, mein Guter, du bist das erste Lauterbacher Pferd, das ich kennen lerne. Schmeckt’s? Komm, noch einen! Ja, brav bist du.“

„Gib ihm nur reichlich, er verdient’s“, sagte Margot. „Er bekommt das Gnadenbrot und tut nur noch Gelegenheitsdienste.“

Sie kletterten auf den Wagen, und Harras zog an. Margot redete drauflos, unbekümmert um Hermann, der sich zuweilen schmunzelnd nach den beiden „Frolleins“ umsah. Anne holte tief Luft.

„Margot, ich freu mich so!“

„Und ich erst! Nun erzähl! Ging alles glatt? Niemand was gemerkt?“

„Du meinst, meine Eltern? Nein, wie sollten sie? Sie wissen ja nur, dass Lauterbach eins der besten Lehrgüter ist, auf dem man alles lernt, was nötig ist, wenn man landwirtschaftliche Lehrerin werden will oder ...“

„Oder etwas ganz anderes“, vollendete Margot und lachte.

„Du hast doch nicht etwa – du hast doch Frau König nicht etwa gesagt ...“

„Dass du eigentlich Reitlehrerin werden willst? Oder Bereiterin? Nein, das hab ich nicht gesagt“, sagte Margot und lachte noch mehr, „das ist auch vollkommen überflüssig. Das sieht sie dir nämlich an der Nasenspitze an, auf den ersten Blick. Die Königin sieht alles, verlass dich drauf.

Aber sie hat nichts dagegen. Das ist nämlich ihr Geheimnis, ihr Trick, stets die besten Lehrlinge zu haben.“

„Das versteh ich nicht“, sagte Anne langsam.

„Glaub ich, aber wart nur ab. Zunächst sind wir erst mal da, das ist das Gut! Komm, ich bring dich in unser Zimmer. Die beiden andern Neuen sind schon gestern angekommen, jetzt sind wir vollzählig. Los, hopp, in zehn Minuten läutet’s zu Mittag, und vorher sollen wir noch zur Königin kommen.“

Sie liefen die Treppe hinauf. Am Ende des Ganges nach Süden zu mit einem wunderschönen Blick auf den Garten hinaus lagen die beiden Lehrlingszimmer. Margot, die schon ein halbes Jahr hier als Lehrling tätig war, riss die Tür auf und schob Anne hinein. Von nebenan hörte man auch eifriges Schwatzen.

„Sind sie genießbar?“, fragte Anne und deutete, während sie ihr Kleid zuknöpfte, mit dem Kopf nach dem Nebenzimmer.

„Ich hoffe. Herta sieht tüchtig und vernünftig aus, sie stammt von einem größeren Gut. Erika ist aus der Stadt, schmächtig, aber nicht dumm, soviel ich mitgekriegt habe. Soweit man das sagen kann von jemandem, der aus der Stadt ist ...“

„Du“, drohte Anne, „ich bin schließlich auch ...“

„Ach Quatsch bist du“, lachte Margot, „wie lange warst du in Neuhausen? Na? Drei Jahre und alle Ferien. Ich glaube, das genügt. Ach Anne, schön war das damals!“

„Ja.“ Anne lachte auch. Es waren die bisher schönsten Jahre ihres Lebens gewesen, diese drei Jahre auf dem Dorf bei den Großeltern. Von da stammte auch ihre Liebe zu den Pferden.

Die musste allerdings schon in ihr gesteckt haben, so etwas kommt nicht von außen, von einem zufälligen Aufenthalt auf dem Land. Großvater war auch ein begeisterter Reiter, und unter seinen Ahnen gab es viele Landwirte. Vater war ein bisschen aus der Art geschlagen mit seinem Beruf, fand sie im Stillen, wie überhaupt jeder Beruf, der nicht mit Pferden zu tun hatte, für sie im Grunde gar nicht zählte. Margot hatte andere Pläne.

„Ich will die Landwirtschaft von allen Seiten lernen“, sagte sie, „ich übernehme das Gut doch einmal. Heinz will Forstmann werden und Helmut Arzt. Aber reiten tu ich natürlich mit.“

Anne fragte sofort wieder, sooft sie es in letzter Zeit, sobald sie mit Margot zusammen war, auch schon gefragt hatte:

„Gibt es denn so was? Weißt du auch bestimmt, dass Frau König es auch dies Jahr erlaubt?“

„Komm, los, es läutet. Pünktlichkeit wird hier groß geschrieben!“, sagte Margot statt aller Antworten und fegte hinaus. Eben ging auch die Zimmertür von nebenan auf, und zu viert liefen sie die Treppe hinunter, standen dann zu viert – denn Margot pochte nicht auf ihr Recht als „Ältere“– vor der Königin, wie Frau König bei den Lehrlingen nun einmal hieß.

„Ich freu mich, dass ihr da seid“, sagte diese nach der Begrüßung und sah lächelnd in die gespannten Gesichter, „Margot hat euch sicher schon manches erzählt. Aber es ist vielleicht trotzdem gut, dass ich in kurzen Zügen alles noch einmal wiederhole. Spitzt die Ohren, ich sage nicht gern etwas zweimal, das könnt ihr euch als allererstes merken.

Um es gleich vorwegzunehmen: Ja, ihr dürft reiten lernen. Ich habe es immer erlaubt, weil ich selbst als junges Mädel leidenschaftlich gern ritt. Und mein Bruder tut euch den Gefallen, er tut es – um euch gleich auch dieser Sorge zu entheben – unentgeltlich, nicht nur, um, wie er sagt, seine Pferde zu bewegen, sondern weil er große Freude an reitender Jugend hat, an männlicher und weiblicher. Wenn ihr also die elterliche Erlaubnis erhaltet und den kleinen Versicherungsbeitrag aufbringt, steht dem Reiten nichts im Wege.“

„Erzählt mir nicht“, sie lächelte flüchtig, was ihrem festen, gesunden Frauenantlitz gut stand, „dass ihr nicht deshalb hergekommen seid! Ich habe bisher nur Lehrlinge gehabt, die um des Reitens willen kamen, und bin mit allen gut ausgekommen. Bitte merkt euch aber: Ihr müsst es euch verdienen. Ich kann nicht dulden, dass auch nur eine einzige euch anvertraute Arbeit vernachlässigt wird, weil ihr reitet. Ich verlange äußerste Pflichterfüllung, und zwar von euch allen. Wenn sich eine von euch keine Mühe gibt, entziehe ich euch allen die Erlaubnis zu reiten. Verstanden?“

Alle vier nickten. Allen vieren klopfte das Herz: Werde ich auch alles können, was von mir verlangt wird?

„Gut.“ Die Königin lächelte wieder, und ihre Stimme klang mild und gut: „Es ist kein Meister vom Himmel gefallen, das weiß ich auch. Ich merke sehr gut, wer den guten Willen hat und wer nicht. Fehler können immer mal unterlaufen. Vertuscht sie nicht, sondern versucht, daraus zu lernen. Helft euch gegenseitig und habt Vertrauen zu mir, das ist die beste Grundlage. So, das wär’s. In der ersten Woche wird noch nicht geritten. Schreibt hübsch nach Hause um die elterliche Erlaubnis zum Reiten. Ohne die darf euch mein Bruder nicht unterrichten. Durch den Betrieb gehen wir heute Nachmittag.“

Anne wagte bei der Mahlzeit kaum aufzublicken. Es war alles so neu für sie und viel schwieriger, als sie es sich eigentlich vorgestellt hatte. Würde sie es schaffen?

„Sieh mal, wenn man nun ausgesprochen dumm ist, ungeeignet für die Landwirtschaft“, sagte sie nachher verzagt zu Margot, als sie in ihr Zimmer gingen, „Landwirtschaft ist kein Kinderspiel, das wenigstens weiß ich genau. Landwirtschaft ist etwas ungeheuer Kompliziertes, Weitgreifendes – und wenn nun einer das nicht begreift, dürfen wir alle nicht reiten.“

„Ach, was heißt dumm. Zu lernen ist das doch alles“, sagte Margot mit der Unbekümmertheit des geborenen Landkindes, „und sie sagt ja ausdrücklich, wenn wir uns Mühe geben.“

„Aber wenn man zu schwach ist? Es gibt doch Mädel ...“

„Du meinst Erika? Ja, zum Bäumeausreißen sieht sie nicht gerade aus“, sagte Margot, „aber dann helfen wir ihr eben. Das hat die Königin doch ausdrücklich erlaubt.“

„Hm.“ Anne sah nachdenklich vor sich hin. „Du, ich glaube, die Königin ist furchtbar gescheit“, sagte sie auf einmal aus tiefstem Herzen. Margot lachte los.

„Du merkst auch alles. Geht dir ein Licht auf, warum die Lauterbacher Lehrlinge immer so gut in der Prüfung abschneiden?“

Aller Anfang ist schwer. Anne merkte das sehr genau. Sie, der doch ein landwirtschaftlicher Betrieb nichts Neues war, die mit Margot Scheunen und Ställe, Keller und Böden, Wirtschaftsgebäude und Gärten durchstreift hatte, von Feldern und Koppeln nicht zu reden, sie stand doch bange und den eigenen Fähigkeiten misstrauend davor, von nun an selbst ein Rad im Getriebe zu sein. Es gab vier Abteilungen für Lehrlinge: die Milchwirtschaft, das Geflügel, die Herrschafts- und die Leuteküche. Dazu kam die gemeinsame Gartenarbeit unter Anleitung des Gärtners, die allmonatliche Hauswäsche, gelegentlicher Einsatz auf dem Felde. „Mein Gott, wie sollen wir das alles schaffen“, sagte Erika, als der Rundgang beendet war.

„Keine Bange, bis jetzt habe ich es mit den Mädeln immer geschafft“, sagte Frau König lächelnd. „Ich denke, wir teilen ein wie folgt: Herta, Sie übernehmen unsere Küche und Erika die Verpflegung der Leute. Im Allgemeinen wird in beiden Küchen dasselbe gekocht, ausgenommen, wenn Jagd ist, Besuch kommt oder Prüfungen stattfinden. So können Sie sich gegenseitig an die Hand gehen. Margot übernimmt das Geflügel, das ist jetzt im Frühjahr bei den vielen Jungtieren die schwierigste Aufgabe, und Anne wird Milchmamsell. Beim Buttern helfen Sie ihr, Margot, überhaupt lernen Sie Anne an. Dafür können Sie sich Anne als Hilfe nehmen, wenn Sie Brennnesseln holen gehen, wir brauchen jetzt viele; jeden Tag.“

Margot nickte vergnügt. Besser konnte es gar nicht passen. Die Königin schien die Zimmerbelegung auf die Arbeiten zu übertragen. Stets war es am besten so gewesen, dass die beiden Küchenlehrlinge einerseits und die Geflügel- und Milchlehrlinge andererseits miteinander arbeiteten.

„Ich hab mich darauf fast genauso gefreut wie auf das gemeinsame Reiten“, sagte Margot, „reiten ist wunderbar, aber zusammen schuften auch. Wenn man morgens zum Kükenstall hinausläuft, und alles ist noch nass und so frisch vom Tau, das ist herrlich. Oder das Sausen der Zentrifuge – na, du wirst ja alles selbst erleben. Jetzt komm, ich muss noch rasch das Futter für morgen früh hereinholen, das macht man besser zu zweit. Dafür helfe ich dir, die Deputatmilch auszugeben. Da denkt der Anfänger immer, er lernt es nie. Aber in vier Wochen kennst du jede Milchkanne und jeden Krug. Von den Gesichtern unserer Leute ganz zu schweigen.“

„Meinst du?“, fragte Anne zaghaft.

„Natürlich, das hat noch jede gelernt. Komm, hier liegt der Nachweizen, den bekommen die Küken als Frühstück. Wenn du dich hier schon ein bisschen auskennst, ehe du verantwortliche Hühnermutter wirst, fällt es dann leichter. Hier, das ist der Schlüssel.“

Anne griff mit zu, spitzte die Ohren und sperrte die Augen auf. Nachweizen, angekeimte Gerste, Kartoffelflocken, Rüben, gewärmtes Trinkwasser – es schwirrte ihr im Kopf. Sie bewunderte Margot, die so tat, als sei das alles kinderleicht, und bemühte sich, so viel wie möglich zu behalten. Nachher gingen sie miteinander hinüber zum Milchgewölbe. Margot erklärte Anne die Handhabung der Zentrifuge. Schon klapperten die Holzpantoffeln der beiden Melker im Vorraum. Margot riss die Tür auf. Dröhnend setzten die Männer den Riesenbottich mit Milch ab.

„Schönen Dank. Großartig, dass ihr so zeitig kommt!“, rief Margot vergnügt. „Hier ist ein neuer Milchlehrling, Anne Birkner, und das sind unsere beiden Cowboys. Die schaffen die schwerste Arbeit von uns allen auf dem Gut, von früh um drei an, auch im Winter, Anne, davor müssen wir uns alle verstecken.“

„Na, na, Fräulein Margot“, brummte der ältere der beiden Männer stolz-bescheiden. Beide gaben Anne die Hand – Pranken waren es eigentlich, riesige, bärenstarke, hornharte Pranken.

„Stimmt das?“, fragte Anne nachher. „Ich meine, das mit der schweren Arbeit?“

„Ja, das stimmt“, sagte Margot. „Melker ist ein sehr schwerer Beruf, und das soll man anerkennen. So, und jetzt können wir die Zentrifuge laufen lassen, hier, siehst du, das ist der Schalter.“

Am Abend saßen sie noch ein bisschen zusammen auf dem Fensterbrett ihres Zimmers, ehe sie schlafen gingen. Anne hatte die ganze Zeit über das Reiten mit keinem Gedanken streifen können, so sehr hatte die neue Arbeit sie in Anspruch genommen. Es gab so unendlich viel Neues, Schwieriges und Wichtiges – und Margot war, trotz aller Munterkeit und Lachlust, ein sehr strenger Lehrmeister.

Sie ließ nichts durchgehen, das hatte Anne schon gemerkt. Jetzt kamen sie wieder auf ihr Lieblingsthema, die Pferde, zurück.

„Also schreib an deine Eltern, dass sie es gestatten sollen. Schreib, wir hätten die Möglichkeit, bei Frau Königs Bruder unentgeltlich Reitstunden zu nehmen. Wie oft, das brauchst du nicht gerade hinzumalen. Außerdem wissen wir das wirklich selbst noch nicht. Im Sommer werden wir nämlich oft verzichten müssen, wenn es dringende Arbeit auf dem Feld gibt.“

Anne setzte sich an den Tisch und begann zu schreiben. Margot blieb auf dem Fensterbrett sitzen und rauchte eine Zigarette. Draußen rauschten die großen Bäume des Parks. Anne vergaß diesen ersten Abend in Lauterbach nie. Er war so ein bewusster Schritt in ein neues Leben hinein. Was würde dieses neue Leben ihr bringen, Glück oder Enttäuschung, die Erfüllung ihres heißesten Wunsches oder ein Versagen? Unwillkürlich sah sie nach Margot hin und nickte ihr zu – es war so gut, einen treuen Kameraden neben sich zu wissen. Das gab Halt und Mut und Zuversicht. Nein, sie hatte keine Angst vor dem neuen Leben.

Anne hatte sich das Kopftuch fest umgebunden, war in die frische Schürze geschlüpft und bearbeitete eben ihre Hände mit heißem Wasser und Kleie. Sie sollte heute zum ersten Mal allein buttern. Margot reinigte den Hühnerstall. Sie hatten vereinbart, dass Anne nur im äußersten Notfall um Hilfe rufen würde.

Das Butterfass drehte sich mit gleichmäßigem, platschendem Geräusch um sich selbst. Gleich war die Zeit um. Anne brühte noch rasch die Holzform und warf sie ins kalte Wasser. Dann schaltete sie aus.

Es war ungeheuer spannend, dies alles allein zu machen. Welche Werte waren in ihre Hand gelegt! Gerade jetzt verarbeitete sie den Milchertrag einer halben Woche. Mit der Butter, die daraus gewonnen werden sollte, wurde gerechnet, genau wie man mit dem Ertrag eines Feldes rechnete. Wenn die Butter jetzt grießelig wurde? Oder überhaupt nicht zusammenhielt?

Sie begriff, wie wichtig auch kleine landwirtschaftliche Betriebe waren. Man konnte Schulen schließen, manche Fabriken, die Universität, ein Bauer aber durfte keinen Tag ungenützt verstreichen lassen. Und sie gehörte nun zu diesem Stand, für ein ganzes Jahr, sie musste sich bewähren und keine Pflicht versäumen. Oh, es war doch nicht nur das Reiten, das lockte, wenn sie sich so konzentriert auf ihre Arbeit stürzte.

Sie schraubte den Deckel des Behälters auf und guckte gespannt in das Innere des Fasses. Die Buttermilch roch so würzig – vorsichtig fischte sie mit dem Holzlöffel darin herum und atmete dann hörbar auf. Dicke gelbe Butterklumpen schwammen darin, genau wie am Donnerstag, als Margot ihr das alles zeigte.

Während sie die Masse knetete und bearbeitete und immer wieder frisches Wasser darüberlaufen ließ, damit auch der letzte Rest Buttermilch herausgespült würde, versuchte sie zu schätzen, wie viel Stücke zu je einem halben Pfund es wohl diesmal geben würde. Voriges Mal waren es vierzig. Ob sie die Stücke auch so gut aus der Form brachte wie Margot?

Die Nachmittagssonne schien schräg in den Raum herein, und Anne hob gerade das Brett mit den geformten Stücken aufs Regal, als sie Schritte hörte.

„Na, wie ist’s gegangen? Alles in Butter?“

„Ich hoffe. Guck doch mal, sieht das nicht fein aus?“

„O ja. Und du hast ganz rote Backen, richtig Reklame für die gute Lauterbacher Landbutter“, sagte Margot lachend.

„Ja? Ach, du, es war alles so aufregend für mich, aber wie siehst du denn aus?“, fragte Anne jetzt. Margot stand vor ihr in weißer Hemdbluse und schwarzer Reithose, die hohen Stiefel blank geputzt.

„Gut hoffentlich oder etwa nicht? In fünf Minuten sollst du auch so aussehen, sagt die Königin. Wenn du magst, heißt das.“

„Wir dürfen ...“

„Jawohl, seine Majestät der Herr Reitlehrer haben geruht, anzurufen.“

„Ach du meine Güte, hilf mir bloß, dass ich schnell fertig werde. Jetzt gleich? Du, ich hab Lampenfieber!“

„Ich auch, vor jeder Reitstunde. Aber das hilft nichts. Komm schnell, wenn die Abendmilch kommt, müssen wir wieder zurück sein.“

Sie schlossen den Milchraum zu und rannten miteinander über den Hof.

„Deine elterliche Zustimmung hab ich vorhin schon hinübergetragen ins Schloss“, sagte Margot im Laufen, „ich wusste, wo der Brief lag. Es musste schnell gehen.“

„Ja, danke dir. Und die beiden andern?“

„Die kommen heute auch mit. Später wechseln wir beide dann mit ihnen ab. Damit wir nicht immer alle vier vom Betrieb abwesend sind. Aber die Anfangsrede will Kornelius nicht zweimal vom Stapel laufen lassen.“

„Kornelius?“

„Ja, diesen hochtrabenden Namen führt der Gestrenge. Versprich dich nur nicht. Mit Nachnamen heißt er Reuter. Und sei ja de- und wehmütig, wenn er schimpft. Das tun alle Reitlehrer. Und ohne Schinderei lernt man nichts.

Morgen kannst du keinen Schritt laufen, ohne auweh zu schreien.“

Sie waren in ihrem Zimmer angelangt, und Anne fuhr hastig in die Reithose. Es war noch dieselbe vom Fasching, kein Staatsstück, aber wie sollte sie zu einer richtigen Ausrüstung kommen? Dafür waren die Stiefel sehr gut, ein Geschenk des Großvaters, weich und tadellos im Sitz. Margot beäugte Anne kritisch.

„Du siehst aus – eigentlich unverschämt gut. Ich selbst mache nur eine sehr mittelmäßige Figur zu Ross, mild gesprochen.“

„Ach du! Schon immer hast du auf Pferden gesessen, und hier hast du doch einen Vorsprung von einem halben Jahr!“

„Wennschon. Ich bin zu füllig.“ Margot lachte und klopfte sich auf die Stelle, wo ihr Gürtel wirklich recht stramm saß. „Auf dem Pferd kommt alles zu Tage, da kannst du nichts vertuschen, da ist es Essig mit Schlankwirken und so. Du wirst es selbst sehen, das heißt, wenn du erst so weit bist, dass du beim Reiten in den Spiegel gucken kannst.“

„Spiegel?“

„Natürlich. In der Reithalle sind doch überall Spiegel. Man bekommt das große Grausen, sag ich dir, wenn man sich sieht.“

„Seid ihr fertig?“, rief es von nebenan. Dann kamen Herta und Erika herein, ebenso aufgeregt und glühend wie Anne, auch in Reithosen und Stiefeln.

„Kinder, hab ich Angst!“, flüsterte Erika.

„Das gehört sich so ...“

„Los, Kornelius darf nicht warten!“, mahnte Margot.

Sie hasteten die Treppe hinunter und holten ihre Räder. Es war nicht weit bis zum Schloss, aber jede Minute kostbar. Margot fuhr voran durch den Park, dann einen schmalen Weg an der Koppel entlang, ein Stück Feldweg und –

„Dort ist das Schloss. Los, tretet noch ein bisschen schneller!“

Die Ketten surrten. Dann waren sie angelangt, stellten die Räder im Schlosshof ab und folgten Margot klopfenden Herzens in den Stall. Kornelius Reuter, Frau Königs jüngerer Bruder, stand an der Tür. Er begrüßte die Mädel mit prüfenden Blicken, sah ihr Lampenfieber und lächelte kaum merklich. Zwei junge Männer führten gerade ihre Pferde hinaus.

„Wer sind denn die?“, flüsterte Anne.

„Bauernsöhne aus der Umgebung“, sagte Margot, „sie gehören zum ländlichen Reitverein.“ Anne machte ein bestürztes Gesicht. Auch noch Zeugen zu haben bei der ersten Reitstunde!

„Also, Sie können mit Pferden umgehen, wie Margot berichtete?“, fragte Reuter in seiner knappen Art, die sehr an die seiner Schwester erinnerte. „Ja? Wissen Sie Bescheid? Nie ohne Anruf in den Stand gehen, immer von links, ruhig und ohne Angst. Sie haben schon selbst gesattelt, alle? Gut. Margot, Sie nehmen den Bubi. Sie, Herta – ich nenne Sie der Einfachheit halber alle mit Vornamen – die Fortuna, Erika den Felix. Sie“, er sah kurz auf einen der Zettel herab, den er in der Hand hielt, „Angelika ...“

Anne zog ein Gesicht, als habe sie unvermutet auf etwas Hartes gebissen. Angelika – gewiss, so war ihr Rufname, aber –

„Na, was gibt’s denn?“, fragte Kornelius Reuter erstaunt.

„Bitte, ich bin kein Engelchen“, sagte Anne. Reuter lachte.

„Nein? Ich dachte gerade, Sie seien eins. Heißen Sie nicht so?“

„Doch, leider. Aber ich kann nichts dafür, dass meine Eltern in ihrer Verblendung ...“

Er lachte noch mehr.

„Oh, Sie Arme! Verblendete Eltern! Die hab ich übrigens auch gehabt. Kornelius ist ebenso schön wie Angelika. Wollen wir uns miteinander trösten?“

„Ich bitte ...“, sagte Anne und stockte. Sie war wütend. Wie oft hatte sie schon solche Situationen erlebt.

„Also, was bitten Sie?“

„Alle nennen mich Anne.“

„Und ich darf keine Ausnahme machen?“ Reuter betrachtete belustigt Annes wütendes Gesicht. Sie sah in diesem Augenblick wirklich nicht nach einem Engelein aus, sondern eher wie ein Funken sprühender Teufel. „Dafür bekommen Sie also den Satan, wenn das nicht ein lustiges Paar ergibt.“

„Du, den Satan, den hat er noch niemandem für die allererste Ausprobier-Stunde gegeben, der ist für den Anfang nicht so leicht zu reiten“, flüsterte Margot aufgeregt, als sie den Stallgang entlanggingen. Im Augenblick vergaß Anne ihren Ärger. Der geliebte Stallgeruch nahm sie ganz gefangen. Oh, Pferde! Sie sattelten. Reuter sah ihnen dabei scharf auf die Finger, fand aber soweit nichts auszusetzen, auch bei Anne nicht. Als sie die Pferde hinausführten, flüsterte Margot noch: „Aber rassig sieht er aus, der Satan. Den reitet er auch manchmal selber, und ich bin auch schon runtergesegelt, und wie!“

„Ruhe. Ich will nichts mehr hören!“, klang jetzt die Stimme des Reitlehrers scharf und knapp. „Nachgurten. Aufsitzen. Nein, ohne Bügel. Na, wer hängt denn da am Sattel wie ein Mehlsack? Los, los, immer noch nicht oben?“

Anne mühte sich aus Leibeskräften. Sie war schon oft ohne Bügel aufgesessen, aber der Satan war so entsetzlich hoch, und er stand nicht still. Du meine Güte, sie kam nicht hinauf! Mit zusammengebissenen Zähnen mühte sie sich ab, glaubte, aller Augen spöttisch auf sich gerichtet zu sehen, stieß sich ab und zog sich hoch. Margot saß schon auf ihrem Bubi, der war aber auch niedriger als der Satan, und Margot hatte mehr Übung. Und jetzt war auch Herta oben. Die Fortuna war eine ziemlich faule, gutmütige Stute, der flüchtigen Göttin des Glücks, deren Namen sie trug, recht unähnlich. Sie ließ sich alles gefallen. Erika mühte sich an ihrem Felix ebenso vergeblich ab wie Anne am Satan.

„Ich denke, Sie sind schon geritten?“, fragte Reuter harmloshinterhältig. Anne schwitzte.

„Noch mal hopp und los! Nein, Satan, stehen bleiben musst du schon.“

Reuter trat jetzt zu Erika und half ihr hinauf. Anne fühlte, wie ihre Knie weich wurden.

„Wenn ich ein Englein wär’ und auch zwei Flüglein hätt’, flög’ ich hinauf“, sang Reuter vor sich hin. Anne ließ sich noch einmal auf den Boden gleiten und schöpfte Atem. Jetzt trat er neben sie.

„Soll ich helfen?“

„Nein“, sagte sie kurz und nahm alle Kraft zusammen. Wirklich, es ging. Es fehlten nur noch fünf Zentimeter – geschafft! Sie saß oben, Gott sei Dank!

Reuter trat zurück, befriedigt und ein Lächeln unterdrückend. Seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass er die Neuen wieder einmal richtig eingeschätzt hatte. Herta – zuverlässig, energisch, ruhig, ohne Angabe. Erika – schnell entflammt, ohne große Ausdauer, sicher mehr von einem schicken Reitanzug als vom Reiten begeistert. Anne – tja, das ließ sich nicht mit drei Worten sagen. In diesem jungen und noch glatten Gesicht waren ein Paar Augen, die etwas versprachen, und ein eigenwilliges Kinn. Wenn Anne neben der Energie, die aus ihren Augen funkelte, die nötige Liebe zum Pferd besaß – das würde sich erst nach Wochen und Monaten zeigen, er wusste das –, dann konnte etwas aus ihr werden. Wer mit solch stummer und verbissener Entschlossenheit handelte und jede Hilfe von außen abwies, der ließ sich von nichts abschrecken, von keinem Muskelkater und keinem Sturz, von keinem noch so mühseligen Trab mit hochgeschlagenen Bügeln. Reuter ließ die Neulinge stets das erste Mal so aufsitzen, und wie sie sich dabei verhielten, das sagte ihm oft schon genug. Er hatte sich fast nie geirrt, so viel junge Menschen zu Pferde er schon erlebt hatte. Allerdings: die Liebe zum Pferd gehörte auch dazu, sie war genauso wichtig, wenn nicht wichtiger.

„Anreiten. Linke Hand. Peter nimmt die Tete.“

Die Pferde folgten überraschend. Erika war sehr erleichtert, sie glaubte, der Felix gehorche ihr. Anne wusste es besser, die Pferde kannten die Befehle und gingen geduldig und brav, eins hinter dem andern. Als Erste ritten die beiden jungen Männer, dann Herta, Erika, Anne; Margot machte den Schluss. Ihr Bubi hatte heute seinen nervösen Tag, er warf den Kopf, legte die Ohren zurück und versuchte auszubrechen.

„Margot, passen Sie doch auf. Nehmen Sie ihn kürzer, wie soll denn das nachher werden! Kürzer, zum Kuckuck! So, nun ist er schon wieder heraus.“

Margot biss die Zähne zusammen und versuchte, das Pferd auf seinen Platz in der Abteilung zurückzubringen. Reuter sah kopfschüttelnd zu.

„Eine halbe Parade – rechter Schenkel ran. Natürlich folgt er dann, der Goldjunge. Anne, nehmen Sie die Zügel kürzer. Erika, Sie sitzen ja wie Ihre eigene Großmutter. Hoch den Kopf, Schultern zurück. Lang die Beine! Herta, mitreiten, treiben Sie, wozu haben Sie die Gerte! Zum Spazierentragen? Sie schlafen ja ein.“

Lautlos gingen die Pferde in der weichen, dunklen Lohe. Anne fühlte trotz aller Beklommenheit, dass sich ihr Herz vor Glück weitete. Endlich, endlich war es erreicht! Sie saß zu Pferd, fühlte den warmen Tierkörper, hielt die Zügel, atmete den geliebten Geruch. Wie lange hatte sie darauf gewartet! Nun galt es, sich zu bewähren. Ein undeutliches, aber starkes Gefühl sagte ihr, dass Reuter trotz seines Spottes und seiner scharfen Bemerkungen ein guter Lehrer sein müsse. Reitlehrer sind meistens grob, sagte Großvater einmal. Sie meinen es nicht so, es tut ihnen nur Leid, wenn die Reitschüler ihren Pferden wehtun. Wenn sie nur etwas lernte, wenn sie nur nicht wegen völliger Untauglichkeit hinausflog!

„Im Arbeitstempo Terrab!“

Die Pferde trabten an. Erika griff Hilfe suchend nach dem Sattel, auch Anne hätte es beinah getan. Herta brachte ihre Fortuna nicht vorwärts, die beiden jungen Männer trabten ihr davon, der Abstand wurde immer größer. Margots Bubi wollte an Satan vorbei, kurz, es war ein heilloses Durcheinander. Reuter lachte.

„Scherrit! So, nun erst einmal die Abstände ausgleichen. Sechs Schritt Abstand, reiten Sie nicht von hinten aufs Vorderpferd, Margot, zum Kuckuck! Und Sie, Herta, treiben Sie Ihren Hafersack doch an! Peter und Karl, ihr trabt viel zu schnell. Wer hat denn was von Mitteltrab gesagt, na? Wer sich unsicher fühlt – von den Damen, meine ich –, nimmt die Zügel in eine Hand und greift mit der andern in den Sattel. Noch einmal: im Arbeitstempo Terrab!“

Jetzt ging es besser. Die beiden Jungen trabten ruhig und verhalten. Herta bekam ihr Pferd, das merkte, es wurde ernst, endlich in Schwung, Felix ließ sich auch herab, zu gehorchen. Anne hob sich in den Bügeln, sie war doch schon oft leicht getrabt. Nach einigen Versuchen fand sie in den richtigen Rhythmus hinein. Der Sattel jankte leise.

„Gut so, Anne. Linker Zügel etwas kürzer – jawohl. Na also, was wollen wir denn mehr? Margot, leicht reiten! Was, Sie fassen noch in den Sattel? Sie meinen wohl, heute müssten Sie den Anfänger mimen, damit Sie nicht auffallen? Haha, gibt’s nicht. Weg die Hand. Das ist nur in den ersten vier Stunden erlaubt ...“

„Hört denn das nie auf“, dachte Erika verzweifelt. Sie hatte das Gefühl, über dem Pferd zu fliegen und bald rechts, bald links darauf herunterzufallen. Wie das stauchte und warf! Sie klammerte sich mit beiden Händen an den Sattel.

„Scherrit. Zügel lang, Pferde loben!“ Ein allgemeines Aufatmen. Anne rückte sich zurecht und warf einen verstohlenen Blick in den Spiegel. Nein, es war nicht leicht, es war sogar höllisch schwer, viel, viel schwerer, als sie das von ihren Versuchen auf der Koppel gedacht hatte.

„Noch einmal: Zügel aufnehmen. Im Arbeitstempo – Terrab! Nein, sitzen bleiben jetzt, aussitzen, nicht leicht reiten, Margot. Aussit – sitzen! Karl, mach die Beine lang, du sitzt ja wie ein Affe auf dem Schleifstein! Peter, nimm dir Zeit – herrje, er läuft dir ja davon! Das nennt ihr reiten? Das ist nicht mal oben sitzen, das ist höchstens oben hängen!“

Allmählich fühlte sich auch Anne der Verzweiflung und dem Aufgeben nahe. Eine Runde nach der andern deutschen Trab. Hatte Reuter denn kein Erbarmen? Noch einmal herum und noch einmal. Es warf sie, dass sie glaubte, sich nicht mehr halten zu können. Die Beine, die sich an das Pferd klammerten, schmerzten und begangen nachzulassen ...

Endlich, endlich das ersehnte Kommando: „Scherrit!“

Während sich die Neulinge zurechtsetzten, die Bügel wieder zum Ballen vorschoben und sich verstohlen übers Haar fuhren, musterte der Reitlehrer seine Abteilung kritisch.

„Peter, du machst einen Rücken – so! Gerade sitzen, Schultern zurück, Kreuz anspannen. Karl, du knickst in den Hüften ab. Und Fräulein Margot ...“

Margot biss sich auf die Lippe. Wenn er „Fräulein“ sagte, dann wurde es ernst.

„Na, was haben wir falsch gemacht?“

„Alles!“, sagte sie und lachte schon wieder. Nun war es egal.

„Na, gut, dass wir’s einsehen. Schluss für heute. In Abständen rechts aufschließen.“

Anne knickte in den Knien ein, als sie absprang. Du lieber Himmel, jeder einzelne Knochen tat weh! Man merkte bei dieser Gelegenheit erst, wie viel Knochen der Mensch eigentlich hat. Sie suchte in den Taschen nach Zucker.

„Brav bist du, mein Satan, brav! Brav!“

„Nun, haben wir die Nase voll, Fräulein Angelika?“, fragte Reuter herantretend.

„Danke, es reicht für heute, Herr Kornelius“, gab Anne wütend zurück. Dass er wieder davon anfing!

„Verzeihung. Ich meinte Fräulein Anne“, sagte er, als er ihre zornfunkelnden Augen sah. „Haben Sie genug? Oder kommen Sie wieder?“

„Natürlich komm ich wieder“, sagte Anne mit gesenktem Kopf. Dann hob sie mit einem plötzlichen Entschluss die Augen.

„Schinden können Sie mich, soviel Sie wollen. Hauptsache, ich lerne was. Aber das mit dem Namen ...“

„Kommt nicht mehr vor“, sagte er freundlicher. „Nun führen Sie Ihren Satan hübsch hinaus. Und übermorgen um dieselbe Zeit – vielleicht wagen wir uns da schon an einen kleinen Galopp? Wie wär’s?“

„Rrrrrrr!“, surrte der Wecker. Margot brummte und angelte mit der Hand nach dem Störenfried, um ihn unter die Bettdecke zu stopfen. Dort randalierte er noch eine Weile, gab dann als der Klügere nach und verstummte. Anne hatte ihn auch gehört, aber sie war so müde, so müde ...

Es war gerade vier. Und heute am Sonntag könnte sie noch anderthalb Stunden schlafen. Wenn sie halb sechs zur Milch lief, genügte es. Aber ...

Huh, es war schwer, nicht schwach zu werden. Aber sie hatte sich so fest vorgenommen –

„Margot!“, rief sie halblaut.

Aber Margot hörte nicht. Sie lag tief ins Kissen gewühlt und schnarchte schon wieder. Anne warf das Deckbett weg und tappte zum Fenster.

Nein, sie ging nicht wieder ins Bett. Wenn sie sich beeilte, konnte sie heute füttern und putzen helfen. Schwankend vor Müdigkeit taumelte sie ins Bad.

Das eiskalte Wasser machte munter. Und draußen war so herrliches Wetter. Sie zog sich schnell an und rannte in die Milchküche hinüber. Wenn nur die Milch nicht später kam als sonst!

Aber Margot hatte Recht: Tag für Tag, Sommer wie Winter, wochen- wie feiertags taten die Melker ihren Dienst, ohne eine halbe Stunde Verzögerung. Anne drehte den Separator auf und füllte nach – ja, dagegen hatte sie es fürstlich!

Sie achtete sorgfältig darauf, dass alles, aber auch alles in Ordnung ging. Die Königin war trotz aller Strenge menschlich, aber der Chef! Vor dem sauste auch dem tüchtigsten Verwalter der Frack, wie Margot sagte, ihm entging nichts. Anne maß das Lab im Probiergläschen genau ab und rührte es unter die Magermilch, schüttete die geronnene Milch vom Tag zuvor in den Quarksack. Und die Sahneeimer mussten genau in einer Reihe stehen, sie visierte, während sie ein Auge zukniff. Sicher machte der Chef ausgerechnet heute eine Inspektionsrunde. So, fertig. Nein, sie bereute nicht, so früh aufgestanden zu sein! Nun hatte sie frei – gefrühstückt wurde sonntags erst um halb neun.

Margot lag wahrhaftig noch in den Federn. Anne gab ihr einen Puff.

„Verschlaf bloß nicht. Ich lass die Hühner noch heraus, ehe ich gehe“, rief sie ihr ins Ohr.

„Mhm. Wohin gehst du denn?“

„Mensch, wohin wohl. Ins Schloss! Wehe, wenn du weiterpennst!“

Der Tau blitzte in der Sonne, als sie durch den Park radelte. Sie hatte noch rasch an Hertas und Erikas Tür gebummert, damit sie aufstanden und den Hühnern das erste Frühstück gaben. Wenn Margot nun noch eine halbe Stunde länger schlief, schadete das nichts. Eine von den beiden würde sich wohl aufrappeln.

Wirklich, die Königin war listenreich! Bisher war noch nichts verbummelt worden, kein Essen versalzen, kein Milchdienst verschlafen, kein Hühnerfutter vergessen. Oft saßen die Mädel noch lange nach Feierabend alle zusammen in der Küche und schälten Kartoffeln oder putzten Gemüse für den nächsten Tag. Niemand trug ihnen das auf. Aber es konnte doch sein, dass es Herta oder Erika sonst am nächsten Vormittag nicht schafften. Im Milchraum blitzten die Geräte und im Hühnerstall hätte man vom Fußboden essen können, so sauber sah es aus.

„Lauter neue Besen. Hoffentlich kehren sie auch weiterhin so gut“, hatte Frau König gestern nach dem Samstagrundgang gesagt. Das bedeutete ein großes Lob, Margot behauptete das befriedigt. Und die anderen glaubten es nur zu gern.

Alfred und Hannes, die beiden Pferdeknechte, waren schon bei der Arbeit, als Anne, im Schloss angelangt, in den Stall flitzte. Sie band ihre grüne Gartenschürze um, die sie sich zu Hause noch selbst genäht hatte – einfach ein viereckiges Stück Stoff mit abgeschrägten Ecken und Kreuzbändern. Solche brauchte man im Stall, hatte sie ihrer Mutter gesagt und damit durchaus nicht an Hühner- oder Entenställe gedacht.

„Na, Fräulein Anne, wollen Sie zugucken?“, fragte Alfred lachend.

„Nein, im Gegenteil!“ Sie krempelte die Ärmel hoch, die gar nicht vorhanden waren, und tat, als spucke sie in die Hände. „Bitte, stellen Sie mich an, ich kann leider nur sonntags hier helfen.“

Alfred war schon alt, er hatte nicht mehr allzu viele Zähne im Mund, aber ein gutmütiges, von tausend Fältchen durchfurchtes, wetterbraunes Bauerngesicht. Anne hatte heimlich ein Päckchen Tabak an den Platz gelegt, wo er immer frühstückte. Hoffentlich freute er sich. Jetzt folgte sie voller Eifer seinen Anordnungen.

Ach, es war herrlich, so im Stall herumzuwirtschaften! Wenn das Wasser so hell und zischend in den Eimer lief, bekam man selbst Appetit auf einen frischen Trunk, und wie rührend sah es aus, wenn die Pferde ihren Durst stillten! Sie tranken bedächtig, sahen mit den großen, sanften Augen vor sich hin, tranken und tranken. Und hinterher tropfte es von ihren Mäulern, und sie blickten einen so dankbar an. Und dann, wenn sie sich über ihr Futter hermachten! Erst bliesen sie darüber hin, um zu sehen, ob Häcksel unterm Hafer war – so schlau waren sie. Und wie herrlich roch das Heu, wenn man es heranschleppte!

Anne war so voll Eifer, dass sie gar nicht merkte, wie Reuter eintrat. Sie trug gerade Stroh herbei und ließ sich zeigen, wie es im Stand ausgebreitet wurde, nicht zu dicht, nicht zu sparsam, und vor allem, ohne die Pferde zu erschrecken oder ihnen gar wehzutun.

„Ist es so recht? Mach ich es richtig?“, fragte sie beständig, und Alfred schmunzelte und sah ihr zu: „O ja, es macht sich.“

„So, sind wir schon fertig?“, fragte sie enttäuscht, als der letzte Stand goldgelb und locker eingestreut war.

„Nun geht’s erst richtig los, jetzt kommt die Hauptsache!“, sagte Alfred und griff nach Striegel und Kardätsche. Mit ruhigen, langen Strichen fuhr er über den warmen Pferdekörper und strich dann die Bürste am Kratzer ab, klopfte diesen auf den Steinplatten aus und zeigte Anne die Striche aus Staub und Schuppen, die herausfielen. Gut geputzt sei halb gefüttert, sagte er. Dann musste es Anne versuchen. Sie glühte vor Eifer.

„Na, Pferdejunge, schon fleißig?“, fragte Reuter hinter ihr. Sie hatte ihn nicht herankommen hören.

Immer war sie unsicher, wenn er sie mit seinen spöttischen Augen ansah. Margot behauptete zwar, er meine es gut, und je mehr er einen quäle, desto ernster nähme er einen. Aber Anne dachte manchmal, man könnte doch auch freundlich und trotzdem ein guter Lehrer sein, sie gab sich weiß Gott die erdenklichste Mühe. Aber Satan war nicht leicht zu reiten, und sie hatte noch nie ein anderes Pferd bekommen. Warum nur? Herta durfte doch auch die Fortuna haben, die immer sanft war und nie ausbrach, und Erika – nun, mit dem Felix auszukommen, war keine große Kunst. Aber stets, wenn Anne fragte, ob sie es nicht einmal mit einem anderen Pferd versuchen dürfe, antwortete ihr ein spöttischer Blick oder ein: „Na, gibt man klein bei? Ist es zu schwer? Ja, wer nicht selbst mit allen Kräften will ...“

Dann biss sie die Zähne zusammen und mühte sich weiter mit Satan ab. Als sie herkam, hatte sie gedacht, eine Ahnung vom Reiten zu haben – das war ein ausgewachsener Irrtum gewesen. Manchmal glaubte sie, sie lerne es nie. Solche Verzweiflungsausbrüche hatten übrigens die andern auch. Erika vor allem, mitunter auch Herta. Nur Margot nicht, die war so herrlich unbekümmert und herzlich vergnügt, dass Reuters Spott bei ihr meist ins Leere traf. Anne beneidete sie um diese Kunst.

Auch jetzt wieder, als sie dastand und putzte, merkte sie, dass sie unruhig wurde, weil er ihr kritisch beobachtend zusah. Ihre Ohren fingen an zu brennen, und sie wurde immer unsicherer, bis er ihr den Striegel aus der Hand nahm.

„Sehen Sie, so – und so – und so.“ Er machte ruhige, sparsame Bewegungen, und man sah es ihnen an, dass er seinen Kram verstand. Anne ärgerte sich ein bisschen: Immer konnte er alles so gut und verstand alles besser, ein rechtes Vortrefflichkeitsekel ...

„So“, sagte das Ekel plötzlich und legte das Putzzeug weg, „wenn Sie Lust haben, reiten wir noch ein paar Runden.“

Wenn sie Lust hatte! Als ob man jemals keine Lust zum Reiten haben könnte!

„Wen möchten Sie? Suchen Sie sich ein Pferd aus“, sagte er. „Nach welchem verlangt Ihr Herz?“ Was würde sie jetzt sagen?

„Nach dem Goldpeter!“, schoss sie heraus. Sie hatte nicht eine Viertelsekunde gezögert. Er lachte.

„Soso. Na, Sie wollen hoch hinaus. Von mir aus ...“

Der Goldpeter war schon lange Annes heimlicher Schwarm. Peter hatte ihn einmal geritten, er war schon sicher zu Pferde. Von den Mädels hatte ihn noch nie eine bekommen. Mit Herzklopfen zog sie den Gurt fest. Vielleicht war es eine Riesendummheit, die sie jetzt beging!

Reuter führte die Gräfin heraus, eine schöne, dunkle Stute, Anne hatte sie noch nie unterm Sattel gesehen. Sie hatte überhaupt noch nie erlebt, dass Reuter mitritt – ein bisschen zaghaft führte sie den Goldpeter zum Stallgang hinaus.

Die Halle sah anders aus als sonst. Es war, als drängte sich der strahlende Morgen durch die Fenster herein. Goldpeter machte seinem Namen alle Ehre, er blinkte und funkelte rotgolden und trug den Kopf so schön. Anne sah ihn ganz hingerissen an. Dann saß sie auf, sie durfte heute mit Bügeln aufsitzen. Das war gut, denn der Goldpeter stand noch weniger still als der Satan.

„So, nun nehmen Sie ihn mal hübsch kurz, damit er Ihnen nicht davongeht“, begann Reuter und trieb seine Gräfin neben den Fuchs, „und keine Bange. Immer mit der Ruhe. Nein, zu treiben brauchen Sie den nicht!“

Was nun kam, war ein Märchen – so wenigstens kam es Anne vor. Reuter war wie umgewandelt, er spottete nicht und schalt kein einziges Mal, sondern gab ruhig, freundlich und höflich Anweisungen, denen man ohne weiteres zu folgen bereit war, und Goldpeter – ach, der!

Zum ersten Mal fühlte Anne eine reine, uneingeschränkte Freude am Reiten, eine Freude, die mit nichts anderem zu vergleichen war. Sie war bei Satan durch eine harte, aber gute Schule gegangen, wahrhaftig! Jetzt saß sie fest, das spürte sie. Und mit einem Mal war alles leicht, alles spielend einfach, was bisher Mühe und Anstrengung gekostet hatte. Wie schon das Pferd warf und fing! Sie verstand nicht mehr, dass sie sich jemals am Sattel gehalten hatte, bis Hände und Oberarme schmerzten. Es gab doch nichts Natürlicheres als dieses einfache Heben und Senken im Sattel. Ihr war, als flöge sie. Nur immer, immer so weiter ...

„So, und nun sitzen wir aus. Kürzer traben, ruhig bleiben, äußerer Schenkel hinter den Gurt, innerer auf den Gurt, der innere treibt – und im natürlichen Tempo Galopp!“

Die Gräfin gab das Tempo an, und der Goldpeter folgte. Anne galoppierte gern, sie wusste, dass dies die an sich leichteste Gangart ist. Freilich waren sie bisher immer nur aus dem Schritt angaloppiert, das war leichter. Aber auch jetzt fand sie die neue Gangart, der Goldpeter griff aus und wiegte sie vorwärts.

„Gut so. Ja, gut so. – Nein, nicht leicht reiten, sitzen bleiben! Sie dürfen nicht im Sattel klopfen, sondern müssen drin kleben – gehen Sie doch mit der Pferdebewegung mit – halt.“

Anne parierte durch.

„Schlagen Sie mal die Bügel hoch. So, und nun galoppieren Sie aus dem Sattel an. Mit dem innernen Schenkel drücken – jawohl!“

Wirklich, das war erst das Wahre! Das war herrlich, einfach wundervoll. Anne begriff plötzlich, was sie bisher nie erfasst hatte, dass man Galopp reiten kann, ohne geworfen zu werden. Sie war eins mit dem Pferd, zum ersten Mal, ein Geschöpf, ein Wille, ein glückliches, naturgewolltes Vorwärtsstürmen ...

„Na also. Was wollen Sie mehr“, fragte Reuter, als sie durchparierten. „Heute ging es wirklich nicht schlecht. Sie können schon, wenn Sie wollen. Warum wollen Sie denn so oft nicht?“

„Ich will immer“, sagte Anne halb verlegen, halb trotzig. Aber im Grunde wusste sie wohl, woran es meistens bei ihr lag. Wenn sie sich über Reuter ärgerte, ihm innerlich widerstrebte, sich seinen Anweisungen nur widerwillig fügte, dann erreichte sie auch beim Pferd nichts. Es war ganz merkwürdig, es war, als habe er eine geheime Macht über die Pferde.

„So, Sie wollen immer? Nun, ich bin respektlos genug, das leicht zu bezweifeln. Immerhin, heute scheinen Sie gewollt zu haben. Vielleicht, weil niemand zusah?“

„Nein, aber weil ...“, sie stockte. Sie konnte doch nicht sagen: Weil Sie mich heute nicht verspottet haben. Jetzt spottete er schon wieder, sie fühlte das mit einer wütenden Verzweiflung, und sie fühlte, wie sie sofort schlecht saß, die Hände unruhig, die Beine verkrampft wurden. Zum Glück saßen sie gleich danach ab. Er konnte es nicht mehr bemerkt haben.

„Goldpeter, du bist der Beste!“, sagte sie und legte beide Arme um seinen Hals. Am liebsten hätte sie einen Kuss auf seine weiche Nase gedrückt. „Dich möchte ich immer reiten dürfen.“

„Glaub ich“, lachte Reuter. „Nun, wir wollen sehen, was sich machen lässt. Ich fürchte aber, Sie müssen sich jetzt beeilen.“ Er hob das Handgelenk und sah nach seiner Uhr.

„Um Himmels willen, ja!“, rief Anne bestürzt. Es war gleich halb neun. Hilfe suchend sah sie sich um. Reuter lachte noch mehr und nahm den Goldpeter am Zügel.

„Laufen Sie nur, ich bring ihn in den Stall!“

Anne hatte keine Zeit mehr zum Danken. Aber während sie durch den Park jagte, fühlte sie, wie ihr Herz leichter war als sonst, uneingestanden glücklich, fast beschämt. Er meinte es doch gut mit ihr! Es war nur ihre eigene Empfindlichkeit, wenn sie sich dauernd über ihn ärgerte.

„Weißt du, wen ich heute hatte?“, flüsterte sie Margot zu, als sie sich zum Frühstück setzten.

„Den Goldpeter“, sagte Margot trocken.

„Wieso?“, fragte Anne erstaunt.

„Weil du so strahlst“, antwortete Margot. „Wie ein Maienmorgen, so hieß es früher in Jungmädchenbüchern. Oder hat das einen andern Grund?“

„Du spinnst“, sagte Anne und tauchte in ihre Tasse. Was sich Margot wohl einbildete!

Margot stand vor der Backmulde, die Arme bis über die Ellbogen voll Mehl, das Gesicht weiß bepudert, und knetete den Kuchenteig. Ihre Armbanduhr hing an einem Nagel vor ihr an der Wand.

Margot rechnete: Wenn der Teig fertig ist, muss er mindestens eine Stunde gehen. Jetzt sollte Schönfeld den Backofen heizen, und ich renne nach Brennnesseln. Anne macht inzwischen den Belag für den Quarkkuchen und den Streusel, falls sie ihre Hühner fertig gerupft hat. Herta – nein, die hat genug mit dem Essen für morgen zu tun. Außerdem sind für heute noch keine Kartoffeln geschält. Und Erika –

In diesem Augenblick ging die Tür, Margot sah auf.

„Ach Sie, Schönfeld. Machen Sie jetzt den Ofen fertig?“

Schönfeld, das „Mädchen für alles“ in Haus und Hof, ein altes Faktotum mit klugen grauen Augen, zeigte ein bestürztes Gesicht.

„Fräulein Margot, ich kann Ihnen hier nicht weiter helfen. Drüben in der Küche scheint ein Rohr der Wasserleitung geplatzt zu sein, die ganze Küche schwimmt, ich muss da erst mal nachsehen. Kommen Sie nicht allein mit dem Ofen zurecht? Sicher doch!“

„Ach du liebe Güte, allein mit dem Backofen?“

„Ich hab es Ihnen doch so oft vorgemacht! Sie müssen die Glut nur richtig verteilen! Gleichmäßig, verstehen Sie. Die Hitze ist gut. Aber beeilen Sie sich, die Brote sind schon soweit.“

Er tippte versuchend an eins der runden, herrlich säuerlich riechenden Brote, die in ihren Strohkörben auf dem Regal standen. „Also, ich geh hinüber. Im Notfall kommen Sie fragen.“

„Na gut“, Margot streifte den Teig von den Händen, „aber zum Herausnehmen sind Sie wieder da? Obwohl das ja leichter ist!“

„Ich komme, so schnell es geht“, versicherte der Alte und hastete hinüber. Margot ging zum Backofen und guckte hinein. Na freilich, warum nicht? Einmal musste es eben das erste Mal sein!

Während sie mit vor Hitze und Aufregung gleichermaßen brennenden Backen schuftete, dachte sie, es habe doch auch sein Gutes, wenn man neugierig ist. Schon daheim hatte sie ihre Nase in alles gesteckt, auch in das, was sie nach Ansicht der andern nichts anging. Hätte sie, wie es ihr eigentlich zukam, Schönfeld jedesmal nur beim Teigkneten geholfen, so stünde sie jetzt zweifellos ratlos da. Denn die Besorgung des Backofens war Männersache, nur eben, sie interessierte sich auch dafür. Wirklich, die Glut wurde richtig! Nun hieß es noch die genaue Zeit abzupassen, wann man sie herausfegte – es war ein echter, alter Steinofen, in dem sie backten, und die Lauterbacher Brote waren deshalb berühmt. Heutzutage wollten gerade sehr begüterte Leute solches Brot, aus grobem Roggenmehl, gut gesalzen und in einem Hänsel-und-Gretel-Backofen gebacken.

Zum Glück backten sie heute nur die halbe Menge. Hauptsächlich war der Ofen des Pfingstkuchens wegen angeheizt, da hatte man noch rasch ein Dutzend Brotlaibe mit angesetzt, mehr nicht.

Sie legte sich den Schieber zurecht, bestreute ihn mit Mehl, nahm das erste Brot mit dem Korb und kippte es auf den Schieber. Das ging ganz leicht, und sie fühlte wieder Mut. Mit dem riesenlangen Stiel des Schiebers fuhrwerkte sie zwar noch etwas ungeschickt herum, aber es ging. Ein Ruck, und das erste Brot saß im Ofen. Sie atmete auf.

Das nächste! Vorsichtshalber setzte sie alle in recht großen Abständen voneinander ab, denn sie saßen, wo sie saßen, man konnte sie nicht mehr wegrücken. Endlich waren alle drin!

Margot atmete auf. Nun aber schleunigst hinüber und den Kuchenbelag holen! Margot rannte und prallte in der Küchentür zurück. Herta und Anne standen in Holzpantoffeln da und versuchten, das Wasser aufzutrocknen, das knöcheltief durch die Küche plätscherte, während Schönfeld und der Schmied des Dorfes sich an dem schadhaften Leitungsrohr abmühten. Erika war nicht zu sehen.

„Hast du den Streusel fertig?“, fragte Margot.

Anne sah auf und prustete los. „Margot, nein, guck bloß mal in den Spiegel! Du siehst aus – ein Bild für Götter!“

„Albernes Kind“, sagte Margot würdevoll, musste aber dann selbst lachen. Ihr Gesicht, weiß grundiert von Mehl, trug darüber kunstvolle Rußornamente, von denen besonders eins unter der Nase komisch und wie ein Bärtchen wirkte. Unwillkürlich ging sie zur Wasserleitung und drehte – aber es kam kein Wasser. Natürlich war der Haupthahn abgestellt.

„Wirklich eine reizende Bescherung! Aber ich muss jetzt das Zeug für den Kuchen haben, der Teig geht mir sonst über.“

„Dazu bin ich noch nicht gekommen. Abgewogen ist alles, dann aber ging hier der Zirkus los. Kannst du es nicht fertig machen?“

„Dann werde ich wohl schnellstens ran müssen. Und meine Brennnesseln? Wo steckt denn Erika?“

„Die ging vorhin zum Gärtner, Salat holen. Sie müsste längst ...“ Annes Stimme verklang. Sie schippte jetzt das Wasser mit der Kehrschaufel auf, das klang auf dem Steinfußboden ohrenzerreißend. Margot holte sich heißes Wasser aus dem Ofentopf und wusch sich. In ihrem Kopf fing es an zu wirbeln. Ausgerechnet heute musste so was passieren, wo Frau König nicht da war!

„Habt ihr wenigstens Kartoffeln geschält? Nein? Gottlob, da kommt Erika. Erika, lauf doch bitte schnell nach Brennnesseln, die kleinsten Enten bekommen noch nichts anderes als Brennnesseln und Brot. Und dann schäl die Kartoffeln, ja?“

„Brennnesseln gehn mich nichts an“, sagte Erika schnippisch und warf den Kopf zurück. „Geh doch selbst!“

„Aber, Erika, du siehst doch ...“

„Und meinen Anteil Kartoffeln hab ich auch schon geschält, heute früh“, sagte Erika und setzte sich umständlich zurecht, um ihren Salat zu verlesen. „Weshalb macht ihr das nicht auch so? Dann wärt ihr jetzt nicht in der Klemme.“

„Aber, Erika, wir können doch auch nichts dafür, wenn ein Rohr platzt! Das wirft doch alles über den Haufen“, rief Margot, mehr erstaunt als ärgerlich. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass man ein gemeinsames Pech nicht auch gemeinsam trug. „Nun geh schon, der Salat wird immer noch fertig, Hauptsache, meine Entchen bekommen ihr Frühstück.“

„Dann kümmere du dich doch um sie.“

Das war unmissverständlich deutlich. Margot riss den Mund zweimal auf, schloss ihn aber wieder, ohne etwas zu sagen. „Du bist wohl nicht bei Trost?“, flüsterte sie endlich.

„Ach, nicht bei Trost! Ich hab es satt, ständig den Kuli für euch zu machen“, brach Erika los. „Ewig Erika hier und Erika da, alle besseren Arbeiten sucht ihr euch aus, und ich darf der Handlanger sein. Nein, danke, das hab ich lange genug genossen.“

Herta und Anne hatten sich aufgerichtet, sie standen genauso erstarrt da wie Margot. Schönfeld und der Schmied waren eben mit einem herausgeschraubten Stück Rohr hinausgegangen. Die Mädel waren allein.

„Ich versteh dich nicht, Erika“, sagte Margot langsam, „wenn ich dich manchmal gebeten habe, uns zu helfen, dann doch nur, weil du es von selbst nicht wissen konntest, was nötig war.“

„Ach, von selbst! Als ob du alles wüsstest!“

„Ja, willst du denn jetzt rübergehen und das Brotbacken allein besorgen? Ich glaube, das überlässt du mir ganz gern!“

„Ach, das ist ein Einzelfall! Aber sonst ist es doch immer das Gleiche, ihr sucht euch die Arbeit aus, die euch gefällt, genau wie im Schloss beim Reiten.“

„Was suchen wir uns denn da aus?“

„Die Pferde! Die guten Pferde! Immer habt ihr den Bubi oder die Ulrike und ich muss mich mit dem Felix quälen. Anne, das Goldkind, darf neuerdings sogar auf den Goldpeter!“

„Das dürftest du auch, wenn du ...“

„Wenn ich mich so anschmeicheln würde wie du, hinüberrennen und Reuter schöne Augen machen, damit er die guten Pferde rausrückt. Nein danke, dafür bin ich mir zu gut.“

Was hab ich getan?“, fragte Anne. Sie kam näher, zitternd vor Wut. „Was hab ich Reuter gemacht?“

„Wozu rennst du denn Sonntag so früh rüber?“

„Zum Füttern und Putzen, dass du’s weißt! Aber dazu bist du dir zu gut, da schläfst du lieber zwei Stunden länger!“

„Ach, füttern und putzen! Geritten seid ihr! Aber das sag ich euch, ich mach mir überhaupt nichts mehr aus dem Reiten, wenn ich mich immerfort mit dem elenden Bock von Felix abschinden muss, und ihr habt die guten Pferde. Dann hör ich eben auf, bitte sehr. Keiner zwingt mich. Und ich muss auch nicht das tun, was ihr mir vorschreibt.“

„Du meinst also – du willst also damit sagen ...“, setzte Anne an. Aber Margot fuhr dazwischen:

„Kinder, brüllt euch jetzt nicht an, dass das Haus wackelt und die Arbeit liegen bleibt! Jetzt los, wir sprechen nachher weiter. Erika, schäl doch wenigstens die Kartoffeln, bis Herta soweit ist!“

„Ich denke nicht dran ...“

Margot, Anne und Herta sahen sich an. Alle drei dachten dasselbe: Es ist Absicht. Sie will nicht. Das Reiten macht ihr keinen Spaß mehr, und nun ist es ihr gleichgültig, ob alles weiterhin klappt.

„Wenn eine von euch widerspenstig wird“, hatte Frau König gesagt ...

„Gut, Herta, ich denke, wir machen es dann so, dass es bei uns zu den Spiegeleiern und dem Salat Pellkartoffeln gibt. Ich verantworte das vor der Königin. Die Kartoffeln für die Leute sind ja geschält sagte Erika, und den Kuchen mach ich eben. Die Brennnesseln ...“

„Die hol ich, ich weiß eine Stelle, da gibt’s viele“, sagte Anne rasch. „Herta, wird’s gehen?“

„Klar“, sagte Herta, „ich beeile mich. Hauptsache, beim Backen geht nichts schief.“

Sie sprachen nichts mehr, sondern stürzten sich voller Eifer auf ihre Arbeit. Herta konnte in aller Ruhe sehr viel fertig bringen, wenn es auch bei ihr immer so pomadig aussah, und Anne war flink. Margot ließ im Backhaus das Nudelholz über den Kuchenteig sausen und werkte, während der Zorn in ihr kochte.

Sie würde Erika noch Bescheid sagen, darauf konnte die sich verlassen! Solch eine Gemeinheit, die andern gerade heute im Stich zu lassen!

Ein Kuchenblech nach dem andern wurde fertig beiseite gestellt, dann mussten die Brote heraus und nass abgekehrt werden; es roch herrlich, und sie waren ganz richtig gebacken. Nun die Kuchenbleche in den Ofen – Margot fühlte, wie ihr Ärger verging und das Glück selbstständiger Arbeit ihr Herz überflutete. Freilich, das kannte Erika nicht. Sie stutzte einen Augenblick bei diesem Gedanken. Hatte Erika vielleicht mit ihren Vorwürfen Recht? Nein, auf keinen Fall durfte man sich so verhalten, selbst wenn man im Recht wäre.

Margot war nicht die Älteste hier, aber sie war am längsten hier und hatte die größte Erfahrung. Da hatte sich von Anfang an von selbst ergeben, dass sie den Ton angab, regierte, wenn man so sagen wollte. Sie fühlte sich auch heute verantwortlich dafür, dass alles wieder in Ordnung kam.

Als die Kuchen fertig waren, ging sie hinüber. Die Küche war blank. Schönfeld drehte eben versuchsweise den Hahn auf. Das Rohr hielt dicht, Gott sei Dank! Herta hatte fast Unmögliches geleistet, ein Topf Kartoffeln stand wahrhaftig geschält auf dem Herd, und nur im kleinen Dämpfer kochten Pellkartoffeln.

„Die sind für uns Mädel, da brauchen die anderen bei Tisch nicht zu schälen. Bei uns kommt’s nicht drauf an. Und da ist auch Anne mit den Brennnesseln. Gib her, ich wiege sie gleich.“

„Das kann ich auch noch tun. Bist du fertig, Erika, oder sollen wir dir helfen?“, fragte Margot. Den andern blieb der Mund offen stehen. Sie hatte weder einen mürrischen noch einen spöttischen Ton. Erika selbst war verblüfft. Sie hatte inmitten der fieberhaften Tätigkeit der andern so betont langsam und umständlich an ihrem Salat geputzt, dass das allein schon aufreizen konnte.

„Danke, es ist nicht nötig“, sagte sie verwirrt.

„Dann gut. Du schmeckst ihn vielleicht auch selbst ab. Hast du schon Kräuter da? Sonst springt vielleicht Anne und holt sie dir.“ Sie gab der Freundin einen Wink mit den Augen, und Anne lief. Als Frau König gegen Mittag erschien, war alles in schönster Ordnung. Margot erstattete Bericht und erklärte die kleine Umstellung beim Essen.

„Gut, schön“, sagte die Königin in ihrer Art. Alle atmeten auf. Nach Tisch erschien Herta im Zimmer der zwei anderen. Die hatten das erwartet, sie mussten ja beraten.

„Warum warst du eigentlich auf einmal so freundlich zu Erika? Meinst du, wir sind auf sie angewiesen und müssen sie, koste es, was es wolle, bei guter Laune halten?“

„Nein, das bestimmt nicht“, sagte Margot entschieden. „Aber hört mal, in manchem hat sie nicht unrecht. Wir haben sie oft als Handlanger behandelt.“

„Ja, weil sie sich allein nichts zutraut! Das stimmt doch! Zu nichts hat sie Courage, und beim Reiten ist es genauso. Der Satan ging ihr sofort durch die Lappen, vom Bubi ganz zu schweigen.“

„Ich glaube, Erika gehört gar nicht aufs Pferd, sie reitet nur, weil es Mode ist.“

„Ja, und Angst hat sie und ist beleidigt, wenn nicht alles sofort klappt.“

„Natürlich, und nun verdirbt sie uns alles, weil sie keine Lust mehr hat. Haben wir nicht Recht?“

„Doch“, sagte Margot, „in einer Hinsicht schon. Aber hört mal zu, wollen wir es nicht einmal anders herum probieren? Indem wir einfach versuchen, ihr Mut zu machen? Sie braucht Vertrauen zu sich selbst.“

„Wie willst du denn das anfangen?“ Anne und Herta sahen gespannt und etwas misstrauisch auf Margot.

„Ja, ob ich es fertig kriege, weiß ich nicht. Aber ich dachte, wir könnten ihr doch mal selbstständige Arbeit zuschieben und helfen ihr dabei, ohne dass sie es merkt. Heute hat sie den Salat doch tadellos fertig gemacht.“

„Na, Salat! Was ist denn da schon groß dabei?“

„Anne, ich erinnere mich an eine lebensgroße Schnecke, die mit in die Schüssel gewandert wäre, wenn Herta sie nicht noch im letzten Augenblick ...“

„Geschenkt, geschenkt“, rief Anne und lachte. „Diese Schnecke kommt noch einmal auf meinen Grabstein.“

„Aber so geht es vielleicht wirklich“, sagte Herta nachdenklich, „es macht bestimmt keinen Spaß, immer Handlanger zu sein. Versuchen wir es also.“

„Nein, Kinder, ich sage euch, als ich heute das Brot und den Kuchen ganz allein besorgt habe, das war wundervoll. Am liebsten würde ich die Prüfung der Bäckerinnung auch noch machen“, sagte Margot begeistert. „Aufregend ist das mit dem Ofen, aber Spaß macht’s!“

„Na, weißt du, ich finde auch den Separator aufregend genug, mir wenigstens reicht es bisher“, sagte Anne.

„Na also, dann sind wir ja einig!“, lachte Herta. „Erika braucht Selbstständigkeit, das ist es, dann wird alles besser.“

„Sie darf es aber nicht merken!“

„Nein, sonst ist sie sofort misstrauisch.“

„Und beim Reiten, wie machen wir es da?“

„Wir bitten Kornelius, dass er ihr von sich aus ein anderes Pferd gibt. Aber welches?“

Sie beratschlagten eifrig. Anne grollte noch.

„Kinder, was sie da über mich sagte von Anschmeicheln und Schöne-Augen-Machen, also das fand ich empörend.“

„War es auch“, begütigte Margot, „überhaupt, Erika ist schwierig. Nun, wir werden sie schon zur Vernunft bringen. Stellt euch doch mal vor, sie ist das einzige Kind zu Hause. Da war niemand, der sie ärgerte und gegen den sie sich durchsetzen oder von dem sie was einstecken musste. Dann wird man so eine Mimose.“

„Mag sein. Man ist nichts Gutes gewöhnt.“

„Also, wollen wir es mit ihr versuchen?“

„Gut.“ Sie sahen sich an und lachten. „Aber wenn sie nun vom Satan runterfliegt?“

„Sie wird schon nicht. Ich gebe Kornelius einen Wink, dass er es gnädig macht heute Abend.“

Und so geschah es. Reuter wurde in die Verschwörung eingeweiht, es zeigte sich, dass er großartig schauspielern konnte. Er ließ zunächst aufsitzen wie sonst, mäkelte dann unentwegt an Annes Sitz herum und befahl zuletzt, scheinbar stark verärgert:

„Halt. Anne und Erika absitzen. So, Sie wechseln jetzt die Pferde. Das ist ja nicht mehr mit anzusehen!“

Erika erklomm den Satan mit blassem Gesicht. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit erlaubte Reuter den Mädeln, auch weiter mit Bügeln zu reiten. Sonst kam um diese Zeit meist der wenig willkommene Befehl: „Alle die Bügel hochschlagen.“ Und dann folgte die große Quälerei: Traben ohne Bügel, bis man glaubte, man könnte sich nicht mehr halten. Heute erlaubte er weiter leichten Trab, und Anne versuchte, sich mit Felix zu befreunden. Er war ein bisschen hart im Traben, fand sie, und ein geheimer Groll fraß an ihrem Herzen. Sie war so schön an ihren Satan gewöhnt gewesen.

„Nun, Engelein, weinen Sie Ihrem Teufel nach?“, fragte Reuter einmal halblaut, als sie an ihm vorbeikam. Sie biss sich auf die Unterlippe.

„Ruhig, ruhig“, sagte er, genau im selben Tonfall, wie er mit einem Pferd sprach, das den Kopf wirft und steigen will. „Das nächste Mal können Sie den Goldpeter haben. Wenn Sie mögen, heißt das. So viel haben Sie jetzt gelernt.“

Anne unterdrückte mit Mühe einen Jubelruf. Reuter konnte so spöttisch sein, wie er wollte, ein Lob aus seinem Mund wog um so mehr. Sie vergaß allen Ärger, wenn sie nur vorwärts kam, wenn sie nur lernte, lernte! Alles andere war Nebensache. Als sie dann galoppierten, trieb sie ihren Felix so stürmisch an, dass er sie missverstand und aus dem Arbeitsgalopp in einen ganz hübschen Jagdgalopp fiel. Anne hielt sich wacker, aber dann kam ihr die Fortuna in die Quere, sie versuchte durchzuparieren.

„Sitzenbleiben!“, rief Reuter noch, da lag sie auch schon in der Lohe. Das erste Mal ausgestiegen! Sie hielt aber den Zügel noch und rappelte sich sofort hoch.

„Ola, ola, mein Felix“, und schon saß sie wieder oben. Reuter lächelte. Er wandte das Gesicht ab, damit sie es nicht sah. Er konnte nicht anders, sein Gesicht war ein einziger Glanz. Anne war richtig! Sie war goldrichtig. Anne und die Pferde ...

Aber sie durfte es nicht merken.

„So, nun die Abstände wieder ausgleichen“, befahl er möglichst gleichmütig. Keines der Mädel merkte, dass seine Stimme irgendwie anders klang. Sie waren viel zu beschäftigt mit ihren Pferden.

„Herta, Sie sind hier bei der Wäsche?“, fragte Frau König erstaunt. „Was wird denn da aus unseren Nudeln?“ Sie war ins Waschhaus getreten, wo sie nur Anne und Margot vermutete.

„Die Nudeln macht Erika“, sagte Herta und richtete sich auf. „Die Brühe kocht schon eine Weile.“

„Na, ob das gut geht?“ Frau König schüttelte den Kopf. „Ich werde mal nachsehen. Tragen Sie diesen Korb hier auf die Bleiche, wir wollen den schönen Sonnenschein ausnützen.“

Anne sah Margot an.

„Du, wenn Erika jetzt ...“

„Was kann denn an Nudeln schon schief gehen?“

„Ich fürchte, allerhand!“

„Aber sie hat doch das Rezept. Ich habe es ihr mit Kreide auf den Tisch geschrieben“, sagte Margot. Die beiden anderen lachten.

Dann aber beugten sie sich alle drei wieder über die Waschbütte und rubbelten, dass es eine Art hatte. Je weiter sie mit der Wäsche kamen, um so größer war die Aussicht, dass sie heute Abend wieder einmal reiten konnten. In der letzten Woche war sehr viel zu tun gewesen, sie hatten bei der Heuernte helfen müssen, und das Reiten war bis auf den Sonntag ausgefallen.

In Reuters Reitschule war um diese Jahreszeit am meisten los. Alle Einzelzimmer im Schloss waren belegt, der Schlafsaal auch voll, Peter wusste immer genau Bescheid. Er kam oft nach dem Reiten mit herüber aufs Gut, seine Eltern waren mit Königs befreundet. Er besaß ein Motorrad und war sehr nett. Genau wie die Mädel hatte er eine gesunde Wut auf all die „Stadtweiber“, wie Alfred, der Pferdepfleger, die Reitschülerinnen bezeichnete, die jetzt immer „ihre“ Pferde ritten.

„Sie quälen sie, es ist nicht mit anzusehen“, entrüstete sich Herta, „die alte Frau, die neulich die Fortuna ritt ...“

„Na, alt. Die ist vielleicht dreißig“, meinte Margot. Aber Anne rief empört: „Ist das etwa nicht alt? Hornalt! Warum muss man denn in diesem Alter unbedingt noch reiten lernen?“

„Du reitest sicher noch mit siebzig!“, hatte Peter neulich zu Anne gesagt und vorgemacht, wie sie, zahnlos und mit wackelndem Kapotthütchen, auf Rossesrücken einherschweben würde.

„Wisst ihr, was Kornelius versprochen hat? Heut Abend reiten wir aus!“, platzte jetzt Margot heraus. Ein lautes Freudengeheul erscholl. Gerade kam Frau König. Betreten schwiegen alle drei.

Die Gutsfrau lächelte.

„Meinetwegen schreit, wenn es euch Spaß macht“, sagte sie. „Aber ihr habt Recht, Erika bringt tadellose Nudeln zu Stande. In letzter Zeit ist sie wie umgewandelt, ordentlich lebendig geworden. – Seid ihr mit der feinen Wäsche soweit? Dann werde ich mit Herta schleudern, und Sie beide gehn auf den Rasen.“

Anne und Margot zogen ab. Anne fühlte ein Prickeln im ganzen Körper – ausreiten! Über Wiesen und Koppeln, durch Wald, im Schritt, im Trab und galoppierend.

„Gibt es etwas Schöneres?“, fragte sie Margot zum hundertsten Male, und Margot antwortete wie stets, überzeugend und einverstanden:

„Nein, es gibt nichts Schöneres als die Pferde!“

Es war ein milder Sommerabend, noch so hell, dass man getrost eine Stunde draußen bleiben konnte, und doch gedämpft im Licht, als sie das erste Mal zu Pferde ins Freie durften. Im Schritt ging es durch den Hof, Kornelius an der Spitze. Alle waren beklommen vor Glück. Anne hatte den Goldpeter, Erika den Satan, Margot zu ihrem Entzücken den Pascha, einen großen, hellen Falben mit Aalstrich. Auch Karl und Peter waren dabei.

„Lasst den Pferden die Zügel lang, sie wollen sich erst einmal strecken“, sagte Reuter. „So, ja. Ihr tut das doch auch. Pferde sind keine Maschinen, denen es gleichgültig ist, durch welche Gegend man sie fährt, durch Vorstadtstraßen oder durch jungen Eichenwald oder über taufrische Wiesen. Pferde sind Wesen, die oft mehr sehen und fühlen als wir.“

Anne fand das schön von ihm gesagt. Sie mochte ihn sehr gern, sobald er ernsthaft und nicht spöttisch war. Der Goldpeter ging weich und willig. Anne versank während des Schrittreitens in eine Art Wachtraum, der Wirklichkeit halb enthoben und doch wieder glücklich zugewandt. Keiner von ihnen sprach.

Anne hatte nun schon jedes Pferd der Reitschule gefüttert, geputzt und getränkt, und geritten hatte sie auch schon verschiedene. Sie fühlte immer deutlicher, wie sehr sie an den Pferden hing, wie stark sie in ihr Leben eingriffen. Immer hatte sie sich gewünscht, mit Pferden leben zu können, jetzt aber merkte sie, dass es eine schmerzhafte, ja, ihr schien fast, eine lebensgefährdende Wunde geben würde, wenn man sie wieder herausreißen würde aus ihrem Leben. Mancher Mensch braucht Bücher fast so nötig wie das tägliche Brot, mancher den Umgang mit jungen Menschen, mancher eben Tiere, und sie speziell Pferde. Es war keine Spielerei von ihr, es war eine starke, tief verwurzelte Neigung. Bei Margot war es anders, sie hatten sich oft darüber unterhalten. Margot liebte einfach das Land und das Landleben. Sie konnte die gleiche Begeisterung über ein schönes Kalb empfinden wie über ein Fohlen oder über einen gut stehenden Weizenschlag. Sie liebte Pferde als Teil des Landlebens, sicher würde sie mal eine tüchtige Gutsfrau werden. Es lag bei ihr im Blut. Anne aber wollte Reitlehrerin werden und nichts anderes.

Auf dem weichen, grasbewachsenen Waldweg galoppierten sie an. Es war gut, dass Reuter sie erst jetzt hinausreiten ließ, jetzt, da alle Anfangsschwierigkeiten überwunden waren. Undenkbar, sich etwa jetzt angstvoll an den Sattel zu klammern oder dem Pferd wehzutun durch einen Zügel, der ins Maul riss. Es war ein unsagbarer Zauber, hier zu reiten; allen war feierlich zu Mute, nicht nur Anne, sogar Erika. Jedenfalls strahlten aller Augen, als sie heimkamen, und keiner konnte sich gleich von seinem Pferd trennen. Zucker und Mohrrübenstücke wurden ihnen auf der flachen Hand gereicht, und jeder sprach und liebkoste und schäkerte mit seinem vierbeinigen Kameraden. Reuter trat zu Anne.

„Wie ist das morgen früh? Kommen Sie wieder zum Füttern und Putzen?“

„Wenn ich kann, natürlich. Frau König erwartet Besuch, da gibt es vielleicht am Vormittag mehr zu tun“, sagte Anne zögernd. „Aber zum Füttern bin ich ganz bestimmt hier.“

„Nun, wenn es früh zum Reiten nicht mehr reicht, könnten Sie ja ausnahmsweise morgen Nachmittag mittun“, sagte Reuter. „Ich habe zwei Schülerinnen aus der Stadt hier, die nur sonntags Zeit haben. Wollen Sie?“

„Gern“, sagte Anne glücklich. „Nachmittags kann ich bestimmt.“

„Dann komme ich auch“, sagte Peter, der das letzte gehört hatte, „die Nixe ist nicht mehr die alte. Sie geht gar nicht mehr gern an den Zügel. Sie muss mal wieder richtig gearbeitet werden.“

„Schön, kommt ihr beide also morgen“, sagte Reuter. Er tippte mit der Gerte an die Mütze und ging.

Am nächsten Morgen war Anne noch mehr bestrebt als sonst, alle ihre Pflichten so genau wie möglich zu erfüllen. Sie hinterließ im Kühlraum eine geradezu märchenhafte Ordnung und Sauberkeit, half Herta dann in der Küche und deckte den Mittagstisch besonders schön mit Blumen in allen Vasen. Nach Tisch zog sie sich um, seelenvergnügt, fuhr in die schneeweiße Hemdbluse und freute sich an den spiegelblank geputzten Stiefeln. Margot hatte sich hingelegt. Sie gab ihr einen freundschaftlichen Klaps und sauste ab.

Reuter stand schon im Stall und unterhielt sich mit den beiden Damen aus der Stadt und Peter. Er hatte sein freundlichstes Gesicht aufgesetzt und begrüßte Anne, stellte sie den Damen vor und meinte dann, sie wollten heute des schönen Wetters wegen nicht in der Halle, sondern in der Bahn draußen reiten. Anne und die andern sattelten, Peter half den beiden Damen, die sich dabei recht ungeschickt anstellten, und führte die Pferde hinaus. Es war heiß, aber unter den hohen Bäumen war die Luft herrlich angenehm. Anne merkte sehr bald, dass sie mehr konnte als die beiden Damen aus der Stadt, die in Schneiderjacken und mit Handschuhen und eigenen Gerten ritten. Es machte ihr Vergnügen, und sie plinkerte Peter zu. Reuter war nicht zu Pferde, sondern stand in der Mitte, schlug mit seiner Gerte immer wieder an seine Stiefelschäfte und kam langsam in Hitze, denn besonders die eine Dame wurde mit ihrem Pferde nicht fertig.

„Reißen Sie es doch nicht ins Maul, es weiß ja nicht, was es soll!“, rief er grollend. „Linker Schenkel ran, der linke ist der treibende. So galoppiert er im Leben nicht an. Halt! Anne, zeigen Sie es mal.“

Anne wurde dunkelrot. Sie war noch nie allein, also außerhalb der Abteilung, geritten, würde sie jetzt versagen? Reuter hatte das Pferd der nun ziemlich kopflosen Dame am Zügel gefasst und führte es in der Mitte des Hufschlags. Die andere und Peter schlossen sich an. Der Goldpeter schien zu meinen, dass auch er hinterhergehen sollte – sie parierte durch, so weich sie konnte. Er stand.

„Also – Arbeitstempo Terrab!“

Wahrhaftig, der Goldpeter war ein Goldkerl! Anne trieb und hob sich in den Bügeln – er trabte. Sie nahm die Knie ran, die Absätze tief und regulierte die übrige Körperhaltung. Das war gar nicht schwer. Sie sah nichts als die spielenden Pferdeohren vor sich und dahinter das Grün des Laubes.

„Scherrit. Aus dem Schritt angaloppieren – im natürlichen Tempo – Ga-lopp!“

Wirklich, auch jetzt gehorchte das Pferd. Anne war gerührt. Nur zu oft hatten ihr die andern, die schon länger ritten, erzählt, dass die Pferde den Befehlen nur gehorchten, solange sie eins hinter dem anderen in der Abteilung liefen. „Sie kleben zusammen wie die Briefmarken“, hatte Karl einmal gesagt, „wenn du eins allein hast, kannst du wieder von vorn anfangen mit Lernen.“

Aber Goldpeter tat, was sie wollte. Vielleicht hatte er selbst Lust, zu galoppieren? Vielleicht aber gab sie tatsächlich die richtigen Hilfen? Ein Glücksgefühl ohnegleichen durchströmte sie. Was war sie denn selbst? Ein kleines, dummes, junges Ding, nie im Leben fähig, sich in Bezug auf Kraft mit solch einem stolzen und edlen Tier zu messen! Und doch gehorchte es ihr, es tat, was sie wünschte, es lauschte auf ihren Zungenschlag und fühlte mit der Lippe am Zügel entlang nach ihrer regierenden Hand. Ein leichter Druck mit dem Schenkel, nicht befehlend, nur übermittelnd, mitteilend – und schon fügte es sich ihrem Willen.

Zum ersten Mal verstand sie das Wort „Hilfe“ richtig. Sie half dem Pferd, sie zwang es nicht, sie wurde eins mit ihm, eine Absicht, ein Wille. Und das alles, weil sie es liebte, weil sie sich geduldig bemüht hatte, es zu verstehen und es zu lehren, dass es sie verstand.

„Gut so. Ja, das nennt man reiten, meine Damen“, sagte Reuter. „Noch einmal: Scherrit. Und aus dem Schritt angaloppieren! Aber diesmal nicht auf meinen Zuruf, sondern allein. Reiten Sie im Schritt bis an die große Linde und dann Galopp. Los!“

Am Rande des Parkes kamen ein paar Spaziergänger vorbei, sie blieben stehen und sahen herüber. Anne bemerkte es gar nicht, sie war viel zu konzentriert auf ihr Pferd und ihre Aufgabe.

Aber Peter erkannte, dass Margot dabei war, sie ging neben einem großen, hageren Herrn. Im nächsten Augenblick kehrten alle rasch um und verschwanden hinter der dichten Taxushecke.

Gerade galoppierte Anne wieder an, genau an der richtigen Stelle. Das Herz lachte ihr.

„Jawohl“, sagte Reuter befriedigt. „Sehen Sie, dieses junge Mädchen lernt was. Wie lange Anne schon reitet? Ein Vierteljahr und durchschnittlich zweimal die Woche. Manchmal mehr. Das ist nicht viel, nein. Aber sie hat die Liebe zum Pferd, die nötig ist, sie beschäftigt sich jede freie Minute im Stall. Sie dient der Kreatur. Sie sollten einmal sehen, wie sie dem Pferd die Trense ins Maul schmeichelt, wie sie ihm den Sattel auflegt. Jeder Griff ist behutsam und voller Sorgfalt und Liebe. So muss es sein! Kommen, sich auf ein gesatteltes Pferd setzen und eine Stunde reiten, das genügt nicht. Das ist – im höchsten Fall! – das Erlernen eines Handwerks, einer Fertigkeit. Aber Reiten, richtig Reiten ist eine Kunst. Und Kunst ist etwas Heiliges, verstehen Sie mich, meine Damen? Diese junge Angelika da versteht das aus sich selbst heraus, mit ihr brauche ich darüber nicht zu reden. In ihr steckt das Zeug zur Künstlerin, zur wahren Künstlerin, der die eigene Person gleichgültig, die Kunst aber alles ist.“

Er war ordentlich in Feuer gekommen und merkte nicht, dass die Spaziergänger, die vorhin außerhalb des Zaunes gestanden hatten, schon vor einem Weilchen hinter ihn getreten waren.

Margot gab ihm einen kleinen Schubs, sie sah die Katastrophe kommen, konnte sie aber nicht aufhalten.

„Herr Reuter – bitte. Sie bekommen Besuch!“, flüsterte sie ihm zu. Er wandte sich um.

„Scherrit, Anne. Genügt. Sie haben es tadellos gemacht!“, rief er ihr zu. Sie parierte durch.

„Verzeihung, sprechen Sie mit meiner Tochter? Doktor Birkner“, stellte sich der hagere Herr mit einer knappen Verbeugung vor.

„Jawohl. Reuter.“

Sie begrüßten sich. Reuter machte bekannt und war keineswegs im Bilde, was nun hereinbrechen würde.

Und es brach herein.

Margot zog den Kopf ein, sie kannte ja Annes Vater. Es war wirklich Pech, dass es ausgerechnet so kommen musste. Aber es war nicht zu verhindern gewesen.

Annes Eltern hatten eine Überraschung geplant. Sie waren von der Station Lauterbach herübergewandert, Frau König wollte ihnen Kaffee anbieten, aber sie zogen es vor, erst Anne zu suchen. Margot hatte Herta in die Reithalle gejagt, um vorzuwarnen, während sie selbst mit Dr. Birkners um den Park herumging. Das war also nun das Verkehrteste, was sie hatte tun können.

„Darf ich fragen, wieso meine Tochter hier den Jockei spielt, anstatt, wie ich wünsche, bei Frau König zu arbeiten?“, fragte Herr Birkner. Seine Frau war blass und versuchte, ihn zu beschwichtigen, aber ohne Erfolg.

„Ich verstehe nicht. Haben Sie etwas dagegen? Ich besitze doch Ihre schriftliche Erlaubnis, dass Sie mit gelegentlichen Reitstunden Ihrer Tochter einverstanden sind?“

„Gelegentlich? Und eben sagten Sie, zweimal die Woche reite sie hier und verbrächte ihre gesamte freie Zeit im Stall?“

„Das tut sie. Aber mit Wissen und Erlaubnis meiner Schwester.“ Reuter war höflich und in Bezug auf Dr. Birkners Wut völlig verständnislos.

„Soso. Und das Ganze nennt sich landwirtschaftliches Praktikum. Meine Tochter soll Landwirtschaftslehrerin werden und nicht ...“

„Vater!“ Anne war abgesessen und hatte Peter den Zügel ihres Pferdes gegeben. Sie stand vor den Eltern, noch erhitzt vom Reiten und bebend vor Erregung. Jetzt ging es ums Ganze, das fühlte sie. „Vater, ich wollte es dir erst sagen, wenn ich es zu etwas gebracht hätte. Damit du siehst, wie ernst es mir ist. Ich möchte ...“

„Was möchtest du?“

Die leise Stimme des Vaters klang schneidend. Wenn er gebrüllt hätte, wäre es nicht so schlimm gewesen.

„Ich möchte eben Reitlehrerin werden“, vollendete Anne so ruhig wie möglich. Das Herz schlug ihr bis in den Hals hinauf.

„Reitlehrerin ...“

„Vielleicht besprechen wir das besser drüben im Gut“, sagte Reuter beherrscht, „ich komme mit. Peter, sei so gut und sattle ab, und Sie, meine Damen, sind wohl so freundlich, es mir nicht übel zu nehmen, wenn ich jetzt unterbreche. Ich stehe nachher wieder zu Ihrer Verfügung. Bitte, Herr Doktor Birkner!“

Annes Vater konnte nicht anders, als sich ihm anzuschließen. Margot stand neben Anne.

„Au Backe, du, wenn das gut geht!“

„Margot, ich hab Angst ... ich hab Angst, dass nun alles zu Ende ist!“

Annes Augen waren weit aufgerissen, sie starrte den beiden Männern nach und griff dann nach dem Arm der Mutter, die bei ihr stehen geblieben war.

„Mutter, du musst mit Vater sprechen!“

„Ja, Kind, natürlich.“ Wie oft hatte sie diese Worte schon gesagt, beruhigend, tröstend, immer bereit, zu helfen, zu vermitteln. „Ich spreche mit ihm, aber wie konntest du ...“

„Ich erkläre es dir später. Mutter, Vater darf Herrn Reuter nicht so anschreien“, flüsterte Anne erstickt, „bitte, Mutter, sonst ...“

„Ja, ja, Kind. Du hättest nur eher ...“

„Ach, Mutter, ihr hättet mich ja alle für verrückt erklärt! Geh, bitte, und beruhige Vater!“

„Ja, komm aber gleich nach!“

Die Mutter, gewöhnt, sich als Friedensengel zwischen den aufbrausenden Mann und die eigenwilligen und freiheitsdurstigen Kinder zu schieben – sie kannte das, ach, wie sie das kannte bei drei Töchtern und zwei Söhnen! –, hastete den beiden Männern nach. Hier, so fühlte sie, würde es schwer halten, das Ganze wieder zurechtzurücken, andererseits aber fühlte sie auch eine glückliche Wärme in sich. Das war doch eine Aufgabe, zwischen den Generationen zu vermitteln, sie einander näher zu bringen, beiden zu zeigen: der andere hat auch Recht. Sie liebte ihren Mann, aber sie war auch stolz auf ihre Kinder, und sie verstand, dass diese eigene Wege gehen wollten. Ihr eigenes, jung gebliebenes Herz nahm Partei, sie wollte sich das nicht zugeben und wusste es trotzdem. Schnell, beinahe laufend, folgte sie den Männern.

Anne sah ihr nach. Dann ging sie zu Goldpeter und nahm Peter seinen Zügel aus der Hand. Peter sah, dass Annes Hand zitterte. Er sagte nichts und tat, als habe er nichts gesehen. Schweigend gingen sie miteinander zum Stall hinüber und sattelten ab.

Am Abend dieses aufregenden Tages hockten Anne und Margot nebeneinander auf dem Fensterbrett ihres Zimmers, während der Mond den Park direkt feenhaft anstrahlte.

Die beiden Mädel aber hatten zurzeit kein Verständnis für die Schönheit nächtlicher Landschaft, zu sehr beschäftigte sie, was vorgefallen war. Margot war genauso bei der Sache wie Anne.

„Ein einziges Glück, dass die Königin so vernünftig ist. An der Ruhe, die sie entwickelt, würden sich noch andere Orkane brechen“, sagte sie vergnügt. Sie war stets bereit, auch in den verfahrensten Situationen noch das Positive herauszufinden. „Wie sie deinen Vater rumkriegte!“

„Ach ja, wenigstens so weit, dass ich hierbleiben darf – das ist in diesem Fall schon ein großer Sieg. Aber damit wird sich’s wohl auch haben“, sagte Anne sorgenvoll.

Frau König hatte Herrn und Frau Birkner eingeladen, bis zum nächsten Tag zu bleiben. Sie tat das manchmal, wenn Lehrlingseltern kamen, um den Betrieb nicht nur sonntags, sondern auch während der Arbeit zeigen zu können. Herr Birkner hatte ursprünglich die Absicht gehabt, bis Montag zu bleiben. Er begann gerade seinen Sommerurlaub. Als er aber die Reitgeschichte in ihrem vollen Umfang erfuhr, kam er so in Ärger und Zorn, dass er am liebsten die Tür von draußen zugemacht hätte.

„Bescheiden bist du nicht. Es wäre wohl ein bisschen viel verlangt, wenn sich die Königin nun auch noch hätte versprechen lassen, dass du Reitlehrerin oder Jockeiin – oder heißt das Jokeuse? – werden darfst“, meinte Margot gedankenvoll.

„Ach, Margot, ich habe so Angst, dass nun nie etwas daraus wird“, flüsterte Anne. „Vater überzeugen – das werde ich nie fertig bringen. Jedenfalls nicht, solange ich keine Erfolge vorweisen kann. Wenn ich wenigstens schon eines der Abzeichen hätte!“

„Zehn Hürden, jede ein Meter zehn hoch – und die Dressur – nee, mein Kind, so weit sind wir noch nicht. Ich möchte Kornelius’ Gesicht sehen, wenn wir ihn fragten, ob wir’s mal probieren dürften! Auf dem Pascha womöglich.“ Margot lachte.

„Ja, siehst du. Und so hab ich gar nichts aufzuweisen.“

„Doch. Du hast ein einfach blendendes Zeugnis von Reuter – dass er es abgab, als er noch nicht ahnte, dass dein Vater hinter ihm stand, macht die Sache noch gewichtiger. Und eine gute Beurteilung von der Königin. Sie hat selbst gesagt ...“

„Ach ja, aber denkst du, mein Vater hat das überhaupt mit Bewusstsein gehört? Wenn er so ärgerlich ist, hört er nicht zu; wie oft hat mich das schon gekränkt. Deshalb sag ich dann auch gar nichts. Es ist so schwer, von den Eltern gerecht beurteilt zu werden. Sie sehen lebenslänglich das Baby in ihren Kindern.“

„Na, weißt du, und deine Mutter? Der kannst du das doch wahrhaftig nicht vorwerfen.“

„Nein, Mutti nicht. Die ist in Ordnung“, sagte Anne schnell und beschämt. Unten pfiff es. Beide beugten den Kopf übers Fensterbrett.

„Ach du, Peter. Was gibt’s denn?“

„Ich wollte nur mal fragen, ob der Sturm verweht ist.“

„Ach, du hast eine Ahnung, Petrus! Es stürmt und schneit noch immer im väterlichen Herzen“, sagte Margot, „mindestens Windstärke zehn.“

„Was hat er denn gesagt?“

„Warte, wir kommen runter. Du schreist ja das ganze Haus wach!“

Margot und Anne fuhren in die Trainingsanzüge und liefen die Treppe hinunter. Die Haustür war ordnungsgemäß versperrt, aber zum Küchenfenster konnte man mühelos hinaussteigen. Peter stand schon dort und wartete.

„Ich finde das gar nicht so hoffnungslos, wenn dein Vater doch hier geblieben und nicht im Zorn weggefahren ist“, sagte er nachdenklich, als sie berichtet hatten, „da könnt ihr doch morgen noch mal versuchen, ihn zu überzeugen.“

„Ich weiß nicht. Du kennst meinen alten Herrn nicht. Den überzeugen, das könnte höchstens Großvater. Der ist der einzige, auf den er hört. Wir behaupten oft, er hat Mutti nur geheiratet, weil er Großvater so schätzt.“

„Ja, ist denn dieser schätzenswerte Herr nicht zu beschaffen? Ruft ihn doch an, los!“

„Anrufen? Das nützt nichts. Hier müsste er sein und mit Vater reden ...“

„Dann holt ihn doch her. Geht das nicht? Man könnte deine Eltern vielleicht hier ein wenig aufhalten.“

„Vater will morgen mit einem Sonderzug ins Walsertal fahren, mit Mutti. Es müsste also bis Mittag schon entschieden sein.“

„Verflixt, ist das dumm! Ist das – ist das –“ Peter ging auf und ab, die Hände in den Taschen, die Absätze bei jedem Schritt in den Sand bohrend. Anne lehnte an der Wand neben dem Küchenfenster.

Die Tränen standen ihr in den Augen. Zum Glück sah man es nicht.

„Er hat gesagt, ich dürfte überhaupt nicht mehr reiten, er zöge seine Erlaubnis zurück“, würgte sie hervor. „Zu Kornelius hat er das gesagt. Und da kann Kornelius doch nicht mehr ...“ Sie brach ab, um nicht loszuschluchzen.

„Kornelius lässt dich auch so reiten“, sagte Margot. „Wollen wir wetten?“

„Und wenn dann was passiert?“ Die Versicherung galt nur, wenn die elterliche Erlaubnis vorlag, solange die Reitschüler noch nicht mündig waren. Sie wussten das alle drei.

„Was soll mir denn passieren!“, sagte Anne schnell und sich selbst überredend. „Ich bin noch nie oder vielmehr erst ein einziges Mal ausgestiegen, und ...“

„Ach, Menschenskind, das kann jeden Tag passieren. Die Helga Köhler hat siebzehnmal das Schlüsselbein gebrochen, und die reitet ja noch etwas besser als wir!“

„Aber ein Schlüsselbein – das kostet doch nicht die Welt!“ Sie lachten alle drei los.

„So kommen wir nicht weiter“, sagte Peter, „ich bin dafür, dass wir deinen Vater herumkriegen. Wo wohnt denn der sagenhafte Ahne mit dem weißen Gelock und dem jungen Herzen?“

„Du, mach dich auch noch lustig“, drohte Anne, „in Neuhausen. Kennst du nicht? Neulich bist du erst dran vorbeigefahren.“

„Na ja, ich kann ja nicht alle Dörfer auswendig wissen, an denen ich mit der Maschine vorbeizische. Wie weit ist’s bis dahin?“

„Von hier? Schätzungsweise – wart mal, wenn man über Steinbach fährt und dann ein Stück Autobahn ...“ Anne rechnete. Peter hockte sich in den Sand, der vom Mond hell beleuchtet war, und zeichnete.

„Wenn das Lauterbach ist und das die Autobahn ...“ Anne sah ihm ohne große Hoffnung zu.

„Was soll denn das nützen?“

„Ach, immer gleich die Flinte ins Korn werfen! Ich hab doch mein Motorrad“, sagte Peter eifrig. „Wenn wir heute Nacht zu Großpapa rutschen und ihn beschwatzen, dass er anruft – oder noch besser: mitkommt?!“

„Peter!“ Anne musste sich den Mund zuhalten, um nicht loszuschreien. Dann flüsterte sie: „Du, das wäre die Lösung! Die Lösung!“

„Ihn mitbringen? Auf dem Sozius?“, fragte Margot skeptisch. „Und Anne macht inzwischen die Sprechstunde in Neuhausen?“

„Kopfrechnen schwach! In seinem Wagen natürlich!“, sagte Peter vergnügt. „Hast du schon mal einen praktischen Arzt ohne fahrbaren Untersatz gesehen?“

„Na klar. Aber ob er mitkommt?“

„Du kennst ihn doch! Der ist ein alter Pferdemann! Wenn er nicht gerade zu einer Geburt über Land ist –“

„Unsinn, er wird schon nicht.“ Jetzt war auch Margot neu belebt und für den Plan eingenommen. „Ihr fahrt sofort los. Kinder, wenn ich doch auch mitkönnte! Kannst du nicht fix einen Beiwagen anmontieren oder mich auf dem Tank nehmen, Peter?“

„Unser Volontär hat eine Beiwagenmaschine“, sagte Peter zögernd, „da könnten wir alle drei los.“ Anne und Margot sprangen hoch vor Freude. „Aber wie weit es ist, wissen wir immer noch nicht.“

Anne kauerte vor der primitiven Zeichnung im Sand.

„Neunzig Kilometer“, sagte sie schließlich, „das ist aber reichlich gerechnet. Direkt als Nachbardorf von Lauterbach kann man Neuhausen nicht bezeichnen. Immerhin, da ist ja die Autobahn.“

„Ja, wir müssten es gut schaffen. Es ist jetzt elf durch“, sagte Peter. „Ich hol also die Maschine. Unser Volontär gibt sie mir sicher, wenn ich ihm sage, es wäre lebenswichtig.“

„Halt mal“, sagte Margot in diesem Augenblick. „Peter, ich glaube, es ist doch besser, wenn ihr ohne mich fahrt. Ich wäre ja zu, zu gern mitgedonnert, aber ...“

„Aber?“, fragten Peter und Anne wie aus einem Mund.

„Ja, seht ihr, gesetzt den Fall, wir sind nicht zur rechten Zeit wieder da – morgen früh halb fünf, es kann ja doch was dazwischenkommen -, was dann?“

„Ach, es wird schon klappen“, versuchte Anne, ihre eigenen Bedenken zu überrennen. Aber Peter gab Margot Recht.

„Garantieren kann ich natürlich nicht. Und dann seid ihr beide nicht da, und das gibt Ärger. Ärger wollen wir aber gerade aus der Welt schaffen, stimmt’s?“

„Eben. Und dass ich etwa Angst hätte, mitzufahren, das glaubt ihr wohl selber nicht. Aber sieh mal, Anne, die Königin kann doch wahrhaftig erwarten, dass wir ihre gute Beurteilung bestätigen, soweit das irgend möglich ist. Wenn du nicht ganz pünktlich zurück bist, kann ich immer noch einspringen, die Milch fertig machen und den Frühstückstisch decken – das tu ich übrigens besser noch heute Nacht, ganz leise. Besser ist besser. Da könnte ich zur Not sogar noch in die Küche – und niemand merkt was!“

„Du bist großartig, Margot“, sagte Anne leise, „und du hast Recht. Man weiß nie. Wenn du so gut bist ...“

„Ach, du lieber Himmel, jetzt drisch keine Phrasen! Du tätest das im andern Fall wohl nicht? Los, los, Peter, hol inzwischen die Maschine. Es ist aber nicht nötig, dass du mit offenem Auspuff und im ersten Gang mit Vollgas vor die Freitreppe fährst. Der Hof hat eine zu blendende Akustik.“

Sie lachten. Peter schlug als Treffpunkt die Apostellinde am Dorfeingang vor, sie wechselten noch ein paar Worte über zweckmäßige Bekleidung, dann rannte Peter los. Die Mädchen kletterten ins Haus zurück.

„Du musst dich warm einpacken“, sagte Margot eifrig, „zieh meine Trainingshose noch über deine, es ist kühl. Und wie du aussiehst, spielt keine Rolle.“

Sie lachten, dass sie sich den Mund zuhalten mussten, als Anne glücklich reisefertig dastand. Sie nahm für alle Fälle noch die Taschenlampe mit, ein frisches Taschentuch, ein Kopftuch übers Haar – fertig. Wieder jumpten sie aus dem Küchenfenster und trabten dann miteinander durch den Hof, vorsichtshalber im Schatten der seitlichen Gebäude, denn der Mond war sehr hell. Peter wartete schon.

Margot tat es sehr Leid, dableiben zu müssen, denn in Neuhausen war sie ja daheim. Wie gern wäre sie für fünf Minuten nach Hause gerutscht! Immer wieder trug sie Anne Grüße an das heimatliche Dorf auf, die diese natürlich nicht ausrichten konnte. Sie machte aber weder in Tragik noch in Wehmut und winkte noch lange mit beiden Armen, wie sie es immer tat.

Peter brauste die nächtliche Landstraße entlang, dass es Anne nur so um die Ohren pfiff. Sie hätten ohne Licht fahren können, so hell war es. Mühelos fanden sie durch die Dörfer und lenkten schon nach kurzer Zeit die Auffahrt zur Autobahn hinauf.

„Hast du auch getankt?“, schrie Anne ihrem Fahrer zu.

„Ach, das ist doch nicht der Rede wert“, rief Peter zurück. Anne lachte, man verstand sich so schlecht während des Fahrens. So schwieg sie lieber und äugte scharf nach vorn. Sie war gar nicht müde. Es war eigentlich herrlich, nachts die Autobahn entlangzuflitzen, statt zu Hause im Bett das Leben zu verschlafen.

Nach einer Weile fing der Vergaser an zu spucken.

„Na, wo fehlt’s denn?“, fragte Anne besorgt.

„Weiß ich’s? Ola, ola, altes Ross“, begütigte Peter. Anne musste lachen. Peter war auch ein eingefleischter Reiter, sicher gab er dem Tank jetzt treibende Hilfen.

„Vielleicht braucht das Ross ein bisschen Hafer?“, fragte sie, sich vorbeugend.

„Ja, zum Kuckuck, daran hätte ich denken sollen!“, rief Peter und schlug sich vor die Stirn. „Tanken! Warum sagst du das nur jetzt erst!“

„Ich habe“, sagte Anne kleinlaut, „du hast mich nur nicht verstanden. Bleiben wir jetzt sitzen?“

„Nee, vorläufig noch nicht. Ein Stück kommen wir noch. Ich schätze, dreißig Kilometer“, er hatte den Hahn umgestellt.

„Und wie viel sind’s noch?“, fragte Anne.

„Es kann reichen, wenn du vorhin richtig gerechnet hast. Auf der Autobahn kommt man immer ein bisschen weiter, weil man da nicht dauernd bremsen und schalten muss. Aber ...“

„Ist’s knapp?“

Ganz knapp.“

„Na, gute Luft.“ Anne hatte von Margot doch schon einiges gelernt und bemühte sich, Galgenhumor zu zeigen. Margot war eigentlich nie verzweifelt. Sie erinnerte Anne immer an den Frosch, der in einen Topf Sahne fällt und eigentlich rettungslos verloren sein müsste, aber so lange unverzagt paddelt, bis er auf einem Klumpen Butter sitzt, während sein Artgenosse, der nicht so viel Optimismus zeigte, gleich aufgab und ertrank.

„Ich mach mich recht leicht!“, rief sie also nach vorne, „und außerdem halt ich beide Daumen.“

„Hauptsache!“, schrie Peter zurück und gab wieder Gas. Anne versuchte, die Kilometersteine am Rand der Autobahn zu erkennen. Unwillkürlich hob sie sich auf den Fußrasten, als könnte sie damit, wie durch die Bügel beim Reiten, das Motorrad entlasten. Die Gegend wurde immer vertrauter, es konnte also nicht mehr allzu weit sein.

„Jetzt weiß ich genau, wo wir sind!“, rief sie triumphierend nach einer Weile. „Von hier aus ist’s wirklich nicht mehr weit. Aber wo wir von der Autobahn runterkommen, das hab ich mir vorher nicht überlegt.“

„Ich auch nicht“, gab Peter beschämt zurück. Er grübelte bereits eine ganze Weile über diesem Problem.

„Neuhausen hat keine Ausfahrt.“

„Nein, wir müssen also etwas darüber hinausfahren.“

„Stimmt. Und dazu, fürchte ich, reicht unser Sprit unter keinen Umständen.“

„Das kann ja nett werden“, dachte Anne. Und siehe, es war so: Zur Linken, halb hinter einem Waldstreifen verborgen, lag Neuhausen, man sah es deutlich, der Kirchturm blitzte im Mondlicht. „Dort, Peter, dort!“, schrie Anne. Peter schaltete auf Leerlauf und ließ das Rad ausrollen.

„Gib mal die Taschenlampe. Ich guck in den Tank.“

Anne stieg ab und vertrat sich die Füße, während er mit schief gehaltenem Kopf in den Tank leuchtete.

„Na?“, fragte sie beklommen.

„Als ob wir eine Katze in den Tank gesteckt hätten“, sagte er, „und die hätte ihn leergeleckt.“

„Was nun?“

Sie sahen sich einen Augenblick überlegend an. Dann sagte Anne vorsichtig: „Du, Peter, fändest du das sehr gemein von mir, wenn ich jetzt, wenn ich ...“

„Na?“, half er nach.

„Wenn ich jetzt querfeldein hinüberliefe nach Neuhausen. Von hier aus ist es nicht mehr weit, und dann komme ich eben mit Großvater zurück, und wir bringen einen Kanister Benzin mit. Großvater hat immer zehn oder fünfzehn Liter Reserve im Wagen.“

„Gemein fände ich das nicht“, sagte Peter langsam, „aber ...“

„Was denn dann?“

„Ich soll dich mitten in der Nacht allein durchs Feld rennen lassen? Nee, mach ich nicht.“

„Aber, Peter, du bist doch nicht von vorgestern! Ich kenn doch hier jeden Schritt. Hier hab ich als Kind gespielt – lang, lang ist’s her ...“ Sie sah nur ihr Ziel vor Augen. Das musste sie erreichen.

„Wennschon. Du brauchst dir nur den Fuß zu verknacksen, wenn du über einen Graben springst, und dann warte ich hier, bis ich alt und grau bin, und dein Gerippe wird nach Jahren gefunden!“

„Red kein Blech!“

„Blech. Was soll ich denn, bitte schön, deinem Vater sagen, wenn ...“

„Ach, wenn, wenn, wenn! Wohin kommt man denn, wenn man immerzu nur an Wenns und Abers denkt. Nach Neuhausen niemals!“

„Pass auf“, sagte Peter nach einem Augenblick Überlegung. „Wir gehen beide. Ich schiebe die Maschine hier den Hang hinunter. Hinter dem Gebüsch dort findet sie keiner, und ich zieh ja auch den Schlüssel ab. Die eine Stunde, bis wir zurück sind, kann sie ruhig dort parken. Los, fass an.“

„Prima. Dann klappt es doch noch.“ Anne fasste den Griff des Soziussitzes und Peter den Lenker. Schritt für Schritt ließen sie die Maschine herunterrutschen, leicht war es nicht. Beide atmeten hörbar auf, als es endlich geschafft war.

„Du, wie kriegen wir die nachher wieder rauf?“, fragte Anne kleinlaut. Peter zuckte die Achseln.

„Ach was, später. Kommt Zeit, kommt Rat. Dann sind wir ja auch drei. Los jetzt, komm!“

„Warte, wir machen noch ein Zeichen. Sonst finden wir die Maschine womöglich nicht wieder“, sagte Anne. „Hier gibt’s nicht alle naselang eine Kurve, nach der wir uns richten können. Ich binde mein Taschentuch an den Strauch.“

Es wehte nicht, die Nacht war windstill. Aber vielleicht fanden sie das Zeichen doch wieder. So ungefähr wussten sie ja auch die Stelle, nur hofften sie, den Rückweg hierher mit Großvaters Wagen zu machen und nicht querfeldein zu Fuß. Da war es freilich schwerer zu finden.

„Komm!“

Anne kannte hier die Gegend genau. Sie lief voran, Peter hinterher. Atemlos ging es Wiesenraine und Feldwege entlang, einmal über eine kleine Brücke. Eine Anhöhe hinauf – da lag das Dorf vor ihnen.

„Du, wenn Großvater jetzt ...“

„Ach was, Margot hat es uns versprochen, dass er nicht gerade weg ist, um einem kleinen Erdenbürger zum Start zu helfen“, fiel Anne ein. Sie hatte unausgesetzt dasselbe gedacht.

„Margot hat ein goldnes Gemüt“, brummte Peter. „Weiter also in Margots Namen.“

Sie bogen um die Kirche, und da stand das Haus. Anne fühlte sich erleichtert und warm angerührt, als hätten sie jetzt schon gewonnen. Wenn Großvater im Augenblick nicht da war, gab es ja immer noch eine Großmutter.

„Ich kann nicht erkennen, ob die Garage offen ist“, flüsterte sie. Und dann standen sie mit vom Laufen und von der Erwartung gleichermaßen klopfenden Herzen vor der Haustür still, und Anne zog an der altmodischen Messingklingel.

Anne nimmt alle Hürden

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